Schmauß, Maike: Herzensgebet mit Kindern

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Maike SchmauĂ&#x;

Herzensgebet Mit Kindern Das Praxisbuch


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MIX Papier aus verantwortungsvollen Quellen

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Mehr Bäume. Weniger CO2. www.cpibooks.de/klimaneutral

Copyright © Claudius Verlag, München 2018 www.claudius.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden. Umschlaggestaltung: Weiss Werkstatt, München Layout: Weiss Werkstatt, München Gesetzt aus der Rotis Serif, Mango Smoothie und Behind blue eyes Autorenfoto: © privat Druck: cpi, Clausen & Bosse, Leck ISBN 978-3-532-62824-9


INHALT Liebe Leserin, lieber Leser!

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Einführung

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Das Herzensgebet mit Kindern 1. Was ist Meditation? 2. Was heißt „Herzensgebet“? 3. Welche weiteren Gebetsformen gibt es? 4. Warum sollen Kinder zum Herzensgebet hingeführt werden? 5. Worin unterscheidet sich das Herzensgebet für Kinder von dem für Erwachsene? 6. Warum gibt es in diesem Buch so viele Meditationsübungen, die gar nichts mit Gebet zu tun haben?

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Das Umfeld 1. Wie, wann, wie oft und wo wird geübt? 2. Welche Materialien brauche ich? 3. Welche Rolle habe ich als Begleiter? 4. Was ist zu tun bei Störungen?

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Einige grundsätzliche Fragen 1. Soll die Körperwahrnehmung immer in unverändert gleicher Form ablaufen? 2. Leitet man mit „ich“, „du“ oder „wir“ an? 3. Sind die Augen während der Meditation offen oder geschlossen?

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Sieben Schritte zum Herzensgebet mit Kindern

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I

Ich schließe Freundschaft mit einer Blume Die Wahrnehmung der Natur Marie meditiert Reflexion

34 34 37 41

II

Reise durch den Körper Körperwahrnehmung Marie meditiert Reflexion

43 43 46 51

19 22

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III. Ich atme ein – ich atme aus Wahrnehmung des Atems Marie meditiert Reflexion

53 53 54 58

IV. Meine Hände begegnen sich Wahrnehmung des Handinnenraums Marie meditiert Reflexion

61 61 63 68

V

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Ein Ja fließt in meine Hände Das innere Wort Marie meditiert Reflexion

VI Mein Name – das bin ich Der eigene Namen Marie meditiert Reflexion

77 77 79 83

VII Mein Gebet Das Gebetswort Marie meditiert: Bildbetrachtung Reflexion: Bildbetrachtung Marie meditiert: Nacherzählung und Spiel Reflexion: Nacherzählung und Spiel Marie meditiert: Bibliolog Reflexion: Bibliolog Marie meditiert: Bildgeschichte Marie meditiert: Herzensgebet Reflexion: Herzensgebet Marie meditiert mit einer Freundin Reflexion: Marie meditiert mit einer Freundin

