Barth, Hans-Martin: Selbstfindung und christlicher Glaube

Page 1



SelbstďŹ ndung und christlicher Glaube



Hans-Martin Barth

SelbstďŹ ndung und christlicher Glaube


Copyright © Claudius Verlag, München 2017 www.claudius.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden. Umschlaggestaltung: Weiss Werkstatt, München Layout: Mario Moths, Marl Gesetzt aus der Rotis Serif und Rotis Sans Serif Druck: Clausen & Bosse, Leck ISBN 978-3-532-62530-9


INHALT

Vorwort

7

Annäherung an das Ich Wer bin ich? Wer möchte ich sein? Authentische Menschen

15 15 19 24

Konzeptionen der Selbstverwirklichung Existentielle Ansätze Humanwissenschaftliche Aspekte

29 29 35

Christentum und Ich-Schwächung Der Vorwurf Verhängnisvolle Bibelstellen Frömmigkeit auf Kosten des Selbst

43 43 45 49

Sünde und Selbst Der Kampf zwischen Sünde und Selbst Die Sünde der Selbstentfremdung Teufelskreise Der Schutz des Bilderverbots Ich, doch nicht ich

55 56 59 62 65 67

Gott – Symbol und Inbegriff der Selbstverwirklichung Höchstes Sein Gott, den es „nicht gibt“ Ich bin, der ich bin Die Identität Jesu Der Geist Gottes Dreieinheit als Modell – ein Denkvorschlag Leben zwischen Gott und Gott

71 72 75 76 80 84 88 92


Selbstverwirklichung im Glauben Berufen, mich zu verwirklichen Kriterien unserer Selbstverwirklichung Falsch verstandene Liebe Talente entdecken und sich entfalten lassen Für einander da sein Einander in Anspruch nehmen Die Gegenwirklichkeit des Gottesreiches Der letzte Horizont

95 95 99 100 102 103 105 106 108

Authentisch leben: Konkretionen Die politische Dimension der Selbstverwirklichung Abschiede Mit Konflikten umgehen Konfliktscheu überwinden Fantasie anstrengen Wahrnehmen, danken und feiern Geschwisterlich leben Verzicht und Leiden Geistliches Tagebuch Gebet und Meditation

113 113 118 120 122 123 125 130 132 135 139

Dem Ziel nahe Rückschau wagen Ausschau halten Das Apfelbäumchen pflanzen

143 143 146 148

Und nun?

151

Anhang Anmerkungen Weiterführende Literatur Bibliographische Notiz

153 153 158 160


Vorwort

Selbstfindung, Selbstverwirklichung, Selbststeuerung, Selbstoptimierung – und christlicher Glaube, wie geht das zusammen? Wer etwas über Selbstverwirklichung und Authentizität wissen will, sieht sein Leben und sein darin agierendes Selbst nicht als Selbstverständlichkeit an. Er möchte bewusst leben und mit seinem Selbst verantwortlich umgehen. Oft haben diese Menschen etwas erlebt, das sie aus der Stumpfheit eines grauen Alltags aufschreckt, das die rasende Fahrt durch die Wochen und Monate ihres Arbeitsjahres gestoppt oder sie vielleicht sogar aus der Kurve getragen hat. Möglicherweise war es ein Unfall, der den Terror des Terminkalenders jäh außer Kraft gesetzt hat, ein beruflicher Misserfolg, angesichts dessen Optimismus und Arbeitslust unwiederbringlich versiegt schienen, oder eine zwischenmenschliche Katastrophe, die allen Lebensmut zu vernichten drohte. Nun fragen sie: Wer bin ich eigentlich? Was hat es mit meinem Leben auf sich? Solches „Erwachen“ kann sehr plötzlich erfolgen oder sich als ein langsamer und immer wieder unterbrochener Prozess vollziehen. Mit zunehmendem Alter tauchen neue Fragen auf. Sanft, aber unübersehbar meldet sich am Horizont des Bewusstseins die Begrenztheit des eigenen Lebens. 7


„Midlife-Probleme“ stellen sich dann ein, „KapazitätsKalkulationen“ drängen sich auf: Was kann ich noch schaffen, was lässt sich unter günstigsten Bedingungen noch erreichen – und was sollte ich mir endgültig aus dem Kopf schlagen? Im Lauf der Zeit werden solche Fragen bedrängender. Vielleicht beschäftigt sich jemand mit dem Thema Selbstverwirklichung auch deswegen, weil ihm der Blick auf seine Mitwelt fällt: Was heißt „Selbstfindung“ oder „Selbstverwirklichung“ für die von Hungerkatastrophen bedrohten Menschen in Afrika, für die vor Terror und Krieg Fliehenden im Nahen Osten, für die Heranwachsenden in den Außenbezirken und Ghettos europäischer Großstädte? Wirkt „Selbstverwirklichung“ in Anbetracht solcher Schicksale nicht wie ein spätkapitalistisch-bürgerliches, westliches und primär männliches Ideal, das längst ausgedient hat? Freilich sind es nach wie vor jeweils die einzelnen Menschen, die ihr Leben bewältigen müssen. Was bedeutet Selbstfindung für die Fünfzehnjährige nebenan im Ablösungsprozess von ihren Eltern, was für den Jugendlichen aus Afghanistan, der sich in seiner neuen Umgebung noch kaum zurechtfindet, oder für den Langzeitarbeitslosen angesichts einer immer härter werdenden Konkurrenzsituation auf dem Arbeitsmarkt? Und was heißt Selbstverwirklichung angesichts von Manipulation durch Werbung, in Auseinandersetzung mit übermächtigen politischen Strukturen und gesellschaftlichen Institutionen, denen gegenüber sich der Einzelne in immer stärkerem Maße als hilflos und ausgeliefert erfährt? Viele übergreifende Tendenzen in unserem politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Leben scheinen eher auf Gleichschaltung und Entrechtung des menschlichen Selbst hinauszulaufen als auf seine Würdigung, Entfaltung und Verwirklichung. Auch wer den einzelnen Menschen dadurch bedroht sieht 8


