P. Josef Schulte OFM
Auferstehen jetzt
P. Josef Schulte OFM
Auferstehen jetzt Franziskanische Impulse aus der GroĂ&#x;stadt
Copyright © Claudius Verlag, München 2017 www.claudius.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden. Umschlaggestaltung: Weiss Werkstatt München Gesetzt aus der Stempel Garamond Druck: Clausen & Bosse, Leck ISBN: 978-3-532-62497-5
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Warum dieses Buch? 7
I.
Die innere Freiheit entdecken Wer bist du? 10 | Warum tragen Sie den Stein? 13 | Milch und Honig 16 | Ich bin nicht mehr gegen mich, sondern mit mir 18 | Ein Kind in der Mitte 20 | Ein Fasten, das befreit 22 | Der Mensch ist frei geschaffen 25 | Die sanfte schiefe Ebene 27 | Die Spirale 29 | Ein Stückchen Himmel auf der Welt 31 | Grabstein 1905 33 | Glasgefäß und Mandala 35 | Wo ist mein Platz? 37 | Verlust der Mitte 39 | Sieh nicht, was andre tun 40 | ICH 42 | Der Sorgenbaum 44 | Wunschzettel 46
II. Die eigenen Talente erkunden und einsetzen Hüte das Feuer! 50 | Sich wichtigmachen 52 | Gebet eines unbekannten Autors 54 | Selbststeuerung 57 | Selbstwirksamkeit und: die Gnade Gottes 59 | Mann im Vogelkäfig 61 | Keine Angst vor dem Computer 64 III. Inspiriert sein Das Finden erlernen 68 | Der Kelch unseres Lebens 70 | Unbedingt lieben 72 | Auferstehen jetzt 75 | Hauptstadt des Optimismus 77 | Noch einmal 79 | Klein und gern – beiläufige Schlüsselworte 81 | Gesunder Glaube 83 | Berufungsgewissheit 85 | Würdigen 87 | Die verlängerte Hand 89 | Den Nächsten neu sehen 91 | Aber um Gottes Willen, das bin ja ich 94 | Frieden ist ein Tätigkeitswort 97
IV. Intensiv leben Seinen Weg gehen 100 | Weichen stellen 102 | Intensiv leben 104 | Ohne Groll 106 | Kämpfen 108 | Was die Schwäche nicht darf, das darf die Reinheit 110 | Dag Hammarskjöld 112 | Sein Bestes geben 114 | Nicht von einem Haus in ein anderes 117 | Und mehr als das 119 | Wie ein großes Verstehen 121 | Willst du gesund werden? 124 | Staunen 126 | Der Fahrplanschuster 128 | Das Leid der Welt 130 | V.
Mit der Zeit umgehen Höchste Zeit 134 | Zwischenzeiten 136 | Erntestrauß 138 | Die Gezeiten des Lebens 140 | Anfangen 142 | Aufschieben 144 | Von jetzt an 146 | Wiederholen 148 | Durch halten 150 | Oh Lust des Beendens 152
VI. Fügungen Alles fügt sich und erfüllt sich 156 | Es kam immer anders 159 | Ein Schutzengel 161 | Tragfähig beladen 163 | Sich alles zum Besten dienen lassen 165 | Die wahren Maßstäbe 169 | Der kaputte Krug 172 | So jung wie deine Hoffnung 174
Warum dieses Buch?
St. Ludwig in Berlin-Wilmersdorf – das ist seit 30 Jahren der Ort meines seelsorglichen Wirkens als Franziskaner. Berlin: eine Metropole, zu deren Wesensmerkmalen der Wandel zählt, bis heute für viele ihrer Bewohner spürbar, etwa als Nachwirkung des Zweiten Weltkrieges oder der wunderbaren, friedlichen Revolution von 1989; eine Stadt zugleich, in der Wandel und Vielfalt Hand in Hand gehen. Meine Jahrzehnte in dieser Stadt haben mich mit ihren Besonderheiten vertraut gemacht, so mit der Vielfalt der Lebensformen und Lebensentwürfe. Ich selbst stamme aus einer Bauernfamilie in Ostwestfalen. Unter anderem waren es die Unterschiede zwischen meiner eigenen Herkunft und Sozialisation einerseits und den Besonderheiten einer Großstadt andererseits – und dies gilt im Besonderen für die Großstadt Berlin –, die mich Vieles lernen ließen. Erstreckte sich dieses Lernen zunächst auf eher praktische Fragen, so galt es im Weiteren vielmehr meinem theologischen Verständnis, meinem spirituellen Leben und – damit einhergehend – meinem seelsorglichen Selbstverständnis und Handeln. Als ich die Einladung erhielt, ein Buch mit seelsorglichen Impulsen aus Berlin zu veröffentlichen, reagierte ich zunächst zurückhaltend, denn ich betrachte mich nicht als Schriftsteller. Und doch fand ich Gefallen an dem Gedanken, dass ein kleines Buch mit einer Auswahl an Predigten, Rundfunkandachten und Meditationen die mir gemäße Form sein könnte, eine – um es mit einem Bild aus der Landwirt7
schaft zu sagen – „Ernte“ zusammenzutragen. Die nun vorliegende Textauswahl habe ich thematischen Schwerpunkten zugeordnet, denen in meiner seelsorglichen Arbeit meine besondere Aufmerksamkeit gilt. Lese ich die Texte, dann entdecke ich auch, wie viel darin auf mein eigenes Lernen und Reifen verweist. Dankbar blicke ich auf dieses Lernen und Reifen, das sich in so vielfältiger Art und Weise vollzogen hat, auf mein franziskanisches Leben und auf mein Leben in und mit der Gemeinde St. Ludwig in Berlin, die mir zu einer (zweiten) Heimat geworden ist. Und ich bin dankbar dafür, dass mein seelsorgliches Wirken die ein oder andere Frucht getragen hat. Wenn sich Leserinnen und Leser durch diesen oder jenen Text angesprochen fühlen, vielleicht dazu angeregt werden, das darin teils Ausformulierte, teils Angedeutete in Beziehung zu ihrem je eigenen Leben zu setzen – es darin zu „übersetzen“–, dann freut mich dies und ich empfinde: Ernte-dank. P. Josef Schulte OFM
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I. Die innere Freiheit entdecken
Wer bist du?
