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Copyright © Claudius Verlag, München 2017 www.claudius.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden. Umschlaggestaltung: Mario Moths, Marl Foto Umschlag: © ArenaCreative/Fotolia.com Layout: Mario Moths, Marl Gesetzt aus der Neris und Palatino Druck: Clausen & Bosse, Leck ISBN 978-3-532-62801-0
INHALT
VORWORT Kapitel 1:
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TRAUER VERSTEHEN
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Ein Kind stirbt Was ist Trauer überhaupt? Wozu ist Trauer gut? Ist Trauer Arbeit? Trauer besteht aus vielen Gefühlen Die drei Bereiche der Trauer Männer und Frauen trauern verschieden Unterschiedliche Todesalter Unterschiedliche Todesursachen Trauma und Trauer Nichts geht verloren Wenn Trauer krank macht Resilienz und Ressourcen
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Kapitel 2: DEN TRAUERPROZESS KREATIV ANNEHMEN
Trauern und loslassen – Sigmund Freud Die Bindung lösen – John Bolwby Phasen der Trauer – Verena Kast Trauern als Aufgabe – William Worden Andere Trauermodelle Das duale Prozessmodell der Trauer Integration – eine lebenslange Aufgabe Fragen nach dem Sinn Lebensübergänge und die neutrale Zone Trauern als kreativer Prozess Die Elternrolle neu definieren Nach schwerem Verlust selbstverantwortlich handeln Der Trauerprozess auf dem Zeitstrahl
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Kapitel 3: ALLES WIRD ANDERS – DIE ZEIT UNMITTELBAR NACH DEM TOD
Es soll wie vorher sein „Be-greifen“ im Wortsinn Die Liebe bleibt Das eigene Kind bestatten Schuld, Scham und die Warum-Frage Die Hilflosigkeit annehmen Sich um den eigenen Kummer kümmern Trauernde dürfen unbequem sein Das System der Familie Ein Leben lang Eltern sein Als Paar trauern Ein Liebespaar bleiben Wie Geschwister trauern Wie andere Verwandte trauern Ermutigungen
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Kapitel 4: EIN BIS DREI JAHRE VERGEHEN – DEN VERLUST BEGREIFEN UND AUSHALTEN
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Das erste Jahr – ein Leben im Ausnahmezustand „Trauerst du immer noch?“ Die Gedanken kreisen „Ich war so neidisch!“ Ans Grab gehen Was tun mit dem Zimmer meines Kindes? Der Todestag kehrt wieder Festtage – Schmerzenstage Das schwierige zweite Jahr Dem Körper helfen „Wie viele Kinder hast du?“ Trauer am Arbeitsplatz Der Alltag ist so anders Ein Neuanfang kann gelingen – das dritte Jahr Ermutigungen
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Kapitel 5: DREI BIS ZEHN JAHRE VERGEHEN – LEBEN MIT DER TRAUER
Wir wagen mehr Kreativ handeln im neuen Alltag Als Familie weiterleben Neues erfahren und Maßstäbe verändern Mit Ängsten umgehen Das Kontrollbedürfnis beruhigen Unser Kind ist immer dabei Ermutigungen Kapitel 6: ZEHN BIS 20 JAHRE VERGEHEN – ES TUT IMMER NOCH WEH, ABER ANDERS
Das Leben geht weiter Todestage und Rituale Umgang mit unvorhergesehenen Situationen Daran denken und nicht daran denken Über das verstorbene Kind sprechen Sicherheit und Verlustangst Wenn Enkel geboren werden Der Fokus der Trauer verschiebt sich Die Familiendynamik verändert sich erneut Ermutigungen Kapitel 7: 20 UND MEHR JAHRE VERGEHEN – DIE TRAUER WANDELT SICH IMMER NOCH
Integrieren heißt nicht vergessen Lebenslange Anpassung an den Verlust Innere Vorstellungen, äußerliches Gedenken Lange her und immer noch wirksam Demut und Dankbarkeit Ermutigungen Kapitel 8: LIEBE UND SEHNSUCHT BLEIBEN – RÜCKSCHAU UND AUSBLICK DANKSAGUNG ZUM WEITERLESEN
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„Man muss sich eben dran gewöhnen. Ist wie ’ne zugelaufene Katze – die Trauer. Sie begleitet einen die ganze Zeit. Sie ist immer da. Manchmal merkt man sie nicht. Dann kommt sie angelaufen auf ganz leisen Sohlen und legt sich bei einem auf den Schoß, dann ist es besser, sie zu streicheln, mit ihr zu leben. Irgendwann gehört sie dann dazu, wie alles andere auch.“ (Kriminalkommissar zum Protagonisten, dessen Frau ermordet wurde) Aus: Polizeiruf 110, 29.09.2013, Drehbuch: Daniel Nocke, Regie: Leander Haußmann