und wer in diese Reißwolf-Situation für das menschliche Selbst therapeutisch hineinwirken möchte, wird überlegen, was denn Selbstverwirklichung und Authentizität heißen und wie diese gefördert werden könnten: die Lehrerin im Umgang mit den Schülern und Schülerinnen, der Telefonseelsorger und die Eheberaterin, der Leiter eines Jugendkreises oder Pflegende, die sich um Kranke kümmern, aber ebenso die Mutter, die sich auf der Suche nach einem hilfreichen Wort für ihre heranwachsenden Kinder den Kopf zerbricht, und der Freund, der den Freund in eine ausweglose Situation sich verstricken sieht – sie alle fragen: Wie ist das mit unserem Leben eigentlich gedacht? Wie steht das mit den Möglichkeiten und mit der Verantwortung eines Menschen für das Gelingen der ihm geschenkten Existenz? Die Beschäftigung mit dem „Selbst“ hat im Zusammenhang mit der Veränderung der weltanschaulich-kulturellen Rahmenbedingungen in den letzten Jahren neue Akzentuierungen erfahren. Dazu hat auch der unaufhaltsame Aufstieg der Neurowissenschaften beigetragen. Diese konnten detaillierte Kenntnisse über Entstehung und Aufbau des Selbst beibringen. Der amerikanische Neurologe Antonio Damasio unterscheidet beispielsweise zwischen Protoselbst, Kernselbst und Autobiographischem Selbst.1 Das Psychologen-Ehepaar Danah Zohar und Ian Marshall plädiert für „das tiefe Selbst, das in jedem von uns lebt; es ist im Kosmos als Ganzem verankert und entsteht mit dem menschlichen Bedürfnis nach Sinn, Vision und Wert.“2 Doch wie sich Gehirn und Selbst zueinander verhalten, ist keineswegs restlos geklärt. Oder ist das Subjekt doch ganz „kulturelles Konstrukt“, wie etwa Wolf Singer vorschlägt?3 Allerdings haben sich auch die gesellschaftlichen und kulturellen Rahmenbedingungen verändert, innerhalb derer wir uns als Männer und Frauen wahrnehmen. Die Glo9


balisierung stellt unseren bisherigen kulturellen und religiösen Standort in Frage. Jeder muss heute selbst entscheiden, wohin er gehören will. Er entdeckt sich dabei als flexibles Selbst, unter Umständen auch als „Wendehals“, der sich auf eine jeweilige Lage einzustellen hat. Zugleich fühlen sich viele unter dem Druck, einem von ihnen geforderten Multitasking zu entsprechen; das betrifft besonders Frauen. Allgemein scheint der Weg in „die Dividualität eines multiplen Selbst“4 zu führen: Auf Facebook kann man sich variablen Gruppen und Rollen zuordnen; das Selfie zeigt die eigene Person an der Seite verschiedenster Partner und Partnerinnen und in unterschiedlichsten Situationen. Wie dieses „Mensch sein im Google-Zeitalter“ geht, „wie ich ich bleibe“ – DER SPIEGEL erklärt es auf seine Weise.5 Und wenn schon Selbstverwirklichung im umfassenden Sinne nicht in Frage kommen sollte, dann möchte man wenigstens so leben, wie es einem „wirklich“ entspricht. Authentizität heißt die neue Devise. „Echt“ musste eine Zeit lang alles sein: Sein dürfen, wer man ist! Zu sich stehen! Wenn das nicht geht oder sich jedenfalls nicht empfiehlt, dann wenigstens selektive, selbstbestimmt begrenzte Authentizität. Hier liegt auch der Ansatzpunkt für ein weiteres populäres Konzept: die Selbstoptimierung. Bei ihr gilt es, die Möglichkeiten einer Selbststeuerung zu entdecken, „Freiheitsgrade zu erhöhen“. Wählen müssen wir ohnehin, wie wir leben möchten, also den Fehdehandschuh bewusst aufgreifen, selbstbestimmt leben und sich den Eigensinn nicht ausreden lassen! McFit beispielsweise wirbt für seine Fitness-Studios mit dem Slogan: „machdichwahr“. Markige Sprüche sollen der Motivation dienen: „Nichts wiegt mehr als der Glaube an dich“ oder „Nichts kann jemanden stoppen, der auf dem Weg zu sich selbst ist.“ Du bist demnach nicht nur, „was du isst“, sondern auch, „was du tust“. Also doch Selbstverwirklichung im klassischen Sinn? 10


