Thomas Greif
Die Reformation in Europa
Thomas Greif
Die Reformation in Europa 25 Ortstermine
Copyright © Claudius Verlag, München 2016 www.claudius.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden. Umschlaggestaltung: Mario Moths, Marl Umschlagfoto: Martin Luther, nach einem Porträt von 1528, Lucas Cranach der Ältere Fotos Innenteil: © Thomas Greif Gesetzt aus der: Sabon und Officina Sans ITC Druck: Finidr, s.r.o., Cˇeský Teˇšín ISBN: 978-3-532-62486-9
INHALT
9 GELE I T WOR T 12 E INF ÜHRUNG „Man macht bey uns mehr Fenster in die Mauern“ Die Geschichte des Protestantismus in Europa 50 AMS TERDAM Pioniere des Christentums Amsterdam ist die wohl am meisten entkirchlichte Metropole im protestantischen Europa 62 BELFA S T Atheistische Protestanten In der nordirischen Hauptstadt Belfast herrscht heute ein fragiler Konfessionsfriede 77 BE THEL Eigener Bus, eigener Radiosender, eigener Briefträger Der Bielefelder Ortsteil Bethel ist der europäische Zentralort diakonischen Wirkens 88 C ANTERBUR Y Tradition über alles Die Kathedrale im südenglischen Canterbury ist Mutterkirche und Herz der Anglikaner 99 DEBRECEN Das calvinistische Rom Das ungarische Debrecen ist ein einzigartiger Kreuzungspunkt von nationaler und reformierter Erinnerungskultur 114 DRE SDEN Staunen auf den zweiten Blick Die Frauenkirche in Dresden hat zwei faszinierende Baugeschichten 5
125 EDINBURGH Knox hat ausgedient In Edinburgh sucht die traditionsreiche Church of Scotland ihren Platz in der Welt 137 GENF Von Calvin zum Dalai Lama Genf wandelte sich von der Hochburg des Clavinismus zur internationalen Metropole 150 HALLE Ein einzigartiger Bildunngskosmos Die Franckeschen Stiftungen in Halle haben weltweit Bildungsmaßstäbe gesetzt 158 HEL SINK I Mehr Fragen als Antworten Die Agrikola-Kirche in Helsinki ist Ausgangsort der Thomasmesse 166 HERMANNS TADT Wehmut und trotzige Zuversicht Hermannstadt ist die Hauptstadt der Siebenbürger Sachsen 180 HERRNHUT Eine weltweite Erfolgsgeschichte Die „Herrnhuter Losungen“, der größte Medienerfolg des Protestantismus 190 KE SMARK Schätze aus Holz und Papier Das slowakische Kezˇmarok (Kesmark) hütet ein evangelisches Erbe von europäischer Bedeutung 202 KOPENHAGEN Zinnsoldaten auf Wanderschaft Kopenhagen und die evangelische Freiheit 217 ODE SSA Auferstanden aus Ruinen Im ukrainischen Odessa knüpft eine kleine lutherische Gemeinde an das große Erbe des Deutschtums am Schwarzen Meer an – mit ungewissem Ausgang 231 R AMSAU Bibel gegen Vogelbeerschnaps Der „Weg des Buches“ folgt den Spuren des österreichischen Geheimprotestantismus 243 R IGA Auf der Suche nach Identität Die lettische Hauptstadt Riga ist ein traditionsreiches Zentrum des Luthertums
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255 SCHWE IDNI T Z Hölzernes Wunder Die Friedenskirche von Schweidnitz ist konfessionell und kunsthistorisch ein einzigartiges Bauwerk 266 S TR A SSBURG Mission: Öffnung zur Welt Straßburg ist die einzige Großstadt Frankreichs mit protestantischen Wurzeln 278 TA I ZE Labor der Ökumene Die Communauté von Taizé in Burgund ist aus reformierten Wurzeln erwachsen 291 TE SCHEN Die Mutterkirche Osteuropas Die geteilte Stadt Teschen ist bis heute ein konfessionelles Unikum 301 TORRE PELL ICE Protestantische Brücke ins Mittelalter Torre Pellice im oberitalienischen Piemont ist die Hauptstadt der Waldenser 313 UPP SAL A Schaufenster in Schwedens Geschichte Die Kathedrale von Uppsala ist gleichzeitig geistliches Zentrum und Nationalheiligtum 323 W I T TENBERG Heiliger Martin Wittenberg, der Ausgangsort der Reformation, fasziniert Besucher aus aller Welt 334 ZÜR ICH „Wisch den Zwingli raus“ Zürich war einmal reformierte Musterstadt, doch diese Rolle schwindet 348 DANK
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AMS TERDAM
Pioniere des Christentums
Amsterdam ist die wohl am meisten entkirchlichte Metropole im protestantischen Europa
A
us dem Touristenbilderbuch: Grachten und schmale, aber prächtige Hausfassaden. Hier die Magere Brug, eines der Wahrzeichen von Amsterdam, dort das moderne Rathaus, das kurioserweise gleich noch eine Oper beherbergt. Und Fahrräder, Fahrräder über Fahrräder. Aus einem prächtigen Klinkerpalais dringt Musik hinaus zur Herengracht. Keine weichgespülten Vivaldi-Streicher vom Band, wie man das vielleicht aus der noblen Weinboutique vermuten würde. Doch die Musik kommt aus dem Keller nebenan: Es ist der Gesang rauer, tiefer Männerstimmen, der das Innenstadtidyll so unerwartet vertont. Es klingt nicht gerade anmutig wie bei der Generalprobe eines Rundfunkchors, aber die Musik sprudelt so über vor Freude und Begeisterung, dass es den Passanten selbst draußen im kalten Nieselregen noch das Herz wärmt. Ein Koreaner mit großem Fotoapparat wagt sich hinein und erkundigt sich, welche Show hier gegeben wird. Aber es ist keine. Dies hier ist das echte Leben. Es probt der Chor der „Straatklinkers“. Die Sängerinnen und Sänger sind heimat-, manchmal sogar obdachlos, und die meisten von ihnen haben schon Dinge erlebt, die man niemandem wünscht. Ein bürgerliches Lebensnetz aus Wohnung, Arbeit und Familie hat keiner. Aber einmal pro Woche, jeden Freitag um elf, haben sie eine Heimat, nämlich einen weiß gekalkten Kellerraum unter dem Corvershof, dem Sitz der Diakonie von Amsterdam. Auf einer kargen Bank vor der Wand sitzt Pfarrer Arend Driessen 50
vom „Straatpastorat“, ein Akkordeon geschultert. Die 15 Männer ringsherum blättern in abgegriffenen Notenordnern. Ab und zu geht die Glastür zur Herengracht auf, neue Sänger treffen ein. Auf dem Probenplan steht „John Kanaka“, ein Seemannslied wie die meisten Titel, die hier gegeben werden. Rob dröhnt ein Solo, Jussuf, den sie alle Josef nennen, schlägt das Tamburin dazu. Er ist ein lustiger Kerl, er steckt andere mit seiner Begeisterung an, beim letzten Diakoniefest war er der Clown im Familienprogramm. Beim „My Bonnie“ taucht eine Drehleier auf, und beim Lied vom „Waterlooplein“, der niederländischen Version von „ChampsÉlysées“, ist auch Tom mit seiner Posaune eingetroffen. Kevin, der zum ersten Mal hier ist und kein Wort Niederländisch spricht, kann Gitarre spielen. Der Chor hat also auch sein kleines Orchester dabei. „Die musikalische Qualität ist nicht so wichtig“, sagt Driessen, aber für derlei sozialpädagogisches Understatement ist sie erstaunlich gut. Die „Straatklinkers“ haben neulich sogar eine CD aufgenommen; heute wird per demokratischer Abstimmung das Coverbild ausgewählt. Zwischendurch gibt’s einen Psalm oder eine Ansage von Alfredo, der aus Marokko stammt und seit elf Jahren bei den „Straatklinkers“ mitmacht. Nächste Woche Gespräch mit Pfarrer Visser, „ein sehr berühmter Mann“: „Wer kommen will, kommt. Wer nicht, bleibt zu Hause.“ Das klingt jedenfalls nicht nach Gruppenzwang. Man erkundigt sich nach Einzelnen, die heute nicht da sind. Wenn einer fehlt, kann das ein ganz schlechtes Zeichen sein. Inzwischen hat die Stimmung ihren Höhepunkt erreicht. Als die Männer das Lied von der „Klok van Arnemuiden“ (Glocke von Arnemuiden) schmettern, schlägt Johannes die passende Glocke dazu, was dem Lied eine kitschig-rührende Atmosphäre gibt, und bei der „Zuiderzeeballade“ tanzen die Solisten inmitten des Stuhlkreises miteinander. Wahrscheinlich herrscht in dieser Stadt, die sich so zwanghaft um Kurzweil für ihre Aber- und Abertausenden Besucher bemüht, in diesem Moment nirgendwo so ungezwungene, ja: glückliche Ausgelassenheit wie im Keller unter dem Corvershof. Etwa zweimal im Monat treten die „Straatklinkers“ auf, in Kaffeehäusern etwa oder im Gottesdienst in verschiedenen Kirchen. „Da 51
treffen Welten aufeinander“, weiß Pfarrer Driessen. Der Chor gehört institutionell zum „Straatpastorat“ der Diakonie, das schon seit zehn Jahren existiert. Das ist ungewöhnlich lange, denn die kirchliche Wohlfahrtspflege hat in Amsterdam schon vor gut 20 Jahren einen radikalen Kurswechsel vollzogen: Aus dem großen Diakoniedampfer mit Altenheimen, Kindergärten und Behinderteneinrichtungen wurde ein kleines Lotsenschiff mit nur noch zwölf Hauptamtlichen. Die Diakonie macht kein sozialpolitisches Rundumangebot mehr, sondern versteht sich als gesellschaftliches Notfallkommando. „Wir helfen dort, wo kein anderer mehr hilft“, sagt Diakoniechef Matthias de Vries. Das aber nur befristet. Wenn ein System steht, muss es ein anderer übernehmen, damit Luft für neue Projekte entsteht. Neulich mit dem Nachbarschaftsprogramm „Samen wonen – samen leven“ (Zusammen wohnen und zusammen leben) hat’s mit der Weiterführung durch den Staat geklappt, ein andermal geht ein Projekt vielleicht den Bach runter. Das Risiko besteht immer, räumt de Vries ein: „Wir können nicht über allen Problemen den Schirm von Kirche und Diakonie halten.“ Dazu sind beide schlichtweg zu klein: In Amsterdam gehören von rund 800 000 Einwohnern nur noch etwa 20 000 einer protestantischen Gemeinde an – das entspricht etwa 2,5 Prozent der Bevölkerung. Keine andere protestantisch geprägte Metropole Europas ist derart entkirchlicht wie die Hauptstadt der Niederlande.