Vorwort Seit mehr als 25 Jahren lebe ich mit dem Verlust meiner jüngeren Tochter Nora und mit meiner Trauer darüber. Als sie 1991 starb, war ich gerade 35 Jahre und meine erstgeborene Tochter acht Jahre alt. Mein Leben und auch das meiner Familie veränderte sich von einem Tag auf den anderen. Es zog mir tatsächlich die Füße unter dem Boden weg. Nora starb im April, ich war über Ostern ein paar Tage mit der Familie im Schwarzwald gewesen und erinnere mich noch heute an die Gefühle von Zufriedenheit und Hoffnung, die mich damals erfüllten: Ich war unglaublich stark und zuversichtlich zu dieser Zeit. Ich wollte wieder arbeiten, alle waren wohlauf, und endlich hatte ich mein lange ersehntes zweites Kind. Alles war gut. Und dann war es vorbei. Ich wusste von Anfang an, dass es nie wieder so werden würde wie vorher und dass unsere Tochter für immer verschwunden war. Anfänglich erschien es mir unvorstellbar, solch einen Schicksalsschlag überhaupt überleben zu können. Trost gab es nicht. Die Familie und Freunde waren geschockt, unsagbar traurig, viele auch hilflos. Ich selbst hatte keinerlei Vorstellung davon, wie es weitergehen sollte. Mir war aber klar, dass es weitergehen musste. Ich hatte Verantwortung für unsere erstgeborene Tochter. Auch sie litt großen Kummer, denn ihre heiß geliebte Schwester war über Nacht nicht mehr da. Ihren Schmerz zu erleben machte für mich alles noch schrecklicher. Tatsächlich war meine ältere Tochter ein entscheidender Grund, irgendwie weiterzumachen. Ich erinnere mich noch gut daran, wie sie einige Wochen nach dem Tod der Schwester in ihrem Bett lag und weinte und nicht aufstehen wollte. Ich versuchte, sie ohne wirklich gute Argumente dazu zu überreden. Sie war dann diejenige, die sich selbst den Anstoß gab
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aufzustehen. Sie sagte: „Mama, wenn ich jetzt einfach für immer im Bett liegen bleibe, passiert mir nichts Schlimmes mehr, aber dann passiert auch nichts Schönes, und mir wird sicher langweilig.“ Heute noch bewundere ich dieses kleine Mädchen für ihren Mut, ihre Kraft und ihren Lebenswillen. Besser kann man ihre Haltung nicht beschreiben, finde ich. Ihr war instinktiv klar, dass ihr und unser Leben noch weitergingen und wir alle wieder auf die Beine kommen mussten. Ich wurde dann sehr schnell wieder schwanger, was wir durchaus beabsichtigt hatten. Irgendwie wollten wir diesem plötzlichen sinnlosen Tod etwas entgegensetzen. Die beiden nach Nora geborenen Söhne gaben uns zusätzlich Grund, weiterzumachen und als eine Familie zu leben. Viel ist in den folgenden Jahren geschehen, vieles hat sich verändert. Ich musste lernen, mit dem Verlust und der Trauer auf der einen Seite und dem Glück der Geburten meiner Söhne auf der anderen Seite zu leben. Das war oft sehr schwierig: Ich freute mich an den Kindern, und gleichzeitig war immer die Trauer da. Auch mein Mann musste seinen Trauerweg finden. Dieser unterschied sich grundsätzlich von meiner Art, mit dem Verlust umzugehen. Auch wenn wir als Familie immer beständig waren, führte uns unsere unterschiedliche Art der Trauer als Paar immer wieder an unsere Grenzen. Eine Zeit lang las ich viel über den Verlust von Kindern. Es gab damals durchaus schon Bücher von anderen Betroffenen, die ihre Geschichte und ihre Erfahrungen aufgeschrieben hatten. So erfuhr ich, dass auch andere Eltern mit diesem Schmerz weiterlebten. Ich empfand es als tröstlich, dass ich mit solch einer Erfahrung nicht allein war. Das gab mir Orientierung und etwas Hoffnung, mit diesem mir so fremden und veränderten Leben zurechtzukommen. Das bedeutete aber noch nicht, dass ich gewusst hätte, wie es weitergehen konnte.