Wie nimmt sich in dieser Welt der rastlosen Suche nach dem wahren, dem wirklichen Selbst der christliche Glaube aus? Stellt er eine diskutable Perspektive dar oder ist er am allerwenigsten geeignet, dem verwirrten, komplexen, multiplen Selbst eine Bleibe zu bieten? Christlicher Glaube scheint es schon immer eher mit Selbstverleugnung als mit Selbstverwirklichung zu tun gehabt zu haben; darunter haben Frauen besonders gelitten. Doch sogar, um mein Selbst verleugnen zu können, brauche ich ein Selbst. Viele, die nach dem Sinn und der rechten Gestaltung menschlichen Lebens fragen, aber auch viele professionelle Helfer und Berater sind in unserem Land durch das Christentum geprägt. Was also kann der christliche Glaube für die Selbstverwirklichung eines Menschen austragen? Manche von ihnen mögen von einer diffusen Sehnsucht nach einer neuen Frömmigkeit erfüllt sein, nach einem Lebensstil, der die sinnvolle Verwirklichung menschlicher Existenz ermöglicht und darstellt. Romantische oder nostalgische Gefühle mögen damit einhergehen, die Sehnsucht nach einer tragenden Ordnung, die das Ganze und das Einzelne, die Töne des Weckers am Morgen und die Nachrichten der Tagesschau am Abend, segensreich umgreift. Doch diese Sehnsucht, insbesondere, wenn sie sich christlich artikuliert, sieht sich von ernstzunehmenden humanwissenschaftlichen Einsichten und Anfragen herausgefordert. Freud und Ödipus ebenso wie Marx und Prometheus bevölkern das Terrain. Der Begriff Selbstverwirklichung ist ursprünglich ja nicht in der christlichen Tradition, sondern im Reich der Humanwissenschaften zuhause. Schließen sich Selbstverwirklichung und Glaube also nicht letztendlich gegenseitig aus? Ist Selbstverwirklichung nicht das, was für Glaubende am wenigsten in Frage kommt, und Glaube etwas, das den sich selbst Verwirklichenden nur hindern und beeinträchtigen würde? In den Tagebüchern des Gründers 11


der ökumenischen Gemeinschaft von Taizé, Roger Schutz, findet sich die Notiz, Christus habe doch die Menschen nicht aufgefordert: „Suche dich selber“, oder: „Lauf hinter dir selber her“, sondern: „Komm und folge mir!“ Der sich selbst auf Kosten anderer durchsetzende Mensch, so argwöhnt Schutz, werde sich aufblähen „wie ein Blutegel“ und dabei doch nur eine Fata Morgana verfolgen.6 Gelangt in der Selbstverwirklichung, wie sie die Humanwissenschaften dem Menschen nahe legen, das sündige „Dichten und Trachten“ des menschlichen „Herzens“ (Gen 6,5) zu seiner äußersten Konzentration? Selbstverwirklichung wäre dann Inbegriff von Sünde schlechthin. Im Ringen zwischen therapeutisch orientierter und evangelikal ausgerichteter Seelsorge wurde dieser Streit im letzten Drittel des vorigen Jahrhunderts ausgetragen. Die humanwissenschaftlich erprobten Methoden erweisen sich inzwischen längst als hilfreich und weiterführend. Sie dürfen keineswegs als Konkurrenz zu herkömmlicher Seelsorge mit Gebet und Segen angesehen werden. Meine bisherige Erfahrung und mein theologisches Nachdenken darüber haben mich zu der Überzeugung geführt, dass Glaube, Authentizität und Selbstverwirklichung zusammengehören, dass der christliche Glaube erschließt, was Selbstverwirklichung eigentlich ist und dass Selbstverwirklichung das Realisationsfeld des Glaubens darstellt. Mit einem verschollenen Begriff aus der Geschichte christlicher Frömmigkeit gesagt: Für Glaubende sind Selbstverwirklichung und „Heiligung“, Selbstfindung und bewusst aus dem Glauben verantwortetes Leben ein und dasselbe. Indem wir unsere christliche Existenz als Selbstverwirklichung verstehen, die nicht abseits von psychologisch oder soziologisch zu erhebenden Strukturen verläuft, gewinnt unser Glaube Gestalt, Realitätsbezug und Realitätsbedeutung. Und indem wir unsere Selbstverwirklichung als einen Prozess erfassen, der 12


aus dem Glauben lebt, ja ohne den Glauben sinnlos wäre und sich selbst widerspräche, kann uns und anderen aufgehen, was christlicher Glaube für die Erfüllung menschlicher Existenz bedeutet. Damit würde zugleich deutlich, wieso Selbstverwirklichung nicht unter Berufung auf den Glauben skeptisch betrachtet oder gar abgelehnt werden darf. Recht verstanden, kann sie zur Freude an uns selbst und damit über die Sorge um unser Selbst weit hinausführen. Schließlich möchte ich andeuten, was beim Umgang mit all diesen Fragen mir persönlich nicht nur theoretisch, sondern ganz praktisch hilfreich war (und ist), und damit die Leserin und den Leser anregen, nach eigenen, gerade ihnen und der Verwirklichung ihres Selbst entsprechenden Hilfen zu suchen. Marburg, Pfingsten 2017

Hans-Martin Barth

13



Annäherung an das Ich ... aber wen sollen wir nach uns fragen? Joachim Illies

Wer bin ich? Gehen wir von Situationen aus, die wir kennen: Wir müssen uns jemandem vorstellen, einem einzelnen oder einer ganzen Runde, wir sagen unseren Namen, geben an, woher wir kommen und welchem Beruf wir nachgehen. Unversehens wird aus der Vorstellung dessen, der ich bin, eine Beschreibung dessen, was ich bin (wodurch ich mich ausweisen kann, wo ich arbeite und was ich erreicht habe). Angaben zum Familienstand oder auch Titel dienen als Abkürzungen, mit deren Hilfe wir einander rasch einordnen können. Will ich mich dem Partner nur soweit offenbaren, dass es für diesen Abend oder für eine begrenzte Zeit genügt, dann nenne ich einfach meinen Vornamen. Kein Adressbuch und keine Telefonauskunft wird verraten, wo ich wohne, mit wem ich zusammenlebe, wie ich zu finden bin, wenn nicht ich selbst es preisgebe. Es gibt eine Reihe von – zum Teil auch notwendigen und schützenden – Möglichkeiten, Gesprächspartnern eine klare Auskunft darüber vorzuenthalten, wer ich bin, aber – weiß ich es selbst? Vielleicht muss ich irgendeiner Einstellungsbehörde einen Lebenslauf vorlegen. Darin nenne ich neben meinem Geburtsdatum 15