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Liebe Marie

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Anhang

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LIEBE LESERIN, LIEBER LESER! „Weißt du, wo der Himmel ist, außen oder innen? Eine Handbreit links und rechts, du bist mittendrinnen“, heißt es in einem Kinderlied von Ludgar Edelkötter.1 Die siebenjährige Marie kennt dieses Lied nicht, aber sie spürt, dass sie „mittendrinnen“ ist: „Der Gott ist im Himmel. Aber der hat keine Flügel. Der ist überall. Der ist ganz um mich rum“, sagt sie. „Luft, die alles füllet, drin wir immer schweben, aller Dinge Grund und Leben“, so drückt der Mystiker Gerhard Tersteegen dasselbe Gefühl im Lied aus (Gott ist gegenwärtig, EG 165, 5. Strophe). Bei ihm heißt es dann weiter „Du in mir, ich in dir …“ Diese mystische Erfahrung, dass Gott nicht nur „ganz um mich rum“ ist, sondern auch „in mir drin“ darf Marie mit sieben Jahren machen, als sie hingeführt wird zum Herzensgebet. Auf dem Weg dahin begleiten Sie sie in diesem Buch. An wen richtet sich dieses Buch? Das Buch richtet sich an alle, die ein Kind auf seinem Weg zum Herzensgebet begleiten wollen – Eltern, Großeltern und Paten gleichermaßen. Hier wird Erwachsenen eine systematische Hinführung zum Herzensgebet mit Kindern angeboten. Die einzelnen Schritte orientieren sich an dem Übungsweg, den der Jesuit Franz Jalics entwickelt hat und den auch Andreas Ebert und Peter Musto in ihrem Buch Praxis des Herzensgebets aufzeigen. Es empfiehlt sich, dass Sie, als erwachsener Begleiter, entweder selbst in dieser Form des kontemplativen Gebets zu Hause sind und es praktizieren oder dass Sie den Weg mitgehen. Dabei hilft Ihnen die Einführung am Anfang eines jeden Kapitels. Am Beispiel der siebenjährigen Marie wird anschließend gezeigt, wie die einzelnen Übungen ablaufen können, welche Schwierigkeiten eventuell auftauchen und welche Überlegungen sich daraus für Sie ergeben. Das Buch richtet sich aber auch an alle, die auf ihrem spirituellen Weg entdecken, welch tiefe Weisheit sich in dem Wort Jesu verbirgt: „Wenn ihr nicht umkehrt und werdet wie die Kinder, so werdet ihr nicht ins Himmelreich kommen“ (Mt 18,3). Jesus weist die „klugen“ Erwachsenen hier zurecht, als sie den Kindern Zutritt zu ihm verweh7


ren wollen. Uns allen sagt er damit: Nur wer einfach, klein, unbefangen wird wie ein Kind, nur wer seine eigene Bedürftigkeit, sein Angewiesensein annimmt, sein Machtdenken und seine Ehrsucht loslässt, kommt ins Himmelreich. Schauen wir also auf unserem spirituellen Weg die Kinder an und lernen wir staunend von ihnen. Sie begleiten in diesem Buch ein Kind bei den einzelnen Schritten, die es auf dem Weg zum Herzensgebet geht. Dabei können Sie selbst diesen Weg mitgehen. Verwundert werden Sie erfahren: Das Kind begleitet auch Sie! Der unmittelbare Zugang eines Kindes zu Meditation und Kontemplation, seine unbefangene Gottesbeziehung und seine spontanen Reaktionen werden Sie bereichern und Ihnen auch wertvolle Impulse für das eigene spirituelle Leben geben. Das Buch richtet sich ebenso an Erzieherinnen und Erzieher, Lehrerinnen und Lehrer, die Meditation und Stilleübungen in Kindergärten und Schulen durchführen und die sich immer wieder durch Impulse, Anregungen und Erfahrungen anderer inspirieren lassen wollen. Die Erkenntnis, dass Kinder geborene Mystiker sind und einen natürlichen Zugang zur Meditation haben, hat bereits Eingang in viele Kindergärten und Schulen gefunden. Bahnbrechend waren hier vor allem Gerda und Rüdiger Maschwitz, die in zahlreichen Büchern, Vorträgen, Workshops und Fortbildungsangeboten Stille-Übungen und Meditationsformen für Kinder entwickelt und weitergegeben haben. Was ist das Besondere an diesem Buch? Es geht um eine besondere Art der Meditation: das Herzensgebet. Wir erleben mit, wie ein Kind systematisch zu dieser Form des kontemplativen Gebets geführt wird. Alle Übungen in diesem Buch lassen sich zwar durchaus auch mit Gruppen durchführen, aber die Intensität ist wahrscheinlich geringer. Wie tief Kinder sich im Schulraum, in einer Gruppe Gleichaltriger und im Kontakt mit Lehrern und Erziehern in ihre Seele blicken lassen, unterscheidet sich in der Regel von der Intensität, die in intimerer Atmosphäre möglich ist. In einem geschützten Rahmen fällt es dem Kind leichter, wirklich einen spirituellen Weg zu gehen. Erinnern Sie sich einmal an Ihre eigene Kindheit: Gab es in Ihrer Familie jemanden, dem Sie sich besonders öffneten, dem Sie ein Geheimnis, eine innere Not oder ein besonderes Glück anvertrauten, etwas, das Sie kaum einem anderen sagten? Das war vielleicht Mutter oder Vater beim Gute-Nacht-Ritual. Oft spielt die Großmutter diese 8


