RICHARD RESCHIKA
Meer Liebe versenken
Ich will ins der
mich
Die Mystik Gerhard Tersteegens fĂźr heute
Claudius
Meinem Vater, Rudolf Franz Reschika, in Liebe und Dankbarkeit gewidmet.
Mehr Bäume. Weniger CO2. www.cpibooks.de/klimaneutral
Bibliografische Informationen Der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http://dnb.d-nb.de> abrufbar.
© Claudius Verlag München 2013 Birkerstraße 22, 80636 München www.claudius.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Mario Moths, Marl Umschlagfoto: © peeterv/iStockphoto Druck: Ebner/Spiegel, Ulm ISBN 978-3-532-62448-7
„Ganz für Gott sein, ist das wahre Geheimnis des inwendigen (mystischen) Lebens, ein Christenleben, wovon sich die Leute solche seltsame und fürchterliche Bilder machen ... Es ist der uralte wahre Gottesdienst, das christliche Leben in seiner Schönheit und eigentlichen Gestalt.“ Gerhard Tersteegen Anhang eines Handbriefleins von der wahren Mystik
Inhalt EINLEITUNG Gerhard Tersteegen – Protestant und Mystiker, Individualist und Nonkonformist . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
9
I. TEIL Die Macht der Liebe Zur Person Tersteegens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19 1. Leben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Mann ohne Gesicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kindheit und Jugend . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Lehrjahre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kaufmann und Weber . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dürre Zeit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Blutverschreibung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Neues Leben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Reisen und Predigten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Pilgerhütte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Laienarzt und -apotheker, Schriftsteller und Übersetzer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Stille Jahre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Erweckungsprediger und Seelsorger. . . . . . . . . . . . . . . . . Der Siebenjährige Krieg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Krankheit und Tod . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Hauptwerke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der religiöse Dichter: Geistliches Blumengärtlein inniger Seelen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der gewissenhafte Hagiograf: Auserlesene Lebensbeschreibungen heiliger Seelen . . . . . . . . . . . . . . .
20 20 23 27 30 32 34 40 43 47 49 54 57 60 62 67 68 97
Der versierte Traktatschreiber: Weg der Wahrheit . . . . 103 Der charismatische Prediger: Geistliche Brosamen . . . . 107 Der einfühlsame Briefseelsorger: Internationale Korrespondenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115 3. Bedeutung und Wirkung: Einziger Mystiker des reformierten Pietismus, begnadeter Kirchenlieddichter, engagierter „Sozialarbeiter“ und früher Förderer der Ökumene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 128 II. TEIL In der Gegenwart Gottes Zur geistlichen Lehre Tersteegens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147 1. Theologie, Anthropologie und Mystik: Der erleuchtete Bibelleser . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Protestantismus, Pietismus und Quietismus: Der geborene Grenzgänger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Leitmotive: Pilgerschaft – Kindsein vor Gott – Loslassen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Pilgerschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kindsein vor Gott . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Loslassen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
148 164 176 176 181 186
III. TEIL Auf dem Weg der Wahrheit Zur spirituellen Praxis Tersteegens – Kommentierte Kontemplationsübungen, Lebens- und Gebetshaltungen 193 1. Der Augenblick als Tor zur Ewigkeit . . . . . . . . . . . . . . 194 2. Alle (Seelen-)Kräfte auf Gott bündeln . . . . . . . . . . . . . . 201 3. Zwölf Verhaltensregeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 208
AUSBLICK Zwischen überholter Tradition und wegweisender Orientierung – Tersteegen, der Antiaufklärer und der mystische Prophet der Konzentration . . . . . . . . . . . 215
Anhang Anmerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Primärliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Sekundärliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zeittafel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zeugnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Autor . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