und meinem Geburtsort, meinem Familienstand sowie der Anzahl meiner Kinder auch die Stationen meiner Ausbildung und meine beruflichen Erfolge – aber habe ich damit beschrieben, wer ich bin? Ich könnte, je nach Altersstufe, den spröden Lebenslauf vielleicht durch Nachrichten und Anekdoten zu einem dickleibigen Memoirenband auffüllen: Was würde dabei zutage treten von mir selbst, meinen Hoffnungen und Enttäuschungen, von meinem Ich? Was für lächerliche Auflistungen kann man an einem offenen Grab zu hören bekommen, aber auch was für karge Biographien, als ob es über manche Menschen schlicht nichts zu berichten gäbe: Geboren in …, gestorben in … (und nunmehr begraben auf dem Friedhof von …)! Was wird eigentlich in der Klammer stehen zwischen dem Sternchen und dem Kreuzchen auf meiner Todesanzeige? Was hat es auf sich mit dem Ich, das von dieser Klammer eisern umfasst wird (obwohl sie im Augenblick noch einen gewissen Spielraum zu lassen scheint)? Wie müsste mein innerer Lebenslauf aussehen, der Prozess meiner Selbstverwirklichung (oder Selbstverwirkung?), sozusagen unter Ausblendung der äußeren Fakten? Karl Jaspers hat in seiner Philosophischen Autobiographie versucht, einen solchen inneren Lebenslauf niederzuschreiben, aus dem die Entwicklung seines Denkens hervorgeht. Doch auch das Denken scheint in dieser Fragestellung noch vordergründig: „Ach, was ich weiß, kann jeder wissen –“, heißt es in Goethes Werther, „mein Herz habe ich allein.“ Was hat es auf sich mit diesem Herzen, das wir so „allein“ haben müssen? Was schlägt sich nieder in der Verteilung der Lach- und Sorgenfalten auf meinem Gesicht? Ich habe einmal gelesen, mit 60 Jahren sei ein jeder Mensch verantwortlich für das Gesicht, das er trage. Doch wer bin ich, wer möchte ich sein, wer war ich und: Wer sollte ich sein? Nicht nur die Menschen, mit denen wir zu tun haben, 16


stellen uns diese Fragen, nicht nur eine anonyme Gesellschaft, die uns ihre Normen aufdrängt, hält sie uns vor. Wir haben den Eindruck, dass wir selbst die Frage nach dem Selbst auf die Dauer nicht umgehen können und dass alle psychologische und soziologische Erklärung dieses Sachverhalts uns letztlich nicht zufriedenstellen wird. Die Humanwissenschaften können die Frage des Menschen nach sich selbst nur begrenzt beantworten, weil sie selbst aus dieser Frage geboren, selbst Inbegriff dieser Frage sind. Sie können zur Klärung dessen beitragen, auf welche Weise, geprägt durch welche Faktoren und ausgerichtet auf welche Zielvorstellungen der Mensch nach sich selbst fragt. Aber sie müssen passen, wenn es darum geht, warum der Mensch nach seinem Selbst und nach seiner Verwirklichung fragt und warum er dazu einen ganzen Fächer von Humanwissenschaften ausbildet, warum er nicht fraglos wie eine Pflanze oder wie ein Tier ins Leben tritt und wieder daraus verschwindet. Es mag dieses fraglose, das Dasein annehmende Dasein auch für den Menschen geben, wenn er überwältigt ist von dem Naturschauspiel des Meeres oder der Berge, eines Gewitters oder eines aufklarenden Morgens, wenn er aufgeht im gleitenden Strich seines Cello-Bogens, wenn die Liebenden beieinander sind. Wäre es dies, was wir als Identität, authentisches Leben, als gelungene Verwirklichung unseres Selbst verstehen? Ein Zurückfallen ins Ganze, ein Aufgenommenwerden vom Umgreifenden, im Grund also ein Aufgeben von Identität, ein Verzicht auf ein klar profiliertes Selbst? In der gegenwärtigen Situation scheint es für viele Zeitgenossen verlockend zu sein, durch bestimmte Praktiken und Techniken dieses beseligende Gefühl herzustellen, das uns so selten von selbst überfällt. So sehr hier Entlastung erfahren werden kann, bleibt doch zu fragen, ob wir uns damit nicht der Aufgabe, eben wir selbst zu sein und nicht 17