Rolle. Manchmal ist auch der Hund oder gar der geliebte Teddy solch ein Vertrauter. Die siebenjährige Marie kommt nach Hause, kuschelt sich an die Oma und flüstert: „Wenn ich ganz schöne Musik höre, fühle ich mich, wie wenn Gott mich streichelt.“ Was für ein Stück sie da heute im Musikunterricht gehört hat, weiß sie nicht. Aber sie weiß, was sie dabei gespürt hat, und kann es in Worte fassen. Aussprechen will sie es jedoch nur in einer intimen Atmosphäre und im engen Kontakt mit einer vertrauten Person. Denn hier geht es um eine mystische Erfahrung, die auch den Schutz des Schweigens braucht. Wenn Sie sich als vertrauter Seelenbegleiter gemeinsam mit dem Kind auf den Weg machen, werden Ihnen Entdeckungen geschenkt, die Sie staunen lassen, und Erfahrungen, die kostbar sind und prägend. In jedem Fall steht Ihnen eine spannende spirituelle Reise bevor, wenn Sie sich mit Ihrem Kind auf dieses Abenteuer einlassen. Und Ihrem Kind werden Sie einen unverlierbaren Schatz wertvoller Erfahrungen auf seinen eigenen Lebensweg mitgeben. München, im Mai 2018 Maike Schmauß

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Einführung



DAS HERZENSGEBET MIT KINDERN

1. Was ist Meditation? Ein Kind sieht einen Schmetterling – schaut und staunt. Es weiß nicht, dass das ein Pfauenauge ist und dass er zur Gattung der Insekten gehört. Das muss es auch nicht wissen. Es bestaunt die Farben, das Wippen auf der Blüte, das Ausbreiten der Flügel, das Davongaukeln in der Sonne. Schauen, ohne zu denken, zu benennen, zu analysieren – das ist Meditation. Ein Kind sitzt auf dem Boden und spielt völlig selbstvergessen. Es fragt nicht: Welchem Zweck dient mein Spiel? Welchen Sinn hat es? Was lerne ich dabei? Es spielt, weil es spielt. Das ist die Haltung, die Meister Eckhart „sunder warumbe“ (also „ohne warum“) nennt. Damit meint er: Versuche nicht, alles mit dem Verstand zu durchdringen. Frag nicht: Warum lebe ich? Du lebst, weil du lebst! Angelus Silesius hat dieses „sunder warumbe“ aufgegriffen: Die Ros ist ohn Warum, sie blühet, weil sie blühet, Sie acht nicht ihrer selbst, fragt nicht, ob man sie siehet. Angelus Silesius2

Zweckfreies, absichtsloses Dasein – das ist Meditation. Unvergleichlich schön wiederum hat Rainer Maria Rilke in einem Gedicht das selbstvergessene Gegenwärtigsein eines Kindes ausgedrückt: Du musst das Leben nicht verstehen dann wird es werden wie ein Fest 13


