A N D R E A S E B E R T, P E T E R M U S T O
PRAXIS DES
HERZENS GEBETS
Einen alten Meditationsweg neu entdecken
Claudius
Für unseren verehrten Lehrer Franz Jalics und unsere bewährte Mitstreiterin Klara Koller Ich lebe – aber nun nicht mehr ich, sondern Christus lebt in mir. (Pa u l u s , G a l a t e r 2 , 2 0 ) Gleichwie die Sonne in einem stillen Wasser gut zu sehen ist und es kräftig erwärmt, kann sie in einem bewegten rauschenden Wasser nicht deutlich gesehen werden, auch erwärmt sie nicht so sehr. Darum willst du auch erleuchtet und warm werden durch das Evangelium, göttliche Gnade und Wunder sehen, dass dein Herz entbrannt, erleuchtet und fröhlich werde, so gehe hin, wo du still sein und das Bild dir tief ins Herz fassen kannst, da wirst du finden Wunder über Wunder. (M a r t i n L u t h e r ) Die Zeit, Gott zu suchen, ist dieses Leben. Die Zeit, Gott zu finden, ist der Tod. Die Zeit, Gott zu besitzen, ist die Ewigkeit. (F r a n z v o n S a l e s )
Bibliografische Information Der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © Claudius Verlag München 2013 Birkerstraße 22, 80636 München www.claudius.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Mario Moths, Marl Druck: GGP Media GmbH, Pößneck ISBN 978-3-532-62444-9
Inhalt
Vorwort: Im Auge des Orkans
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Einfach anfangen!
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1. Woche: Die Natur als Lehrerin 1. Tag: Mit Vertrauen: Loslassen und ankommen 2. Tag: Die Natur lehrt dich 3. Tag: Nimm Abstand und sei still! 4. Tag: Schlaf dich aus! 5. Tag: Achte auf deine Träume! 6. Tag: Suche immer wieder die Stille und lerne abzuwarten! 7. Tag: Leerlauf – Gewaltlosigkeit – Entschlossenheit
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2. Woche: Sitzen, aufrichten, atmen 1. Tag: Nimm dir Zeit zum Gebet! 2. Tag: Die Absicht wird unterwegs geläutert 3. Tag: Körperwahrnehmungsübungen vor dem Gebet 4. Tag: Sitze mit aufgerichteter Wirbelsäule! 5. Tag: Du atmest: Nach dem Leben greifen, es loslassen lernen 6. Tag: Ein inneres Gebet 7. Tag: Wahrnehmen – denken – fühlen
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3. Woche: Die Hände 1. Tag: Die Kultur des Herzensgebetes 2. Tag: Ganz still sitzen! 3. Tag: Geschlossene oder offene Augen? 4. Tag: Mit den Händen beten! 5. Tag: Die Aufmerksamkeit ruhe an einer Körperstelle, damit die Seele sich öffnet 6. Tag: Hände, Füße, Seitenwunde: Die Christus-Chakren 7. Tag: Wach, interessiert, wohlwollend verweilen
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4. Woche: Atem und Hände 1.Tag: Ganz dabei sein 2.Tag: In Gottes Gegenwart 3.Tag: Ein Prozess der Versöhnung mit uns selber und mit Gott 4.Tag: Passiver und aktiver Wille 5.Tag: Offen fürs Wirkliche 6.Tag: Was ist wirklich? 7.Tag: Noch einmal: Der Körper – in der Wirklichkeit bleiben
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5. Woche: Ja! 1. Tag: Sprich ihn an! 2. Tag: Ja 3. Tag: Das Ja und das Nein in der Bibel 4. Tag: Das Nein in uns 5. Tag: In der Stille wächst das Leben 6. Tag: Im Kopf sein oder bei sich sein 7. Tag: In der Gegenwart verweilen
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6. Woche: Dein eigener Name 1. Tag: Namen sind nicht Schall und Rauch 2. Tag: Mein eigener Name 3. Tag: Die vielen Namen Gottes 4. Tag: Gott redet nicht, Gott wirkt 5. Tag: Das wiederholte Wort 6. Tag: Heilende und zersetzende Worte 7. Tag: Der neue Name
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7. Woche: Maria 1. Tag: Der Name Maria 2. Tag: Die Heiligen 3. Tag: Gesammelt, nicht konzentriert 4. Tag: Keine Theorie, sondern eine Hinführung 5. Tag: Was das Leben hervorbringt, das darf auch sein 6. Tag: Verweilen – nicht urteilen 7. Tag: Gottbezogenheit statt Ichbezogenheit
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8. Woche: Jesus Christus 1. Tag: Jesus Christus 2. Tag: „Diesen Namen haben wir bekommen“ 3. Tag: Jesus Christus, der Name als Gebet 4. Tag: Alternativen zum Jesusnamen 5. Tag: Suche den wahren Gott, den wirklichen! 6. Tag: Eine aufmerksame Gegenwart 7. Tag: Was Widerstand hervorruft
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9. Woche: Der Name im Alltag 1. Tag: Das Lebendige fühlt sich zart an 2. Tag: Üben oder beten wir? – Wir staunen 3. Tag: Die Wirkung überlassen wir Gott 4. Tag: Gebet und Weltverantwortung 5. Tag: Geistliche Begleitung 6. Tag: Komboskini – der orthodoxe Jesusrosenkranz 7. Tag: Das Gebet als Dasein in der Gegenwart Gottes
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10. Woche: Wie geht es weiter? 1. Tag: Nicht bitten! Gott ansprechen! 2. Tag: Die reine Absicht 3. Tag: Selbstlosigkeit 4. Tag: Leiden, ohne beleidigt zu sein 5. Tag: Das Taborlicht – die Vergöttlichung des Menschen 6. Tag: Der Name über allen Namen – Dienstbereitschaft statt Herrschaftsanspruch 7. Tag: Herzensgebet und Meditation in nicht-christlichen Religionen und Kulturen
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Anhang: Eine kurze Geschichte des hesychastischen Wegs