im Ganzen aufzugehen, entziehen, ob wir uns nicht ein kreatürliches Geborgenheitsgefühl erschleichen, statt tapfer uns selbst und unsere Aufgabe inmitten und an der Kreatur zu bejahen. Es ist nicht zeitgemäß, das zu behaupten: Yoga oder Zen könnten für den abendländischen, durch das Christentum geprägten Menschen auch einen Rückschritt darstellen. Der Mensch, wie ihn die Bibel kennzeichnet, geht jedenfalls nicht auf in einem Bewusstsein, das jenseits von Sein und Nichtsein steht, sondern er hält der Frage stand: Adam, wo bist du? Wo steckst du? Bist du da, wo du sein möchtest, wo du sein solltest? Befindest du dich an dem Platz, an dem dein Selbst seine Erfüllung finden wird? Es ist eine kritische, verunsichernde und zu Fluchtmanövern herausfordernde Frage, projiziert auf den Gott der Genesis, dessen Tritte im Garten Eden vernehmbar werden. Kein Mensch wird ihr ganz entrinnen können, irgendwann taucht sie unabweisbar vor ihm auf, auch wenn es ihm als überholt erscheint, wie hier von Gott als dem unbequemen Fragesteller geredet wird. Diese Frage bleibt wahr und aktuell, nicht weniger die andere: Wo ist dein Bruder Abel? Nicht nur auf sich selbst hin, sondern auch auf den Bruder hin ist der Mensch ansprechbar, weiß er sich angesprochen mit gleicher Unentrinnbarkeit. Die neuzeitliche Frage: „Wer bin ich?“ zerlegt sich, biblisch gesprochen, in die beiden Wendungen: „Wo bist du?“ und „Wo ist dein Bruder/deine Schwester?“ In der Bibel tauchen noch andere Weisen auf, die Identität eines Menschen zu erhellen. Im Johannesevangelium ist es besonders das „Woher“, das einen Menschen kennzeichnet. „Von wannen bist du?“, fragt Pilatus den ihm vorgeführten Jesus (Joh 19,9), und in der hier zitierten ursprünglichen Übersetzung Luthers schwingt noch etwas davon mit, dass es dabei um mehr geht als um Angaben über bürgerliche Abstammung oder Wohnsitz. „Wer bin 18


ich?“ heißt, biblisch gefragt, auch: „Woher bin ich?“ Wo hat meine Existenz ihren letzten Grund, mein Handeln seinen letzten Maßstab? Bin ich „aus der Wahrheit“, „aus“ dem Licht, „von“ oben – oder bestimmt sich mein Von-Woher anders? Schließlich gibt es eine Weise, in welcher der biblische Mensch nach sich selbst fragt, die uns sprachlich nahezu abhandengekommen ist: Die Menschen der Bibel rufen manchmal erschrocken aus: „Wer bin ich, dass ich ...?“ Im Zusammenhang mit ganz konkreten Situationen und ihren Herausforderungen stellt sich die Frage: „Wer bin ich, dass ich zu Pharao gehe“ (Ex 3,11) – überschätze ich mich nicht, überschätzt mich mein Auftraggeber nicht? „Wer bist du, dass du dich vor Menschen fürchtest, die doch sterben“ (Jes 51,12) – besinne dich doch darauf, wie sich das erklärt und ob du das wirklich nötig hast! Auch von außen konnte man eine solche Frage stellen; die Leute, die mit Jesus in Kontakt kamen, begannen zu fragen: „Wer ist dieser, dass er ...?“ (vgl. Lk 7,49; Mk 4,41). Er erhebt einen Anspruch, er übt Autorität aus – wer ist er, worin besteht sein Geheimnis? Die Frage nach mir selbst enthält ein Bündel von weiteren Fragen: Wo bin ich, wo habe ich meinen Ort und meinen Grund? Wo ist mein Bruder, weiß ich es, wo er ist, suche ich ihn auf, um ihm Bruder zu sein? Von woher bin ich? Was bestimmt meine Existenz? Schätze ich mich richtig ein, nehme ich anspruchsvoll wahr, was „ich bin“?

Wer möchte ich sein? Wer auch immer ich bin: Ich habe wohl mehr oder weniger klare Vorstellungen davon, wer ich sein möchte – oder eher: als wer ich gelten möchte, wenn ich es schon durch meine Existenz nicht voll abdecken sollte. Ich weiß, was 19


zu mir schlechterdings nicht „passt“, was mir nicht „steht“ – diese Wendungen, die der Sprachwelt der Mode entstammen, sind hier nicht unangebracht. Es mag uns nicht immer bewusst sein, aber gerade, wenn es um konkrete Entscheidungen geht, wenn ein bestimmtes Handeln uns zugemutet wird oder uns lockt, dann wissen wir: Nicht jedes Verhalten, nicht jedes Tun entspricht uns in gleicher Weise. Zum Sein des Menschen gehört offenbar die Frage, wer er denn sein möchte, sein sollte, sein „muss“. „Wusstet ihr nicht“, fragt der zwölfjährige Jesus enttäuscht seine Eltern, „dass ich sein muss in dem, was meines Vaters ist?“ (Lk 2,49). Wie finde ich heraus, wer oder wo ich sein „muss“, um wirklich unverwechselbar ich selbst sein zu können? Ferner, woraus sollte sich dieses Muss erklären und wie ließe sich ihm nachkommen? Frühere Generationen mochten hier an ein großes und allgemeines Gesetz denken, an ein Schicksal, welches das All durchwaltet und nicht weniger das einzelne Menschenleben bestimmt: „Wie an dem Tag, der dich der Welt verliehen, Die Sonne stand zum Gruße der Planeten, Bist alsobald und fort und fort gediehen Nach dem Gesetz, wonach du angetreten. So musst du sein, dir kannst du nicht entfliehen, So sagten schon Sibyllen, so Propheten; Und keine Zeit und keine Macht zerstückelt Geprägte Form, die lebend sich entwickelt.“7 Mochte Goethe mit diesem ersten Urwort, orphisch auch nicht alles gesagt haben – die darin zum Ausdruck kommende Grundeinstellung wird deutlich: Antiker Glaube an die Macht des Schicksals, am unerbittlichen Kreisen der Gestirne vergegenwärtigt, verbindet sich mit der naturwissenschaftlich gewonnenen, aber religiös gedeuteten 20