Und lass dir jeden Tag geschehen so wie ein Kind im Weitergehen von jedem Wehen sich viele Blüten schenken lässt. Sie aufzusammeln und zu sparen das kommt dem Kind nicht in den Sinn. Es löst sie leise aus den Haaren, drin sie so gern gefangen waren, und hält den lieben jungen Jahren nach neuen seine Hände hin.3 Ein Kind lässt sich „jeden Tag geschehen“. Es denkt beim Spiel weder an gestern noch an morgen. Es nimmt nicht wahr, was sonst noch in seiner Umgebung vor sich geht. Es ist ganz in der Gegenwart des Spiels. Meditieren heißt, gegenwärtig sein, nur wahrnehmen, was jetzt hier ist. Gegenwärtigsein – das ist Meditation. Dorothee Sölle erzählt in ihrem Buch Mystik und Widerstand, wie ihr Sohn in einem Alter, als er gerade die Zahlen lernte, wie gebannt vor einem Haus stehen blieb. Als sie ihn weiterziehen wollte, sagte er: „Mama, guck doch, diese wundervolle Fünf-hundert-sieben-und dreißig!“4 Staunend wahrnehmen, was ist – das ist Meditation. Franz Jalics nennt die drei Eigenschaften der Meditation: hellwach dabei sein, mit großem Interesse dabei sein und kontinuierlich dabei bleiben.5 ✽ „Hellwach dabei sein“ heißt: Meditation hat nichts zu tun mit einer Art Selbsthypnose, die uns in einen tranceähnlichen Zustand versetzt, abgehoben von der Welt. Meditation ist kein Wegdämmern. Meditation ist vielmehr hellwaches Da-sein.

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✽ „Mit lebendigem Interesse dabei sein“ heißt: Ich nehme die Wirklichkeit wahr mit allen Sinnen. Ich frage nicht danach, was war oder was sein wird, sondern nur danach, was jetzt ist. Und nichts von dem, was jetzt ist, kann so unbedeutend, klein und nebensächlich sein, dass es nicht mein volles Interesse verdient hätte. Aber ich denke nicht nach über das, was ist, analysiere und beurteile es nicht, ich nehme es nur wahr. ✽ „Ununterbrochen dabei bleiben“ heißt: Ich bleibe mit meiner ganzen wachen Aufmerksamkeit bei dem, was jetzt ist – so wie das Kind beim versunkenen Spielen wirklich nicht hört, wenn man es ruft. Natürlich kennt jeder, der meditiert, die Ablenkungen und Zerstreuungen, die sich einstellen, die Gedanken, die uns in die Vergangenheit oder in die Zukunft entführen wollen. Da gilt es, geduldig kontinuierlich zurückzukehren in die Gegenwart.

2. Was heißt „Herzensgebet“? Das Herzensgebet ist eine christliche Form der Meditation. Deshalb werden in diesem Buch die Begriffe „Herzensgebet“, „Meditation“ und „Kontemplation“ gleichbedeutend gebraucht. Das Herzensgebet, auch Jesusgebet genannt, ist vor allem in der orthodoxen Kirche zu Hause. Es geht zurück bis zu den Wüstenmüttern und Wüstenvätern und wurde vor allem von den Mönchen auf dem Berg Athos weiterentwickelt. Seinen biblischen Ursprung hat es im Gebetsruf des blinden Bartimäus: „Jesus, Sohn Davids, erbarme dich meiner!“ (Mk 10,46–52) Bei uns wurde das Herzensgebet vor allem bekannt durch die 1974 erschienenen Aufrichtigen Erzählungen eines russischen Pilgers6. Ein Pilger versucht, dem Ruf des Apostels Paulus zu folgen: „Betet ohne Unterlass!“ (1 Thess 5,17) Dabei entdeckt er das Herzensgebet, das er „ohne Unterlass“ im Atemrhythmus spricht: „Jesus Christus, erbarme dich meiner!“ Der Jesuit Franz Jalics hat die Form des Herzensgebets entwickelt, bei der nur der Name „Jesus Christus“ gebetet wird in Verbindung mit dem Atem und dem Spüren der Hände. 15


Eine Sonderform des Herzensgebets ist die Suche nach dem eigenen Gebetswort, das man mit Hilfe eines geistlichen Begleiters findet, beispielsweise „Abba“, „Maranatha“ (Komm, Herr!), „Du in mir, ich in dir“, „Du bist da“, „Herr, eile mir zu helfen!“ oder Ähnliches. Gerade bei Kindern bietet es sich an, zusammen mit dem Kind das geeignete innere Wort zu entdecken. Gedacht ist dabei in diesem Buch an Kinder im Alter von 5 bis 9 Jahren. Denn es folgt im Leben eines Kindes ab dem 10. Lebensjahr dann häufig eine Phase, in der es schwieriger (aber nicht unmöglich!) sein wird, das Herzensgebet als eine neue Form der Meditation einzuüben. Eher möglich ist es dann wieder bei Jugendlichen ab etwa 16 Jahren.