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Kontakte und Links Literatur
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Übungen Wahrnehmung der Atemwege nach Franz Jalics Anleitung zum rechten Sitzen bei der Meditation und erste Gebetsübung Beten mit dem Atem Beten mit den Händen Beten mit dem inneren Wort "Indianisches Körpergebet" nach Dietrich Koller „Christliches Yoga“ – die Gebetshaltungen des Heiligen Dominikus
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Vorwort:
Im Auge des Orkans „Jesus betete einmal an einem abgeschiedenen Ort. Als er das Gebet beendet hatte, sagte einer seiner Jünger zu ihm: ‚Herr, lehre uns beten! Johannes der Täufer hat seine Jünger doch auch beten gelehrt!‘“ (Lukas 11,1). Die Sehnsucht, zu beten und in persönlichen Kontakt mit Gott zu treten, und das Unvermögen zu beten – beides gehört zum Menschsein. Das war damals so wie heute. Diese Sehnsucht und diese Not werden von den kirchlichen Institutionen kaum wahr- oder ernst genommen. Das Gebet ist der innigste und wichtigste Ausdruck der Gottesbeziehung. Doch viele fühlen sich allein gelassen, wenn es um die Kunst des Betens geht. In Predigten und kirchlichen Verlautbarungen wird häufig eher floskelhaft über das Gebet gesprochen: Beten bedeute, mit Gott zu reden – aber auch, auf Gott zu hören. Was aber bedeutet das konkret? Wie können und sollen wir mit Gott reden? Und wie redet Gott mit uns, falls er wirklich mit uns redet, und wie können wir Gott hören? Diese Fragen werden selten beantwortet. Vor allem aber fehlt es an „Schulen des Gebets“, wo Menschen die Kunst des Betens erlernen und einüben können. In diesem Buch geht es um das alte christliche Herzensgebet oder Jesusgebet. Es geht um das „Gebet hinter den Gebeten“, um die intime Begegnung mit dem Geheimnis Gottes, dessen Geist in uns wohnt – und der zugleich unendlich viel größer ist als wir: Ursprung und Urgrund des Seins und allen Lebens. Nach ihm sehnen wir uns, denn er ist die Heimat, aus der wir kommen, zu der wir den Kontakt verloren haben und nach der wir uns sehnen. 8
Im Auge des Orkans
Das Herzensgebet ist die älteste Form christlicher Kontemplation. Die Wüstenmönche des 4. Jahrhunderts entdeckten das „reine Gebet“ oder das „Ruhegebet“ – ein Gebet ohne formulierte Gedanken und Bilder, ohne Lob, ohne Dank, ohne Bitten. Bei dieser Art des Betens geht es um pures Dasein in der Gegenwart vor Gott. Diese Gebetsweise hat eine lange Geschichte durchlaufen; sie ist am Ende des Buches nachzulesen. Vor allem geht es uns in diesem Buch um eine Praxis, die hier und heute von ganz „normalen“ Menschen geübt werden kann, die wenig Zeit haben und die nicht hinter Klostermauern leben. Eine halbe Stunde am Tag genügt zunächst, um diesen Weg kennenzulernen und auszuprobieren. Wir empfehlen, sich für diese Einübung etwa zehn Wochen Zeit zu nehmen. Dazu ist etwas Disziplin nötig, aber die Früchte lohnen den Einsatz. Wir, die beiden Autoren dieses Buches, versuchen seit vielen Jahren diesen Weg des Herzensgebets zu gehen. Die wesentlichen Impulse dafür verdanken wir unserem verehrten Lehrer, dem ungarischen Jesuitenpater Franz Jalics. Nach langer persönlicher Suche und nicht zuletzt aufgrund eines leidvollen Schicksals hat er diese Gebetsweise entdeckt, durchlebt und methodisch weiterentwickelt. Lange Jahre lebte und wirkte er als Theologieprofessor in Argentinien. In der Zeit der argentinischen Militärdiktatur in den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts wurden er und ein Mitbruder von Todesschwadronen verschleppt. Fünf Monate lang wurden die beiden mit gefesselten Händen und verbundenen Augen gefangen gehalten. Die Rolle ihres damaligen Ordensprovinzials Jorge Mario Bergoglio, des heutigen Papstes Franziskus, bei der Verhaftung (und später bei der überraschenden Freilassung) der beiden ist nicht vollständig geklärt. Sicher ist aber, dass die beiden Jesuiten die Qualen der Verschleppung seelisch und geistlich nur dadurch überstanden haben, dass sie begannen, den Namen Jesus Christus unaufhörlich zu wiederholen und anzurufen. Nach seiner Freilassung ging Franz Jalics nach Europa. Aufgrund der eigenen tiefen Gotteserfahrung mit dem Jesusgebet hat er eine einfache, schlüssige und wirkungsvolle Hinführung zu dieser kontempla9
Vorwort
tiven Gebetsweise entwickelt. Tausende Menschen haben in den letzten Jahrzehnten seine meist zehntägigen Kurse in Deutschland, Ungarn, Argentinien und anderswo durchlaufen. Sein Buch „Kontemplative Exerzitien – Eine Einführung in die kontemplative Lebenshaltung und in das Jesusgebet“ (Echter Verlag) hat zahlreiche Auflagen erlebt und wurde in mehrere Sprachen übersetzt. Auf dieser Grundlage bauen wir auf. Wir empfehlen die Lektüre dieses Buches nachdrücklich. Methodisch orientieren wir uns an den Vorgaben unseres Lehrers. Dennoch wiederholen wir nicht eins zu eins das, was wir von Franz Jalics gelernt haben. Er hatte anfangs vorwiegend römisch-katholisch geprägte Christinnen und Christen, insbesondere auch Ordensleute, im Blick, die sich nach einer Vertiefung ihres Gebetslebens sehnten. Inzwischen