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Ich besuchte dann eine Selbsthilfegruppe. Dort machte ich die unglaublich wichtige Erfahrung, dass fremde Menschen, die auch ein Kind verloren hatten, mit meiner Trauer umgehen konnten, dass sie sie aushielten und sich sogar freuten zu hören, dass ich wieder schwanger war. Hier fühlte ich mich sicher und verstanden, trotz aller Unterschiede. Ich beschäftigte mich auch mit fachlicher Trauerliteratur und stellte fest, dass es unterschiedliche „Trauermodelle“ gab. Diese Modelle dienen dazu, den Zustand der Trauer und den Vorgang des Trauerns in seinen Grundzügen zu erfassen. Meinen individuellen Umgang mit dem Verlust und meine Versuche, ihn zu bewältigen, fand ich zwar in einigen von ihnen wieder. Manches, was dort beschrieben wird, konnte ich aber überhaupt nicht nachvollziehen. Das wiederum irritierte und verunsicherte mich. Dass Trauer – im Wortsinn – durchlebt werden müsse, machte mir Angst: Wie sollte ich es aushalten, mich immer und immer wieder damit zu beschäftigen? Die Vorstellung, dass Trauer ein Prozess ist, der je nach Modell viele Jahre oder sogar lebenslang dauern kann, erschien mir unvorstellbar und grausam. Außerdem konnte ich mir unter der sogenannten Integration des Verlusts, die laut den Modellen zur Neuorientierung und Sinnfindung im Leben führen sollte, gar nichts vorstellen. Bedeutete das, dass es normal war zu vergessen, wie mein Kind gerochen, wie es sich angefühlt und wie seine Stimme geklungen hatte? Genau das waren ja meine Befürchtungen. Ich fand es schon schrecklich genug, dass ich mich immer schlechter erinnern konnte. Die Aussage „dem toten Kind einen neuen Platz geben“ empfand ich zwar als tröstlich, wusste aber nicht, wie ich da hinkommen sollte. Wie ging Integration, und was war dann? Was kam danach? Zehn Jahre nach dem Tod meiner Tochter hatte ich eine für mich sehr einschneidende Begegnung mit einer jungen Mut-
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ter, deren kleiner Sohn vor Kurzem gestorben war. Sie wollte wissen, was mir geholfen und wie ich mein Leben seither gemeistert hatte. Im Gespräch mit ihr wurde mir deutlich, wie anders ich meine Trauer im Gegensatz zu ihrer mittlerweile erlebte. Dabei erinnerte ich mich aber genau daran, dass es mir einst ebenso ergangen war wie ihr, und ich erkannte, dass ich es offenbar geschafft hatte, diese erste furchtbare Zeit zu überstehen. Meine Trauer war noch da, sie hatte sich aber gewandelt. Und die Liebe zu meinem Kind war auch noch da! Ich selbst hatte mich verändert: Es gab eine Annette vor dem Tod meiner Tochter und eine andere Annette nach ihrem Tod. Das bedeutete doch, dass die Verlusterfahrung mein Leben nicht für immer dominiert oder gar zerstört hatte, auch wenn vieles anders geworden war. Meine Tochter lebte zwar nicht mehr, aber sie war weiterhin Teil meines Lebens, Teil meiner Familie und präsent: Sie hatte tatsächlich einen neuen, anderen Platz bekommen. Nach der Begegnung mit der jungen Mutter war für mich klar, dass ich Eltern unterstützen wollte, die ebenfalls ihr Kind verloren hatten. Ich wollte und will – heute noch viel stärker als damals – dazu beitragen, dass Betroffene ihre Situation verstehen und lernen, Verantwortung für ihr Weiterleben zu übernehmen, dass sie lernen, sich selbst zu helfen. Seitdem bin ich intensiv in der Trauerarbeit tätig. Fast 15 Jahre lang leitete ich Gruppen mit verwaisten Eltern. Durch die Betroffenen lernte ich viel über die Unterschiedlichkeit der menschlichen Trauer. Auch über die Kraft, einen Schicksalsschlag zu akzeptieren und auszuhalten. Über die psychische Widerstandsfähigkeit oder „Resilienz“, die dazu befähigt, in solch einer Lebenskrise auf Ressourcen und Potenziale zurückzugreifen oder diese neu zu entdecken, um mit solch einem Verlust hoffnungsvoll weiterleben zu können. Bis heute beeindrucken mich die Selbstheilungskräfte, über die Men-