3. Welche weiteren Gebetsformen gibt es? Neben dem Herzensgebet, das ein Gebet der Stille ist, ein Schauen auf Gott ohne Worte – oder mit Hilfe eines inneren Gebetwortes, das mantraartig wiederholt wird – gibt es verschiedene Formen von „Wortgebeten“. Das auswendig gelernte Gebet Kinder beginnen ihre Gebetspraxis häufig mit auswendig gelernten Gebeten, oft in Reimform. Diesen Klassiker dürften Sie kennen: „Müde bin ich, geh zur Ruh / schließe beide Augen zu / Vater, lass die Augen dein / über meinem Bette sein.“ Daneben gibt es auswendig gesprochene Gebete, die uns ein Leben lang begleiten und mit Christen in aller Welt und zu allen Zeiten verbinden. Bekannte Beispiele hierfür sind das Vaterunser, das „Gegrüßet seist du Maria“ der Katholiken oder auch Psalm 23. Auch gesungene Gebete gehören in diese Kategorie. Der älteren Generation sind da vielleicht Lieder wie „Aus tiefer Not schrei ich zu dir“ vertraut oder die 5. Strophe des Adventslieds „Macht hoch die Tür“: „Komm, o mein Heiland Jesu Christ“. Großen Zuspruch finden heute Taizé-Lieder wie „Dona nobis pacem“ („Gib uns Frieden“) oder „Adoramus te, domine“ („Wir beten dich an, Herr“).

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Das frei gesprochene Gebet Bitte, Dank, Klage werden hier in eigenen Worten formuliert. Schon sehr früh können Kinder an diese Art des Gebets herangeführt werden. Gut geeignet ist für Kinder hier auch das erzählende Gebet, bei dem ich mir Gott vorstelle als vertrautes Gegenüber, gütigen Vater, vor dem ich alles ausbreiten kann, was mich bewegt. Oft verbindet sich mein Erzählen dann mit Bitte und Dank oder auch einer Klage. Das betrachtende Gebet Der Beter betrachtet betend eine Bibelstelle. Eine sehr alte, schon von den Wüstenvätern praktizierte Form dieses Gebets ist die lectio divina („göttliche Lesung“), bei der eine Textstelle in vier Schritten meditiert wird. Das Hören auf Gott und die Antwort des Beters auf das Gehörte sind wichtige Bestandteile dieser Art von Meditation. Es mag so aussehen, als sei diese Form für Kinder nicht geeignet. Eine gemeinsame Bildbetrachtung zu einer biblischen Geschichte geht aber durchaus in diese Richtung. Das kontemplative Gebet stellt keine Alternative dar zu den Wortgebeten, ist auch nicht ein besseres oder wertvolleres Gebet. Es ersetzt die anderen Gebete nicht, sondern ergänzt sie. Es gibt keine Gebetshierarchie, in der man unten beim auswendig gelernten Gebet beginnt und dann über frei das gesprochene und betrachtende Gebet aufsteigt zum Herzensgebet. Je nach Situation und innerem Bedürfnis wird auch jemand, der im Herzensgebet zu Hause ist, immer wieder auf Wortgebete zurückgreifen. Besonders Kinder sollen sich daran gewöhnen, mit Gott zu „sprechen“.