haben wir es aber in unseren Kursen immer mehr mit Menschen zu tun, die wenig oder gar keine christliche Prägung mitbringen – sei es im postkommunistischen Ungarn (Peter Musto), sei es in einer postchristlichen Großstadt wie München (Andreas Ebert). Diese Menschen versuchen wir im Blick zu behalten, indem wir keine dogmatischen Vorkenntnisse und auch keine gefestigte Glaubensüberzeugung voraussetzen. Offenheit, vielleicht sogar Neugier, und Sehnsucht genügen. Wir sind davon überzeugt und haben es vielfach erlebt, dass das Herzensgebet voraussetzungslos ist und aufrichtig fragende Menschen berühren und wandeln kann – unabhängig davon, wie „gläubig“ sie sind. Ursprünglich wollten wir das Buch „Im Auge des Orkans“ nennen. Dieses Bild veranschaulicht, was das Herzensgebet auch bedeutet: inmitten der Stürme und Herausforderungen des Daseins sich auf jene Mitte auszurichten, die durchaus nicht völlig bewegungslos ist, aber in der die heilende und versöhnende Stimme Gottes vernehmbar werden kann. Es ist die „Stimme verschwebenden Schweigens“, wie Martin Buber die Gotteserfahrung des Propheten Elija am Berg Horeb übersetzt und umschreibt. Wir haben uns dann aber doch mit dem Verlag auf den sachlichen Titel „Praxis des Herzensgebets“ geeinigt. Er beschreibt nüchtern, worum es in diesem Buch geht. Das Buch ist im Dialog entstanden. Die zehn Stufen der praktischen Hinführung wurden von Andreas Ebert formuliert. Die vertiefenden 10
Im Auge des Orkans
Ausführungen für jeden Tag, die den Anweisungen für jede Woche folgen, hat vorwiegend Peter Musto als Teil einer größeren Veröffentlichung entworfen, die in Ungarn erscheinen soll. Seine Ausführungen wurden von Andreas Ebert erweitert und ergänzt. Sehr persönliche Erfahrungen haben wir durch AE bzw. PM gekennzeichnet. Auch die Anleitungen zum Körpergebet des Heiligen Dominikus und zum kontemplativen Beten auf der beiliegenden CD stammen von Peter Musto. Die „Kurze Geschichte des hesychastischen Weges“ sowie das „indianische Körpergebet“ auf der CD wurden von Andreas Ebert formuliert. Während einer denkwürdigen gemeinsamen Klausurwoche im Besinnungshaus Manreza der ungarischen Jesuiten (dem ehemaligen Gästehaus der kommunistischen Staatsführung im Norden von Budapest!) haben wir beide in den „Rauen Tagen und Nächten“ zwischen Weihnachten 2012 und Dreikönig 2013 unsere Texte miteinander diskutiert, bearbeitet und weiterentwickelt, haben gemeinsam gebetet, gekocht und auf vereisten und verschneiten Wegen die Landschaft erkundet. Eine reiche Zeit! Wir erlauben uns, unsere Leserinnen und Leser in diesem Buch zu duzen, wie es bei den meisten Kursen zum Herzensgebet üblich ist. Es geht ja nicht zuletzt um die intime Beziehung zwischen Mensch und Gott. Gott siezen wir nicht. Und er uns auch nicht. Wir danken Sr. Ildikó Hári, die die Entstehung des ungarischen Manuskripts von Peter Musto kompetent und tatkräftig unterstützt und begleitet hat, und Maike Schmauß, die den gesamten Text kritisch gelesen und uns unzählige wertvolle Anregungen geben hat. Auch die Anregungen des Verlagsleiters Dr. Manuel Zelger und unseres Lektors Dr. Dietrich Voorgang vom Claudius Verlag waren sehr konstruktiv und wertvoll für uns. Wir widmen dieses Buch Franz Jalics, ohne dessen Leben, Leiden und Lehren dieses Buch undenkbar wäre, und Klara Koller, unserer kompetenten Mitstreiterin seit vielen Jahren. Andreas Ebert und Peter Musto
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Einfach anfangen! Wir ermutigen dich, einfach anzufangen. Wer keine Gelegenheit hat, an einem geschlossenen Kurs oder an alltagsbegleitenden Exerzitien zur Einübung ins Herzensgebet teilzunehmen, kann auch alleine beginnen. Noch besser ist es, wenn sich mehrere Menschen – zum Beispiel ein Ehe- oder Freundespaar oder ein spiritueller Haus- oder Studienkreis – gemeinsam auf den Weg machen. Auf diese Weise kann man Erfahrungen austauschen und einander ermutigen, nicht aufzugeben. Das eigenständige Einüben dieses Wegs ohne Gemeinschaft erfordert ein besonderes Maß an Geduld und Disziplin. Denn dieser Weg ist „einfach, aber nicht leicht“ (Franz Jalics). Er gleicht in manchem dem Erlernen eines Musikinstruments oder einer Sportart, was auch nicht ohne regelmäßiges Üben möglich ist. Die CD, die zu diesem Buch gehört, unterstützt dich auf diesem Trainingsweg durch gesprochene Anleitungen zu Körperübungen und zum Sitzen in der Stille. Für diejenigen, die bereits an einem Kurs teilgenommen haben, kann dieses Buch der Auffrischung und Vertiefung dienen. Voraussetzung ist die Bereitschaft, etwa zehn Wochen lang täglich mindestens eine halbe Stunde zu investieren. Vielleicht nimmst du dir die Monate von Oktober bis Weihnachten oder von Januar bis Ostern vor und verstehst das Ganze als eine Zeit persönlicher „Exerzitien“ (geistlicher Übungen). Ohne die Bereitschaft und die immer wieder erneuerte Absicht, dich auf diesen anspruchsvollen Weg zu begeben und dabeizubleiben, wird nicht viel geschehen. Meditieren und Beten lernt man nur durch Meditieren und Beten. 12
Einfach anfangen!
