zwischen glßhbirnennostalgikern und bartshampooneuren alltägliche auffälligkeiten von a bis z bemerkt von anne jacoby
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6 ampel 10 bart 12 charakterkopf 16 dreieck 18 eierkuchen 22 fernsteuerung 26 glĂźhbirne 28 handtasche 32 it-sein 34 jacke 36 kinderwagen 40 lego 44 minions 48 nein 50 ohne 54 papiergeruch 58 quatsch 60 realschule 64 sofa 68 timing 70 unhĂśflichkeit 72 vintage 74 wurzeln 76 x-wing-fighter 78 y-stuhl 82 zorn 84 autorin 86 quellen
Der Großstadtmann trägt Bart. Dicht und lang. Da bleibt oft unklar, wen man vor sich hat: Hippster, Jihadi, Weihnachtsmann? Bergsteiger, Lehrer, Opa? Warum machen die das, die Männer?
der bart
Erstens: David Beckham und Ben Affleck tun es auch. Mann ist modern.
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Zweitens: In Kombination mit Wollmütze, butterbrotdosengroßen Kopfhörern und Sonnenbrille ermöglicht ein Vollbart cocooning auf kleinstem Raum. Mann ist dann mal weg. Drittens: Per Selfie vermittelt wird der Bart zur Ikone. Mann ist dabei. Merkwürdig an der Bartmode ist das Bestreben, via Pflege der Gesichtsbehaarung individuell zu erscheinen, während durch das Massenphänomen der Bartzucht gleichzeitig eine nie dagewesene Konformität entstanden ist. Ein schief geschlagenes Kinn ist einzigartig. Die haarige Halbmaske nicht. Steht Bart nicht für Wildheit? So nicht. Der aktuelle Bart ist anders als der Wildwuchs eines Karl Marx oder Reinhold Messners. Er ist getrimmt, gezähmt, gehegt, gepflegt. Für männliche Natur und Abenteuer steht er wie eine Edel-Outdoor-Jacke in der Fußgängerzone. Er tut nur wild. Statt Gestrüpp ist er Golfrasen. Oberflächlich betrachtet. Wer sich genauer mit Bärten auskennt – wie Dr. Kevin Clarke, Autor des Aufklärungsbuchs Beards: An Unshaven History – der weiß: Bärte sehen nur oberflächlich identisch aus. Darunter verbergen sich drei (!) verschiedene Sozialtypen. Der erste kommt aus der Nicht-Heterosexuellen Kuschelbärszene. Der zweite wäre eigentlich gerne Cowboy geworden. Und der dritte ist ein „asexueller Hippster, der den Taliban-Bart als Anti-Establishment-Statement einsetzt, wobei er die politischen Implikationen des Bartes auslöscht“. Ach so. Welche Spezies man vor sich hat, lässt sich wohl am besten an der Begleitung erkennen. Fall eins: Ein zweiter Kuschelbär. Fall zwei: Ein Cowgirl. Fall drei: Ein sehr, sehr schönes Fahrrad.