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schen verfügen. Wenn Trauernde diese Kräfte in sich entdecken und nutzen, so machen sie die Erfahrung, dass sie selbst durch kreatives Handeln ihre Trauer verändern und integrieren können. Es erfordert viel Mut, sich der Konfrontation und der lebenslangen Auseinandersetzung mit dem Tod des eigenen Kindes zu stellen. Aus diesem Grunde möchte ich Betroffene unterstützen. So leite ich die Geschäftsstelle des Arbeitskreises Trauernde Eltern und Geschwister in Baden-Württemberg (ATEG-BW) e.V. Die Beratung und Betreuung trauernder Eltern und Geschwister sowie von Menschen, die sich in der Trauerarbeit engagieren, empfinde ich als sehr sinnvoll und bereichernd, weil ich auf diese Weise immer wieder erlebe, was trotz des schweren Verlusts alles möglich ist. Mein Beruf als Diplom-Psychologin und meine psychotherapeutischen Ausbildungen sind für diese Arbeit hilfreich. Als Psychodrama-Therapeutin und TraumaTherapeutin bin ich fest davon überzeugt: Der Mensch ist ein kreatives, handlungsfähiges und eigenverantwortliches Wesen, das in der Lage ist, auch extrem belastende Krisen zu überstehen und sein Leben neu zu gestalten. Aus dieser Gewissheit heraus, die ich durch meine persönliche Geschichte und durch meine Arbeit mit anderen Betroffenen gewonnen habe, ist dieses Buch entstanden. Die ersten beiden Kapitel erklären, wie sich Trauer zeigt und wie sie sich verstehen und gestalten lässt. Ab dem dritten Kapitel folgt das Buch dann einem Zeitstrahl: Es beschreibt, was in der unmittelbaren Verlustsituation geschieht und was im ersten Jahr, wie es nach drei, nach fünf und nach zehn Jahren weitergeht, nach 20 und – im Ausblick – nach 40 Jahren. Hinzu kommen Gedanken, Impulse und Ermutigungen, wie es in der jeweiligen Lage gelingen kann, kreativ und handlungsfähig zu bleiben.
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Warum der lange Zeitraum? Er ist nach dem Tod eines Kindes durchaus realistisch. Zunächst sind wir weitgehend auf den Verlust fokussiert, da bestimmt der Tod unser Leben. Doch das verändert sich irgendwann. Der Fokus verschiebt sich nach und nach. Der Alltag tritt wieder in den Vordergrund, nur bei bestimmten Auslösern rückt das verstorbene Kind wieder in den Mittelpunkt. Wie die verwaisten Eltern, so kommt also auch die Trauer in die Jahre. Trauer ist tatsächlich ein lebenslanger Prozess. Wie könnte es anders sein? Die Liebe zu unserem Kind endet ja nicht mit seinem Tod. Sie gehört fortan zur Trauer dazu. Und auf die Trauer haben wir Einfluss – anders als auf den Tod selbst. Den mussten wir ertragen. Der Trauer hingegen, so schwer sie auch auszuhalten ist, sind wir nicht ausgeliefert – auch wenn wir in den schlimmsten Zeiten nicht wissen, wie es weitergehen soll. In diesen Zeiten brauchen wir Geduld mit uns selbst, das Wissen, dass es normal ist, wie wir uns fühlen, sowie das Vertrauen in unsere kreative, handlungsfähige Seite. So wachsen unsere Erfahrungen im Umgang mit der Trauer. Wir sammeln ein Repertoire anVerhaltensweisen und Möglichkeiten. Mit der Zeit werden wir dann feststellen: Es wird leichter. Die Trauer lässt sich wandeln. Der tiefe Schmerz klingt ab, und am Schluss bleiben in erster Linie Liebe, aber auch Sehnsucht und Traurigkeit. Diese Gefühle sind auszuhalten, sie können wir mit anderen Menschen teilen. Ich wünsche mir, dass dieses Buch verwaisten Eltern, Geschwistern und Familien Mut macht, mit dem, was sie erlebt haben, ihren Weg zu gehen. Und ich freue mich, wenn es überdies hilfreich für all diejenigen ist, die sich für die Betroffenen engagieren und ihnen zur Seite stehen. Donzdorf, im Dezember 2016
Annette Meier-Braun
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Kapitel 1
TRAUER VERSTEHEN „Lebenslänglich zu trauern ist wie ein großer Felsbrocken, wegrollen kann man ihn nicht. Zuerst versucht man, nicht darunter zu ersticken, dann hackt man ihn Stück für Stück kleiner, und den letzten Brocken steckt man in die Hosentasche und trägt ihn ein Leben lang mit sich herum.“ (Unbekannt)
Diese Beschreibung der Trauer hört sich beim ersten Lesen ziemlich erschreckend an. Bei genauem Hinschauen gibt es aber von Zeile zu Zeile eine deutliche Veränderung: Aus einem anfangs lebensbedrohlichen Gefühl ist zuletzt eines geworden, das den Trauernden zwar immer begleitet, an das er sich aber offensichtlich gewöhnen kann. An die Stelle des erdrückenden Felsbrockens ist ein Stein getreten – etwas Tragbares. Der Trauernde selbst hat durch sein Handeln diese sehr entlastende Veränderung bewirkt: Er ist aktiv geworden und hat daran gearbeitet, dass der Fels immer kleiner wurde. So hat er es aus eigener Kraft geschafft, der Bedrohung, die der große Felsbrocken darstellte, zu entgehen. Er war der Situation nicht einfach ausgeliefert. Sicher wusste der unbekannte Autor gut, wovon er sprach. Wir können bewirken, dass Trauer sich verändert. Wenn wir das tun, dann wird aus Verzweiflung Zuversicht, das macht dieses Gedicht deutlich. Wir spüren es schon beim Lesen.