228 245 245 247 254 263 267 269
EINLEITUNG
Gerhard Tersteegen – Protestant und Mystiker, Individualist und Nonkonformist „Tersteegen ist und bleibt einer der Größten, die wir haben, als Prophet der Konzentration im Leben und Denken, der Innerlichkeit der Seele und ihrer Erlösung ...“ Karl Barth
„Das Gut des Lebens währt zählbare Tage, das Gut des Namens unzählige Tage“ (Jesus Sirach, 41,13). So wahr diese Erkenntnis des alttestamentlichen Weisheitsbuches über den bleibenden Wert des guten Namens, des hervorragenden Renommees auch jenseits des Todes seines Trägers sub speciae aeternitatis sein mag, sie ändert nichts an der Tatsache, dass sogar dieses Geschenk Gottes – zumindest in unserer irdischen Welt – dem jeweils herrschenden Zeitgeist, seinen wechselnden Moden und Launen unterliegt, Menschen selbst in ihren durchaus authentischen Lobpreisungen und Würdigungen unterschiedliche Perspektiven einnehmen und entsprechende Schwerpunkte setzen. Ganz zu schweigen vom Schicksal jener Geister, die verkannt oder verfolgt wurden, deren Namen und Andenken man – aus welchen Gründen auch immer – zuweilen erst nach Jahrhunderten in Ehren zu halten begann. Man denke nur an die späte Rehabilitation, die „Renaissance“ so mancher Märtyrer/innen oder Ketzer/ innen. Mit dem Namen Gerhard Tersteegen verbindet man heute in erster Linie den genialen Schöpfer überkonfessionell bekannter Kirchenlieder wie Gott ist gegenwärtig, Kommt, Kinder, lasst uns gehen und vor allem Ich bete an die Macht der Liebe, das hymnenartig – in der populären Vertonung des in Russland wirkenden ukrainischen Komponisten Dmitri Stepanowitsch Bortnjanski (1751–1825) – regelmäßig auf dem Höhepunkt des Großen Zapfenstreichs, des höchsten militärischen Zeremoniells der Bundeswehr, bei Staatsakten wie der Verabschiedung eines verdienten Politikers, erklingt, wenn es noch vor Abspielen der deutschen Nationalhymne heißt: „Helm ab zum Gebet!“ 10
Ich bete an die Macht der Liebe, Die sich in Jesus offenbart, Ich gebâ&#x20AC;&#x2122; mich hin dem freien Triebe, Wodurch ich Wurm geliebet ward, Ich will, anstatt an mich zu denken, Ins Meer der Liebe mich versenken. Wie bist du mir so zart gewogen, Und wie verlangt dein Herz nach mir! Durch Liebe sanft und tief gezogen, Neigt sich mein Alles auch zu dir. Durch traute Liebe, gutes Wesen, Du hast mich und ich dich erlesen ...1
Dmitri Stepanowitsch Bortnjanski, Ich bete an die Macht der Liebe. Notenbild nach einer Ausgabe aus dem 19. Jahrhundert
11
Dass der 1697 in Moers am unteren Niederrhein geborene und 1769 in Mülheim an der Ruhr verstorbene Gerhard Tersteegen aber nicht nur ein begnadeter Dichter frommer Kirchenlieder, sondern zugleich – neben Jakob Böhme (1575– 1624) und Johannes Scheffler alias Angelus Silesius (1624– 1677) – der bedeutendste Mystiker des Protestantismus, genauer gesagt, des reformierten Pietismus war und durch seine zahlreichen Schriften und Briefe als Mystagoge im neueren Verständnis Karl Rahners (1904–1984), das heißt als erfahrener Seelsorger, viele Menschen auf ihrem spirituellen Weg begleitet hat, wissen nur noch sehr wenige zu schätzen. Der Schweizer reformierte Theologe Walter Nigg (1903–1988) will in Tersteegen sogar den „geborenen Seelenführer, das protestantische Gegenstück zum katholischen Franz von Sales“2 erkennen. In Deutschland, vor allem in NordrheinWestfalen, tragen immerhin einige soziale Einrichtungen wie Waisen-, Pflege- und Krankenhäuser, aber auch Altenheime und Gemeindehäuser den Namen Gerhard Tersteegen, die damit zugleich an dessen diakonische Ausübung der Heilund Apothekerkunst erinnern. Doch auch Tersteegens eminente Rolle als früher Förderer einer gelebten Ökumene und leuchtendes Vorbild religiöser Toleranz ist heutzutage nahezu unbekannt: „Ich glaube, dass sowohl in der Partei der Römisch-Katholischen als unter den Lutheranern, Reformierten, Mennoniten usw. ... die Seelen zu dem höchsten Gipfel der Heiligung und Vereinigung mit Gott gelangen können ... Gleichwie unter allerlei Volk, wer Gott fürchtet und Recht tut, demselben angenehm ist, so ist er auch mir angenehm, er habe sonst dieses oder ein anderes Religionsröcklein an ...“3, so das feste – einer gewissen Ironie nicht entbehrende – Credo Tersteegens, der damit nicht nur seiner, 12 sondern wohl auch noch unserer Zeit weit voraus sein dürfte.