4. Warum sollen Kinder zum Herzensgebet hingeführt werden? Die meisten Kinder spüren das natürliche Bedürfnis, sich ab und zu zurückzuziehen, alleine zu spielen. Dann wollen sie „in Ruhe gelassen“ werden. Unbewusst suchen sie die Balance zwischen Aktion und 17


Kontemplation. Kinder sind geborene „Meditierer“. Vielleicht mahnt Jesus deshalb: „Werdet wie die Kinder!“ Wenn ihr werdet wie die Kinder, wird euch das Himmelreich gehören, das heißt, werdet ihr Gott schauen. Und das Schauen Gottes, die Kontemplation, ist die höchste, die reine Form der Meditation. Je älter das Kind wird, je mehr es „lernt“, je mehr es beginnt, zu benennen, zu beurteilen, zu analysieren, je mehr es zielgerichtet agiert – wohlgemerkt, alles wichtige Fähigkeiten! – desto mehr geht ihm die Fähigkeit verloren, zweckfrei und absichtslos einfach da zu sein. Mühsam übt der Erwachsene das dann in Meditationsseminaren, Exerzitien und Einführungskursen in das kontemplative Gebet wieder ein und stellt fest: Es ist ganz einfach – aber nicht leicht! Doch diese angeborene Fähigkeit zur Meditation können wir beim Kind und mit dem Kind pflegen und fördern, sodass sie ihm mit dem Erwachsenwerden nicht verloren geht, sondern im Gegenteil reift, sich weiter entwickelt. Nun ist das Herzensgebet freilich mehr als die gängigen Formen von Meditationen und Stilleübungen mit Kindern, die bereits in zahlreichen Büchern entwickelt wurden und in vielen Kindergärten und Schulen angeboten werden. Es ist Gebet, Ausrichtung auf Gott, Hinwendung an ein Du, an Jesus Christus. Für Kinder, die in einem christlichen Elternhaus aufwachsen, in dem noch das Tischgebet oder das Abendgebet gepflegt wird, ist das etwas Selbstverständliches. Für Kinder, die von Gott allenfalls im Religionsunterricht etwas hören, ist es neu. Das muss nicht unbedingt ein Nachteil sein. „Niemand weiß, ob es Gott gibt“, sagt die siebenjährige Marie. „Aber es kann auch niemand wissen, dass es ihn nicht gibt.“ Und sie fährt fort: „Manchmal, wenn ich froh bin, glaube ich an ihn. Und manchmal, wenn ich nicht froh bin, glaube ich nicht an ihn.“ Im Herzensgebet wird sie die Erfahrung machen, dass sie sich gerade auch, wenn sie nicht froh ist, an ihn wenden kann. Für sie kann das eine ganz eigene, ganz neue Glaubenserfahrung sein, nicht ein „Dogma“, nicht ein angelernter, gewohnter Glaubenssatz. Während also Stilleübungen, Musikmeditationen, Mandalamalen und Ähnliches gut in Kindergärten und Schulen eingesetzt werden können, um die Kinder ruhig werden zu lassen, ihre Konzentrations18


fähigkeit zu erhöhen, innere Kräfte zu aktivieren, empfiehlt es sich, das Herzensgebet alleine mit einem Kind zu üben. Es gehört zu den intimsten Erfahrungen, die ein Mensch machen kann.