Ein Kind stirbt Jeder Mensch muss irgendwann sterben. Zum Leben gehört der Tod, das ist uns mehr oder weniger bewusst. Gegenwärtig sind uns Sterben und Tod immer. Ständig werden wir in den Medien und im privaten Umfeld damit konfrontiert. Viele Kriege fordern ständig Opfer. Immer wieder ereignen sich schwere Unfälle und Naturkatastrophen, bei denen Menschen sterben. Bekannte, Schulkameraden oder Mitglieder der Familie versterben an Krankheiten oder im Alter. Manchmal sind diese Todesfälle weit weg vom eigenen Leben. Manchmal aber lösen sie große Bestürzung aus, etwa wenn es eine gleichaltrige Bekannte getroffen hat, die letzte Woche noch ihren Geburtstag gefeiert hatte. Je älter ein Mensch wird, desto mehr wird er mit dem Tod
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konfrontiert. Wenn seine Eltern sterben, gehört er zur nächsten Generation, die sterben wird. Das ist normal und unausweichlich, ob er sich nun dieser Tatsache stellt oder nicht. Der Tod eines Kindes jedoch sprengt diese Generationenfolge und ist daher nicht normal. Das gilt immer – unabhängig davon, wie alt das verstorbene Kind ist. Auch Erwachsene, die vor ihren Eltern sterben, sind deren Kinder, und Kinder sollen einfach nicht vor den Eltern und vor den Großeltern sterben. Ihr Tod kommt zur völlig falschen Zeit und ist so im großen Lebensplan, im ungeschriebenen Gesetz des Lebens, nicht vorgesehen. Kinder sind unsere Zukunft. Wir geben unsere Erbanlagen an sie weiter, so will es die Evolution. Ein Teil von uns lebt in unseren Kindern fort, auch wenn wir nicht mehr da sind. Dieses Prinzip stellen wir nicht infrage, es prägt unsere Sicht auf das Leben. Eltern richten ihr Leben auf ihre Kinder aus. Sie unterstützen sie nach Kräften und möchten, dass es den Kindern gut geht, möglichst besser als ihnen selbst. Sätze wie „Das hat er von mir“ drücken elterlichen Stolz aus. Oft wirken solche Ähnlichkeiten als zusätzlicher Antrieb, den Nachfahren viele Chancen zu bieten. Es macht Eltern glücklich, ihre Kinder aufwachsen zu sehen und mitzubekommen, wie diese ihr Leben mehr und mehr selbst gestalten. Wird diese Regel der Generationenfolge durch den Tod eines Kindes außer Kraft gesetzt, stimmt nichts mehr. Als meine Tochter starb, drückte meine Mutter, die also der Großelterngeneration angehörte, ihr Empfinden sehr drastisch aus. Sie, die damals bereits einige Schlaganfälle hinter sich hatte und weit über 70 Jahre alt war, sagte, als sie vom Tod ihrer Enkeltochter erfuhr, verzweifelt: „Ich hätte sterben sollen, ich bin doch dran!“ Das macht den Tod eines Kindes so unerhört schrecklich: Er widerspricht den ungeschriebenen Gesetzen des Lebens,
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die für uns sinnvoll und stimmig sind. Er widerspricht unserem Gefühl für Sinn und stellt das Leben selbst infrage. Ein Tod zur Unzeit ergibt einfach keinen Sinn.