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der eierkuchen
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Friede, Freude, Eierkuchen. Ein Dreiklang, erfunden in den 1950er Jahren, aufgewärmt als Motto der Love Parade 1989. Eigentlich ganz schön. Doch heute klingt er gefährlich. Vor allem der Eierkuchen. Denn: Wer Eier isst, lebt offensichtlich nicht vegan. Er beutet Hühner aus, trägt zum Hungertot von Millionen von Menschen bei und sieht ansonsten apathisch zu, wie mindestens die ganze Welt kaputt geht. Dabei wäre es doch so einfach, auf die gute Seite der Macht zu wechseln. Gibt es nicht längst vegane Eierkuchen, die schmecken wie richtige Eierkuchen? Gibt es. 15 Gramm Lupinenmehl, und schon mundet es so, als ob. Wie viele andere vegane Sachen: Asiatische Bohnenklötze schmecken wie Schnitzel. Schwedische Hafersuppe schmeckt wie Milch. Ein bisschen Farbe, ein bisschen Aroma, dann geht das schon. Also gehen auch liebe Eierkuchen. Aber, aber: Nicht mit Zucker! Zucker ist Gift. Also Agavendicksaft? Falsch. Der enthält bis zu 80 Prozent mehr Fruktose als normaler Zucker. Macht den Stoffwechsel kaputt. Ahornsirup? Enthält zwei Drittel Zucker, was schon ziemlich schlimm ist, wird außerdem aus dem Norden Amerikas zu uns geflogen, was für die Umwelt ganz schlecht ist. Apfelmus? Ja! Finden auch die Veganer, die auf frugane Ernährung schwören, die also nur Obst, Nüsse und Samen essen, die Pflanzen freiwillig abwerfen. Apfel essen ist also echt lieb. Natürlich nur für die gut, die keine Fruktose-Intoleranz haben, und das werden ja auch immer mehr, oder wie war das noch? Warum ist Essen eigentlich so kompliziert geworden? So aufgeladen mit Sinn? Mit Identitätspuzzlestücken? Die Sehnsucht gilt einem Zustand, in dem alles gut ist. Vor allem man selbst. Dafür wird viel ertragen: Rutschige Biosocken, schwammige Ersatz-Schnitzel, und Zuckerkügelchen in genau gezählter Dosis. Vermutlich führt das alles weder zu Lebenssinn noch zu Seelenheil, es wird möglicherweise auch nicht die Gesamtwelt retten. Das ahnen wir bereits. Umso größer die Verlockung, es doch zu versuchen: Mit einem strikten
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Ernährungsplan, konsequenter Kontrolle des eigenen Körpers via Schritt-
zählerhandgelenksfessel, knallhart reduzierten Einkaufslisten und komplettem Verbot von böse produzierten Produkten. Könnte doch dazu führen, dass wir uns endlich friedlich und freudig fühlen? Kai Funkschmidt, promovierter Theologe aus Frankfurt am Main, hat unsere auf das Essen fokussierte Suche nach dem guten, dem besseren Leben auf den Punkt gebracht als Idee, „dass man durch Trennkost, Vegetarismus oder veganes Essen so gesund lebt, dass man im Grunde für Krankheiten gar nicht mehr anfällig sei, das heißt in der letzten Konsequenz eine Selbsterlösung durch Ernährung.“ Und wenn ich dann doch krank werde? Wenn das extra streng vegan ernährte Kind einen schlimmen Hirnschaden kriegt? Obwohl es doch hätte die Gesamtwelt retten sollen und ein leuchtendes Beispiel sein können für die überragende Erziehungskonsequenz der überaus weitsichtig sorgenden Erziehungsberechtigten? Wenn ich selbst krank und depressiv werde, weil ich von welcher Mangelernährung auch immer felsenfest überzeugt war, diese nur leider in letzter Konsequenz meine Gesundheit ruiniert hat? Was wegen der moralischen Überlegenheit des Konzepts ja eigentlich nicht hätte passieren dürfen? „Dann muss es irgendwie an dir gelegen haben“, scherzt Funkschmidt. „Der Lebensstil war nicht fromm genug und der Glaube nicht ausreichend.“ Wie gemein. Prävention erzeugt leider, leider, selbst immer gerne neue Risiken. So wird jedenfalls der Eierkuchen zur Glaubenssache. Die einen glauben, er treibe nicht nur die Welt moralisch an den Abgrund, sondern auch den Cholesterinspiegel in ungesunde Höhen, führe damit geradezu zwangsläufig zu Herzinfarkt und Apokalypse und gehöre daher ein für alle Mal vom Speiseplan gestrichen. Das ist die Glaubensrichtung „Vegan“. Die anderen glauben, er treibe den Pegel an Aminosäuren, den wir in unserem Blut für ein gesundes und immunstarkes Leben brauchen, endlich in vernünftige Höhen, habe überhaupt keinen Einfluss auf den Cholesterinspiegel, wobei dieser Spiegel studienbelegt auch mit Herzinfarkten eigent20
lich gar nichts zu tun habe, schade in Bio-Form auch der Gesamtwelt nicht
weiter und gehöre daher mindestens jeden Tag auf den Speiseplan. Das ist die Glaubensrichtung „Paläo“. Wieder andere, zum Beispiel andere Sozialmilieus oder einfach ältere Generationen, sind total genervt von dem Herumgeeiere mit dem Essen. Auch das kann man verstehen: Die einen wollen dies, die anderen das, die Enkelkinder quengeln herum und können nicht einmal vernünftig mit Messer und Gabel umgehen, und dann kommen die verstädterten Verwandten und weigern sich, das zu essen, was schon immer gut und richtig war, zum Beispiel Eierkuchen. „Ihr mit Euren Bio-Spirenzchen“, heißt es dann, „wenn ich damit anfangen würde, dann könnte ich ja gar nichts mehr essen. Ist doch alles Quatsch. Was früher gut war, das kann doch heute nicht schlecht sein.“ Bumms. Ende der Diskussion. Es kommt dann auf die Familienkultur an, ob der Haussegen mit Grappa oder mit Uno wieder gerade gerichtet werden kann, falls überhaupt. Dabei wollen alle doch eigentlich das Gleiche: Nicht sterben. Oder wenigstens ein bisschen später. Und davor noch ganz viel Friede, Freude ...