Die chronische Randständigkeit dieses Multitalents – Tersteegen war eben nicht nur Dichter, sondern auch Hagiograf, Traktatschreiber, Prediger und Briefseelsorger in Personalunion – mag nicht zuletzt an seinem Individualismus und Nonkonformismus, an seinem sanften Rebellentum in religiösen Dingen, aber auch an der gegenwärtigen Quellenlage liegen, da selbst dessen Hauptwerke – darunter das Geistliche Blumengärtlein inniger Seelen, die Auserlesenen Lebensbeschreibungen heiliger Seelen, der Weg der Wahrheit und die Geistlichen Brosamen – so gut wie unzugänglich sind und sogar die nichtwissenschaftliche Literatur über ihn äußerst rar gesät ist. Man braucht schon sehr viel Glück, um in einem Antiquariat fündig zu werden – und sei es nur, um eine kleine vergilbte Tersteegen-Anthologie zu erstehen. Diese große bio- und bibliografische Lücke ein wenig schließen zu helfen und nach der spirituellen Botschaft Tersteegens an uns Zeitgenossen zu fragen, ist das vornehmliche Ziel des vorliegenden Buches: Ich will ins Meer der Liebe mich versenken. Die Mystik Gerhard Tersteegens für heute. Das Buch setzt zwei Schwerpunkte: Zum einen möchte es den Leserinnen und Lesern eine prägnante Einführung in Leben, Werk und Wirkung dieses christlichen Grenzgängers zwischen Protestantismus, Pietismus und Quietismus geben und dabei die Leitmotive seiner Erfahrungstheologie und Mystik herausarbeiten (in den monografisch geprägten Teilen I und II). Zum anderen möchte es anhand sorgfältig ausgewählter und kommentierter Textbeispiele – unter anderem aus seinen Hauptwerken Geistliches Blumengärtlein inniger Seelen und dem Weg der Wahrheit – die spirituelle Praxis Tersteegens vorstellen (im mystagogischen Teil III) und dabei zugleich mit dem hartnäckig sich haltenden Klischee vom „seltsamen Vogel“ und weltfremden Betbruder und daher all- 13
zu oft unterschätzten Schöpfer vermeintlich süßlicher Erbauungsliteratur aufräumen. Ein Schlusskapitel fragt schließlich nach Tersteegens Stellung und Bedeutung für heute: zwischen zweifellos überholter antiaufklärerischer Tradition und unzeitgemäß wirkender strenger Askese und Weltabkehr einerseits und wegweisender mystischer Neuorientierung auf das Wesentliche, das „Eine, was not ist“, andererseits, zuvörderst in Gestalt dessen, was Tersteegen einmal als „die ganze Summe der christlichen Pflichten“ bezeichnet hat, nämlich Die Übung der liebreichen Gegenwart Gottes: „Es besteht aber diese Übung kurz gesagt darin“, erläutert Tersteegen in seinem Weg der Wahrheit, „dass wir einfältig und andächtig glauben, dass Gott überall und auch in unserem Herzen gegenwärtig sei; dass er dazu bei uns und in uns gegenwärtig sei, damit wir ihn daselbst anbeten, lieben und ihm dienen sollen, gleich wie er sich uns daselbst gerne mitteilen und gerne bei uns sein will, dass wir uns demnach dieser Wahrheit des Glaubens öfters auf eine herzliche Weise erinnern und uns als bei Gott, vor Gott und in seiner Gegenwart ansehen ...; dass wir uns auf eine liebevolle und stumme Weise mit Gott unterreden in unserem Herzen und uns mit ihm gemeinsam machen als mit unserem liebsten und besten Freunde, und zwar zu aller Zeit und bei allem, was uns inwendig oder auswendig vorkomme, es sei Gutes oder Böses.“4 Denn dieser „getreue Freund“ würde einem selbst noch in der Stunde des Todes beistehen, was man nicht von allen Freunden behaupten könne. Zwei kleinere, dafür aber umso gewichtigere Schriften Tersteegens dienen im Schlusskapitel als Leitschnur: Gedancken über eines Anonymi Buch, genant, Vermischte Werke des Welt-Weisen zu Sanssouci sowie Kurzer Bericht von der Mys14 tik aus dem Buch über den Weg der Wahrheit. Erstere Schrift,
die der deutsche Theologe Arno Pagel (1914–2002) „ein Werk in literarischer Vollendung“5 nennt, versteht sich dabei als eine kritische Stellungnahme Tersteegens zu einem Aufklärungspamphlet des Preußenkönigs Friedrich II., letztere als Quintessenz dessen, was Tersteegen selbst unter „Mystik“ verstand und – nicht minder wichtig – was er auf diesem Gebiet als irrige und daher zu beseitigende Vorstellungen ansah: „Gesichte, Offenbarungen, Eingebungen, Weissagungen und manche andere außerordentliche Dinge können zwar einem Mystiker auch ungesucht begegnen, gehören aber so gar nicht zum Wesentlichen der Mystik ... Mystiker sind auch nicht Schwätzer von großer Geistlichkeit, sie affektieren keine dunkle, hochtrabende, verblümte Redensarten, sondern sprechen das, was sie erfahren, so aus, wie sie es mit Worten (1. Korinther 2,13), die der heilige Geist lehrt, deutlich machen können. Sie reden wenig, sie tun und sie leiden vieles, sie verleugnen alles, sie beten ohne Unterlass, der geheime Umgang mit Gott in Christus ist ihr ganzes Geheimnis.“6 Mystiker seien lediglich Menschen, die einen bestimmten „Grad der Erfahrungserkenntnis Gottes“ erreicht hätten. Für diese lebendige, innere Erfahrungserkenntnis Gottes, die der Scholastiker Thomas von Aquin (1225–1274) in einer berühmten Definition als cognitio Dei experimentalis bezeichnete, sollten nicht nur die mittelalterlichen Mystiker/innen, sondern auch die Pietist/innen streiten – sowohl gegen eine abstrakte Vernunfterkenntnis als auch gegen eine tote Lehrorthodoxie. Im Zentrum dieses Buches stehen der Mystiker Tersteegen und die Bedeutung seiner Mystik für heute. Denn weniger den „Heiligen des Protestantismus“ (Walter Nigg) als vielmehr den mystischen Seelenbegleiter in das Geheimnis der Gegenwart Gottes, den „Propheten der Konzentration im Leben und Denken“ (Karl Barth) und den „Vorkämpfer 15