Glaube ja, Kirche nein Freilich, von einer regelrechten „Säkularisierung“ wollen die Experten nicht sprechen. Natürlich glauben auch hier, wie fast überall in Europa, immer mehr Menschen immer weniger. Aber der multikulturelle Schmelztiegel Amsterdam verzeichnete schon um die Jahrtausendwende erstaunliche 350 verschiedene Glaubensgemeinschaften, Tendenz steigend. Manche bestehen nur aus einer Handvoll Leute, die sich einmal in der Woche in einem Wohnzimmer treffen. Mit Blick auf die Niederlande konstatieren die Kirchenhistoriker Joris van Eijnatten und 52
Fred van Lieburg: „Es existieren auf der Welt vermutlich nur wenige Regionen, wo auf einem so kleinen Gebiet von so vielen Menschen auf verschiedene Arten und Weisen geglaubt wird.“ Dass die damalige Welthandelshauptstadt Amsterdam sich weniger aus religiöser Überzeugung denn aus wirtschaftsstrategischem Kalkül im Frühjahr 1578 der Reformation anschloss, war ein Paukenschlag. Die Ereignisse vom 26. Mai 1578, die als „Alteratie van Amsterdam“ den Umschwung symbolisieren, waren eine eigenartige Mischung aus rigidem Vorgehen und nachlässiger Toleranz. Damals wurden 24 Mitglieder des Magistrats, darunter die Bürgermeister, außerdem der Pfarrer der Nieuwe Kerk, Mönche der Innenstadtklöster und eine Reihe katholischer Bürger vor den Augen der gaffenden Einwohner hinaus zum Damrak geführt, einem Teil des Hafens, von dem aus man hinaus auf das Ijsselmeer gelangt. Der Barockmaler und Dichter Jan Luyken hat die eigenartige Szenerie in einer detailreichen Zeichnung festgehalten: Das Publikum tanzt, die Hunde kläffen, grimmige Soldaten paradieren, mittendrin die Katholiken: aufgebracht, furchtsam, unschlüssig. Die Aktion war von langer Hand vorbereitet und nicht auf Blutvergießen angelegt. Der Magistrat von Amsterdam hatte im Aufstand der holländischen Staaten lange zum spanischen König gehalten und die Reformation abgelehnt. Nun aber, im Gefolge der Genter Pazifikation von 1576, schloß sich auch Amsterdam den Freiheitskämpfern an, um seine Funktion als Handelsmetropole nicht zu gefährden. Im Hafen setzte man die zusammengetriebenen Männer auf bereitstehende Kähne, schipperte hinaus aufs Meer und setzte sie am Diemerzeedijk außerhalb der Stadt an Land. Manche gingen nach Haarlem oder Leiden, einige kehrten nach einiger Zeit zurück nach Amsterdam, ohne darüber großes Aufsehen zu machen. Fünf Tage später installierte man im Rathaus mit Pauken und Trompeten die neue Stadtregierung, in der die Calvinisten die deutliche Mehrheit stellten; alle Kirchen Amsterdams, allen voran die altehrwürdige St. Nicolaaskerk, die nun Oude Kerk heißt, wurden protestantisch. Trotzdem aber, und das war im Europa des 16. Jahrhunderts alles andere als selbstverständlich, blieb Amsterdam eine multikonfessionelle Stadt, die zu allen Zeiten auch andere Glaubensrichtungen tolerierte. 53
Im 20. Jahrhundert wurde daraus das Prinzip „Glaube ja, Kirche nein“. Es hat mit einem gesellschaftlichen Phänomen des Landes namens „Versäulung“ zu tun. Damit ist die strikte Sortierung des öffentlichen Lebens in eine katholische, eine reformierte und eine sozialistische Abteilung gemeint, die das Land seit dem Ende des 19. Jahrhunderts prägte. Wer sich einer Gruppe zuordnete oder vielmehr die entsprechende Tradition von zu Hause mitbekam, führte ein Leben im Milieu seiner Säule – von der Schule bis zur Tageszeitung, vom Sportverein bis zur politischen Partei. Ein Katholik ließ seinen Blinddarm im katholischen Krankenhaus operieren, protestantische Abstinenzler hatten ihre eigene Zeitschrift. Als sich die „Säulen“ mit ihrem geschlossenen System an Autoritäten in den 1960er-Jahren aufzulösen begannen, machten viele Niederländer mit ihrer kirchlichen Bindung gleich ganz Schluss. Das Selbstverständnis des Landes war liberaler als in den meisten anderen Ländern Europas, und damit ging eine besonders tiefe Abnabelung von konfessionellen Traditionen einher, eine Abnabelung, die mit einer gewissen Verspätung inzwischen auch die katholische Kirche deutlich spürt. Protestantischerseits wurde der Schwund der organisierten Kirchlichkeit noch verstärkt durch eine fatale Neigung zur Zersplitterung, für die es das Spottwort „Zwei Niederländer, drei Kirchen“ gibt. Seit dem 19. Jahrhundert existierten neben der gemäßigt-reformierten „Nederlandse Hervormde Kerk“ auch die strenggläubigen „Gereformeerde Kerken“, daneben neun kleinere Gruppierungen wie die „Alt-Reformierten Gemeinden in den Niederlanden“ (OGG) oder die „Christlichen Abgetrennten Gemeinden“ (CAG). Nach einem über 40-jährigen innerprotestantischen Ökumeneprozess formierte sich 2004 die „Protestantische Kirche in den Niederlanden“ (PKN), der neben den beiden großen reformierten auch die kleine evangelisch-lutherische Kirche angehört. Die Zahl der protestantischen Kirchen blieb aber mit elf gleich, denn in gut niederländischer Tradition spalteten sich vor der Vereinigung wieder einige Gruppen ab. Die PKN ist derzeit mit rund 1,8 Millionen Mitgliedern, was etwa elf Prozent der Bevölkerung entspricht, die mit Abstand größte protestantische und die nach der katholischen Kirche (25 Prozent) zweitgröß54
te Kirche in den Niederlanden. Tendenz: fallend. Der Spiegel hat schon vor Jahren hämisch hochgerechnet, dass Hollands Protestantismus bis zum Jahr 2050 ausgestorben sein wird, wenn der Schwund im heutigen Tempo weitergeht.