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die glühbirne
Nackte Glühbirnen zeugen von Stil. Vor allem dann, wenn sie irgendwie vin-
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tage aussehen, ihren verzwurbelten Glühfaden freizügig zeigen und stark blenden. Warum tun wir uns das an? Die Glühbirne ist eine Ikone der Moderne. Sie hat uns unabhängig gemacht vom unerbittlichen Sonnenauf- und Untergang, vom rauchenden Lagerfeuer, von armseligen Funzeln und vom gefährlichen Gaslicht. Dass die Glühbirne auch für brutale Rationalisierung und Effizienz steht, das haben wir lange verdrängt. Verhängt. So haben wir die Glühkolben versteckt hinter plüschigen Lampenschirmen oder Gebilden aus Glas, wir haben uns gefreut an den blendfreien Hängelampen aus Skandinavien, die reine Freude am Licht bescherten und uns das Glühobjekt im Inneren vergessen ließen. Warum also zahlen wir heute horrende Preise für nackte Glühbirnen, die uns in ein so grelles Licht tauchen, dass wir aussehen wie Verbrecher im Polizeiverhör? Die unseren Augen wehtun? Es ist kein Wunder, dass dieser masochistische Trend genau in der Zeit auftaucht, in der die Glühbirne vom Aussterben bedroht ist. Weggefressen durch die LED-Lampe, die viel weniger Strom verbraucht, viel länger durchhält und sich auch nicht ungefragt gefährlich erhitzt. Wir lieben das zwar. Aber wir sind auch beleidigt. Warum ein Glühfaden glüht, das konnten wir noch verstehen. Durch hingucken. Warum so ein LED-Ding glüht, das sehen wir nicht mehr. Die Technik zieht sich zurück hinter schöne Oberflächen, die uns darüber hinwegtrösten wollen, dass wir nicht mehr kapieren, was darunter stattfindet. Doch sie trösten uns nicht. Das ist der Grund dafür, warum wir uns nackte Glühbirnen aufhängen, warum wir Hunderte von Nachbild-Glühfäden auf unserer Netzhaut in Kauf nehmen und vor Schmerz das Gesicht zusammenkneifen, nur, um Stil zu zeigen. Die Glühbirne ist das neue Lagerfeuer. Und Schmerz ist verbunden mit Authentizität. Das ist es doch, was wir eigentlich suchen.