Halte dich, so gut es geht, an die Vorgaben für jede Woche. Wenn du Gebet oder Meditation bisher auf eine andere Weise praktizierst, empfehlen wir dir, während dieser zehn Wochen damit auszusetzen, damit keine Verwirrung entsteht. Körperübungen wie Gymnastik oder Yoga sind davon nicht betroffen. Sie können eine gute Vorbereitung zum Herzensgebet sein. Wenn du am Ende einer Woche glaubst, zum nächsten Schritt noch nicht bereit zu sein, dann kannst du ihn verschieben und den Weg verlangsamen. Aber bitte beschleunige ihn nicht! Die Einübung jedes Schrittes braucht Zeit. Übe jeden Wochenimpuls mindestens sieben Mal eine halbe Stunde lang, bevor du zum nächsten Schritt übergehst. Wenn du einmal nicht zum Üben kommst, kannst du zum Ausgleich beispielsweise am Wochenende zweimal hintereinander üben. Für jede der zehn Wochen wird die Übungsaufgabe zunächst knapp vorgestellt. Im Anschluss daran findest du jeweils vertiefende oder weiterführende Impulse für jeden Tag. Sie stehen häufig, aber nicht immer, in unmittelbarem Zusammenhang mit der Übung der entsprechenden Woche und dienen der Reflexion, Information und Horizonterweiterung, aber auch der Bestärkung und Vertiefung. Deshalb werden manche Gedanken wiederholt oder von verschiedenen Seiten betrachtet. Üben – auch das Üben des Herzensgebets – erfordert Wiederholung. Am besten liest du einen dieser Abschnitte pro Tag, beispielsweise am Abend zum Tagesabschluss, um auf diese Weise tiefer in das Wesen dieser Gebetsweise einzudringen. Lies diese Reflexionen aber erst, nachdem du selbst erste unmittelbare Erfahrungen mit den Übungen gemacht hast. Denn es geht hier zunächst um Erfahrung – und erst dann um Theorie. Und jetzt scheue dich nicht, anzufangen!
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1. Woche:
Die Natur als Lehrerin
Bevor du dich regelmäßig zum Gebet hinsetzt, laden wir dich ein, das Wahrnehmen zu üben. Wahrnehmen ist nicht Denken, Benennen, Analysieren, sondern Innehalten und mit allen äußeren und inneren Sinnen Präsentsein. Beginne nicht sofort damit, sitzend zu meditieren, sondern geh in dieser ersten Woche täglich mindestens eine halbe Stunde in die Natur (einen Garten, einen Wald, einen Park ...). Entschleunige deinen Schritt. Bleib ab und zu stehen. Versuche zu sehen, zu hören, zu riechen, zu spüren – ohne über diese Eindrücke nachzudenken. Welche Geräusche kannst du unterscheiden? Verfolge den Gesang eines einzigen Vogels! Jetzt hörst du ihn singen, jetzt schweigt er! Wie sieht die Rinde eines Baumes aus? Wie fühlt sie sich an? Wo und wie spürst du den Wind? Die Wärme oder Kälte auf deiner Haut? Was riechst du? Diese Fragen sind nicht dazu da, dass du sie bedenkst und beantwortest. Sie sollen dir vielmehr helfen, alles aufmerksam und wach wahrzunehmen. Die Natur lehrt uns das einfache Dasein, ohne Warum, ohne Bewertung. Sie unterstützt uns dabei, zu sein, wie wir sind: „Die Ros’ ist ohn Warum, sie blühet, weil sie blühet. Sie acht’t nicht ihrer selbst, fragt nicht, ob man sie siehet.“ (Angelus Silesius) Mach dir bewusst, dass bereits diese Offenheit für die Schöpfung nicht nur Vorübung zum Gebet ist, sondern bereits Gebet. Wer sich mit der Schöpfung verbindet, verbindet sich mit dem Schöpfer. 14
Die Natur als Lehrerin
Überlege dir im Laufe dieser ersten Woche, wann und wo du von der zweiten Woche an täglich eine halbe Stunde „sitzen“ und üben möchtest. Es sollte immer derselbe Ort und möglichst dieselbe Zeit sein. Du kannst beginnen, dir einen kleinen Gebetsplatz in deiner Wohnung herzurichten: Dazu können eine Decke gehören und ein Meditationsschemel oder ein Meditationskissen (im Internethandel erhältlich); es genügt aber auch ein Stuhl. Vielleicht willst du diesen Platz mit einer Kerze oder einer Ikone ausgestalten. Aber weniger ist hier mehr!
Weiterführende Impulse für jeden Tag Mit Vertrauen: Loslassen und ankommen 1.Tag
1. Woche
Bevor du dich auf den Weg begibst und dich auf das Abenteuer des inneren Gebets einlässt, suche und erneuere das Vertrauen in dir – das Vertrauen darauf, dass es gut ist, dich in der kommenden Zeit intensiv dem Gebet zu widmen, und dass die Zeit, die du dir jetzt dafür nimmst, nicht umsonst ist. Bitte darum, dass dein Schöpfer, der dich erdacht und geformt hat, Freude an dir findet und dass du Freude an ihm findest. Er hält dein Leben aufrecht und lässt es wachsen. Erbitte von Gott, dass alles, was in dieser Zeit geschehen wird, das Leben stärkt und dem Leben dient. Bitte, dass diese Zeit nicht nur für dich, sondern auch für alle, die zu dir gehören, nutzbringend, heilsam und lebensfördernd wird. Wenn du lernst, dich auf Gott auszurichten, wenn du gesammelter bist, dann tut das allen gut, mit denen du verbunden bist und für die du Verantwortung trägst – selbst dann, wenn du während der Zeit des Gebets nicht an sie denkst und dich nicht mit ihnen beschäftigst. Lass sie für die Zeit deines Gebets los und überlass die Verantwortung für die Deinen dem Heiligen Geist. Du kannst sie Gott anvertrauen und ihn darum bitten, dass du nach der Gebetszeit erneuert zu ihnen zurückkehren kannst. Bitte auch darum, dass dein Gebet alle Lebewesen schützt und fördert: die Tiere, die Pflanzen und auch die Luft, das Trinkwasser und das Erdreich. Wem und auf welche Weise die Zeit, die du im Gebet 15
1. Woche
verbringst, nützt und welche Früchte das Gebet trägt, das hängt nicht von deiner eigenen geistigen Anstrengung ab. Verzichte im Gebet auf deine geistigen Mittel, die dir im Alltag helfen, mit den zu bewältigenden Aufgaben zurechtzukommen. Solche Mittel könnten zum Beispiel deine Fähigkeit sein, Probleme zu analysieren, dein schnelles Auffassungsvermögen, deine Tatkraft oder ein starker Wille. Versuche ohne geistige Aktivitäten einfach da zu sein. Das bedeutet keineswegs, dass sich nichts tut und nichts geschieht. Aber verhindere Wenn du zu beten anfängst, tritt aus nicht durch deine Manipulationen das heider Tretmühle des Alltagslebens. lende, Leben schaffende Wirken Gottes in dir! Gott weiß besser, was dir und den Deinen gut tut. Überlass jetzt alles ihm. Suche das Vertrauen zu ihm. Bitte um Vertrauen. Wenn du dich auf diesen Weg begibst, dann ist es hilfreich, dass du dich von allem verabschiedest, was dich innerlich beschäftigt. Wenn du zu beten anfängst, tritt aus der Tretmühle des Alltagslebens. Lass die Entscheidungen los, die anstehen und dich bedrängen. Leg alles beiseite, womit du üblicherweise zu tun hast. Beschäftige dich jetzt mit all dem nicht. Dazu kann es hilfreich sein, dass du dir im Lauf dieser Tage – allerdings nicht während der Spaziergänge oder während des Gebets – Rechenschaft darüber ablegst, wovon du dich gelöst oder losgerissen und was du unerledigt zurückgelassen hast, damit du dich in dieser Zeit ganz dem Gebet widmen kannst. Was bringst du mit, was beschäftigt dich? Was hält dich zurück, was hindert dich daran, hier und jetzt präsent sein zu können? Was macht dich unruhig? Was motiviert dich, dir diese Zeit für das Gebet zu gönnen? Was ist für dich wichtig, was bewegt dich? Was könntest du dir von dieser Zeit der Stille wünschen, welche Früchte könnte sie dir bringen?