Was ist Trauer überhaupt? Trauer ist eine natürliche und notwendige Reaktion auf einen schweren Verlust. Diese Definition ist sehr weit gefasst, weil ja nicht nur der Tod, sondern auch andere Erfahrungen wie Trennungen von Wohnorten, Arbeitsstätten und Beziehungen oder aber der Verlust bestimmter Fähigkeiten oder anderer Dinge, die uns wichtig waren, betrauert werden. Das Ausmaß unserer Reaktion entspricht dabei stets der Bedeutung, die das Verlorene für uns besaß. Das gilt wohl für alle Menschen. Und doch ist die Trauer jedes Einzelnen so unverwechselbar wie er selbst. Trauer wird individuell sehr unterschiedlich erlebt und belastet unterschiedlich lange. „Es gibt für Trauer kein vorgegebenes Maß und keine vorgegebene Zeit“, sagt Anja Wiese in ihrem Buch Um Kinder trauern. Die Fähigkeit zu trauern gehört zum menschlichen Verhaltensrepertoire. Das bedeutet, wir müssen sie nicht erst erlernen, sondern können sie dann abrufen, wenn wir einenVerlust verarbeiten müssen. Trauern ermöglicht es uns, den Tod eines geliebten Menschen zu überleben. Es ist daher ein notwendiger, unumgänglicher, sinnvoller, oft auch einsamer Prozess. Aus der Prozesshaftigkeit folgt, dass Trauern Zeit beansprucht und Veränderung erfährt. Der Sinn des Trauerns liegt daher nicht darin, dass wir es beenden. Denn die Trauer um einen geliebten Menschen hört ohnehin nie auf. Sie bleibt, aber sie verändert sich im Lauf des Lebens, sie zeigt sich immer wieder anders, findet neue Ausdrucksformen.
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Wozu ist Trauer gut? Die Trauer bleibt deshalb, weil die Liebe zu unserem Kind bleibt und mit dem Tod nicht einfach aufhört. Ohne die Liebe wäre die Trauer völlig sinnlos. Aber die Liebe zum Verstorbenen geht nicht einfach fort. Sie besteht weiter, und auch sie wandelt sich. Die Liebe zum Kind und die Trauer über seinen Verlust bleiben Teil unseres gesamten weiteren Lebens. Dies ist ein ganz wichtiger Punkt: Zur Trauer um den Verstorbenen gehört untrennbar die Liebe zu ihm. Das eine ohne das andere geht nicht, und das ist gut so. Das heißt, die Trauer hat im Grunde eine positive Funktion: Sie ist dazu da, damit wir Abschied nehmen, den Tod realisieren und akzeptieren und den Verstorbenen trotzdem weiterlieben können. Um mit dem Verlust weiterzuleben, müssen wir eine neue innere Beziehung zum Verstorbenen finden. Dann kann auch die Liebe zu ihm bleiben und weiterhin gelebt werden. Indem das geschieht, passt sich der Trauernde an die neue Situation an – seine Trauer wandelt sich. Ein weiterer Aspekt kommt hinzu: Wir trauern nicht nur um den Menschen selbst, sondern ebenso um die bedeutsamen Inhalte, die unser eigenes Leben durch ihn erhielt – um das, was wir mit ihm geteilt hatten. Das können neben dem Alltag zum Beispiel gemeinsame Hobbys gewesen sein, die uns selbst als wertvolle Ressource dienten. Ein Vater etwa verbrachte mit dem halbwüchsigen Sohn die gesamte Freizeit mit Fußballspielen, er war bei jedem Spiel dabei, und beide erlebten viel Freude und Begeisterung. Mit dem Tod des Sohnes „starb“ auch die Fußballleidenschaft des Vaters. Er konnte nicht mehr zu seinem Verein gehen oder im Fernsehen Fußballspiele anschauen – zu groß war der Schmerz. Ein Teil seines Lebens mitsamt den sozialen Kontakten brach auf diese Weise einfach weg. Es dauerte gute fünf Jahre, bis der Vater anfing,
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wieder Spaziergänge um den Fußballplatz herum zu machen, und es dauerte noch einmal länger, bis er erneut Kontakt aufnahm. Heute trainiert er eine der Jugendgruppen des Vereins. Wir trauern außerdem auch um das, was wir noch gemeinsam erleben wollten – um die Zukunftspläne, die sich nicht mehr erfüllen werden: die Abiturfeier, auf die wir uns nicht mehr freuen können, oder die Geburt des Enkelkindes, das wahrscheinlich eines Tages gekommen wäre. Der Trauernde richtet den Fokus dabei dann weniger auf den Menschen, der nicht mehr da ist, sondern mehr auf sich selbst – auf das, was er sich gewünscht hätte und nun sicher nicht mehr erleben wird. Auch dieser Ausdruck von Trauer ist ganz legitim, und er hat nichts Egoistisches an sich.
Ist Trauer Arbeit? Sigmund Freud sprach bereits um 1918 von „Trauerarbeit“. Damals begann die Beschäftigung mit diesem menschlichen Verhalten, und es gab noch keine der heutigen gültigen Trauertheorien und -modelle. Dem Begriff der Trauerarbeit stehen heute viele Fachleute und Betroffene kritisch oder sogar ablehnend gegenüber. Denn erstens schwingt in ihm der Leistungsgedanke mit: Wer arbeiten muss, der muss etwas leisten. Zweitens ist nahezu jede Arbeit irgendwann mit einem Ergebnis beendet. Trauer aber ist ein lebenslanger Prozess, in dessen Verlauf sie immer wieder verändert wird, je nachdem, was der Alltag in Zukunft bringt. Es gibt kein bestimmtes Ergebnis, das zu erreichen oder zu verfehlen wäre.