Gottesdienst im Restaurant Um die Relevanz der organisierten Kirche in Amsterdam im Jahr 2013 zu erspüren, ist IJburg ein guter Platz. IJburg ist der jüngste Stadtteil von Amsterdam, gut eine Viertelstunde per Trambahn vom Hauptbahnhof entfernt. Die riesigen Wohnblocks aus Klinkersteinen stehen auf künstlichen Inseln, die man dem Ijsselmeer erst in den letzten Jahren abgerungen hat. IJburg ist eine sterile Reißbrettstadt, quadratisch, praktisch, gut, ein Kunstprodukt für 45 000 Menschen, die hier wenigstens günstigen Wohnraum finden. Industrie und Gewerbe waren miteingeplant, Schulen, Kindergärten, Straßenbahnhaltestellen. Aber keine Kirchen. Im Vergleich zu IJburg ist jedes abgelegene Dschungeldorf in PapuaNeuguinea ein christliches Zentrum. Als Pfarrer Rob Visser im Juni 2010 im Auftrag der PKN in IJburg aufkreuzte, bestand seine Gemeinde aus einem einzigen weiteren Mitglied, nämlich seiner Ehefrau, die mit aus Amersfoort gekommen war. Die „Pionierkerk“ von IJburg, eine von fünf in den Niederlanden, machte ihrem Namen alle Ehre. Visser empfängt in einer lichtdurchfluteten Lounge in bunten Farben. Sie könnte vielen Organisationen gehören, die Fremde zum Eintreten und Wohlfühlen motivieren wollen: Touristen-Informationen, Versicherungen, Bürgerbüros. Große Schaufenster machen die Räume dauerhaft öffentlich. Blickfang sind ein Kaffeetresen und eine große Tafelrunde, was an die ursprüngliche Konzeption der Räume als Restaurant erinnert. Ein paar Treppenstufen abwärts schließt sich ein Versammlungsraum mit Flügel und Rednerpult an. „In der Bibel steht nichts von Kirchen, sondern von Jesus“, sagt Visser. Aus dem Zwei-Personen-Unternehmen hat er mit charmantem 55
Selbstbewusstsein und ansteckender Jugendlichkeit eine Gemeinde mit gut 50 Aktiven geformt. 150 Leute, schätzt Visser, sind interessiert und schauen gelegentlich vorbei. „Wir müssen uns immer vergegenwärtigen: Zahlen dürfen uns nicht entmutigen“, formulierte er vor Jahren bei einem Vortrag beim Weltkirchenrat in Genf. Erfolg bemesse sich an der Qualität, nicht an der Quantität. Hinter der Glasfassade von „De Binnenwaai“ finden Flüchtlingsberatungen statt, Glaubenskurse, Kaffekränzchen mit Kinderbetreuung und Gottesdienste, die Visser aber nicht so nennen möchte: „Es sind Feste, keine Dienste.“ Die wichtigste Arbeit aber findet für ihn jenseits der eigenen Räume statt. „Man muss den Menschen in ihrer eigenen Lebenswelt begegnen“, ist Pionier Visser überzeugt. Der gute alte Hausbesuch ist sein wichtigstes Arbeitsfeld. Anstelle eines Visitenkärtchens überreicht er eine Postkarte, deren vorgedruckter Text so anfängt: „Heute war ich bei Ihnen an der Haustür. Gerne würde ich Sie kennenlernen.“ Das wichtigste Gesicht der Kirche sei nicht der Empfangsraum des „Binnenwaai“, sondern das der Menschen, die von dort aus wirken, sagt Visser. Als Missionar im engeren Sinne sieht sich der Pfarrer übrigens nicht. Er komme nirgendwohin, um zu bekehren, sondern mit der Botschaft, „dass ich dich als Mensch wichtig finde“. Da ist es nur konsequent, dass Visser höchst ökumenisch arbeitet und mit den vielen anderen Kleinkirchen vor Ort, die meist mit US-amerikanischer Unterstützung wirken, Nachbarschaftsbeziehungen unterhält. Bezeichnungen wie „Katholiken“ oder „Protestanten“ meidet er – Christen seien sie schließlich allemal. So ähnlich sieht das übrigens auch Arjette Kuipers, die im Auftrag der PKN ein Internetportal für Lebensfragen betreibt („loketlevensvragen.nl“). Es geht um Spiritualität, aber auch um Partnerschaftsberatung, um Bibelzugänge. Traditionen spielen keine Rolle, sagt Kuipers: „In der Zukunft werden kirchliche Strukturen immer weniger wichtig sein. Junge Leute suchen neue Formen, neue Erzählungen vom Glauben in der Gegenwart.“
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Aus Kirchen werden Kaufhäuser Eine Reise ins protestantische Amsterdam mit Orten wie IJburg ist aus der Perspektive mancher deutscher Landeskirchen eine Reise in die Zukunft der Volkskirche, genauer gesagt: in die Zukunft nach der Volkskirche. Diakonie: ausgedünnt zum Notfallkommando. Bildungsarbeit: nicht erkennbar. Kulturelle Ausstrahlung: rudimentär. Präsenz im öffentlichen Raum: als Erinnerung vorhanden. Die Monatsbroschüre „Kerk in Mokum“, die den alten jüdischen Stadtnamen für Amsterdam aufgreift, gibt eine Ahnung, welches Potenzial noch immer da ist. Aber es ist eine kleine Flamme, auf der gekocht wird. Wenn ein umgebautes Restaurant als kirchliche Basis taugt, braucht es dann überhaupt noch sakrale Räume mit Turm, Orgel, Altar und viel Platz für leere Bänke, zumal diese Räume auch noch Unmengen an Geld verschlingen, das nicht mehr da ist? Die Protestanten in Amsterdam haben sich in den vergangenen rund 30 Jahren in einer unvorstellbaren Konsequenz von ihren Kirchbauten getrennt. Willemien Boot, Gemeindeberaterin im zentralen Kirchenbüro an der Keizersgracht, kann die emotionale Überfrachtung, mit der manche deutsche Besucher das Thema angehen, nicht verstehen. Ihre Stadtkarte hat ungefähr 20 blaue Punkte. Jede steht für eine protestantische Kirche. Zwischen den blauen finden sich ungefähr genauso viele graue Punkte: Jeder steht für eine Kirchenschließung seit den 1980erJahren. Aus (meist reformierten) Kirchen wurden ganz pragmatisch Einkaufshäuser, Kulturzentren, Restaurants oder einmal gar eine marokkanische Moschee. „Wir haben doch im Protestantismus eine sehr lange Erfahrung mit der Säkularisierung von Kirchen“, sagt Boot mit Blick auf das 16. Jahrhundert, als die Reformation auch in Amsterdam zahlreiche Klosterkirchen überflüssig machte. Das 20. Jahrhundert brachte die zweite große Schließungswelle, und es ist noch nicht absehbar, wann sie endet. Der Schrumpfungsprozess hat in dieser Stadt längst das kirchliche Tafelsilber erreicht. Man kann sich das so vorstellen, als ob etwa in Nürnberg entschieden werden müsste, entweder die Lorenz- oder die 57
Sebalduskirche zum Museum zu machen, um die andere als Gottesdienstraum zu retten. Etwa die Zuiderkerk, zu Beginn des 17. Jahrhunderts als erste genuin protestantische Kirche der Stadt errichtet, ein harmonischer Renaissancebau, dessen Turm seit Jahrhunderten das Weichbild von Amsterdam mitprägt und von Monet gemalt wurde: Hier finden schon seit 1929 keine Gottesdienste mehr statt. Das Portal ist zugemauert, die kleine Eingangstür ist nur bei Veranstaltungen des Informationszentrums „Bauen & Wohnen“ geöffnet. Nur das Carillon auf dem Turm tönt in den Mittagsstunden noch über Dächer und Grachten. Etwa zur gleichen Zeit verabschiedeten sich die Lutheraner von der „Ronde Lutherse Kerk“ in Bahnhofsnähe. Sie dient heute als Kongresszentrum des benachbarten „Renaissance-Hotels“. Dabei lädt ein romantisches Hochzeitsplakat ausdrücklich zum „Trouwen in de Koepelkerk“ – gemeint ist aber nicht das Jawort vor dem Altar, sondern der Cocktailempfang samt exklusivem Galadiner in einer extravaganten Location, in der nur noch der historische Orgelprospekt vom gottesdienstlichen Inventar übrig geblieben ist. Prominentestes Säkularisierungsopfer ist bis jetzt die Nieuwe Kerk am Dam, jene Kirche, in der 2013 die staatliche Huldigung für den neuen König Willem-Alexander stattfand. Sie gehört zwar noch der Kirche, wird aber praktisch ausschließlich als musealer Raum genutzt. „Schauen Sie sich die Skyline von Amsterdam im Jahr 1650 an“, sagt Boot: „Sie ist geprägt von den Türmen der Kirchen.“ Kennzeichen der Gegenwart seien die modernen Glas- und Betonburgen am Stadtrand: „Da ist von Kirchen nichts zu sehen.“ Am deutlichsten spürbar ist der Abschied der Kirche von ihren gleichnamigen Gebäuden im ältesten Gotteshaus von Amsterdam, der Oude Kerk. Hier wirkte Jan Pieterszoon Sweelinck, der Urvater des europäischen Orgelbarock, hier wurde Rembrandt getraut. Die Oude Kerk ist auf Boots Stadtkarte noch blau. Aber man merkt es nicht. In Kirchen, die Heimat einer Gemeinde sind, wird das irgendwo spürbar: An der Fragepinnwand der Konfis, an den Fotos der Täuflinge, am Schriftentisch, an Plakaten mit Veranstaltungen, am Blumenschmuck, egal, irgendwo. Es ist ein Raum, in dem mehr stattfindet als 58