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Wer etwas zum Thema Timing lernen möchte, der muss nur einmal eine Kindersendung zehn Minuten vor Schluss ohne Vorankündigung ausschal-
t
das timing
ten und sagen: „Zeit für’s Abendessen!“ Schon ist ersichtlich, dass genau das nicht die „temps juste“ war, also der genau richtige Augenblick für eine Handlung. Auch wenn das Abendessen „just in time“ auf dem Tisch steht. Viel geschmeidiger verläuft der Abend in einer bürgerlichen Innenstadt-Familie, wenn zunächst das Kinderzimmer aufgeräumt, dann die im Internet hinterlegte Sendung zu Ende geschaut, dann zu Abend gegessen, dann die hochwertige Kinderliteratur verlesen, dann die Zahnreihen geputzt und dann die Kinderschar zu Bett gebracht wird, und zwar bevor diese abermals auf Turbo umschaltet, das aufgeräumte Mobiliar zerrockt, nach diesem kindlichen Kraftakt ein drittes, viertes und fünftes Salamibrot verlangt, ein weiteres Mal die Zähne geputzt bekommen und dann noch „Drei Frage zeichen“ hören muss, um den Turbo wieder herunterzudrehen. Himmel! Am Abend ist die Balance zwischen „temps juste“ und „just in time“ immer besonders wackelig. Meine „just-in-time“-Zeitpläne funktionieren nie so richtig, weil sich mein natürlicher Hang zu prozessorientiertem Handeln immer wieder in den Vordergrund drängelt. Meine Nachbarn können das besser. Da gehen die Rollläden immer zur gleichen Zeit zu. Wie haben das die Familien gemacht, als man noch sechs, acht oder zwölf Kinder hatte? Die hatten wahrscheinlich keine acht Millionen versprengte Plastik-Kleinteile im Kinderzimmer, keinen Fernseher mit Internet-Anschluss, keine Hörspiele, keine stimmungsvolle Mehr-Lichtquellen-Beleuchtung im Wohnzimmer und die Salamibrote waren um 20 Uhr alle. Manchmal wünsche ich mir Stromausfall. Ich hätte automatisch mehr Zeit. Und ich könnte endlich sehen, ob die Nachbarn Rollläden mit Zeitschalt uhr haben.
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„Zwei Dinge sollen Kinder von ihren Eltern bekommen: Wurzeln und Flügel.“
die wurzeln
So soll es Goethe gesagt haben. Als Geburtsanzeige, Postkarte und Face-
w
book-Post gibt es auch eine Variante, die je nach internetbasierter Zitate- Quelle aus China, Indien oder Neuseeland kommt: „Wenn die Kinder klein sind, gib ihnen Wurzeln, wenn sie groß sind, gib ihnen Flügel.“ Manchmal ist dieses Zitat auch mit Mark Twain unterschrieben, das sieht auch schön aus. Die Gegensatzpaare „klein“ und „groß“, gepaart mit „Wurzeln“ und „Flügel“ und dies noch in Kombination mit der großen Eltern-Lebensaufgabe – das klingt gut und wichtig und wunderbar. Klebt man sich doch gerne als Abziehbild auf die Flurtapete. Oder kauft ein Taschenbuch dazu (Ohne Wurzeln keine Flügel von Bertold Ullsamer, wahlweise Wurzeln, die uns Flügel schenken von Margot Käßmann). Jetzt aber mal Gänsehaut beiseite. Ist das Zitat nicht völliger Unfug? Natürlich brauchen Kinder, wenn sie klein sind, eine zuverlässige Bindung an einen zuverlässigen Menschen. Und meistens ziehen sie dann auch irgendwann aus, außer vielleicht die Jungs in Italien. Aber merkwürdig ist doch diese zeitliche Reihenfolge: Zuerst gilt es, die Kinder festzuwurzeln, am besten unter Aufsicht von Helikopter-Eltern. Später dann sollen die Kinder in Senkrechtstarter umgebaut werden und in der Phase, in der die greisen Eltern wieder Erdschwere entwickeln, diesen karrieretechnisch noch ein wenig Freude bereiten. Seltsam erscheint hier die große Macht der Eltern: Sie allein entscheiden, ob sie Wurzeln und Flügel austeilen? Wenn ein schöner Spruch die unordentliche Komplexität in eine ordentliche Linie bringt, ist die Freude groß. Vermutlich ist das nur alles leider doch nicht so einfach: Kinder suchen Nähe und Bindung, und hat man drei Sekunden nicht geguckt, sind sie ins Spielplatzgewühl gestartet und drei Stunden weg. Später wurzeln sie dann ihr sparkassenfinanziertes Eigenheim im Omas Garten. „Denn wir können die Kinder nach unserm Sinne nicht formen….“ – das hat Goethe tatsächlich auch gesagt. Das sieht aber im Flur nicht so gut aus,
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als Aufkleber auf der Tapete.
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die quellen
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