des kontemplativen Lebens“ (Giovanna della Croce), der den Menschen in Gestalt von mannigfaltigen Kontemplationsübungen, Lebens- und Gebetshaltungen konkrete Anweisungen für ihre geistliche Entwicklung gibt, gilt es für unsere Zeit wieder neu zu entdecken und zu würdigen. „Dein stetes Werk sei, bei dir selbst zu bleiben und mit dem Herrn im Verborgenen deines Geistes so zu wandeln, als wenn du nur mit ihm allein in der Welt wärest ... Lass es dir sein, als wenn du in der Gesellschaft eines guten und lieben Freundes durch ein fremdes Land und eine wüste Einöde reistest.“7 Sich Gott zum Seelenfreund zu machen, mit ihm „von nun an gleichsam unter vier Augen“ zu handeln und zu wandeln, gehörte zu den wichtigsten Botschaften Tersteegens an seine Leserinnen und Leser – gestern wie heute. Noch ein persönliches Wort und Dankeschön: Es heißt, die guten, ja die besten Ideen würden oftmals gar nicht dem eigenen Kopf, dem emsigen Nachsinnen entspringen, sondern vielmehr von außen an uns herangetragen werden, uns unvermutet zufallen – wenn sie nicht gleich von oben, vom „Vater des Lichts“ (Jakobus 1,17) selbst herkämen ... Ich mag mich unter anderem an dieses bekannte Bonmot erinnert haben, als ich die Anregung des Münchner Claudius Verlags, ein Buch über den großen Unbekannten, den protestantischen Dichter-Mystiker Gerhard Tersteegen zu verfassen, spontan aufgriff und – nach nur kurzer Orientierungsund Recherchephase – auch in die Tat umzusetzen begann. Und dies, obwohl sich rasch herausstellen sollte, dass, wie schon erwähnt, die allgemeine Quellen- und Forschungslage zu Tersteegen, der mir zwar ein Begriff war, von dessen Werk ich allerdings nur einen Bruchteil kannte, alles andere als ein16 fach zu bezeichnen ist. Doch die Entscheidung war bereits
getroffen, die Herausforderung angenommen und der Funke übergesprungen. Mein ausdrücklicher Dank gilt daher an erster Stelle den beiden inspirierten Impulsgebern zu diesem Buchprojekt: Frau Heide Warkentin und Herrn Dr. Dietrich Voorgang, der Vertriebsleiterin und dem Lektor des Claudius Verlags, die bereits mein letztes, von großen mystischen Momenten handelndes Buch Und plötzlich ist Klarheit. Christliche Erleuchtungserlebnisse von Paulus bis heute (2012) ebenso kenntnisreich wie engagiert betreut haben. Ein aufrichtiges Dankeschön geht ferner an Herrn Heinz Hohensee, den langjährigen kompetenten Leiter des Tersteegen-Hauses in Mülheim an der Ruhr, für seine Gastfreundschaft, die vielen wertvollen bibliografischen Hinweise und die Erschließung auch raren Quellenmaterials. Unvergessen bleibt mein Besuch im Tersteegen-Haus, das sein Namensgeber von 1746 bis zu seinem Tod bewohnte, mit seiner einzigartigen Atmosphäre inmitten der malerischen Mülheimer Altstadt gegenüber der fast tausendjährigen evangelischen Petrikirche Anfang Juli 2012. Der Historiker Otto Redlich bezeichnete 1815 das Tersteegen-Haus auf dem Kirchenhügel als ein altes, kaiserliches Lehnsgut karolingischer Zeit.8 Das nach den Zerstörungen des Zweiten Weltkriegs (bei einem Luftangriff der Alliierten am 23. Juni 1943) nach den alten Plänen rekonstruierte Haus mit seinem markanten massiven Steinsockel und der geschindelten Obergeschossfassade in der Teinerstraße 1 dient seit 1950 zugleich als Heimatmuseum der Stadt Mülheim an der Ruhr und präsentiert Möbel, Hausrat und andere Exponate des 18. und 19. Jahrhunderts, sodass man einen plastischen Eindruck von Tersteegens Arbeits- und Wohnverhältnissen und seinem Lebensalltag gewinnen kann: genius loci! Neben Tersteegens Werken 17
stellt das Museum Werke und Arbeitsutensilien einer anderen Lokalgröße vor, nämlich die des in Mülheim geborenen Arztes und Schriftstellers Dr. Carl Arnold Kortum (1745–1824), der als Dichter der Jobsiade, einer zeitgenössischen Satire in Knittelversen, „bescheidenen Weltruhm“9 erlangte, wie Heinz Hohensee in einem 1997 publizierten Aufsatz über Mülheim zur Zeit Tersteegens schreibt: „Tersteegen und Kortum waren Nachbarn, über den Hof konnten sie sich sozusagen ‚in die Töpfe gucken‘, denn ihre Häuser waren nur knapp 30 Schritte voneinander entfernt ... In seinen Tagebüchern bezeichnet er (Kortum) seinen Nachbarn Tersteegen als gelehrten und wahrhaft apostolischen Mann, mit dem er in freundschaftlichem Umgang stand.“10 Auch diese kleine Ausstellung trägt dazu bei, uns Tersteegens Lebensumfeld ein bisschen näher zu bringen und besser verstehen zu können. Von ganzem Herzen bedanken möchte ich mich – last but not least – bei meinem Vater, dem Musiker und Musikwissenschaftler Rudolf Franz Reschika, für die abermalig anregenden Gespräche rund um die Wort- und Liedkunst Tersteegens, die engagierte Begleitung des Projekts, die große Hilfe bei der Recherche des Bildmaterials, das aufmerksame Korrekturlesen und für seinen lieben Zuspruch.