Eine russische Legende erzählt, wie die Frau eines Rabbi nach ihrem Tod an der Himmelspforte gefragt wird, wer sie sei. „Ich bin doch die Frau des Rabbi“, antwortet sie mit leichtem Stolz. „Danach habe ich dich nicht gefragt“, gibt Gott ihr zur Antwort. „Wer bist du? Ich will nicht wissen, mit wem du verheiratet warst.“ – „Ich bin doch die Mutter der vier Söhne, die auch alle Rabbi wurden“, sagt sie, jetzt schon etwas unsicherer. „Ich habe dich nicht nach deinen Familienverhältnissen gefragt“, wird ihr geantwortet. „Wer bist du?“ – „Ich habe doch den Frauen im Dorf immer die Kleider genäht“, sagt sie, jetzt schon gänzlich verunsichert. „Ich habe dich nicht nach deinem Beruf gefragt. Wer bist du?“, lautet die unerbittliche Frage Gottes. Jetzt kann die arme Frau nichts mehr antworten und wird sich bewusst, dass sie ihr Leben nur für andere gelebt hat, ohne zu wissen, wer sie selbst eigentlich ist. Diese Legende irritiert zunächst vielleicht. Die Frau hat offenbar für andere viel Gutes getan. Trotzdem ist Gott mit ihren Antworten nicht zufrieden, sondern fragt beharrlich weiter: Wer bist du? Doch genau darauf kann sie nicht antworten, denn in ihrem selbst-losen Leben hat sie sich selbst vergessen. Wer bist du? Das ist die zentrale Frage Gottes, der sich jeder von uns sein ganzes Leben hindurch immer wieder stellen sollte. Die Legende will uns nicht abschrecken, sie will uns nur sensibilisieren und dazu ermutigen, uns selbst wichtig zu nehmen. 10
Heutzutage sind die meisten Eltern und Erzieher darauf bedacht, das Selbstbewusstsein von Kindern durch Bestätigung und Lob zu stärken. Aber noch vor wenigen Jahrzehnten mussten Kinder und Jugendliche oft solches hören: „Du bist nichts. Aus dir wird nichts. Bilde dir nur ja nichts ein. Sei kein Träumer. Sei bescheiden. Ordne dich unter und dränge dich nicht vor.“ Dem fügte die christliche Erziehung noch hinzu: „Du bist nicht für dich da, sondern nur zum Dienst für andere. Dein Herz ist böse, sündig und eitel.“ Aber das ist falsch verstandenes Christentum. Vor einigen Jahren habe ich den Film „Der Club der toten Dichter“ des Regisseurs Peter Weir gesehen. Hier vollzieht der Zuschauer mit, wie ein Lehrer, selbst Absolvent eines traditionalistischen Internates, versucht, den dortigen Schülern ein neues Lebensverständnis nahezubringen. Im Wesentlichen geht es dem Lehrer darum, die Schüler für das zu gewinnen, worauf es für jeden von ihnen ankommt: seinen eigenen Weg zu finden. In einer Szene lässt er drei Schüler auf dem Schulhof hintereinander gehen. Nach kurzer Zeit passt sich jeder den anderen an, so dass letztlich alle drei, begleitet vom Klatschen der übrigen Schüler, im Gleichschritt gehen. Daraufhin charakterisiert der Lehrer sehr lebendig, was zunächst der ganz eigene Schritt und das ganz eigene Gangbild eines jeden Schülers über ihn und seine innere Haltung ausgesagt hatte. Als sie sich auf den angepassten Gleichschritt verlegten, war die persönliche Note ausgelöscht. Darauf kommt es im Leben an: dass wir unsere eigene Haltung finden, unseren persönlichen Schritt, unser Tempo, unseren Lebens- und Entwicklungsrhythmus – leihen wir uns nicht fremde Haltungen und Herangehensweisen aus, ohne dass wir sie uns anverwandeln wollten oder könnten. 11
Jesus hat uns vorgelebt, dass jeder Mensch vor Gott wertvoll ist. Auf jeden einzelnen kommt es an, auf seine eigene Gewissensentscheidung. Durch sein Beispiel hat Jesus uns zur Freiheit der Kinder Gottes ermutigen wollen. Wir dürfen uns unserer persönlichen Freiheit bewusst sein und können dankbar sein für das Geschenk, Freunde Gottes genannt zu werden. Ein Freund ist ein Partner, und Freunde helfen einander, sich zu entwickeln und zu entfalten. Gott bestärkt uns darin, zu uns selbst zu finden. Jedem von uns ruft er zu: Du bist reicher, als du denkst. Mach dich auf den Weg, dich selbst zu finden – nimm dein Leben in die Hand! Es lohnt sich, der Frage nachzugehen: Wer bin ich?
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