Staunen über den herrlichen Orgelprospekt oder die prächtigen Grabplatten. Die Oude Kerk, die inzwischen einer Stiftung gehört, hat nur noch das Staunen, sie ist nur noch Monument, übrigens auch auf der entsprechenden Website. Folgerichtig kostet der Eintritt fünf Euro. Sicher finden noch Gottesdienste statt, wahrscheinlich am Sonntag. Aber es gibt im ganzen Gebäude keinen gesicherten Hinweis darauf. Gesäumt ist die Oude Kerk von Bürgerhäusern aus Backstein, die zum Teil an das Kirchenschiff angebaut, zum Teil nur durch schmale Gassen von ihm getrennt sind. Viele dieser Häuser, von denen man auf die Kirche blickt, haben große, blank geputzte Schaufenster, in denen leicht geschürzte Damen jeden Alters sitzen und vorbeischlendernden Männern eher verzweifelt als einladend entgegensehen. Auch das gibt es nur in Amsterdam: eine Kirche, die fast vollständig von Bordellen umgeben ist. Hat die vollkommene Nüchternheit der Oude Kerk vielleicht etwas mit reformierter Zurückhaltung zu tun? Sicher nicht, denn es geht in Amsterdam auch anders. Das beweist die Westerkerk, jene Kirche, deren Glocken Anne Frank hören konnte, als sie sich in einem Hinterhaus an der Prinsengracht vor den Nazischergen versteckte. Der Turm, der „Lange Jan“, ist ein Wahrzeichen der Stadt. Die Westerkerk ist so etwas wie die letzte protestantische Bastion traditioneller Kirchlichkeit im Stadtzentrum: Hier finden gut besuchte Gottesdienste statt, Trauungen, Taufen. Ein hauptamtlicher Organist sorgt für ein reichhaltiges Kulturprogramm, zu dem die Orgelwoche „Kein Tag ohne Bach“ im August gehört oder ein Bach-Kantaten-Zyklus. Im Empfangszimmer, das mit den hohen Decken und den üppigen Gemälden an der Wand noch die Pfarrherrlichkeit alter Zeit atmet, sitzt Pfarrerin Fokkelien Oosterwijk, eine gestrenge Autoritätsperson, das vollkommene Gegenmodell zu Rob Visser und seiner Pionierkirche. In einer volkskirchlichen Gemeinde dieser Bedeutung, sagen wir: im Ulmer Münster oder am Hamburger Michel, stünde sie an der Spitze einer kleinen Mannschaft aus Pfarrern und Diakonen, um dieses Gotteshaus mit Leben zu erfüllen. In Amsterdam, nach der Volkskirche, ist 59
sie allein. Die Betreuung der Touristen, die nicht zuletzt auf dem Weg zum Anne-Frank-Haus hier zahlreich hereinströmen, übernehmen Freiwillige mit Unterstützung einer Stiftung. „Die Kirche hat zu spät eingesehen, dass sie mit der Zeit gehen muss“, resümiert Oosterwijk den gewaltigen Traditionsabbruch der beiden letzten Generationen: „Sie ist nicht mit dem Glauben mitgegangen.“ In der langen Zeit der innerprotestantischen (Wieder-)Vereinigung habe man sich viel zu lange mit sich selbst beschäftigt. Vor allem in den Tauf- und Traugesprächen mit vielfach kirchenfernen Menschen spürt sie neben der völligen Unwissenheit über christliche Zusammenhänge auch ein großes Bedürfnis, Antworten auf große Lebensfragen zu finden: Wer bin ich? Warum bin ich eigentlich? „Doch die Leute suchen lieber in irgendwelchen Splittergruppen, die wie die Pilze aus dem Boden schießen“, hat sie festgestellt. Wer sich zum tradierten christlichen Glauben bekennt, gilt als „achterlijk“, zurückgeblieben: „Religion und Glauben sind Begriffe, die lange Zeit negativ besetzt waren.“ Den einprägsamsten Beweis für den drastischen Abbruch von Kirchlichkeit und kirchlichem Wissen liefert aber nicht die Pfarrerin, sondern Ruud Jongbloed, der Mesner der Westerkerk. Sein Namensschild mit dem Untertitel „koster“ für „Küster“ trägt er nur noch sonntags. Denn die meisten Werktagsbesucher der Kirche können mit dem Titel nichts mehr anfangen. Von Montag bis Samstag hat sich Jongbloed daher freiwillig säkularisiert. Auf seinem Namensschild steht dann „R. Jongbloed. facility management“.*
* Die Reportage entstand im April 2013. Auswahlliteratur: Joris van Eijnatten, Fred van Lieburg: Niederländische Religionsgeschichte. Göttingen 2011. Christoph Driessen: Kleine Geschichte Amsterdams. Regensburg 2010.
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Was ist protestantisch?
Rob Visser, Gründer der Pionierkerk von Amsterdam-IJburg: „Ich bin sehr ökumenisch. Natürlich, Maria und der Papst, das bedeutet mir nichts. Aber im Großen und Ganzen gibt es für mich keinen Unterschied. Ich spreche nicht von Katholiken oder Protestanten, sondern von Christen. Unsere Aufgabe ist es, nach Gemeinsamkeiten zu suchen und nicht nach Unterschieden.“
Fokkelien Osterwijk, Pfarrerin an der Westerkerk: „Protestantisch ist an unserer Arbeit vor allem die Organisation. Wir haben keinen Papst, bei uns geht es ausgesprochen demokratisch zu. Es wäre mir lästig, wenn ich einen Bischof über mir hätte, der mir sagt, wie es gehen muss. Unsere Gottesdienste sind zwar manchmal liturgisch frustrierend, aber es zählt der Inhalt und nicht die Zeremonie. Das ist doch das Entscheidende.“
Matthias de Vries, Leiter der Protestantischen Diakonie: „Wir sind in unserer Arbeit und unseren Entscheidungen autonom; wir gehören nicht direkt zur Kirche. In unseren Projekten setzen wir auf die Selbsthilfekraft derer, um die es geht. In Süditalien habe ich ein Plakat einer katholischen Hilfsorganisation gesehen: Ein alter Priester gibt einem Kind aus Schwarzafrika Geld in die Hand. So ein Bildmotiv wäre für uns unmöglich.“
Arjette Kuipers, Projektleiterin virtuelle Lebensberatung: „In der Zukunft werden kirchliche Strukturen immer weniger wichtig sein. Junge Leute suchen neue Formen, neue Erzählungen vom Glauben in der Gegenwart. In den Niederlanden sind die Kirchen besonders stark unterteilt, aber alle haben etwas von der christlichen Botschaft zu bieten.“
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BELFAS T
Atheistische In der nordirischen Protestanten Hauptstadt Belfast herrscht heute ein fragiler Konfessionsfriede
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s ist ein Donnerstagabend im April, kurz vor halb acht Uhr. In der Woodvale Road im Nordosten von Belfast, etwa auf Höhe des Woodvale Cricket Grounds, sammeln sich gut 20 Männer, und zwar mitten auf der ansonsten viel befahrenen Ausfallstraße. Das geht, denn weiter unten, bei der Woodvale Presbyterian Church, hat die Polizei mit gepanzerten Fahrzeugen den Verkehr angehalten. Die Männer gehören zum „Orange Order“, einem Traditionsverein, der sich als Bannerträger protestantischer Kultur versteht. Punkt 19:30 Uhr legen sich die Männer orangefarbene Schärpen um und sammeln sich hinter einer Fahne in Zweierformation. Ein kurzer Appell des Fahnenträgers, dann setzt sich die Gruppe stadtauswärts in Bewegung. Doch schon keine 200 Meter weiter versperrt ein massives Aufgebot an Fahrzeugen und Polizisten die Straße auf ganzer Breite. Die Parade knickt scharf nach links, dann wieder zweimal nach rechts und gelangt nach wenigen Minuten über Woodvale Parade und Woodvale Drive, vorbei an geduckten Arbeiterhäuschen, zu ihrem ursprünglichen Ziel, einem Kreisverkehr im Rücken der Polizeibarriere. Hier treffen sich Woodvale Road, Twaddell Avenue und Crumlin Road. Die Zäune ringsum tragen den Union Jack, die Flagge Großbritanniens, doch drüben, auf der anderen Seite der Crumlin Road, wohnen Katholiken. Seit Jahrzehnten gehört diese Straßenkreuzung zu den konfliktreichsten in ganz Europa. Die Katholiken halten den orangenen Vor62
beimarsch für eine Provokation, die Protestanten in Orange beharren darauf. Schließlich sei dies eine öffentliche Kreuzung. Seit drei Jahren ist ihnen der Durchmarsch von der Stadtverwaltung verboten. Daher versperrt nun wieder schwer bewaffnete Polizei den Weg. Die orangenen Männer bauen sich mit ihrer Fahne direkt vor der Polizeibarriere auf und bleiben friedlich stehen, eine Stunde lang. Helferinnen reichen aus einem improvisierten Wohnwagen-Camp direkt neben der Kreuzung Tee und Kaffee in Pappbechern hinüber zu den Demonstranten. „Civil Rights Camp“ steht auf einem Transparent. Über allem kreist ein Polizeihubschrauber. Gegen halb neun nehmen die Männer die Schärpen ab und gehen nach Hause. Kurze Zeit später macht auch die Polizei die Kreuzung wieder frei. Man sieht sich am nächsten Abend wieder, denn da wiederholt sich das Spiel, zu besichtigen täglich außer sonntags, immer zur gleichen Zeit. Mal kommt eine Handvoll, mal kommen ein paar Tausend. Heute war Aufmarsch Nummer 1007.