Anschauung von der Macht des Organischen. Wer ich sein möchte und muss, das ergibt sich aus dem, was ich bin: Nach vorgegebenen Gesetzen muss sich mein Selbst entfalten; es wird umso deutlicher seine höchste Ausprägung erfahren, je weniger der Selbstentfaltungsprozess beeinträchtigt wird. Dies entspricht offenbar kaum noch unserem heutigen Empfinden. Wer beispielsweise astrologische Auskünfte zu Rate zieht, fragt meist weniger nach Selbstverwirklichung als nach einem kleinen Glück, das ihm winken könnte. Deswegen reden wir in diesem Zusammenhang auch nicht von „Selbstentfaltung“: Wir können unsere menschliche Existenz kaum in Analogie zu einer Pflanze verstehen, die eben, wenn ihre Zeit gekommen ist, „willig sich entfaltet“, die nur still zu halten braucht, sich nur dem Land, in dem sie wurzelt, und der Sonne und dem Regen anzuvertrauen braucht, um zur Erfüllung ihres Lebenssinnes zu gelangen.8 Darum sprechen wir lieber von „Selbstverwirklichung“. Dem Begriff „Verwirklichung“ wohnt, wenn ich richtig höre, ein Element der Ungeduld, des Aktivismus, ja des Produktionszwanges inne: Man verwirklicht einen Plan, ein Konzept. Das setzt voraus: Man weiß, was da zu verwirklichen ist, nur hinkt die Wirklichkeit leider noch ein wenig nach. Aber nicht das passive Sich-Aussetzen, sondern der aktive, verändernde Eingriff scheint zum Ziel zu führen. Unsere Sprach- und Grußgewohnheiten haben sich dementsprechend geändert: Wir wünschen einander nicht mehr wie früher: „Alles Gute!“ – welch eine Fülle an Zugetansein, Sympathie, Mitleiden konnte hier mitschwingen, wieviel Hoffnung und Wissen darum, dass das Gute, zumal alles Gute, nicht herstellbar und einklagbar ist, sondern dass es als unerwartetes Geschenk ohne alle Berechnung beglückend auf uns zukommt! Stattdessen fordern wir unentwegt einander auf: „Mach’s gut!“ Mag eine letzte Er21


innerung daran noch wach sein, dass das „Machen“ auch glücken muss – der Akzent liegt doch auf der Aktion und dem eigenen Einsatz: Was ich nicht gut mache, geht schief; was ich nicht verwirkliche, bleibt unverwirklicht. Angst schleicht sich ein: Verwirkliche ich mich nicht selbst, so werde ich hinter meiner Wirklichkeit zurückbleiben, im Unwirklichen, Unwesentlichen, Uneigentlichen. Ich muss mich verwirklichen gegen das Schattenreich des Unwirklichen, des Nichts, des Nichtseins, des Nichtgewesenseins, das mich – in uns lauert die Ahnung – am Ende doch verschlingen könnte. Wie steht es in diesem Zusammenhang um unser Verständnis vom „Selbst“? Eine Schlagseite zu Individualismus oder gar Narzissmus scheint der Begriff „Selbstverwirklichung“ von Anfang an zu haben. Viele mit „selbst-“ zusammengesetzte Begriffe – auch das substantivierte „Selbst“ – entstammen der Sprachgeschichte des 16. bis 18. Jahrhunderts, also einer Entwicklung, in der das Individuum sich im Gegensatz zu seiner Umwelt und in Auseinandersetzung mit dem Ansturm der vielfältigen Rollenanforderungen einer komplizierter werdenden Gesellschaft zu artikulieren lernte. Was man gemeinhin unter Selbstverwirklichung versteht, kann zu einer enormen Belastung vor allem jener Menschen werden, die aus irgendeinem Grunde ihr Selbst nicht konkurrenzfähig zur Geltung bringen wollen oder können. Unter bestimmten Umständen vermag sich schon allein die Frage nach Selbstverwirklichung als elitär und rücksichtslos zu erweisen. Wer also über Selbstverwirklichung nachdenkt, tut deshalb gut, sich daran zu erinnern, dass zur selben Stunde zahllose Menschen auf unserer Erde nicht wissen, wie sie an einen Arzt oder an ein Krankenhaus herankommen oder wo sie Alphabet und Einmaleins lernen sollen. Was heißt Selbstverwirklichung, solange die elementaren Voraussetzungen des Überlebens nicht gesichert sind? 22