Trauerarbeit heißt, aktiv zu werden Andererseits: Die Trauer zu verändern, das erfordert tatsächlich Arbeit, es geschieht nicht von allein. Auch diese Erkennt-
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nis steckt im Begriff der Trauerarbeit. Die „Arbeit“ des Trauerns lässt sich als Aktivität, Aktivsein verstehen. Im Zusammenhang mit Trauern werden immerVerben verwendet, die Aktivität ausdrücken: „bewältigen“, „verarbeiten“ … Sogar das Wort „aushalten“ meint aktives, bewusstes Tun, denn wir müssen dafür Kräfte aufwenden und dürfen nicht in bloßer Passivität verharren. Dieser Aspekt des Handelns ist ungeheuer wichtig. Er steht im Gegensatz zu der Erfahrung des Verlusts, der man im Moment des Geschehens tatsächlich passiv ausgeliefert war. Als der Verlust geschah, fühlten wir uns hilflos und machtlos und hatten keine Kontrolle über die Situation. Danach aber fängt etwas Neues an, so paradox das klingt. Ein anderes Leben beginnt, eine andere Zeit. Dann müssen wir lernen, uns aktiv und selbstverantwortlich darum zu kümmern, wie wir mit unserer Trauer umgehen. Selbstverantwortlich heißt nicht, dass wir keine Hilfe brauchen würden – im Gegenteil. Aber wir müssen selbst entscheiden, wie wir mit Hilfsangeboten und Ratschlägen umgehen. Nehmen wir die angebotenen Schlaftabletten oder nicht? Räumen wir das Kinderzimmer gleich leer, weil uns das empfohlen wird, oder warten wir ab, was unser eigenes Gefühl uns sagt? Eine Mutter berichtete mir, dass ihre Freundin ihr riet, es gleich zu tun, damit ihr der Anblick nicht so wehtäte. Im Nachhinein bereute diese Mutter sehr, dem Rat gefolgt zu sein, denn sie erkannte: Es hatte nicht ihrem eigenen Gefühl und ihrem Tempo entsprochen.
Begleitung ist hilfreich Es ist wertvoll, wenn Betroffene in dieser akuten Situation jemanden an ihrer Seite haben, der selbst weniger stark betroffen ist und sie begleitet. Nicht um ihnen Entscheidungen abzunehmen, sondern um zum Beispiel zu hinterfragen, ob
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der Betroffene wirklich so handelt, wie er empfindet, oder ob er nur Ratschläge befolgt, um seine Ruhe zu haben. Trauernden hilft es auch, wenn sie jemand daran erinnert, eine Suppe zu essen oder mal an die frische Luft zu gehen – alles Dinge, die wichtig sind, um Kraft in dieser schweren Zeit zu schöpfen, die Trauernde selbst aber oft vernachlässigen. Hilfreich ist auch jemand, der ans Telefon geht und vielleicht einen Behördengang erledigt. Auch mir selbst hätte so jemand gutgetan. Einige Entscheidungen, zum Beispiel sofort die Stofftiere meiner Tochter herzugeben, bereue ich noch heute. Die Sachen erst einmal in eine Kiste zu räumen und später zu entscheiden wäre besser gewesen. Innerhalb der Familie waren aber alle viel zu geschockt, um mich zu beraten oder von unüberlegten Aktionen abzuhalten. Mir fehlte, was in solchen Situationen durchaus hilfreich ist: ein selbst nicht so stark betroffener Beistand, der die Bedürfnisse des Trauernden ernst nimmt, der geduldig nachfragt und so impulsive Entscheidungen wie auch das Vernachlässigen der eigenen Person verhindert. Dabei geht es jedoch nur um einfache Angebote und Anregungen, die die Verantwortung ganz bei dem Betroffenen lassen. Denn Trauernde sind für sich selbst verantwortlich. Das bedeutet auch, dass sie sich nicht auf ihrer Trauer ausruhen dürfen. Sie dürfen den erlittenen Verlust nicht als Entschuldigung nehmen, wenn in ihrem Leben Dinge fortan schieflaufen. So sollte dieser Schicksalsschlag zum Beispiel kein Alibi für übermäßigen Alkoholkonsum sein. Viele verwaiste Eltern trinken zunächst zu viel, in der Hoffnung, den Schmerz dann weniger spüren zu müssen. Die meisten hören jedoch irgendwann wieder auf damit. Sie merken, dass diese Strategie nicht funktioniert, weil der Schmerz trotz des Trinkens bleibt. Eine Mutter erzählte aus dieser Zeit: „Mein Mann und ich tranken an jedem Abend jeder mindestens