5. Worin unterscheidet sich das Herzensgebet für Kinder von dem für Erwachsene? Das Herzensgebet ist kontemplatives Beten – das gilt für Kinder ebenso wie für Erwachsene. Es geschieht in der Stille, ist mehr ein Horchen als ein Sprechen und verzichtet auf viele Worte. Die Gebetsformel verbindet sich mit dem Atemrhythmus. Irgendwann mündet es vielleicht ganz ins Schweigen vor Gott. In seinem Wesen unterscheidet sich das Herzensgebet für Kinder nicht von dem für Erwachsene. Dennoch gibt es beim Ausüben dieser Gebetsform einige Unterschiede. Grundsätzlich ist beim Kind weniger Strenge und Konsequenz angesagt. Schon als Sechsjährige sagte Marie, als ihr etwas befohlen oder verboten wurde: „Wenn ich will, dann darf ich. Wenn ich nicht will, dann muss ich nicht!“ Sie wird im Laufe ihres Lebens die Erfahrung machen, dass das nicht immer so geht. Aber für das Herzensgebet gilt es: Sie darf meditieren, wann immer sie will. Sie wird aber nie dazu gezwungen, wenn sie nicht will. Für den Erwachsenen heißt „Herzensgebet“ immer wieder auch „Exerzitien“, das heißt: strenges Üben, ob ich Lust habe oder nicht. Oder, wie es ein Exerzitant einmal ausdrückte: „Ob ich meditiere oder nicht, ist nicht verhandelbar.“ Dazu gehört, dass die Meditation ihre feste Zeit und ihren festen Ort hat. Es gibt feste Rituale und ein festgelegtes Gebetswort. Das alles kann beim Kind nicht so konsequent durchgehalten werden. Eine Reihe von Regeln und Richtlinien, die für Erwachsene gelten und auf die in Exerzitien und Einführungskursen immer wieder hingewiesen wird, sind bei Kindern nur sehr bedingt sinnvoll: Die Absichtslosigkeit Das Herzensgebet ist grundsätzlich absichtslos, das heißt, ich erwarte daraus nichts für mich. Die Zeit der Meditation ist eine Zeit, die ich 19


Gott schenke, ist reine Anbetung. Es mag sein, dass eine treu durchgehaltene Gebetspraxis mich mit der Zeit ruhiger, gelassener, ausgeglichener werden lässt. Aber ich meditiere nicht, um ruhiger, gelassener, ausgeglichener zu werden. Anders ist es beim Kind. Ihm kann man durchaus sagen: „Wenn wir das miteinander immer wieder üben, wirst du allmählicher weniger Angst haben …, besser einschlafen können …, nicht mehr so schnell wütend werden …, dir weniger Sorgen machen um …“ – je nachdem, welche Probleme und Nöte das Kind hat. Das innere Wort Der Erwachsene entscheidet sich in seinem Herzensgebet für ein inneres Wort – und bleibt dann dabei. Das Kind hat vielleicht eine kleine Auswahl an Worten, die es je nach Situation beten kann: „Danke, Gott!“, „Jesus, hilf mir!“, „Du bist bei mir!“ … Ohne dass man das unbedingt aussprechen muss, wird das Kind merken: „Jesus, hilf mir!“ ist etwas anderes als „Lass mich eine gute Note schreiben!“ Gott ist ein Helfer, kein Wunscherfüller. Ort und Zeit Während für den Erwachsenen ein fester äußerer Rahmen notwendig und auch hilfreich ist, wäre das Kind damit überfordert. Man kann nicht von ihm verlangen, dass es beispielsweise täglich vor der Schule an seinem Gebetsplatz zehn Minuten meditiert. Die „Übungszeiten“, die es in der Regel zusammen mit dem Begleiter verbringt, sind besondere Zeiten, herausgenommen aus dem Alltag, besonders wertvolle „Extras“. Man kann dafür sogar einen Namen erfinden: „Wir-Zeit“, „Auszeit“, „Miteinander“. Marie erfand dafür das Wort „Unser Treffplatz“. Mit dieser originellen Formulierung ist auch schon eine weitere wichtige Frage angesprochen: die des Ortes. Manche Kinder mögen sich vielleicht in ihrem Zimmer eine Meditationsecke einrichten. Andere scheuen davor eher zurück. In diesem Fall sollte man dennoch mit wenigen Handgriffen für die Zeit der Meditation den Platz gestalten: Kerze, Kinderbibel, Klangschale, ein Gegenstand, der in einer Me20


