Ngo, Chi Dung: Heimat für Fortgeschrittene

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CHI DUNG NGO

HE IM AT F ÃœR FORTGESCHRITTENE Vom Mekong in die Mitte Deutschlands


Copyright © Claudius Verlag, München 2017 www.claudius.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden. Umschlaggestaltung: Mario Moths, Marl Autorenfoto: © privat Gesetzt aus der ITC Leawood Druck: GGP Media GmbH, Pößneck ISBN: 978-3-532-62800-3


F端r meine Eltern F端r die wertvolle Unterst端tzung und Anregungen danke ich Frau Hanne Seemann und Herrn Stephan Rodriguez Warnem端nde



Ein Reisender, der sich auf eine Fahrt begibt, hat sein Ziel und setzt auf Ankunft. Man könnte meinen, dass die beiden Merkmale, Ziel und Ankunft, das Wesentliche einer Fahrt ausmachen, gäbe es nicht Fahrten, die weder das eine kennen noch auf das andere zu hoffen wagen. Migration, so aktuell und politisch das Thema auch erscheint, ist ein kein spezielles Phänomen der Gegenwart. Dass seit Jahren die Zahl der Emigranten und Immigranten im Nachkriegsdeutschland im sechsstelligen Bereich liegt, bleibt von der Öffentlichkeit zumeist unbemerkt. Ein weiterer Blick in die Vergangenheit zeigt, dass der Mensch schon immer mobil war, begann doch seine Geschichte mit dem Auszug aus Afrika, der sogenannten Wiege der Menschheit, um den erfolgreichen Feldzug zur Eroberung der Welt anzutreten. So abstrakt nun die Vorstellung von der Globalisierung auch sein mag, man darf nicht vergessen, dass hinter jedem Migranten immer ein Mensch mit seiner Geschichte steht. Es ist die Geschichte seines Lebens mit all den Unwägbarkeiten, die Geschichte des Aus- und Aufbruchs, die Geschichte einer Fahrt ins Ungewisse und die Geschichte der Hoffnung, die wir alle teilen: im Leben anzukommen.

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Das ganze Unglück der Menschen rührt allein daher, dass sie nicht ruhig in einem Zimmer zu bleiben vermögen. (Blaise Pascal)


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ir waren rund zweihundertvierzig Menschen. Die

genaue Zahl kannte ich nicht. Alle Altersklassen waren vertreten, von einjährigen Kindern bis zu siebzigjährigen Greisen, die alle erdenklichen Räume des Boots ausfüllten, vom Deck bis in die letzte Ecke im Rumpf. Um die Aufnahmekapazität eines ehemaligen Fischkutters zu erweitern, der knapp zwanzig Meter lang und fünfeinhalb Meter breit maß, hatte man unter Deck vier Sitzreihen angebracht, zwei an den Bootswänden, zwei in der Mitte, die allesamt besetzt waren. So saßen die Fahrgäste, Schulter an Schulter, Knie an Knie, eng aneinandergepfercht. Wollte ein Passagier im Bootsrumpf, zu welchem Zweck auch immer, nach draußen gelangen, dann musste er sich zunächst durch den engen Raum zwängen, um überhaupt zu der kleinen Einstiegsluke in der Raummitte zu kommen.

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Fand er dort mit seinem Fuß zwischen den Schultern eine Trittstelle auf einem Holzbalken, dann stieg er auf, indem er − wie ein Sportler am Reck − sich an der Einstiegsluke regelrecht hochzog. Auch das Zwischendeck war gefüllt mit menschlichen Körpern. Da es nicht einmal einen halben Meter hoch war, gab es dort keine Sitzbänke. Überall Menschen, in allen Positionen, eigentlich mehr liegend als sitzend, über die der Rumpfpassagier buchstäblich hinwegkriechen musste, bis er dann zu der Öffnung gelangte, die ins Freie führte. Das Meer, eine dunkle endlose Masse mit einem ungebändigten Bewegungsdrang. In den sieben Tagen, die unsere Fahrt insgesamt dauerte, gab es keinen Moment, in dem das gewaltige Becken ohne Bewegung gewesen wäre. Immer wieder schlugen die Wellen gegen die Bootswand, hielten die kleine Nussschale in ständig schaukelnden Bewegungen, sodass die zumeist städtischen Bewohner, die bislang das Meer weder zu Gesicht bekommen noch je in einem Boot gesessen hatten, seekrank wurden. Vom Schwindel befallen, hätte man sich am liebsten einfach nur hingelegt. Aber in der Enge gab es keinen Platz. Also lehnte man sich an die Wand, und später, nachdem die Berührungsangst sich gelegt und eine allgemeine Gleichgültigkeit sich breitgemacht hatte, stützte man sich einfach