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Die Natur als Lehrerin
Obwohl du dich mit all diesen Fragen während des Gebets nicht befassen sollst, ist es gut, zunächst zu wissen, worauf du dir eine Antwort wünschst oder was du klarer sehen möchtest. Der heilige Ignatius von Loyola empfiehlt in seinem Exerzitienbüchlein als Vorbereitungsgebet vor jeder Betrachtungsstunde: „Bitte, um was du begehrst.“ Und dann überlass alles, was du begehrst, der göttlichen Weisheit ...
Die Natur lehrt dich 2.Tag
1. Woche
Die Vögel, die Bäume, die Insekten leben auf ihre Weise das, was wir Menschen als Kleinkinder von Natur aus gekannt und gelebt haben. Aber als hätten wir es vergessen, müssen wir es neu lernen. Geh in die Natur hinaus! Die Natur ist die große Lehrmeisterin des Herzensgebets. In der Natur findest du alle Elemente des inneren Gebets vor. Mach nur die Augen und die Ohren auf! Der Hase lauscht mit seinen großen Ohren im Busch. Das unbewegliche Reh am Waldrand wittert die Gefahr mit dem ganzen Leib. Die Katze sitzt gesammelt vor dem Mauseloch: wach, interessiert und bewegungslos. Eine Knospe geht stillt auf, eine Blume wendet sich der Sonne zu. Die Tiere, die Pflanzen, der Wind und der Sonnenschein leben in der Stille. Da geschieht überhaupt nichts Sichtbares; dennoch entfaltet sich die Natur und das Leben wächst. Nur wir Menschen zerbrechen uns den Kopf über alles Geh in die Natur hinaus! mögliche oft so Unnötige und Nutzlose. Die Natur ist die große Lehrmeisterin Wir sind Meister darin, im Kopf zu sein, des Herzensgebets. zu denken, zu planen, Lösungen zu suchen, etwas verändern zu wollen. Das haben wir Jahrzehnte lang gelernt und gut eingeübt. Wir wollen alles selbst herstellen, sogar die Düfte der Blumen, den Geschmack des Obstes, die Wärme der Sonne. Oft erlauben wir den Pflanzen nicht, von sich aus zu wachsen, sondern versuchen ihr Wachstum zu beschleunigen und möchten bestimmen, wann sie aus der Erde herauskommen dürfen. Die Natur tut sich keine Gewalt an, zwingt sich nicht, anders zu sein, als sie ist. Sie beschleunigt das Tempo nicht, sondern lebt nach ihrem 17
1. Woche
gegebenen Zeitmaß. Wenn du in ihr verweilst und dich auf sie verlässt, wenn du dich ihr anschließt, dann wird sie deine Meisterin sein. Sie gibt dir Kraft, lehrt dich zu vertrauen, vermittelt dir Frohsinn. Es ist Verlass auf sie. Die Pflanzen, die Tiere kommen zurecht, leben, wissen, wohin sie sich wenden. Auch sie haben Winter, Frühling, Sommer, eine Blütezeit, eine Zeit der Reife und eine Zeit des Vergehens: „Die Blumen im Frühling – der Mond im Herbst – im Sommer die kühle Brise – im Winter der Schnee! Wenn unnütze Sachen den Geist nicht vernebeln, ist dies des Menschen glücklichste Jahreszeit!“ (Stefan Bauberger: Der Weg zum Herzgrund) Wenn es dir möglich ist, geh in dieser ersten Woche (und gern auch in den weiteren Wochen) jeden Tag in die Natur hinaus. Wahrscheinlich nimmst du deine täglichen Spannungen mit. Anfänglich beschleunigst du deine Schritte, du willst irgendwohin gehen, dich an einem Ziel orientieren. Du versuchst die Geräusche und die Schönheiten der Natur wahrzunehmen, aber plötzlich merkst du, dass du bei deinen Problemen von Zuhause gelandet bist und die Vögel und den Wind ganz vergessen hast. Verurteile dich dafür nicht! Beginne von Neuem, achte auf die Wärme der Sonne oder auf den Klang der Regentropfen, die in eine Pfütze fallen. Spürst du das Streicheln des Windes, hörst du das Summen der Insekten? Sie alle rufen dich in die Gegenwart zurück. Gib nicht auf! Vielleicht brauchst du Jahre dazu, um in der Natur verweilen zu können. Es dauert seine Zeit, bist du wieder langsamer wirst, dem Leben dich näherst, bis es stiller wird in dir.
3.Tag Nimm Abstand und sei still!