ditationsübung wichtig war (ein Stein, eine Wurzel …), könnten solche Gestaltungselemente sein. Kinder hingegen, die das Herzensgebet schon eingeübt haben und ihre eigenen Gebetsworte gefunden haben, werden sie bei Bedarf an unterschiedlichen Orten zu unterschiedlichen Zeiten je nach Situation einsetzen können. Dauer „Meditiere mindestens eine halbe Stunde täglich! Wenn du viel zu tun hast, meditiere eine Stunde“, heißt eine Regel in der Erwachsenenmeditation. Das kann natürlich nicht für Kinder gelten. Hier bestimmen die Kinder selbst Tempo, Intensität und Dauer der Meditation. Aufgabe des Begleiters ist es, eine wache Beobachtungsgabe und ein feines Gespür dafür zu haben, was das Kind braucht. Eine Faustregel für die Dauer der Meditation ist: Das Lebensalter in Jahren entspricht der Anzahl der Minuten, die meditiert wird. Das heißt, ein siebenjähriges Kind kann etwa 7 Minuten in Stille meditieren. Begleitung Kinder brauchen eine noch intensivere Begleitung als Erwachsene. Sie brauchen Kontakt, Wärme, Nähe und Sicherheit. Während ich Erwachsene hinausschicken kann in die Natur mit dem Impuls, die reine Wahrnehmung zu üben, werde ich mit dem Kind zusammen hinausgehen und es leise und unaufdringlich mit Fragen und kleinen Impulsen bei seiner Wahrnehmung begleiten. Auch andere Meditationsübungen – das Wahrnehmen des Körpers, des Atems, der Hände – macht der Erwachsene zunächst unter Anleitung, dann aber alleine. Ein Kind hingegen wird man dabei immer begleiten. Es kann durchaus sein, dass das Kind während der Übung auch selbst etwas äußert oder dass sich sogar ein kleines Gespräch ergibt. Unmittelbar nach den Übungen sollte es auf jeden Fall die Möglichkeit für Gespräch und Austausch geben oder die Gelegenheit, etwas von dem Erlebten zu malen und das Bild noch einmal gemeinsam zu betrachten. 21


Der Begleiter spielt also eine ganz zentrale Rolle im Herzensgebet mit Kindern. Selbstverständlich muss es eine dem Kind sehr vertraute Person sein (beispielsweise Eltern, Großeltern oder Paten), die einfühlsam merkt, wie viel Nähe das Kind braucht, wie viele Impulse man geben muss, wie lange das Schweigen dauern kann, wann und wie die Meditationsübung beendet wird und welche Form der „Nachbereitung“ sinnvoll und hilfreich ist.

6. Warum gibt es in diesem Buch so viele Meditationsübungen, die gar nichts mit Gebet zu tun haben? Die Meditationsübungen, die wir auf dem Weg zum Herzensgebet machen, haben nur scheinbar nichts mit Gebet zu tun. Die reine Kontemplation, also das reine Schauen auf Gott, hat ihre Vorstufe beispielsweise im reinen Schauen auf einen Baum. Ohne zu denken, zu benennen, zu beurteilen schaue ich den Baum an und er schaut mich an. In der Natur üben wir das ein, was das Wesen des Herzensgebet ausmacht: das Da-Sein in der Gegenwart, das Schauen und Horchen. Bei der Körperwahrnehmung wiederum spüren wir mit unseren Füßen den Kontakt zur Erde, über unserem Scheitel die Ausrichtung zum Himmel. Wir sind geerdet und „gehimmelt“. Das ist Gebet: Ganz mit Gottes Erde, mit unserer Wirklichkeit verbunden sein und gleichzeitig ganz nach oben, zum Himmel ausgerichtet sein. Beim Atmen nehme ich den Lebensodem wahr, den Gott mir eingeblasen hat, seinen Geist, der mich durchströmt. Wer bei seinem Atem ist, der ist nicht weit von Gott. Und wenn ich in meine Handflächen spüre, spüre ich hin zu den Punkten, wo die Wundmale Jesu sind. Das alles werde ich dem Kind so nicht sagen. Aber intuitiv, auf einer Ebene, die dem Verstand verschlossen ist, wird es etwas davon ahnen.

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