„Protestantismus“ in Belfast – ein Missverständnis Man kann all dies erklären, aber nur schwer verstehen. Belfast, die Hauptstadt Nordirlands, war bis in die 1990er-Jahre das Zentrum eines blutigen Bürgerkriegs, der Tausenden von Menschen das Leben kostete. Man kann manchmal lesen, dies sei der letzte Konfessionskonflikt Europas gewesen, der mit Waffengewalt ausgefochten wurde. Das stimmt aber nur zum Teil. Tatsächlich definieren sich die beiden Parteien, die sich noch bis vor einer Generation nach dem Leben trachteten, selbst als Katholiken und Protestanten. Nach gängigem kirchlich-zivilisatorischem Verständnis sind sie aber etwas anderes. „Viele, die sich Protestanten nennen, haben noch nie eine Kirche von innen gesehen“, sagt etwa Colin Duncan. Der gebürtige Schotte ist seit drei Jahren Pfarrer zweier Methodistengemeinden in Shankill, der traditionsreichen Protestantenhochburg im Nordwesten von Belfast. 63
Nirgendwo in Europa wird man solch flammende Bekenntnisse zum Protestantismus hören wie hier – Bekenntnisse, die bis zu der Versicherung gehen, man würde für diese Identität notfalls auch sein Leben geben. Die Geschichte lehrt, dass dies keine leeren Worte sind. Doch kurioserweise schließt diese Identität christliches Gedankengut keineswegs automatisch ein und manchmal sogar aus. „Protestantismus“ in Belfast, das ist ein gewaltiges Missverständnis, an dem auch seine kirchlichen Protagonisten mitunter verzweifeln. Fünf Minuten weiter, im Stadtteil Falls, ist alles genauso, nur auf katholisch. „Ich liebe diese Stadt, aber mir bleibt vieles fremd“, sagt Duncan. Aus der Betstunde, zu der sich vier Menschen aus den beiden Gemeinden in seinem Wohnzimmer zusammengefunden haben, die in Shankill aufgewachsen sind, wird unverhofft eine Geschichtslektion. Peter musste sich auf der Busfahrt in die Schule immer an einer bestimmten Stelle des Schulwegs ducken (nämlich dort, wo sich seit drei Jahren die Orange Men vor der Polizei aufbauen): Man sei damals automatisch in eine Schutzhaltung gegangen– Kopf nach unten, Arme schützend darüber. Denn täglich flogen Steine gegen den Bus. Margret eilte nachts nach Hause, bettelte schwer bewaffnete Polizisten an, sie auch nach der Sperrstunde passieren zu lassen. Neben sich sah sie Vermummte Pflastersteine sammeln und auf Polizeiautos werfen. Vor Nigels Augen ging eine Bombe hoch: Als sich die Wolke aus Staub und Ruß langsam lichtete, sah er die Toten auf der Straße liegen und die Traumatisierten schreien und zitternd umherirren.
Uralte Konfliktlinien Die Wurzeln des Nordirland-Konflikts, dessen Eskalation im 20. Jahrhundert sie hier euphemistisch „the troubles“ nennen, liegen tief. Es geht immer um die Frage: Ist Irland vor allem ein eigenes Land mit eigener Kultur, Sprache, Religion und Geschichte? Oder ist es vor allem ein Teil der Britischen Inseln, der fast notwendigerweise englischen Einflüssen unterliegt? 64
Die Engländer, die immer die Mächtigeren waren, definierten die Frage selbstredend zu ihren Gunsten, schon im Mittelalter. König Heinrich VIII. brachte die schleichende Anglisierung 1541 auch formell unter Dach und Fach, indem er sich als „König von Irland“ bezeichnete. Nach dem Vorbild der anglikanischen Kirche in England installierte er eine eigene „Church of Ireland“, die aber nie im irischen Volk Fuß fasste. Das blieb der katholischen Kirche treu. In den folgenden Jahrhunderten nahm der englische Einfluss stetig zu. Irland wurde vom großen Nachbarn regelrecht kolonisiert: Irlands Verwaltung wurde englisch, die Sprache, die Lebensart. An die Stelle der alten irischen Oberschicht trat eine neue englische (und durchwegs protestantische), die in mancherlei Hinsicht gesetzlich bevorzugt wurde und bis ins 18. Jahrhundert fast das gesamte Land in ihren Besitz gebracht hatte. Gelegentliche, mitunter nicht mehr als symbolische Proteste änderten daran nichts. Besonders rigoros geschah diese politische Flurbereinigung in Ulster, den nördlichen Provinzen Irlands: Weil die alteingesessenen Lords 1607 das Land gen Rom verlassen hatten, kassierten die Engländer deren Besitzansprüche ein und gaben sie an Einwanderer aus England und Schottland weiter – die „plantation of Ulster“. Viele von ihnen waren Presbyterianer, also Calvinisten. Der zweite entscheidende Markstein jener Epoche war die Schlacht am Boyne am 12. Juli 1690, als der englische König Wilhelm von Oranien im Rahmen der „Glorreichen Revolution“ seinen Vorgänger, den katholischen König Jakob II., besiegte und damit endgültig aus dem Amt kegelte. „Nun begann ein Zeitalter unter protestantischer Führung“, konstatiert der Historiker Michael Maurer in seiner Geschichte Irlands. Das Datum der Schlacht ist wichtig, für den harten Kern des protestantischen Milieus, aus dem sich auch der Orange Order rekrutiert, ist es bis heute der höchste Feiertag. Unter allen Umzügen ist derjenige am 12. Juli traditionell der größte und auch derjenige, der es wegen der Gewaltausbrüche in seinem Umfeld bis heute immer wieder in die Schlagzeilen der Weltpresse schafft. Fast immer im Mittelpunkt: der Kreisverkehr an der Crumlin Road. Erst im 19. Jahrhundert begannen die Iren, gegen die Bevormundung aus Westminster aufzubegehren – übrigens konfessionsübergreifend. Je 65
lauter aber der Ruf nach „home rule“, nach Selbstverwaltung für Irland ertönte, umso deutlicher wurden die Klippen sichtbar, die dem im Wege standen. Denn „home rule“ war für die Nordiren kein Thema. Sie fühlten sich ja vor allem als Briten. Noch einmal Maurer: „Der unwiderstehliche Schwung einer Freiheitsbewegung aus der Berufung auf die eigene Nation und das Selbstbestimmungsrecht der Völker, aller Völker, wurde gebrochen und kompliziert, wo Freund und Feind plötzlich innerhalb der eigenen Nation zu finden waren.“ Erst jetzt wurden die Fronten mittels konfessioneller Terminologie gezogen: Katholiken, das waren die Anhänger von „home rule“ und einem freien, republikanischem Irland (Republikaner). Für all jene, die loyal zur englischen Krone standen (Loyalisten), blieb die Sammelbezeichnung Protestanten. Im Süden Irlands stellten die Katholiken die Mehrheit, in Ulster die Protestanten. Die Teilung Irlands lag in der Luft und wurde schließlich 1922 Wirklichkeit. Da es in beiden Landesteilen jeweils Minderheiten gab, war das Problem damit aber nicht gelöst. Während sich die Protestanten im neuen Freistaat Irland, auch dank gesetzlicher Schutzbestimmungen, mit der Lage arrangierten, gingen die Katholiken in Nordirland auf Distanz. Katholische Abgeordnete nahmen Parlamentssitze nicht ein, katholische Lehrer weigerten sich zum Teil gar, Gehälter vom neuen Staat anzunehmen. Umgekehrt entwickelten die Protestanten eine Wagenburgmentalität, die paranoide Züge annehmen konnte – so weigerte sich ein protestantischer Minister, wichtige Angelegenheiten am Telefon zu besprechen, solange am neuen Nordirland-Parlament noch ein katholischer Telefonist angestellt war. Die republikanischen Katholiken, immerhin ein Drittel der Bevölkerung, saßen in Nordirland in der Holzklasse. Bei ihnen entstand ein Gefühl der Unterdrückung und Ausgrenzung. Wirtschaftlich und sozialpolitisch hatte Nordirland die gleichen Probleme wie andere Länder Europas – doch nur hier wurde sogleich alles ins Konfessionelle übersetzt. Es entstanden zwei parallele Gesellschaften, die miteinander nichts zu tun haben wollten, einander zunehmend misstrauten, und die irgendwann begannen, aufeinander zu schießen.