18
I. TEIL
Die Macht der Liebe Zur Person Tersteegens â&#x20AC;&#x17E;Suche nicht gesehen und bekannt zu werden bei anderen ... Trachte du nur inwendig wohl mit Gott zu stehen, alsdann ist wenig dran gelegen, wie es sonst geht und was andere von dir reden und denken.â&#x20AC;&#x153; Gerhard Tersteegen
1. Leben Der Mann ohne Gesicht Kein Konterfei. Keine Büste. Auch keine Totenmaske. Wie Gerhard Tersteegen aussah, wissen wir nicht. Die Echtheit der noch immer kursierenden Tersteegen-Porträts ist bedauerlicherweise nicht belegt: Weder das häufig abgebildete Ölgemälde, auf dem ein asketisch wirkender und dabei ernst dreinblickender Mann mit schulterlangen Haaren und vor die Brust gehaltener rechter Hand dargestellt ist, noch die schlechte Kopie einer guten Bleistiftzeichnung, die in Wirklichkeit aber den deutschen Dichter der Romantik Johann Ludwig Tieck zeigt und heute im Goethe-Nationalmuseum in Weimar hängt – sie stammt von dem kursächsischen Porträtmaler Carl Christian Vogel von Vogelstein aus dem 19. Jahrhundert –, kommen als authentische Tersteegen-Darstellungen ernsthaft in Betracht. Gleichwohl greifen einige Autoren und Verlage – offenbar selbst wider besseren Wissens – nach wie vor auf diese ungesicherten Vorlagen zurück, gleichsam nach der Maxime: lieber ein falsches Bild als gar kein Bild! Das Gebot, sich kein Bildnis zu machen, scheint Menschen nicht nur im Hinblick auf das Absolute, Transzendente zu überfordern, der Horror vacui ist offensichtlich allenthalben übermächtig. Dabei gibt es durchaus brauchbare Quellen und Zeugnisse über Tersteegens Aussehen und sein Gebaren. Schenkt man beispielsweise den Aussagen seiner Freunde Glauben, besaß er eine hagere Gestalt mittlerer Größe und war stets einfach, aber nie unordentlich gekleidet. Sein edles, blasses Gesicht soll ihm oft das Aussehen eines Toten verliehen ha20 ben. Dass er von allgemein schwacher Konstitution war und
zeitlebens von Krankheiten und Schmerzen geplagt wurde, schreibt Tersteegen, der sich oft als „candidatus mortis“, als Todgeweihter ansah, selbst wiederholt in seinen Briefen. Bereits in jungen Jahren fühlt er sein persönliches Ende nahen: „Will ich aber etwas anfangen, wozu auch nur wenig Kräften nötig sind, so bin bald abgemattet und spüre Herz-Klopfen wie auch Glieder- Haupt- und Augen-Schmerzen“11, lässt Tersteegen im November 1731, also im Alter von gerade einmal 34 Jahren, seinen Freund Georg Heinrich Fischer auf der Otterbeck wissen. Auch Tersteegens Freunde meinen fast an jedem seiner Geburtstage, dass dieser der letzte seines Lebens sei – und irren gleicherweise, denn Tersteegen sollte ein hohes Alter erreichen. Hinzu kommen bei ihm nicht selten auch „kleine Verdrießlichkeiten“, wie er seinen Ärger nennt, die Kopf, „Geblüt“ und Nerven in Aufregung bringen. Das Fehlen jeglicher bildnerischer Dokumente dürfte aber vor allem einen triftigen Grund haben: Tersteegen hatte es zeitlebens vehement abgelehnt, sich zeichnen oder malen zu lassen. So sehr er sich in Tausenden von poetischen Bildern – wie beispielsweise jenem vom unermesslich weiten, tiefen und geheimnisvollen Meer – Gott zu nähern und ihn zu preisen suchte, so wenig wollte er der Welt auch nur ein einziges Abbild seiner „Wenigkeit“ hinterlassen. Genauso war ihm jede Art von Kult und Rummel um seine Person ein echter Gräuel. Diese Haltung zeugt jedoch keineswegs von Schüchternheit, pflegte er doch zuweilen vor mehreren Hundert Menschen zu predigen und sie in seinen Bann zu ziehen, sondern vielmehr von Bescheidenheit, Demut und Selbstverleugnung im guten alten christlichen Sinne: „Ich wünschte von Herzen, dass der Name Gerhard Tersteegen vergessen und hingegen der Name Jesu in aller Menschen Herzen tief eingeprägt würde.“12 So lautet eine ihm zugesprochene Äuße- 21