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eine Flasche Wein, weil wir hofften, dann besser schlafen zu können. Nach einigen Monaten ging ich in den Keller und sah den Berg leerer Flaschen. Ich erschrak mich vor dem, was wir da eigentlich taten, und schämte mich auch. Die Flaschen habe ich ganz schnell entsorgt. Ab da gab es abends keinen Alkohol mehr, denn wir wollten nicht auch noch unsere Gesundheit zerstören. Wir erkannten, dass es andere Wege geben musste, uns mit der Trauer auseinanderzusetzen, und suchten uns eine Selbsthilfegruppe. Dort hörten wir, dass es anderen Eltern ähnlich ergangen war wie uns. Das entlastete uns. Durch die Gespräche in der Gruppe lernten wir, mit unserer Trauer umzugehen.“ Das Ehepaar hatte Verantwortung für sich übernommen. Der Schmerz war ohnehin da, aber er war besser auszuhalten, wenn die beiden mit anderen darüber sprachen, statt ihn mit Alkohol zu betäuben. Diese Eltern hatten die für sich bessere Lösung erarbeitet, und das war durchaus anstrengend gewesen. So gesehen, steckt im Trauern also wirklich Arbeit – und es gibt niemanden, der sie dem Trauernden abnehmen kann.
Trauer besteht aus vielen Gefühlen Trauern als Reaktionsverhalten setzt sich zusammen aus den unterschiedlichsten Gefühlen: aus Traurigkeit, Wut, Zorn, Schmerz, Kummer, Sehnsucht, Verzweiflung, Einsamkeit, Müdigkeit, Schuld, Angst, Hilflosigkeit, Liebe. Auch weitere Gefühle, die individuell sehr unterschiedlich sein können, zeigen sich. Dazu gehören Verlassenheit, Kränkung, Erleichterung. Trauer sollte daher nicht mit Traurigkeit verwechselt werden: Traurigkeit ist als ein Gefühl von vielen ein Bestandteil der Trauer. Sie nimmt irgendwann ab und verschwindet zeitweilig – das verändert dann die Trauer. Manchmal zeigt die Traurigkeit sich aber auch später noch, zum Beispiel an
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Todestagen oder bei besonderen Erinnerungen. Eine Mutter erzählte mir in diesem Zusammenhang: „Ich weine, weil ich traurig bin, dass sie nicht mehr da ist. Wenn der Anlass vorüber ist, vergeht die Traurigkeit wieder.“ Trauernde erleben das beschriebene Konglomerat aus verschiedenen Gefühlen sehr unterschiedlich. Manche zeigen überhaupt keine deutliche Traurigkeit. Bei den einen stehen Verzweiflung und Sehnsucht im Vordergrund, bei anderen der Schmerz und wieder bei anderen die Wut. Wut worüber, Wut auf wen? Auch wenn es sehr schwerfällt, sich das selbst einzugestehen, gibt es durchaus Wut auf das tote Kind, von dem die Eltern sich verlassen und im Stich gelassen fühlen. Ein Vater zum Beispiel stand regelmäßig des Nachts am Grab seines Sohnes und schimpfte mit ihm, warum er ihm das angetan habe. Er sei ja noch da und müsse jetzt mit dieser schweren Situation weiterleben. Viele Eltern denken, sie dürften nicht wütend sein, weil das ein Widerspruch zur Liebe wäre. Aber das stimmt nicht. Die Wut ist menschlich und verständlich. Außerdem ist sie ein Versuch und ein Mittel, die Beziehung zum Verstorbenen aufrechtzuerhalten. Doch für dieses Gefühl gilt dasselbe wie für die Traurigkeit: Es wird weniger. Die einzigen Gefühle, die auf jeden Fall immer spürbar sein werden, sind die Sehnsucht und vor allem die Liebe. Das ist gut nachvollziehbar, denn Liebe ist umfassend. Sie verbindet uns am stärksten mit anderen. Weil wir nur in der Beziehung und Bindung mit und zu anderen überleben können, ist Liebe evolutionstheoretisch gesehen das wichtigste Gefühl. Liebe und Sehnsucht also bleiben. Sie machen irgendwann den Hauptteil der Trauer aus. Die wird umso erträglicher, je mehr die anderen Gefühle – der Schmerz, die Ohnmacht, die Wut – in den Hintergrund treten und abklingen.
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