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an seinem Nachbarn ab und versuchte mit geschlossenen Augen, sich zu beruhigen. Sobald aber die absolute Dunkelheit den Kopf befiel, drehte sich alles, bis der Schwindel einen Grad der Unerträglichkeit erreichte und der Körper den Ausgleich suchte, indem er den Mageninhalt auswarf. Fast jeder übergab sich. Wer es schaffte, kroch mit letzten Kräften aufs Deck und leerte sich ins Meer aus. Den meisten aber, vor allem den Rumpfinsassen, blieb angesichts der großen Schwierigkeit, die der Gang ins Freie bereitete, und des drängenden Drucks im Magen, der keinen Aufschub duldete, keine andere Wahl, als sich umzudrehen und ihr Erbrochenes in die Lücke zwischen der Bootswand und dem Brett, das als Sitzlehne an die Schiffsplanken angebracht war, zu spucken. Dann drehte man sich um und tat, als wäre nichts geschehen. Jeder tat es, und jeder hatte Verständnis für die anderen, zumindest stillschweigend. Auch für mich wurde es eine Selbstverständlichkeit. Im Lauf der zunehmenden Vertrautheit, die durch die Enge zwischen den Passagieren entstand, fand ich auf diese Weise einen Weg, mein Leiden zu lindern. Ich hatte nämlich einen ständigen Harndrang, konnte aber meine Blase nicht entleeren, weil das Boot ständig schaukelte. Es war so, als würde mich jemand beim Wasserlassen immer wieder schubsen. Wie ein Reflex schloss sich mein Harnleiter, sobald das Boot eine

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Auf- oder Abbewegung machte, sodass bei jedem Toilettengang nur wenig Tropfen rauskamen und der Druck in meiner Blase mich immer wieder dazu zwang, mich umzudrehen und gegen die Bootswand zu pinkeln. Der Druck verdrängte die Scham, die ein Heranwachsender im Bewusstsein des reif gewordenen Geschlechts empfand. So fiel es mir kaum schwer, mir von Zeit zu Zeit den Reißverschluss in unmittelbarer Nähe zu einer Nachbarin zu öffnen und die wenigen Tropfen, die im Schaukelgang des Boots den Weg ins Freie fanden, gegen die Holzwand zu pinkeln. Die Dunkelheit bot Schutz. Bewegungen waren – wenn überhaupt – nur zu erahnen. Einzig ein kleines Loch in dem Brett gegenüber meinem Sitzplatz vermittelte mir die Tageszeit. Hell war der Tag, dessen Licht wie ein weißer Punkt leuchtete, sonst war es dunkel, dunkel wie die Nacht im Bootsrumpf, in dem ich die nächsten sieben Tage verbringen sollte. In dieser eintönigen Umgebung, in der das gleichmäßig brummende Motorengeräusch und die durch ihn verursachte Vibration für mich die einzigen wahrnehmbaren Zeichen der Außenwelt waren, die mir zugleich die Gewissheit vom Fortschreiten unserer Reise verschafften, wurde ich eines Nachts aus einer Art Halbschlaf durch ein Stimmgewirr von großer Aufregung geweckt.