1. Woche
Schaff um dich herum Ordnung, wenn du dich aufmachst, um zu beten. Das hilft, Abstand zu deinen Sorgen und Aufgaben zu gewinnen, die mit Recht nach deiner Aufmerksamkeit verlangen und dich noch drängen, antreiben und bedrücken. Aber du ahnst bereits, dass sich nach deinen Gebetszeiten sehr vieles ohne Kraftanstrengung ordnet. Die Stille und die Achtsamkeit werden es möglich machen, dass neue Gesichtspunkte ins Zentrum deiner Aufmerksamkeit rücken und dass du das Ungeord18
Die Natur als Lehrerin
nete und Unerledigte in deinem Leben aus einer anderen Perspektive und in einem anderen Licht sehen kannst. Deshalb überlege dir gut, wo du dir deinen Gebetsplatz einrichten sollst und um welche Zeit du jeweils üben willst. Am besten ist es, wenn dieser Platz für dich (und andere) sichtbar ist und du ihn nicht jeden Tag neu herrichten musst. Bewährt hat sich für viele, die erste halbe Stunde nach dem Aufstehen dem Gebet zu widmen. Manche reservieren dafür die erste halbe Stunde nach der Rückkehr von der Arbeit. Die halbe Stunde, die du in dieser ersten Woche der Schöpfung widmest, kann unter Umständen später deine Gebetszeit werden. Im Alten Testament verlässt der Erzvater Abraham seine Stadt, um Gott und sich selbst näher kennenzulernen. Moses flüchtet in die Wüste, nachdem seine eigene Vorstellung von seiner Lebensaufgabe zerschellt ist. Er weiß nicht, wer er ist und welchen Sinn und Zweck sein Dasein hat. In vierzigjähriger Stille und im Abstand findet er zu der inneren Haltung der De- Die Stille ist kein Fehlen von etwas, sonmut, die ihn lehrt, zwischen seinem Tun dern Quelle unendlicher Möglichkeiten. und dem Wirken Gottes unterscheiden zu können. Der Prophet Elija flieht aus dem Wirbelsturm seines Eifers für die Sache Gottes. Er ist von sich und von seinem Herrn enttäuscht, er will sterben. In der Stille vor seiner Höhle vernimmt er Gott als sanften Windhauch und lebt wieder auf. Wir suchen in diesen Wochen die Stille. Die Stille ist kein Fehlen von etwas, sondern Quelle unendlicher Möglichkeiten. Aus Stille entsteht Leben. Die Stille umgibt uns, lässt uns leben und erfüllt uns. Für uns ist es dennoch eine Kunst, es in uns ganz still werden zu lassen. Äußere Stille herzustellen, mag dir gelingen. Die innere Stille beherrschst du nicht. Deine Gedanken, Sorgen und Gemütsbewegungen stören sie. Es hängt nicht von deinem Willen ab, frei von ihnen zu sein oder zu werden. Die äußere Stille allerdings hilft der inneren: Du kannst günstige Bedingungen für die innere Stille schaffen. Die innere Stille entsteht in einem langen Prozess. Irgendwann wird es still in dir. Das beginnt in dieser ersten Woche mit der Wahrnehmung der Natur, das wird sich von der zweiten Woche an beim meditativen Sitzen vertiefen. 19
1. Woche
4.Tag Schlaf dich aus!
1. Woche
Wenn du das Beten ernst nimmst, dann nimm auch deinen Schlaf ernst! Wach kannst du nur sein, wenn du dich ausgeschlafen hast. Deshalb heißt die erste Vorübung auf dem Weg zum Herzensgebet: Schlaf dich aus! Die zweite Übung lautet: Achte auf deine Träume! Erst danach folgen Übungen, die unmittelbarer zum Gebet hinführen. Wenn du vor dem Beginn deines Spaziergangs oder deiner stillen Zeiten innehältst, kannst du womöglich feststellen, dass du müder bist, als du gedacht hast. Dann schlaf dich, soweit es möglich ist, zunächst gut aus. Ohne schlechtes Gewissen. Der Schlaf erneuert die Seele und den Leib, erfrischt, gibt neue Kräfte, ordnet und macht den Geist wach. Dazu gehört vermutlich auch, dass du früher ins Bett gehst als bisher und bisherige AbendWenn du das Beten ernst nimmst, ablenkungen wie die Beschäftigung mit dem dann nimm auch deinen Schlaf ernst! Computer oder Fernsehen reduzierst. Zieh die Zeit des Gebets jedenfalls nicht von deinem Schlaf ab. Zwischen dem Schlaf und dem inneren Gebet besteht eine Ähnlichkeit: In beiden geschehen Dinge, die du nicht entscheidest und kontrollierst – und das kann unangenehm sein. Eine unruhige Nacht gleicht einer aufreibenden Gebetsstunde. Du weißt rückblickend nicht, was geschehen ist und wozu es gut war. Dennoch ist etwas in Gang gekommen. Schlaf nicht nur, um dich auszuruhen, sondern tu es auch, um dich den Kräften zu überlassen, die dein Leben bestimmen und die du nicht lenken kannst. Das unter deinem Bewusstsein wirkende Leben ordnet, integriert, arbeitet auf und bringt das, was mit dir im Laufe des Alltags geschehen ist und was auf dich wartet, in Einklang. Darin sind deine unbewussten Lebenskräfte viel geschickter als die bewussten. Die unbewussten dynamischen Fähigkeiten des Organismus und der Psyche entwickeln, entfalten und ordnen die inneren Prozesse deines Lebens und spielen dabei eine wichtigere Rolle als dein Bewusstsein. Die wichtigsten Lebensfunktionen lenkst du nicht selbst. Ein neugeborenes Kind schläft unglaublich viel und lernt „im Schlaf“; es wächst dabei nicht nur körperlich, sondern auch geistig. Im Psalm heißt es: 20
Die Natur als Lehrerin
„Den Seinen gibt’s der Herr im Schlaf“ (Psalm 127,2). Jesus schläft seelenruhig mitten im Seesturm im Fischerboot (Markus 4,38). Wenn du frühmorgens betest, ist es gut, dich schon am Abend darauf vorzubereiten. Der Tag beginnt nach biblischer Auffassung mit dem Vorabend. Besonders wenn du am folgenden Tag etwas Wichtiges zu erledigen hast, ist es gut, dich darauf einzustellen, dass das Unbewusste im Schlaf arbeitet, auf die Träume einwirkt und sich auf die kommende Aufgabe vorbereitet. Wenn dir das Gebet wichtig ist, dann stimm dich darauf am Vorabend ein.