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Martialische Betonmauer Das merkwürdigste Bauwerk dieser Stadt ist eine riesige Mauer aus Beton und Eisengestänge entlang der Conway Street. Sie bis zu acht Meter hoch und einen guten Kilometer lang. Fast auf ganzer Länge sind Graffitis aufgemalt, und jeden Tag halten Touristentaxis, damit Besucher sich mit ihrem Namen auf der Mauer verewigen können. Die prominentesten Signaturen wurden in Metall gefasst. „Strength and wisdom are not opposing values“ hinterließ zum Beispiel Bill Clinton, und der Dalai Lama empfahl: „Open your arms to change, but don’t get go of your values.“ Der Betonkoloss trägt, wieder ein nordirischer Euphemismus, den Namen „peace wall“ – Friedensmauer. Es gibt an die 100 davon in der ganzen Stadt mit einer Gesamtlänge von 21 Kilometern, aber dieser Abschnitt ist der bekannteste. Die „peace walls“ trennen protestantische von katholischen Wohnvierteln, hier den Shankill-Bezirk von den Falls. Es gibt Durchgänge wie am Lanark Way, martialische Sicherheitsschleusen aus Stahl, die jeden Abend geschlossen werden. Ein Spaziergang durch diesen Teil der Stadt ist, jedenfalls für Auswärtige, ein wunderliches Erlebnis. Die bescheidenen Arbeiterhäuser aus rotem Klinkerstein, die Trostlosigkeit von großen Brachflächen, die Geschäfte, deren Läden ganztags geschlossen sind, überhaupt die sozialen und gesellschaftlichen Probleme sind hüben wie drüben die gleichen. Doch in Shankill weht über Armut und Arbeitslosigkeit der Union Jack, in Falls die grün-weiß-orangene Fahne Irlands. Mehr als das: Die Shankill Road ist ein einziges Statement. Eine Erinnerungsstätte ist an die andere gereiht: Einmal ist es nur eine Metallplakette für die Opfer eines Bombenanschlags, ein anderes Mal ein kleiner Memorial Park, in dessen Mitte ein Geschütz aus dem Ersten Weltkrieg steht. Dieser Krieg spielt für die Identität der protestantischen Nordiren eine enorme Rolle: Nur ein Zehntel von rund 760 Freiwilligen aus Shankill überlebte den Krieg, was die Nachfahren besondere Blutsbande zu England verspüren lässt. In der freipresbyterianischen Martyrs Memorial Church hat Pfarrer Ian Brown sogar aus Polystyrolschaum ein Relief der Schlacht an der Somme nachgebaut. Die katho67
lischen Iren dagegen kannten den Krieg mit wenigen Ausnahmen nur vom Hörensagen. In der Shankill Road wirbt sogar „Phil’s Barbershop“, ein Friseur, in den Farben Großbritanniens. Berühmt sind die großflächigen Wandmalereien, etwa das Porträt von Wilhelm von Oranien oder Huldigungen an paramilitärische Organisationen wie das „Red Hand Command“. Auf der katholischen Seite dominieren republikanisch-nationale Bildmotive. Die Wahlplakate für die protestantische UVP reichen nur bis kurz vor die Mauer, dieweil drüben die Plakate von Sinn Féin das Ortsbild bestimmen. „Wenn Sie unabhängig von England sein wollen, müssen Sie Sinn Fein wählen“, steht drauf. Die „peace walls“ waren als Provisorium gedacht, um in der Anfangsphase des Friedensprozesses Hitzköpfe auf beiden Seiten in Schach zu halten. Sie sollten, das war die Idee, potenziellen Scharfschützen, Bombenwerfern oder sonstigen Kriminellen den Zugang ins Nachbarviertel erschweren. Das ist insofern kurios, weil die Mauern nicht sehr lang sind. Man kann sie leicht und völlig unkontrolliert umgehen, denn Belfast ist längst keine Zwingburg mehr mit Polizeibarrikaden und Armeeposten an allen Kreuzungen. Trotzdem, so haben neue Befragungen ergeben, wollen 80 Prozent der Anwohner, dass die Mauern bleiben. Elisabeth, Walter, Mark – alle, die hier in einem Hinterzimmer der presbyterianischen Westkirk mitten in Shankill zusammengekommen sind, sagen, dass sie sich mit der Mauer sicherer fühlen. „Es ist ein Gefühl“, versucht Dave Clawson zu erklären, seit fünf Jahren Pfarrer an der Westkirk: „Die Leute spüren noch eine Gefahr.“ Provisorien sind manchmal langlebig. Als neulich an einer anderen Stelle in Belfast eine Mauer abgebrochen wurde, verbreitete sich das via Facebook und Twitter in der ganzen Welt. Von seinem Freunden in den USA bekam Clawson freudige Rückmeldung: „Wie schön, unsere Gebete wurden erhört!“ Dabei war es nur eine ordinäre Mauer, keine „peace wall“. Doch die Mauern von Belfast haben inzwischen Symbolcharakter. Je weiter weg man lebe, sagt Clawson, umso mehr wünsche man sich den Abriss. Doch umgekehrt geht die Rechnung auch auf, und so werden die Mauern noch lange bleiben. 68
Der blutige Bürgerkrieg Im Zweiten Weltkrieg war die Distanz des südirischen Staats zu Großbritannien noch immer (oder: immer noch!) so groß, dass das Land als einziges im ganzen Commonwealth nicht gegen Deutschland mitkämpfte, obwohl Churchill einen enormen Preis dafür ausgelobt hatte – die Wiedervereinigung Irlands unter republikanischer Flagge. Stattdessen trat 1949 die neue Republik Irland aus dem Commonwealth aus, dieweil die Briten ihren Anhängern in Nordirland versicherten, am Status quo der Teilung nicht rütteln zu wollen. Wirtschaftlich ging es in beiden Teilen der Insel bergab, wenn auch aus teilweise unterschiedlichen Gründen. In den frühen 1960er-Jahren begann sich das protestantische Lager zu spalten. Die Gemäßigten erkannten die Diskriminierung der Katholiken als Problem und suchten nach Abhilfe. Hardcore-Protestanten sahen darin einen Verrat an der eigenen Sache. Zu ihrem Sprachrohr wurde der radikale Calvinistenpfarrer Ian Paisley, dem der britische Economist ein bemerkenswertes Alleinstellungsmerkmal zuerkannte – als einzigen Menschen Europas im 20. Jahrhundert, der sowohl eine eigene Kirche, die Free Presbyterian Church, als auch eine eigene Partei, die DUP, gründete. Beide Organisationen bestehen bis heute – die Free Presbyterian Church als Splittergruppe mit rund 12 500 Mitgliedern, die DUP als größte unionistische Partei Nordirlands. Aus welchem Holz Paisley geschnitzt war, erlebte die Welt, als Papst Johannes Paul II. 1988 eine Rede im Europäischen Parlament hielt. Paisley, damals Europaabgeordneter, beschimpfte Johannes Paul lautstark als „Antichrist“ und wurde schließlich des Saals verwiesen. Auf das Wiederaufleben der Irisch-Republikanischen Armee (IRA) reagierten radikale Protestanten mit der Neugründung der Ulster Volunteer Force (UVF). Beide Seiten standen sich in zunehmend unversöhnlichem Hass gegenüber, dem die britischen Ordnungskräfte nicht mehr gewachsen waren. Der „Bloody Sunday“ vom 30. Januar 1972, als britische Soldaten in Londonderry 13 unbewaffnete Demonstranten erschossen, wurde zum Fanal. In den folgenden Jahrzehnten starben in Nordirland über 3500 Menschen durch politisch motivierte Gewalt, 69
davon die Hälfte Zivilisten; viele Tausend wurden verletzt. Ein gutes Drittel aller Taten ereignete sich in Belfast. Es gibt kaum jemanden in dieser Stadt, der in seinem Freundes- oder Verwandtenkreis kein Opfer der „troubles“ kennt. Der Vorname, die Farbe der Hose, die Busfahrt zur Schule – all dies konnte unter ungünstigen Umständen zur tödlichen Bedrohung werden. Erst 1998 gelang unter starkem US-amerikanischem Druck das Karfreitagsabkommen, dem kurze Zeit später in einer Volksabstimmung 71 Prozent der Nordiren zustimmten. Der Protestant David Trimble und der Katholik John Hume bekamen im gleichen Jahr den Friedensnobelpreis. Die erstaunlichste Personalie aber ergab sich 2007, als der schon greise Ian Paisley die Führung einer Regierung übernahm, der auch sein erklärter Erzfeind, der Katholik Martin McGuinness, angehörte.