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Piraten, so hieß die Meldung von oben, hätten unser Schiff geentert. Der Motor war aus. Es herrschte eine gespenstische Stille, die von Zeit zu Zeit durch laute Rufe in einer mir fremden Sprache unterbrochen wurde. Dann kam jemand zu uns heruntergeklettert, der von Person zu Person wanderte, um die Beute einzusammeln. Es handelte sich um einen kleinen Jungen von ungefähr zwölf oder dreizehn Jahren, der mit seiner Taschenlampe sein Gegenüber anleuchtete und dabei einen Hut hinhielt, um Geld oder Wertsachen einzusammeln. Er hätte ebenso gut ein Bettler sein können, der um eine Gabe bettelte und sich dabei mit einem Messer zwischen den Zähnen bewaffnete, um seiner Forderung Nachdruck zu verleihen. Der Junge war klein, die Kinderhand zitterte. Und dennoch vermochte diese an sich harmlose Gestalt den totalen Zusammenbruch der bestehenden Ordnung herbeizuführen, den ich zum ersten Mal vor gut drei Jahren beim Einmarsch der Kommunisten erlebt hatte. Es war damals ein heißer Apriltag. Aufgrund des nahenden Kriegs blieben die Schulen geschlossen. Ich hatte nichts zu tun und begleitete meine Mutter beim Einkauf. Der Markt war überfüllt wie sonst. Meine Mutter ging zu einer Händlerin. Was sie verkaufte, weiß ich nicht mehr.

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Die Frauen redeten miteinander. Abrupt drehte sich meine Mutter um, nahm mich an der Hand und ließ uns sofort mit dem leeren Einkaufskorb nach Hause fahren. Dort schloss sie sämtliche Fenster und Türen. Erst da erfuhr ich, dass die Übergangsregierung die Kapitulation bekannt gegeben hatte. Im abgedunkelten Wohnzimmer wartete die Familie den ganzen Tag. Aber nichts geschah. Gegen Abend rollten die ersten Panzer durch unsere Straße. Durch eine Spalte in unserer Eisentür beobachtete ich die Soldaten der Volksbefreiungsarmee auf fahrenden Panzern und Transportern. Daneben marschierten wieder und wieder Soldaten und bildeten einen schier endlosen Zug. Am Rande der Straße standen die Bürger und jubelten den Siegern zu. Die Stimmung war ausgelassen. Es war wie ein Volksfest. Kurz nachdem der Zug der neuen Ordnungsmacht am Spätabend zu Ende gegangen war, fielen die ersten Schüsse. Erst einzeln, dann in Salven, zum Teil abwechselnd, als wollte man mit Schießeisen ein Gespräch führen. Um nicht von Querschlägern getroffen zu werden, hockten wir die ganze Zeit über unter unserem Esstisch und konnten das Versteck erst gegen Mitternacht verlassen. Soldaten der südvietnamesischen Armee, lautete es später in einer Erklärung, hätten ihre Restmunitionen abgefeuert.

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Die nächsten Tage verliefen ruhig. Es war, als hätte sich nichts geändert, abgesehen davon, dass an den Straßen eine andere Flagge gehisst wurde und in den Nachrichten ständig Meldungen über den triumphalen Sieg liefen. Dann wurden ehemalige Soldaten und Offiziere der südvietnamesischen Armee einbestellt. Man sollte, so hieß es von offizieller Seite, Sachen für einige Wochen mitnehmen. Zurückkehren sollten viele erst nach Jahren. Parallel zu der großen Umerziehungsaktion machte sich die neue Regierung auch daran, die „verkommene“ Kultur ins Visier zu nehmen. Eine Unzahl von Büchern und Musik, die während des Bürgerkriegs im Süden entstanden waren, wurde verboten. Die Bürger der südvietnamesischen Republik wurden aufgerufen, die Erzeugnisse der degenerierten Kultur in bestimmten Sammelstellen abzugeben. Es wurde gemunkelt, dass die Kader dieses Sammelgut heimlich nach Hause mitnähmen und es sich selbst zu Gemüte führten. Auf Märkten kamen indes herausgerissene Bücherseiten zweckentfremdet als Verpackungsmaterial zum Einsatz. Der Gärtner meines Vaters bat uns um eine Dünndruckausgabe eines EnglischVietnamesischen-Wörterbuchs und benutzte das Papier zum Drehen von Zigaretten. Bei einem meiner Nachbarn sah ich, dass die Seiten mit verbotenem Inhalt das im Zuge des Embargos rar gewordene Toilettenpapier ersetzten.

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