Georg Magirius
Schmetterlingstango Leben mit einem totgeborenen Kind
Claudius
Mehr Bäume. Weniger CO2. www.cpibooks.de/klimaneutral
Bibliografische Information Der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © Claudius Verlag München 2013 Birkerstraße 22, 80636 München www.claudius.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Mario Moths, Marl Umschlagfoto: © Janis Litavnieks/ iStockphoto Druck: Ebner/Spiegel, Ulm ISBN 978-3-532-62449-4
Inhalt Schlechte Nachricht, gute Nachricht . . . . . . . . . . . . . Rote Lippen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kinderblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ohren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Elternliebe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hahnenkamm bei Alzenau, Juli 2010 . . . . . . . . . . . . . Kleine Ärztin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Internationales Theater Frankfurt, Mai 2010 . . . . . . . Gartenzimmer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Erlenbach am Main, Dezember 2010 . . . . . . . . . . . . . Wachsende Erleichterung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Clingenburg, Heiligabend 2010 . . . . . . . . . . . . . . . . . Längst losgelassen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wiesthal im Hochspessart, Mai 2010 . . . . . . . . . . . . . Jenseits des Meeres . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Schweinfurt, August 2010 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Rebellin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Erbe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Schmetterling . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Schmetterlingsgarten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Schmetterlingstango . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kindermundklein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Grenzüberschreitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15. September 2012 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gebot . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Leibspeisen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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19. September 2012 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Glaubensbekenntnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Heidelbeerpfannkuchen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . „Halten Sie zehn Euro bereit!“ . . . . . . . . . . . . . . . . Anpfiff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18.02 Uhr . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Knigge fürs Kondolieren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Pippi Langstrumpfs Wunderpillen . . . . . . . . . . . . . . Statistik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wahrsagerin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kinderwagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Strampelanzug . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Auferstehung eines Strampelanzugs . . . . . . . . . . . . . Gegengift . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30. September 2012 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fotoalben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Schranke zum Paradies . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zweite Naivität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Urlaubswald . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Überholt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Oktober 2012 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vor dem Geburtstag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Oktober 2010: Nachts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Oktober 2012: Morgens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Schlechte Nachricht, gute Nachricht Wer einen Menschen verloren hat und traurig ist, hört oft: „Wir wünschen dir, dass du den Verlust überwinden, neu beginnen und wieder nach vorne schauen kannst.“ Ich habe meine Tochter verloren und denke: Das sind gut gemeinte Wünsche. Aber jene, von denen ich weiß, dass sie ein Kind verloren haben, sagen sogar Jahrzehnte später noch: „Es tut weh.“ Das ist die schlechte Nachricht: Der Tod eines nahen Menschen lässt sich nicht abhaken, wobei die Frage ist, ob das überhaupt sinnvoll wäre. Es gibt allerdings auch eine gute Nachricht: Da sich der Verlust nicht abhaken lässt, müssen die Toten auch nicht vertrieben werden. Dass sie bleiben, kann tröstlich sein, auch wenn immer etwas fehlt. Das Verlustgefühl verschwindet erst, wenn man den geliebten Menschen wiedersieht. Das ist eine Behauptung, die sich nicht beweisen, aber eine Hoffnung, von der sich erzählen lässt. Mit der Arbeit an dem Buch habe ich nach der Geburt meiner Tochter begonnen, die nicht lebend zur Welt gekommen ist. Aufgezeichnet habe ich es in den Wochen vor ihrem zweiten Geburtstag, also bewusst mit einigem Abstand zu Schwangerschaft und Geburt, was jedoch nicht heißt, dass ich mich von meiner Tochter distanzieren wollte.
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Rote Lippen Kann ein Kind, das nicht lebt, eigentlich lebendig sein? Das Gesicht bewegt sich doch, überlegte ich, als ich unsere Tochter sah. Oder schaute eher sie mich an? Die Miene war nicht starr, was mich beglückte, obwohl ich wusste, dass sie sich niemals regen würde. Es war unerklärlich, fast so etwas wie ein Mienenspiel. Und ich wünschte: Ihre Miene wäre tatsächlich ein Spiel, eine Einladung zum Spielen. Nun war sie zur Welt gekommen, auch wenn sie das Licht der Welt nicht erblickte. Aber wir erblickten sie – und wie! Bislang hatte ich sie nur indirekt gesehen, im Bauch der Mutter. Jetzt war sie real geworden. Und ich schaute – aber was? Ein Lächeln, versonnen und verschmitzt. „Wie soll das Kind heißen?“, werden wir gefragt. Und die Hebamme schreibt in den Babypass: Juliane. Auf diesen Namen ist sie gleichsam getauft, ohne dass es je zur Taufe kommen würde. 3680 Gramm, notiert die Hebamme weiter. Und 54 Zentimeter misst das Kind. Es ringt nicht um Atem, wirkt nicht gehetzt. Vielleicht auch deshalb habe ich den Eindruck: Juliane ist uns voraus, kennt sich aus, ist zwar kleiner als ich, für einen Neuankömmling aber sehr groß. Da war sie auch schon weg. Wohin? Das weiß niemand. Sicher aber ist: Sie war gewesen und berührbar, mochte sie sich auch nicht rühren. Ihr Blick, der nach innen ging, war friedlich, die Augen hielt sie geschlos8
sen. So sahen wir einander an, auch wenn sie die Augen geschlossen hielt. Ich fühlte mich nicht verschlossen, sondern von ihr angezogen. Warum hatte ich nur dieses Glücksgefühl? Weil sie zufrieden wirkte. So waren wir zu dritt und spielten Vater, Mutter, Kind. Juliane spielte mit, nur folgsam war sie nicht. Denn vorgesehen war, dass sie schrie. Das wenigstens besagt die Regel. So führen wir seitdem ein ungeregeltes Leben, weil wir ein Kind haben, das nicht tut, was nun mal die Regel ist. Wenn jemand überraschende Wege findet, muss das nicht unsympathisch sein. Meine Tochter ist mir sogar vertraut, weil sie nicht das Übliche wählte. Ich glaube, ich kenne sie: Hallo, kenne ich dich? Natürlich! Bist immer da, ganz in meiner Nähe. Und dennoch suche ich nach ihr, denn sie ist mir viel zu oft unendlich fern. Weil das Kind nicht schreit, rufe ich nach ihm: Eigensinn! Wo bist du denn? „Warum hat euer Kind denn rote Lippen?“, fragt Tara, ein Kind, das uns besucht und das Baby auf der Kommode liegen sieht. Natürlich nicht unser Kind direkt, sondern ein Foto von ihm. Ja, warum hat der Frieden eigentlich rote Lippen? Ich weiß es nicht. „Ihr seid traurig, dass sie nicht bei euch ist“, stellt Tara fest. Und ich atme auf, weil da jemand ist, der von meiner Tochter spricht.
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