Sosehr uns die Frage nach unserem Selbst von unserer Umwelt isolieren kann, sosehr die gesamte übrige Szene ausgeblendet erscheint, wenn sich der Lichtkegel unseres Interesses auf uns selbst richtet: Wir brauchen unser Umfeld, um unser Selbst darin zu orten, um im Spiegel unserer Umgebung uns selbst zu erkennen und zu profilieren. Es gibt eine bittere Satire des guatemaltekischen Schriftstellers Augusto Monterroso, die das unklare Verhältnis zwischen Selbst und Umwelt einschließlich seiner schlimmen Konsequenzen auf groteske Weise zum Ausdruck bringt. Es ist die Geschichte von dem „Frosch, der ein richtiger Frosch sein wollte“: „Zuerst kaufte er sich einen Spiegel, in dem er sich immerfort betrachtete, um nach seinem Ureigensten zu suchen ... Später suchte er in den Augen der anderen seinen eigenen Wert gespiegelt zu finden. Er putzte sich, er kämmte sich und bot sich ihnen auf jede Art als leibhaftiger Frosch dar. Bald stellte er fest, dass man vor allem seinen Körper schätzte, und zwar hauptsächlich die Beine, und so verschrieb er sich unter allgemeinem Beifall dem Hüpfen und Springen, um seine Schenkel zu bilden. Zu guter Letzt ließ er sich sogar, bloß um für einen richtigen Frosch gehalten zu werden, die Schenkel ausreißen und vermochte gerade noch mit Bitterkeit zu hören, wie sie beim Essen sagten: ‚Was für ein köstlicher Frosch! Fast wie ein Hühnchen.‘“ 9 Wer möchte ich sein? Vielleicht sehe ich ansatzweise etwas in mir angelegt, das ich gern zur Entfaltung brächte. Vielleicht habe ich das Bedürfnis, mich damit gegen meine Umwelt, die mich daran hindert, durchzusetzen. Oder aber ich möchte etwas erreichen, realisieren – und habe Angst vor 23


dem Misslingen, Angst, ich könnte hinter meinen eigenen Ansprüchen oder hinter denen meiner Umwelt zurückbleiben – oder auch, ich könnte von all diesen Erwartungen und Anforderungen aufgefressen werden. Mag der Frosch es wirklich ungeschickt angepackt haben: Wer möchte ich sein – „ein richtiger Mensch“, „richtig ich selbst“? Ich kann mich von der Frage, wer ich sein möchte, nicht dispensieren. Die Blume entfaltet sich nach dem ihr vorgegebenen Plan, aber der Mensch ist herausgefordert durch die Frage, wie und ob er sich entfalten will und was es ist, das sich da entfalten will. Was ist mit mir los? „Denn ich weiß nicht, was ich tue. Denn ich tue nicht, was ich will; sondern was ich hasse, das tue ich ... Wollen habe ich wohl, aber das Gute vollbringen kann ich nicht.“ (Röm 7,15.18).

Authentische Menschen Wenn wir nach unserer Selbstverwirklichung fragen, dann fallen uns ganz von selbst Menschen ein, die für sich in etwa das Ziel erreicht haben, das uns vorschwebt, und andere, die dahinter zurückgeblieben sind. Es ist nicht sinnlos, wenn wir uns die Leitbilder vor Augen führen, die unsere geheimen und offenen Zielvorstellungen bestimmen: Gestalten, die in der Landschaft unserer Kindheit zuhause sind und von dorther einen stillen Einfluss auf uns ausüben, Freunde oder Kollegen, vielleicht auch Menschen, an die wir nie so recht herangekommen sind und die uns doch als authentisch erscheinen. Ich persönlich denke da besonders an einen alten evangelischen Dekan in einem süddeutschen Marktflecken: Er hatte etwas Kauziges mit seinem ewig schwarzen Anzug und der Fliege am altmodisch geschnittenen Kragen, etwas Verschmitztes in seiner hintergründigen Art, humorige Anekdoten zu erzählen und 24


die Tagesereignisse zu kommentieren. Er war nicht verheiratet und lebte ganz seinem Beruf, hielt Gottesdienste und besuchte die Kranken, war für jeden da, der an seiner Tür klingelte, und ließ sich jederzeit auf der Straße zu einem kurzen Gespräch aufhalten. Ich sah ihn einmal inmitten des hektischen Gewühls eines Großstadt-Bahnhofs; er hatte auch für den Schalterbeamten ein paar freundliche Worte parat. Zusammen mit seiner Schwester führte er ein gastfreies Haus. Es gab immer irgendwelche Dauergäste, die auf Wochen, wenn nicht auf Monate blieben: Theologiestudenten, die das Examen nicht bestanden hatten, ebenso wie Flüchtlinge und Migranten. Sein Studierzimmer glich dem eines barocken Gelehrten, des Morgens stand er, im Gebet versunken an seinem Stehpult. Er lebte nach einem festgefügten geistlichen Lebensstil: Täglich meditierte er – so würden wir das heute beschreiben – ein Hauptstück aus Luthers Kleinem Katechismus (er „ging es durch“, sagte er selbst); jeden Tag las er einen Psalm, und wenn er mit dem hebräischen Psalter zu Ende war, las er ihn griechisch, dann lateinisch – und schließlich begann er wieder von neuem mit dem Urtext. Er schien immer Zeit zu haben, und ich vermute, dass er in seinem Leben nicht viel getan hat, das er nicht wirklich tun wollte. In dem, was er wollte, mochte manches stecken, was aus einem anderen Kontext heraus befremdlich erscheinen konnte – aber dass er verwirklichte, was ihm wichtig war, dass er zu leben versuchte, was er glaubte, dürfte kaum einer seiner Bekannten bestreiten. Er ist mir immer Inbegriff eines Menschen gewesen, für den Selbstverwirklichung und christliche Existenz in eins zusammenfielen und der dadurch starke Impulse auf seine Umgebung auszuüben vermochte. Doch das ist ein „vormodernes“ Ideal, das für Menschen des 21. Jahrhunderts kaum noch in Frage kommen kann. Was heißt Selbstverwirklichung unter christlicher Pers25