Achte auf deine Träume! 5.Tag
1. Woche
Viele finden ihre Träume unsinnig und unnütz oder haben Angst vor Albträumen. Andere meinen, sie hätten keine Träume, weil sie sich nicht an sie erinnern. Träume lenken deine Aufmerksamkeit Wieder andere wissen, dass sie geträumt haauf das, was dich im Inneren bewegt. ben, nur nicht, worum es ging. Die Träume sind deine inneren Bilder, deine Gefühle, die du noch nicht kennst. Sie zeigen dir, wovor du Angst hast oder was du dir insgeheim wünschst. Die Träume gewähren dir einen Blick ins Laboratorium deines unbewussten Lebens, das immer wieder sehr weise versucht, in seelischen Vorgängen Zusammenhänge herzustellen, sie dir verständlich zu machen und zu ordnen. Träume lenken deine Aufmerksamkeit auf das, was dich im Inneren bewegt, sie führen dich zur Selbsterkenntnis und können manches in dir heilen. In der Heiligen Schrift ist häufig von Träumen die Rede. Gott warnt und unterweist durch Träume und zeigt so den Weg. In der hebräischen Bibel wird das eindrücklich beschrieben: „Auf eine Weise redet Gott und auf eine zweite; nur beachtet man’s nicht. Im Traum, im Nachtgesicht, wenn der Schlaf auf die Menschen fällt, wenn sie schlafen auf dem Bett, da öffnet er das Ohr der Menschen und schreckt sie auf und warnt sie, damit er den Menschen von seinem Vorhaben abwende und von ihm die Hoffart tilge und bewahre seine Seele vor dem Verderben und sein Leben vor des Todes Geschoss“ (Hiob 33,14-18). Häufig verstehen die Gestalten der Bibel ihre wahre 21
1. Woche
Situation und ihre Aufgabe durch Träume: Jakob auf der Flucht erkennt im Traum, dass Gott ihn nicht verlassen hat, sondern bei ihm ist und mit ihm geht. Er ist erschüttert, durch den Traum von der Himmelsleiter zu erkennen, dass er an einem heiligen Ort ist; das hat er nicht gewusst (1. Mose 28,10-19). Jakobs Sohn Josef gewinnt durch Träume Klarheit über seine Rolle und Aufgabe in seiner Familie (1. Mose 37,5-11). Später ist er in der Lage, die Träume des Pharao zu deuten. Vor der Geburt Jesu lernt der andere Josef, der verunsicherte Verlobte Marias, durch einen Traum seine schwangere Braut zu verstehen und ihr zu vertrauen. Er versöhnt sich mit ihr (Matthäus 1,18-25) und lässt sich später – wieder von einem Traum – leiten, das Kind und seine Mutter in Sicherheit zu bringen (Matthäus 2,13). Auch die Magier aus dem Osten verändern ihren Reiseplan aufgrund eines Traumes und kehren nicht zu Herodes zurück, der dem Jesuskind nach dem Leben trachtet (Matthäus 2,12). In Zeiten, in denen dich etwas besonders bedrängt und beschäftigt, achte besonders auf deine Träume! Du brauchst sie nicht zu deuten; sie wirken auch ohne Eingriff von dir – obwohl es nützlich sein kann, sie genauer anzuschauen und tiefer nachzuspüren, auf welche Zusammenhänge sie hinweisen könnten. Der Traum zeigt etwas von dem, was in dir vor sich geht. Es ist hilfreich, das zu betrachten, selbst dann, wenn dieser Einblick dich erschreckt und du dich über ihn nicht freuen kannst. Träume ähneln, wie die amerikanische Enneagrammexpertin Suzanne Zuercher sagt, Fotonegativen: Was im Wachbewusstsein hell und klar ist, tritt in den Hintergrund, was verdrängt oder übersehen wird oder im Schattenbereich liegt, tritt in den Vordergrund, damit wir es wahrnehmen und in unser Leben „integrieren“ können (vgl. Suzanne Zuercher: Ankommen im Einssein). Schöne Gebete kannst du erdichten. Träume aber überraschen dich, du erfindest sie nicht. Sie lassen sich weder bewusst planen noch manipulieren. Im Traum kannst du auch deine Kontrollmechanismen erkennen. Wir schieben im Laufe unseres Lebens vieles beiseite. Vieles, was uns an und in uns selbst und in unseren Beziehungen stört und was uns beim Streben nach Erfolg behindert, verdrängen wir. Deine Empfindungen und Wünsche, die du vor dir und vor anderen sonst verheimlichst, zeigt dir der Traum in unverhüllten Bildern. 22
Die Natur als Lehrerin
Achte auf deine Träume und notiere sie – je früher desto besser, bevor du sie vergisst! Unter deinem Bewusstsein ist sehr viel Weisheit verborgen: die Weisheit der Natur. Sie hat mit der Weisheit Gottes, des Schöpfers zu tun. Beschäftige dich aber nicht während der Gebetszeiten mit Traumdeutung!
