Moltmann, Jürgen: Christliche Erneuerung in schwierigen Zeiten

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JĂźrgen Moltmann

Christliche Erneuerungen in schwierigen Zeiten



Heinrich Bedford-Strohm in Freundschaft



Inhalt

Vorwort

9

Die unvollendete Reformation Ungelöste Probleme – ökumenische Antworten

12

„Lebendiger Gott: Erneure uns!“

40

Kirche in der Kraft des Geistes Die versammelte Gemeinde

68

Ökologie mit Liebe zur Erde Von der Weltherrschaft zur kosmischen Liebe

87

Die Zukunft der Theologie

106

Anmerkungen

124


Kirche in der Kraft des Geistes Die versammelte Gemeinde

I

ch war in meiner Jugend fünf Jahre, von 1953 bis 1958, Gemeindepfarrer und habe die Kirche sozusagen von oben erfahren. Seitdem bin ich Gemeindeglied und sehe die Kirche sozusagen von unten. Aus beiden Erfahrungen ist das, was ich heute über die „Zukunft der Kirche“ sagen kann, entstanden.

Die Gemeinde ist die Kritik der Kirche und ihre Zukunft „Denke global – handle lokal“, haben wir in der Ökologiebewegung gelernt. Das gilt erst recht für das Verständnis der Kirche. Was Du nicht lokal an Deinem Ort tun kannst, sollst Du auch nicht global von der Kirche erwarten. Ich werde darum nicht im globalen Himmel des Heiligen Geistes beginnen, sondern lokal auf dieser Erde bei meiner Gemeinde in Tübingen, der Jakobuskirche in der Altstadt. 68


In Deutschland waren die protestantischen Kirchen bis 1919 Staatskirche. Danach nannten sie sich Volkskirchen. Aber es war und ist noch immer die gleiche Struktur: das parochiale System. Es ist ganz einfach: Als wir nach Tübingen zogen, wohnten wir in der Haußerstraße, also gehörten wir zur Martinskirche; als wir dann in die Biesingerstraße umzogen, gehörten wir zur Stiftskirche. Die Pfarrer haben ihre Bezirke religiös und seelsorgerlich zu betreuen. Das ist die Betreuungskirche, zu der man „gehört“, in die aber manche nur selten „gehen“. Sie ist Bewusstsein des Volkes, präsent bei Taufen, Konfirmationen, Trauungen und Beerdigungen. Geht man zur Kirche, wird man ein Gottesdienstbesucher genannt – so, als wären wir in der Kirche nicht zu Hause, sondern nur „auf Besuch“; geht man zum Abendmahl, wird man als Abendmahlsgast gezählt, so, als gehörte man nicht zur Familie Jesu, sondern wäre nur „zu Gast“. Die Organisation der Betreuungskirche ist im protestantischen Deutschland die Landeskirche. Sie stammt aus dem 16. Jahrhundert und ist dem Prinzip cuius regio, eius religio geschuldet: Ein Landesfürst, eine Landesreligion, eine Landesuniversität, eine theologische Fakultät. Wenn Sie auf die Landkarte der protestantischen Landeskirchen in Deutschland schauen, können 69


Sie unschwer die deutschen Kleinstaaten aus dem 19. Jahrhundert entdecken. Politisch leben wir heute vereint im Land Baden-Württemberg, kirchlich aber sind Württemberg und Baden getrennt. Das ist in Nordrhein-Westfalen genauso. Eine erste Durchbrechung dieses landeskirchlich-parochialen Systems geschah in der Nazidiktatur, als die „Deutschen Christen“ mithilfe der Nazipartei viele Landeskirchen eroberten und deutsch-christliche Bischöfe einsetzten. Der Widerstand gegen diese „Gleichschaltung“ formierte sich in den Gemeinden der Bekennenden Kirche. Ich sage bewusst „Gemeinden“, denn die „Bekennende Kirche“ war in freiwilligen Gemeinden organisiert. Sie bezahlten zum Teil ihre Bekenntnispfarrer und Vikare selbst und organisierten sich in Bruderräten: im Gemeindebruderrat, Landesbruderrat und im Reichsbruderrat. Das war die kirchlich-demokratische Alternative zum autoritären Führerprinzip der Nazidiktatur. Zum ersten Mal in ihrer 400-jährigen Geschichte gab sich die protestantische Christenheit in Deutschland ihre eigene, vom Staat unabhängige und zum Nazistaat widerständige Verfassung. Das ist nach der Barmer Theologischen Erklärung der Synode in Berlin-Dahlem im Herbst 1934 zu verdanken. 70


Diese selbstständigen und widerständigen Gemeinden der Bekennenden Kirche waren durch ihre bloße Existenz die Kritik an der politisch gleichgeschalteten Kirche. Sie waren der Stachel im Fleisch der angepassten Kirchen und die Zukunftsverheißung der Kirche Jesu Christi in Deutschland. Der deutsche Kirchenkampf zwischen der von den Nazis beherrschten deutschen Nationalreligion und den Christus bekennenden Gemeinden war konkret lokal und hatte doch universale Bedeutung für die ganze Christenheit auf Erden. Damit komme ich zur Gegenwart und zu der Jakobusgemeinde in Tübingen. Zugleich etwa mit mir kam Pfarrer Karlfried Schaller nach Tübingen und bekam die alte Jakobuskirche in der Altstadt. Er fand dort im Gottesdienst nur etwa 20 alte Einwohner aus seinem Bezirk vor. Dann aber beschloss sein Gemeinderat: „Das Ziel aller Bemühungen soll sein, dass möglichst viele Menschen durch eine einladende Gemeinde zu einem persönlichen Verhältnis zu Jesus als dem Christus gelangen.“ Diese Vision wurde durch folgende Regeln realisiert: • Anerkennung des allgemeinen Expertentums jedes/jeder Gläubigen. 71



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