rung. Zumindest Tersteegens erster Herzenswunsch sollte – Gott sei’s gedankt, könnte man ausrufen – nicht in Erfüllung gehen: Auch nach seinem 300. Geburtstag sind weder Name noch Werk des protestantischen Mystikers vergessen. Im Gegenteil. Von Tersteegens Leben wüssten wir allerdings noch weniger, wenn wir nicht auf die sogenannte Alte Lebensbeschreibung zurückgreifen könnten, die nach seinem Tod verfasst und der Ausgabe seiner gedruckten Briefe beigefügt worden ist. Noch kurz vor seinem Ende verweigerte Tersteegen hartnäckig die Bitte seiner Freunde nach einem (auch noch so kurzen) autobiografischen Abriss: „Ach Gott, wie mager, wie so vermischt, oder wohl gar anstößig würde das herauskommen!“13 Stattdessen vertröstete er sie mit folgenden Worten auf die Ewigkeit: „Da werdet ihr, meine Brüder, mein Leben sehen, da werdet ihr mit mir leben und da wollen wir einer dem andern zum ewigen Lobe Gottes unsere Lebensbeschreibungen erzählen.“14 Der Gründe, seine eigenen Memoiren nicht zu schreiben, gibt es sicherlich viele – Uneitelkeit, Bescheidenheit und Diskretion wie im Falle Tersteegens dürften allerdings wohl zu den eher seltenen gehören. Auch die nachstehende biografische Skizze stützt sich vornehmlich auf diese Hauptquelle, allerdings unter bewusster Aussparung allzu „hagiografisch“, allzu salbungsvoll wirkender Passagen. Die Alte Lebensbeschreibung schätzt der Tersteegen-Experte Hansgünter Ludewig – trotz auffälliger Lücken – „als sicher und vertrauenswürdig“. Über dessen anonymen Autor hält er in seinem 1986 veröffentlichten Buch Gebet und Gotteserfahrung bei Gerhard Tersteegen – einem Standardwerk der neueren Tersteegen-Forschung – Folgendes fest: „Der Autor ist somit als Sammler des ihm erreichba22 ren Materials anzusprechen. Seiner Darstellung liegen einmal
die persönlichen Berichte von Tersteegens Lebensgefährten Heinrich Sommer zugrunde, ‚der den meisten Stoff zu dieser Lebensgeschichte hergegeben hat‘, zum anderen die sehr persönlichen Briefe, die Tersteegen an Maria d’Orville geschrieben hat und nach ihrem Tode 1755 zurückerhalten hat, weiterhin ein recht langer Brief an den reformierten Prediger Eberhardt in Speyer ... und schließlich einige wenige Briefe an Freunde und von Freunden ... (auch) die 1772 in Amsterdam herausgegebene Sammlung ist ihm bekannt.“15 Selbstredend sind im Folgenden auch neue biografische – auch religionspsychologische – Erkenntnisse der Tersteegen-Forschung berücksichtigt, allerdings beschränkt auf die wichtigsten Daten und Ereignisse seines Lebens. Kindheit und Jugend Gerhard Tersteegen (niederdeutsch Gerrit ter Steegen) wird am 25. November 1697 als zweitjüngstes von sieben Kindern – er hatte vier Brüder (Joost, Willem Adamus, Johannes, Abraham) und zwei Schwestern (Johanna, Agneta)16 – im damals noch holländischen Moers am Niederrhein geboren – „in jener Landschaft ..., wo das Rheinland bereits das niederländische Gepräge des von Kanälen durchzogenen Flachlandes annimmt.“17 Die Grafschaft Moers, die im Besitz des Geschlechts der Oranier ist, sollte erst 1702, im Todesjahr Wilhelms III. von Oranien, an das Königreich Preußen fallen. (Den Moerser Bürgern soll es schwergefallen sein, sich nach 100-jähriger oranischer Herrschaft an die neuen Machtverhältnisse zu gewöhnen, sodass einige die preußischen Soldaten als Eier- und Butterdiebe gescholten und ihnen sogar das entblößte Hinterteil gezeigt haben ...) Tersteegens Eltern sind Conera Maria, eine geborene Tri- 23
Tersteegens heute nicht mehr existentes Geburtshaus in Moers am Altmarkt. Holzstich von ca. 1840/50 im Grafschafter Museum Moers
boler (1656–1721), und Heinrich Tersteegen (1665–1703), ein frommer Tuchhändler und Kaufmann, der der reformierten Kirche angehört, aber im (niederländischen) Pietismus beheimatet ist und am Markt in Moers ein Ladengeschäft betreibt. Von 1694 bis 1697 war er Rentmeister, also Leiter des Rentamts (Behörde der landesherrlichen oder kirchlichen Finanzverwaltung) der Stadt Moers. Am 1. Dezember wird ihr Kind von Snethlage, dem Pfarrer der reformierten ehemaligen Karmeliter-Kirche in Moers und von 1668 bis 1680 Schulleiter des Adolfinums, getauft: „1. 12. 1697 Henricus Ter Stegen und Conera Maria Ehel. Ein Sohn Gerardus getaufft“, ist im Moerser Kirchenbuch nachzulesen. Niederländische Wurzeln seiner Vorfahren sind aufgrund der Schreibweise seines Nachnamens – Ter Ste(e)gen mitun24 ter auch Terst(e)gen – und der Lage seines Geburtsorts im