Suche nach Friede und Versöhnung Wie kann man einer Gesellschaft, die jahrzehntelang in Hass und Gewalt gefangen war, Friede und Versöhnung beibringen? Das ist die Lebensfrage von Bill Shaw. Heute Morgen sitzt er im weiß getäfelten Café der Organisation „Trust 174“, um seine Biografie zu erzählen. Das Gebäude war früher eine presbyterianische Kirche, später ein Möbelladen. Heute trinken hier Katholiken und Protestanten zusammen Kaffee oder Tee. Shaw ist auch Protestant, aber mit den Protestanten vom Kreisverkehr verbindet ihn nicht mehr als das Wort. Die Paraden hält er für eine wehmütige Erinnerung an alte Zeiten, einen Anachronismus: „Mit unserer Zukunft hat das nichts zu tun.“ Besonders ärgern ihn die Kosten der Polizeieinsätze, ungefähr 50 000 Pfund (64 000 Euro) pro Woche. Wie viel Sozialarbeit könne man damit finanzieren, sagt Shaw, wie viel Gespräche, wie viel Miteinander. „Protestant kann alles bedeuten oder nichts“, sagt er. Der Weg zu seiner Position, die in dieser Gesellschaft noch immer heiß umstritten ist, war lange und steinig. Bill Shaw wächst in Sandy Row auf, einer fast legendenumwobe70
nen protestantischen Herzkammer. Seine Mutter geht nie in die Kirche, fühlt sich aber als glühende Protestantin. Dem ersten Katholiken begegnet er mit 17 Jahren, als er in einem Kleiderladen als Verkäufer jobbt. Es ist die hohe Zeit der „troubles“, in der „fast jeden Samstag irgendwo eine Bombe hochging“, erinnert sich Shaw. Eine Explosion übersteht er nur deshalb unversehrt, weil er gerade zufällig hinter einer schützenden Säule steht. Shaw studiert Architektur, arbeitet als Bauplaner und gründet eine Familie. Mit Kirche hat er nichts am Hut, er besitzt nicht einmal eine Bibel. Mit 28 Jahren verspürt er ein Erweckungserlebnis, einen Ruf Gottes, wie er es empfindet: Mache mehr aus deinem Leben! Verkünde das Evangelium auf deine Art! Zuerst im Abendkolleg, dann im regulären Studium sattelt er auf die Theologie um. Seine erste Stelle führt ihn – ausgerechnet – nach Shankill. Er will Kirche und Gesellschaft zusammenbringen und dem falsch verstandenen Protestantenpathos die christliche Botschaft entgegenstellen, doch sein dienstvorgesetzter Pfarrer hält wenig von seinen Konzepten der Öffnung: „Du sollst beten und keine Sozialarbeit leisten.“ 1992 wird er Pfarrer in Portadown, wohnt sechs Jahre lang in katholischer Nachbarschaft und legt sich mit dem orangenen Establishment an. „Auf welcher Seite der Barrikaden würde Jesus stehen?“, fragt er provozierend auf dem Höhepunkt der Auseinandersetzungen um die örtliche Parade. Einem Schärpenträger, der sich nie in der Kirche blicken lässt, sagt er: „Du kannst an 51 Sonntagen im Jahr friedlich in die Kirche kommen. Warum kommst du nur einmal pro Jahr und machst dabei solchen Ärger?“ Die Versöhnung wird zu seiner Lebensaufgabe. 1998 übernimmt er die Leitung des Sozialzentrums im Norden von Belfast entlang der sogenannten murder mile. Es ist ein mehrheitlich katholisches Viertel, aber Shankill liegt gleich nebenan. Seine erste Amtshandlung ist es, den katholischen Priester zu besuchen. Prompt halten ihn die Leute für einen britischen Agenten, beide Seiten sind misstrauisch. Shaw öffnet das Stadtteilzentrum für Organisationen wie die Anonymen Alkoholiker, besucht IRA-Aktivisten im Gefängnis, macht Kunstprojekte mit Jugendlichen oder versucht in internationalen Seminaren, die Fährnisse seiner Arbeit zu erklären. 71
Es dauert, bis der Samen seiner christliche Botschaft das konfessionelle Gestrüpp des Viertels durchstößt: Arbeitet zusammen! Lasst uns diesen Ort besser machen! Seid vor allem Christen, nicht Katholiken oder Protestanten! Sicher ist nur eines: Die Arbeit wird ihm nicht ausgehen, für Generationen.
Boomtown Belfast Die politisch aufgeladene Konfessionalisierung Nordirlands hat zu dem für Nordeuropa ungewöhnlichen Phänomen einer – formal – ungebrochenen Kirchlichkeit geführt. Nordiren lassen ihre Kinder taufen, heiraten kirchlich, wollen ihre Toten vom Pfarrer bestatten lassen. Die Kirchendichte in einem Arbeiterviertel wie Shankill ist unfassbar: Ungefähr 40 Gemeinschaften laden in ihre meist bescheidenen Kirchen und Gemeindehäuser, Anglikaner sind darunter und Presbyterianer, Methodisten und Baptisten, allerlei Freikirchen und „viele andere Gruppen, die sich auch protestantisch fühlen“, sagt Methodistenpfarrer Duncan diplomatisch. Keines der Gebäude ist im Touristenhandbuch verzeichnet – zumeist sind es Arbeiterbetsäle aus dem 19. Jahrhundert oder Zweckbauten mit Turnhallenanmutung. Eine Gemeinde mit 300 Mitgliedern gilt schon als groß. Wer Kirche zuerst als Einladung definiert, kann hier schon mal irritiert sein: Die John Knox Memorial Church der Free Presbyterian Church zum Beispiel sieht mit ihren hohen Zäunen eher aus wie eine Festung, deren Zweck es vor allem ist, bestehende und künftige Bedrohungen fernzuhalten. Sie ist ein Symbol für das Lebensgefühl vieler nordirischer Protestanten, die sich durch das Karfreitagsabkommen, das die gleichberechtigte Teilhabe der Katholiken regelt, übervorteilt fühlen. „Das Abkommen ist wie ein trojanisches Pferd“, fasst Pfarrer Clawson die Stimmung in seiner Teestube zusammen: „Für viele ist die Lage hoffnungslos.“ Es fehlt an Schulen, es fehlt an Arbeit. Viele Läden in der Shankill Road sind geschlossen, das Viertel verliert seit Jahrzehnten an Bevölkerung. 72
Dabei gilt die 350 000-Einwohnerstadt als Boomtown: Ganze Stadtviertel sind neu entstanden, die Innenstadt mit ihrer legendären Dichte an Pubs hat sich längst aus der Lähmung befreit. Kapital hat die Stadt auch aus ihrem größten historischen Pfund geschlagen, dem Stapellauf des mythenumwobenen Luxusdampfers Titanic bei Harland & Wolff anno 1911, der auf seiner Jungfernfahrt im Jahr darauf versank. Das Titanic Museum ist nicht nur zum architektonischen Wahrzeichen der Stadt geworden, sondern ist nebenbei auch eines der modernsten Museen Europas. Und dann wurde hier auch noch die TV-Serie Games of Thrones gedreht, was ganz besondere touristische Impulse freigesetzt hat. Über all das können sich Leute wie Billy Scott freuen, die mit ihren Black Taxis individuelle Touristenführungen zu den Brennpunkten von Belfast anbieten. Billy sprudelt über vor Anekdoten, die aber nicht immer leicht zu verstehen sind, denn Nordiren sprechen schnell und eigenwillig. Eine von Billys Sottisen geht so: Drei grobschlächtige Kerle halten nachts einen Fremden auf. „Bist du Katholik oder Protestant?“ Antwort: „Atheist!“ Zweite Frage: „Bist du katholischer Atheist oder protestantischer?“ Die Geschichte ist nur von außen gesehen ein Witz, denn der Typus des konfessionsgebundenen Atheisten gehört in Belfast tatsächlich zum Stadtbild. Das Karfreitagsabkommen lässt die Frage einer möglichen Wiedervereinigung der beiden Irlands offen. Die wichtigste Bedingung wäre die mehrheitliche Zustimmung der Nordiren, die vor Jahrzehnten noch undenkbar war. Doch der Anteil der Katholiken ist von rund 30 Prozent im Jahr 1971 auf derzeit etwa 44 Prozent der Bevölkerung gewachsen, vor allem durch deren vergleichsweise hohe Kinderzahl, dieweil der protestantische Anteil von 70 auf rund 48 Prozent abnahm. Eine katholische und damit republikanische Mehrheit ist in demografischer Sicht für die meisten Protestanten eine unvorstellbare Perspektive, der man die Zuversicht entgegensetzt, viele Katholiken würden im Zweifelsfall für den Verbleib bei Großbritannien stimmen, etwa wegen der besseren ökonomischen Aussichten oder des besseren Gesundheitssystems. Doch wenn sie das erzählen, in Clawsons Hinterzimmer, im Pfarrhaus bei Tee und Plätzchen oder im Campingwagen an der Twaddell Avenue, 73
dann klingt es eher nach trotziger Selbstversicherung denn nach realer Überzeugung. „Die Wiedervereinigung Irlands ist unabdingbar“, sagte jüngst Bill Shaw, der Versöhner von „trust174“, in einer Fernsehdoku: „Schon allein deswegen, weil sich die britische Regierung zu wenig um uns kümmert.“ Bei der Brexit-Abstimmung im Juni 2016 war die Mehrheit der Nordiren für den Verbleib in der EU, was die alte Wiedervereinigungsdebatte prompt befeuerte. Man möchte lieber nicht darüber spekulieren, was in einem solchen Fall in Nordirland passieren könnte – denn es ist kaum vorstellbar, dass in dieser noch immer tief verletzten und gespaltenen Gesellschaft sich alle jener Haltung anschließen würden, die Norman Jardine, seit 40 Jahren anglikanischer Pfarrer in Belfast, so auf den Punkt bringt: „Ich bin Christ, und ich bin Protestant. Aber ich würde für den Protestantismus niemals mit Kriegswaffen kämpfen.“*
* Die Reportage entstand im April 2016. Auswahlliteratur: Michael Maurer: Geschichte Irlands. Stuttgart 2013 (3. Aufl.). Marc Mulholland: Northern Ireland. A Very Short Introduction. Oxford/New York 2002. Jürgen Elvert (Hg.): Nordirland in Geschichte und Gegenwart. Stuttgart 1994.