Suche immer wieder die Stille und 6.Tag 1. Woche lerne abzuwarten! Wenn du dich aus der Unruhe und aus der Tretmühle des Alltags zurückziehst, kommt etwas in dir in Bewegung und rührt sich in dir. Um dich diesem erwachenden Lebensmoment in dir stellen zu können, brauchst du Stille. Du siehst nicht sofort, worum es geht. Lass dir Zeit und warte ab – im Vertrauen, dass deine Seele zu heilen beginnt und dass sie selbst versucht, in sich Ordnung zu schaffen. Gib die Führung aus der Hand. Das Leben wächst in der Stille. In der Stille kann sich etwas aus deinem verborgenen Inneren ganz ohne Kosmetik zeigen. Und alles, was jetzt in Erscheinung tritt, gehört wirklich zu dir. Es sind nicht nur von dir gutgeheißenen oder als brauchbar angesehenen Seiten in dir. In der Stille erkennst du dich wahrheitsgetreuer. Dein Selbstbild wird korrigiert. Die Stille erweist sich als die wirksamste Methode, die Selbsttäuschung zu entlarven (M. Scott Peck). Du brauchst die Stille, um das Böse und Störende nicht nach außen zu projizieren, und um dir einzugestehen, dass du dich selbst noch zu wenig gekannt hast und dass die Wahrheit über dich komplexer ist, als du gedacht hast. Auch Schlimmes darf in dir sein – weil es tatsächlich in dir ist. Du lernst durch die Stille, freier mit dem Dunklen in dir umzugehen. Wenn du Gott nicht in der Stille suchst, sondern ausschließlich in klugen Gedanken oder in deinen Aktivitäten, die die Welt verbessern sollen, dann bläht sich dein Ego auf. Wie leicht kannst du dir einbilden, dass deine Absicht Gottes Absicht und dein Wille Gottes Wille ist! In der Stille lernst du, deine eigenen Wünsche von den Absichten des Schöpfers zu unterscheiden. 23
1. Woche
Als der Prophet Elija gegen die Priester des Baal kämpfte (1. Könige 18,25), achtete er nicht auf Gott. Im Kampf für die Sache Gottes leiteten ihn seine eigenen Vorstellungen und eifernden Pläne. Erst in der Stille der Höhle erkannte er den wahren Gott (1. Könige 19,1-13). In der Stille kommt etwas in Bewegung. Aber die Antwort kommt nicht sofort. Sie lässt auf sich warten. Entwicklungen können nicht erzwungen oder Lerne, im Vertrauen abzuwarten. beschleunigt werden. Der Landwirt weiß Verzichte darauf, alles sofort erreichen das. Wenn er den Samen aussät und begießt zu wollen! und das Feld jätet, dann sieht er die Saat noch nicht wachsen. Trotzdem verlässt er sich darauf, dass die Saat aufgeht. Vertrauensvoll wartet er, geduldig, mutig und tapfer. Das Leben wächst in der Stille, in der Dunkelheit – nicht dann, wenn dir alles klar ist und du weißt, wohin die Reise geht. Lerne, im Vertrauen abzuwarten. Verzichte darauf, alles sofort erreichen zu wollen! Du brauchst Zeit, bis deine Seele und dein Leben sich entfalten.
7.Tag Leerlauf – Gewaltlosigkeit – Entschlossenheit
1. Woche
Das Herzensgebet, das wir in den kommenden Wochen einüben wollen, ist waches Aufmerksamsein. Dieser Zustand der Wachheit lässt sich jedoch nicht kontinuierlich aufrechterhalten. Womöglich machen wir uns deshalb Vorwürfe, obwohl es zu unserer Menschennatur gehört, dass wir nicht immer wach sind. Nur die Engel wachen Tag und Nacht. Als Menschen müssen wir uns eingestehen, dass wir nicht zu allem fähig sind. Die Zeiten des Leerlaufs rufen dir ins Gedächtnis, dass du den Schlaf brauchst und nicht unbegrenzt aufmerksam, wach und bewusst da sein kannst. Im Herzensgebet wirst du die leeren Zeiten auch als Zeichen des Widerstandes in dir erleben. Trotzdem ist nicht jede Zerstreuung und jede Schläfrigkeit Widerstand oder fehlende Entschlossenheit. Der Leib und die Seele haben nur scheinbar Leerlauf, wenn sie sich ausruhen. Dein Körper und deine Seele funktionieren nach ihrem eigenen Rhythmus. Dazu gehören neben Wachheit auch Schlaf, neben Zielstrebigkeit auch Ruhepausen, neben Zeiten erfolgreicher Schaffenskraft, 24
Die Natur als Lehrerin
in denen du stolz auf dich bist, eben auch Zeiten, die du womöglich als Leerlauf empfindest. Im Winter ruht sich die Natur nicht nur aus, sondern sie geht durch eine Phase der Reinigung und sammelt Kräfte, um sich zu erneuern. Für das Leben sind diese Leerläufe, die unnütz zu sein scheinen, unentbehrliche Zeiten des Reifens. Es sind die Zeiten, die die Blumen brauchen, bis sie blühen, und die Früchte, bis sie reifen können. Die Seele gleicht einer Blume. Wo Gewalt herrscht, lebt die Seele nicht auf, dort öffnet sie sich nicht und bringt keine Früchte hervor. Gedeihen und blühen kann sie dagegen auf dem Boden der Geduld, der Barmherzigkeit und Güte. Aufmerksamkeit und Konzentration können erzwungen werden, das Interesse nicht. Kannst du dich ohne Angst, ohne Vorurteile, ohne Grübelei und mit Interesse dir selbst zuwenden? Niemand kann gezwungen werden zu beten. Auch du kannst dich nicht zwingen. Das Gebet ist ein freiwilliger Akt der Seele. Es bedarf nicht der Willenskraft, noch weniger der Härte, sondern nötig sind Entschlossenheit, Mut und Ehrlichkeit zu dir selbst. Fürchtest du dich vor etwas? Macht dich etwas unruhig? Bist du bereit zu erlauben, dass du in der Stille von etwas betroffen wirst, auch wenn es erschreckend sein sollte? Bist du bereit, von Gott angerührt zu werden? Bist du bereit, dich dem Geist auszusetzen, der dich womöglich erschüttert, manches in dir infrage stellt, dich leiden lässt – dich aber auch heilt?
Diese Fragen sind nicht gestellt, um beantwortet zu werden, sondern um etwas in dir in Bewegung zu setzen. Wenn das Gebet dir nicht zu gelingen scheint, dann kannst du nur eines tun: Du beginnst es einfach von Neuem. Bei diesem Prozess muss nicht alles gleichzeitig geschehen. Es geht Schritt für Schritt. Unser erster Schritt war die wache Wahrnehmung der Natur mit allen Sinnen. Unsere nächsten Schritte in der zweiten Woche werden unser Sitzen und unseren Atem betreffen. 25