pektive, wenn das Leben nicht gradlinig und zielgerichtet verläuft, sondern geprägt ist durch berufliche Abbrüche, Beziehungskrisen oder lebensbedrohliche Krankheiten? Hier würde es eher darum gehen, zum Fragment zu stehen, Katastrophen fruchtbar werden zu lassen und Bruchstücke zu integrieren. Wie sieht Selbstverwirklichung in einem behinderten, innerlich und äußerlich beeinträchtigten Lebenslauf aus? Mir kommt mein Freund und Kollege Peter in den Sinn, den nach geistlich und politisch ungewöhnlich engagierten Jahren ein Knochenkrebsleiden ereilte, das ihn für Jahre auf das Klinikbett warf. Seine manchmal verzweifelten und dann auch wieder mutigen Gebete auf dem Rücken liegend werden manchem Kranken geholfen haben.10 Wie kann ein Mensch es in einer solchen Situation vermeiden, den Suizid als eine letzte Möglichkeit von Selbstverwirklichung misszuverstehen? In früheren Zeiten hatten wohl Heiligenlegenden die Funktion, authentisches Leben darzustellen und in dieses einzuführen. Auch die Heiligen haben mit ihrem Schicksal und um ihre Lebensführung gekämpft. Auf dem Isenheimer Altar wird eindrucksvoll dargestellt, wie Antonius, der Einsiedler in der ägyptischen Wüste, mit den Dämonen kämpft und dabei zunächst unterliegt. Enttäuscht ruft er (so ist auf einem dort abgebildeten Zettel zu lesen): „Wo warst du, guter Jesus?“ Aber er lässt sich nicht klein kriegen. Nach einem wütenden Angriff von Dämonen kommt er wieder zu sich, so berichtet es die Legende: „Auf dem Boden liegend betete er. Und nach dem Gebet rief er: ‚Ich, Antonius, bin zur Stelle. Euren Schlägen weiche ich nicht. Selbst wenn ihr mir noch mehr gebt, wird nichts mich trennen von der Liebe zu Christus.‘“11 Auch Franz von Assisi mag uns ein wenig verrückt erscheinen in seiner Auseinandersetzung mit dem rabiaten Vater, in seinem schwelgerischen Lobpreis der Armut, in 26


seinem Gespräch mit den Vögeln. Aber er hat jedenfalls seiner Sehnsucht zum Durchbruch verholfen, er hat die Lieder nicht verstummen lassen, die ihn beflügelten, er hat mit letzter Konsequenz das Leben gewählt, von dem er wusste, dass es ihn erfüllen würde. „Denn er war keiner von den immer Müdern, die freudeloser werden nach und nach, mit kleinen Blumen wie mit kleinen Brüdern ging er den Wiesenrand entlang und sprach. Und sprach von sich und wie er sich verwende, so dass es allem eine Freude sei; und seines hellen Herzens war kein Ende, und kein Geringes ging daran vorbei. Er kam aus Licht zu immer tieferm Lichte, und seine Zelle stand in Heiterkeit. Das Lächeln wuchs auf seinem Angesichte ...“ (Rainer Maria Rilke)12

Vielleicht liegen uns „modernere“ Heilige näher, beispielsweise Sophie Scholl, Albert Schweitzer, Martin Luther King oder Mahatma Gandhi. War nicht auch Gandhi ein authentischer Mensch, einer, der sich selbst verwirklicht hat? Seine Autobiographie stellte er unter den Titel Die Geschichte meiner Experimente mit der Wahrheit. Woran erkennen wir den authentischen Menschen? Es gibt auch eine Authentizität des Negativen, des Verbrechens. Es gibt offenbar Menschen, in denen das Gute keinen Widerspruch zu erheben scheint gegen das Böse, die ohne Skrupel Böses verwirklichen; die „darauf aus sind, Unheil anzurichten“ (Jes 29,20). Wie urteilen wir gegenüber der Authentizität des Bösen, ja Dämonischen und seiner ausdrucksvollen Vertreter? Ein rein formales Prinzip der Authentizität, die naht- und mü27


helose Übereinstimmung zwischen dem, was wir wollen, und dem, was wir vollbringen, genügt offenbar nicht für eine Selbstverwirklichung, die dem Menschen ansteht. Sie wäre sonst nicht mehr als die Entfaltung eines uns innewohnenden Gesetzes, wie wir es auch an der Pflanze oder am Tier beobachten: Der Mensch mag den Baum gelegentlich darum beneiden – und doch wäre es dann nicht der Mensch, der sich auf diese Weise verwirklichen könnte. Ihm ist die Authentizität nicht fraglos vorgegeben als eine Form, in die er nur hineinzuwachsen brauchte – die Unsicherheit und Ungelöstheit seiner Frage nach Authentizität gehört zu dieser Authentizität als solcher: Gerade Menschen, die wir, sozusagen von außen gesehen, als authentisch empfinden, begreifen sich selbst oft keineswegs als in sich ruhend und am Ziel angekommen. Offenbar schwanken wir hin und her zwischen dem „Wunsch, ganz zu sein“ und dem „Recht, ein anderer zu werden“ – in diese beiden Formeln hat Dorothee Sölle den Sachverhalt gebracht.13 Offenbar beruht unsere Selbstverwirklichung gerade auf der Möglichkeit, dass wir uns verändern können. Ob diese Selbstverwirklichung gelingt, hängt zusammen mit der Perspektive, innerhalb derer wir unser Selbst suchen. Es käme also darauf an, die dem Menschen angemessene, ja die auf den einzelnen Menschen zugeschnittene Zielperspektive ausfindig zu machen und zu nutzen.

28




Turn static files into dynamic content formats.

Create a flipbook
Issuu converts static files into: digital portfolios, online yearbooks, online catalogs, digital photo albums and more. Sign up and create your flipbook.