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Was ist protestantisch?
Colin Duncan, Pfarrer der methodistischen Gemeinden in Shankill: „Vor allem bin ich Christ, ich glaube an Gott und habe eine persönliche Beziehung zu Jesus Christus. Die Bibel steht in Zentrum meiner Arbeit. Für die meisten Menschen hier, die sich Protestanten nennen, hat das nichts mit Glauben zu tun. Es sind eigentlich atheistische Protestanten.“
Ian Brown, Sprecher der Freien Presbyterianischen Kirche und Pfarrer an der Martyrs Memorial Church in Ost-Belfast: „Die Bibel ist die Grundlage. Wir müssen die Menschen mit der Bibel evangelisieren. Wir sind loyal zu Jesus Christus. Wir müssen im eigentlichen Wortsinne als Protestanten unseren Glauben auch verteidigen, das verpflichtet uns zur öffentlichen Stellungnahme. Irland soll im Geiste Christi leben und Nordirland bei Großbritannien bleiben – das ist der beste und sicherste Weg, unseren Glauben zu bewahren.“
Norman Jardine, Pfarrer an der anglikanischen St. Jude's Church in Ballynafeigh in Ost-Belfast: „Ich bin ein Mann der Bibel. Was uns vor allem voranbringt, ist der Glaube an Gott. Zum Protestantismus gehören die Redefreiheit, die Religionsfreiheit, überhaupt die Freiheit, so zu leben, wie ich es möchte. Was man in dieser Stadt ausdrücklich hinzufügen muss: Ich würde für den Protestantismus niemals mit Kriegswaffen kämpfen.“
Tina Patrick, Mitarbeiterin im Civil Rights Camp an der Twaddell Avenue: „Es ist meine Herkunft, mein Glaube, meine Identität, meine Kultur. Ich möchte unter der britischen Flagge gehen wie mein Vater und mein Großvater. Ich gehöre zu Großbritannien, ich bin Protestantin.“
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Elizabeth Clark, Mitarbeiterin im Civil Rights Camp an der Twaddell Avenue: „Es ist meine Kultur, und die anderen sollen das respektieren. Wir sind in Nordirland britisch, wir haben die Queen, das soll sich nicht ändern. Kirche und Gottesdienst haben für mich keine Bedeutung.“
Bill Shaw, Pfarrer der Presbyterianischen Kirche von Irland und Direktor der Organisation „Trust174“: „Mein erste Identität ist es, Christ zu sein und nicht Protestant. Liebe ist die erste Kategorie. Man kann sich nicht in Abgrenzung zu etwas anderem definieren, aber das machen die meisten. ‚Ich bin Protestant‘ heißt hier vor allem: Ich bin kein Katholik. Theologisch betrachtet, bin ich froh, Pfarrer in einer protestantischen Kirche zu sein. Meine unmittelbare Beziehung zu Jesus ist mir das Wichtigste.“
Dave Clawson, Pfarrer an der Westkirk der Presbyterianischen Kirche von Irland in Shankill: „Protestanten beziehen sich auf die Bibel. Protestanten haben eigene theologische Standpunkte in der Rechtfertigung, der Schrift, Sünde und Gnade, in Bezug auf das Kreuz, auf die Gemeinschaft mit Christus, auf die Kirche und auf die Sakramente. All dies wirkt sich notwendigerweise überall auf unser tägliches Leben aus.“
Billy Scott, Taxifahrer und Touistenguide: „Es heißt immer: Protestanten sind britisch, und Katholiken sind irisch. Aber ich finde, das ist ein Missverständnis. Wir sollten eine Mischung aus allem sein.“
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Dank M
ein Dank gilt dem Chefredakteur und dem Verleger des Sonntagsblatts, Helmut Frank und Dr. Roland Gertz, für die Freiheit, die ich bei der Umsetzung dieses Projekts besaß. Die meisten Einzelbeiträge erschienen in gekürzten Versionen seit dem Jahr 2012 als Artikelreihe im Sonntagsblatt – Evangelische Wochenzeitung für Bayern sowie in anderen evangelischen Wochenzeitungen in Deutschland. Dem Claudius Verlag danke ich für die Aufnahme in das Verlagsprogramm sowie Prof. Hans-Jürgen Luibl und dem Verein bildung evangelisch in Europa e.V. für alle Unterstützung. Dieses Buch verfolgt die Idee, die Antworten auf zentrale Fragen protestantischer Gegenwart an jenen Orten zu suchen, die für den Protestantismus in besonderer Weise wegweisend gewesen sind. Es ist kein wissenschaftlicher oder gar theologischer Ansatz, sondern, wenngleich wissenschaftlich unterfüttert, ein journalistischer. Was bedeutet es eigentlich, 500 Jahre nach dem Thesenanschlag, protestantisch zu sein? Was ist im frühen 21. Jahrhundert übrig von 500 Jahren protestantischer Kultur, Geschichte und Theologie? Wie haben die Ideen und das Wirken der Reformatoren unsere Welt beeinflusst? Manchmal sind es Orte, die im 16. Jahrhundert keinerlei Bedeutung für protestantische Kulturgeschichte besessen haben und daher in keiner Sammlung von „Orten der Reformation“ auftauchen: Taizé oder Bethel, Ramsau, Herrnhut oder Teschen. Ihre Stunde schlug später. Sie 348
weiten den Blick nicht nur über Luther hinaus zu anderen prägenden Köpfen des Protestantismus, sondern bis an die Peripherie des Kontinents. Die Reihe der hier vorgestellten Orte ist nicht vollzählig. Maßstab für die Aufnahme war das Wechselspiel zwischen der historischen Rolle eines Ortes in der Geschichte des Protestantismus und seiner gegenwärtigen Bedeutung. Die Auswahl sollte ein möglichst breites Abbild des europäischen Protestantismus abgeben. Für jeden aufgenommenen Ort gab es objektive inhaltliche Gründe, die Beschränkung auf 25 Orte entsprang der Notwendigkeit zur räumlichen Beschränkung. Um der besseren Lesbarkeit willen wurden die Ortsnamen im Inhaltsverzeichnis und den Kapitelzeilen ausschließlich in deutscher Sprache formuliert. Dass protestantische Kirchengemeinschaften traditionell vergleichsweise kleinteilig strukturiert sind und weniger auf das große Ganze blicken als etwa die römisch-katholische Kirche, ist zwar demokratisch ehrenwert, hat aber ihre europäische Wahrnehmung nicht unbedingt gefördert. Dieses Buch möchte ein Beitrag sein, dies zu ändern, denn die Frage der europäischen Integration und Zusammenarbeit, überhaupt des europäischen Denkens gehört zu den Schicksalsfragen unserer Zeit.
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