Grenzgebiet zweier Kulturen gut möglich, aber nicht gesichert. Übersetzt man seinen in den Niederlanden heute noch häufig anzutreffenden Nachnamen ins Deutsche, eröffnen sich im Übrigen symbolträchtige Assoziationsmöglichkeiten: ter = zu/zur/zum, steeg (als Substantiv) = Gasse und steeg beziehungsweise stijgen (als Verb) = steigen! Nomen est omen – dieser Weg führt nach oben ...! Tersteegen selbst hat sich immer Gerhard (althochdeutsch = „der Speerstarke“) genannt und nur ein einziges Mal die niederländische Form „Gerrit“ verwendet, jedoch niemals seinen Taufnamen „Gerardus“. Sein Taufname ist, in Paranthese gesagt, gleichlautend mit dem des bedeutenden Kölner Theologen und scholastischen Philosophen Gerardus ter Steghen (um 1400–1480), auch Gerhard Terstegen de Monte genannt, der sich unter anderem als Kommentator Thomas von Aquins hervortat. Der Junge ist noch keine sechs Jahre alt, als am 11. September 1703 sein Vater – aus nicht überlieferten Gründen – stirbt. „Es muss ein schwerer Schlag für die Familie gewesen sein“, mutmaßt Dieter Hoffmann in seiner religionspsychologischen Untersuchung der religiösen Entwicklung Gerhard Tersteegens unter dem Titel Der Weg zur Reife von 1982: „Der Verlust des Vaters, der bei seinem Tode nur ungefähr 45 Jahre alt war, muss schwerwiegende Veränderungen im Leben der Familie verursacht haben ... Es ist seltsam, dass Tersteegen nie dieses Erlebnis in seinen späteren Briefen direkt aufnimmt. Es gehörte nicht zum Genre seiner Frömmigkeit – in ihr sollte der eigene Mensch nicht erkennbar sein.“18 Nicht auszuschließen ist wohl auch, dass Tersteegen ein derart traumatisches Ereignis zeit seines Lebens – selbstredend unbewusst – zu verdrängen sucht. Ein weiteres einschneidendes Erlebnis dürfte für den Jungen auch der Weggang seines ältesten Bruders Joost gewesen sein, der an den Universi- 25
täten Duisburg und Leiden das Studium der Theologie aufnimmt – er wird später reformierter Pfarrer in Hueth bei Emmerich. Tersteegens Mutter muss sich fortan allein um die Erziehung der Kinder kümmern und lässt ihren Sohn Gerhard die reformierte Lateinschule Adolfinum in Moers besuchen. Die Entstehung des Adolfinums geht auf den Grafen Hermann von Neuenahr-Moers (1520–1578) zurück, der in der Grafschaft seit 1560 die Einführung der Reformation betrieben hatte. In dieser sogenannten schola illustris lernt der junge Tersteegen unter der Leitung des Konrektors Arnold Merckens Griechisch, Latein und Hebräisch und bekommt Unterweisungen in Religion und im Lesen des Neuen Testaments, besonders aber des Heidelberger Katechismus. Der auf Initiative des Kurfürsten Friedrich III. hauptsächlich von Zacharias Ursinus erstellte und im Jahre 1563 in Heidelberg unter dem Titel Catechismus oder christlicher Undericht, wie der in Kirchen und Schulen der Churfürstlichen Pfaltz getrieben wirdt herausgegebene Heidelberger Katechismus ist der am weitesten verbreitete Katechismus der reformierten Kirche und zugleich Unterrichtsbuch für Kirche und Schule, Bekenntnisschrift, Trost- und Gebetbuch sowie Vorlage zahlloser erbaulicher Literatur. Er umfasst 129 Fragen und Antworten und gliedert sich im Wesentlichen in drei große Teile: Von der Menschen Elend (die Sündenerkenntnis), Von des Menschen Erlösung (die Erkenntnis der Erlösung) und Von der Dankbarkeit (eine Ethik der Dankbarkeit). Sowohl das Gebet als auch die „guten Werke“ sind dem dritten Teil zugeordnet, denn diese dienen in reformierter Sicht ja nicht dazu, vor Gott angerechnet zu werden, sondern verstehen sich bloß als eine dankbare und selbstverständliche Ant26 wort auf die vorbehaltlose Gnade Gottes.
Tersteegen ist ein guter Schüler. Anlässlich einer ausgezeichneten Rede, die er bei einer öffentlichen Solennität, einem Schulfest, in lateinischen Versen hält, empfiehlt ein vornehmer Ratsherr der Mutter, den Jungen sogar studieren zu lassen. Aufgrund „häuslicher Umstände“ – gemeint sind damit finanzielle Engpässe – bestimmt sie ihn aber zur Kaufmannschaft. Über die religiöse Bedeutung der Moerser Jugendzeit Tersteegens schreibt Dieter Hoffmann, „dass im kirchlichen Leben von Moers und in der Glaubensinterpretation der Familie für Tersteegen schon früh Möglichkeiten aufgezeigt werden, einem eigenen Weg der Frömmigkeit Voraussetzungen und Zustimmung zu geben. Tersteegen erhält schon in seiner frühen Kindheit die Ermunterung zu eigener Reflexion und erlebt in seiner Familie eine Frömmigkeitswirklichkeit, die von der offiziellen Form der Interpretation der Kirche in wichtigen Fragen abweicht. Tersteegens spätere Einstellung zur Kirche, die Unterstreichung der Bedeutung des Bedürfnisses, einen eigenen Weg des Glaubens an Gott finden zu müssen, erhalten hier vermutlich einen grundlegenden Prägel, der sich in der ersten Mülheimer Zeit inhaltlich orientiert und darin das Wesen der Frömmigkeit Tersteegens bestimmt.“19 Diese Einschätzung ist psychologisch plausibel, denn frühkindliche Prägungen können bekanntlich als die stärksten von allen gelten. Lehrjahre Tersteegen ordnet sich den Anordnungen seiner Mutter unter und übersiedelt 1713 nach Mülheim an der Ruhr, um bei seinem Schwager Matthias Brink eine vierjährige kaufmännische Lehre anzutreten. Das drei bis vier Fußstunden von 27
Moers entfernte Mülheim (ca. 18 Kilometer Luftlinie), in dem es zu dieser Zeit Reformierte, Lutheraner, Katholiken und Juden gibt und das dadurch von einer – modern gesprochen – gewissen Multikulturalität geprägt ist, sollte ihm bis ans Lebensende zur zweiten Heimat werden. Der Alten Lebensbeschreibung zufolge macht Tersteegen hier bereits als Sechzehnjähriger seine ersten religiösen Erfahrungen und widmet sich zudem der intensiven Lektüre erbaulicher Bücher: „Von den eigentlichen Mitteln dazu lässt sich nicht Ausführliches sagen; so viel aber weiß man, dass er in Mülheim mit einem erweckten Kaufmann bekannt geworden, von welchem er viel gute Erinnerungen gehört. Auch hat man aus seinem Munde, dass er einst über dem Lesen eines wichtigen Dankgebetes von einem frommen sterbenden Prediger tief gerührt worden. Bei solchen und unstreitig weit mehreren Veranstaltungen der weisen Güte empfand er so starke Gnadenzüge, dass er seine Sinnesänderung sehr ernstlich suchte und deswegen ganze Nächte mit Lesen, Beten und guten Übungen zubrachte.“20 Welche erbaulichen Bücher im Einzelnen den jungen Tersteegen gefesselt haben, lässt sich nicht mehr rekonstruieren. Doch hier beginnt die glänzende Karriere eines veritablen Autodidakten, der den akademisch gebildeten Fach-Theologen in nichts nachstehen, ja sie übertreffen wird und der sich eines Tages in einem lateinischen Brief zu Recht als „Genuiae Theologiae Studiosus“, als ein der echten Theologie Beflissener, bezeichnet. In diese Zeit fällt auch Tersteegens erstes überliefertes Erweckungserlebnis, und zwar bei einem Botengang durch den Duisburger Wald angesichts einer urplötzlichen Genesung von heftigen Kolik-Schmerzen, an denen der Junge zu sterben glaubte: „Er ging ein wenig aus dem Wege und bat 28 herzlich um Befreiung von diesen Schmerzen und um Fris-
tung seines Lebens, damit er Zeit haben möchte, sich auf die Ewigkeit gehörig vorzubereiten. Hierauf verschwanden die Schmerzen auf einmal, und er ward aufs kräftigste bewogen, sich dem so guten und gnädigen Gott ganz zu übergeben, ohne den mindesten Vorbehalt“21, berichtet die Alte Lebensbeschreibung. Im Jahre 1714 lernt Tersteegen Wilhelm Hoffmann (1685– 1746), einen von der reformierten Kirche abgewiesenen und in Mülheim gegen den calvinistischen Protestantismus eintretenden Theologiekandidaten, kennen und besucht dessen Konventikel. Hoffmann wird für Tersteegen zu einer Art Seelenführer oder geistlichen Vater. Zu Pfingsten 1715 legt der 17-jährige Tersteegen, gemäß Eintrag im Moerser Kirchenbuch, das Glaubensbekenntnis ab. Zu Tersteegens Konfirmation merkt Dieter Hoffmann an: „Mit der Ablegung des Glaubensbekenntnisses zeigt uns Tersteegen, dass er ... der reformierten Kirche noch so nahe stand, dass er ihr formelles und vollwertiges Mitglied werden wollte. Ob es sich hierbei nur um Gehorsam gegen eine Frömmigkeitstradition der Familie oder der Umgebung Tersteegens handelte, kann nicht bestimmt werden. Dass er aber diesem Entschluss sein ganzes Leben lang treu blieb und die reformierte Kirche auch später nicht verließ, hat hier sicher eine besondere Verankerung.“22 Trotzdem sollte Tersteegen zeit seines Lebens aus seinem distanzierten Verhältnis zur Kirche, die er nur zu den sogenannten „äußeren Dingen“ zählte, keinen Hehl machen und beispielsweise das Abendmahl meiden, weil für ihn, den Mystiker, eine wirkliche geistliche Kommunion jede äußere sakramentale Handlung ohnehin weit überwiegt.
29