Onora O’Neill zählt zu den wichtigsten Stimmen der politischen Philosophie unserer Zeit. Der Kantischen Tradition eng verbunden, sucht sie in ihrem Buch sowohl Gerechtigkeits- als auch Tugendprinzipien zu begründen. Beide nehmen ihren Ausgang beim Handelnden und seinen Pflichten. Gerechtigkeit verlangt die Verhinderung jeglicher Verletzung von Personen, Tugend verbietet Gleichgültigkeit angesichts fremder Not. In der globalisierten Welt sind alle Akteure nicht mehr nur auf lokaler, sondern auch auf globaler Ebene in der Pflicht. Daraus folgt, dass die Bekämpfung von Armut, Machtmissbrauch und Unterdrückung in allen Teilen der Welt kein Akt der Güte, sondern vielmehr moralische Pflicht ist. Onora O’Neill wurde 1941 in Nordirland geboren. Sie ist emeritierte Professorin für Philosophie an der Universität Cambridge und als Baroness O’Neill of Bengarve Mitglied des britischen Oberhauses. 2017 wurde sie mit dem HolbergPreis ausgezeichnet.
O N O R A O’N E I L L
Pflichten in der globalisierten Welt Aus dem Englischen übersetzt von Elisabeth Liebl
Titel der englischen Originalausgabe: Justice Across Boundaries. Whose Obligations? © Onora O’Neill 2016 Die Übersetzung erfolgte in Abstimmung mit Cambridge University Press.
Copyright der deutschen Ausgabe © Claudius Verlag, München 2019 www.claudius.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden. Umschlaggestaltung: Weiss Werkstatt, München Layout: Mario Moths Gesetzt aus der Palatino und Trade Gothic Druck: GGP Media GmbH, Pößneck ISBN 978-3-532-62836-2
INHALT
Dank
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Einführung
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Teil I Grenzüberschreitender Hunger
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1 Rettungsboot Erde
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2 Rechte, Pflichten und der Hunger in der Welt
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3 Recht auf Entschädigung
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Teil II Grenzüberschreitende Rechtfertigungen 4 Gerechtigkeit und Grenzen
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5 Ethische Überlegungen und ideologischer Pluralismus
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6 Begrenzte und kosmopolitische Gerechtigkeit
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7 Pluralismus, Positivismus und die Rechtfertigung der Menschenrechte
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Teil III Grenzüberschreitendes Handeln
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8 Von Edmund Burke bis zu den Menschenrechten im 21. Jahrhundert
202
9 Von einer staatsorientierten zu einer globalen Konzeption der Gerechtigkeit
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10 Globale Gerechtigkeit: Pflichten in der globalisierten Welt
233
11 Akteure der Gerechtigkeit
259
12 Die dunkle Seite der Menschenrechte
282
Teil IV Grenzüberschreitende Gesundheit
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13 Gesundheitswesen oder Medizinethik: über Grenzen hinaus gedacht
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14 Erweiterung der Bioethik: Medizinethik, öffentliche Gesundheit und globale Gesundheit
326
Anmerkungen
345
Namensregister
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Dank Ich bin vielen Freunden, Kollegen und Studenten unendlich dankbar, aber auch meinen Lesern in aller Welt, die mein Nachdenken Ăźber Gerechtigkeit und ihre Grenzen in den letzten Jahrzehnten kommentiert und dadurch vertieft haben.
Kapitel 14, „Erweiterung der Bioethik: Medizinethik, öffentliche Gesundheit und globale Gesundheit“, untersucht, ob Maßnahmen des öffentlichen Gesundheitswesens wirklich „globale öffentliche Güter“ sind, an denen jeder ein Interesse hat. Dort wird argumentiert, dass viele Maßnahmen des öffentlichen Gesundheitswesens, auch solche, die auf bestimmte Gruppen abzielen, positive externe Effekte haben können. Trotzdem sind sie keine genuin globalen Güter. *** Die hier vorgelegten Aufsätze kritisieren bestimmte Auffassungen von den Menschenrechten, doch sie gehen davon aus, dass diese Rechte für die Gerechtigkeit von entscheidender Bedeutung sind. Dabei kritisiere ich vor allem jene Konzeptionen von Menschenrechten, die sich über die Akteure, denen die Gerechtigkeit überantwortet wird, nicht weiter auslassen bzw. über deren spezifische Pflichten. Konzeptionen, die all diese Pflichten ungeprüft den Staaten anlasten. In meinen Augen nehmen wir die Rechteperspektive nicht ernst genug, wenn wir nicht zeigen, wer genau was für wen tun soll. Und die Pflichten, die wir ausschließlich dem Staat zuweisen, sind typischerweise solche zweiter Ordnung, zu deren Umsetzung es andere personelle oder institutionelle Akteure braucht. Mir ist nur zu klar, dass die vielen Kollegen, Studenten und Zuhörer, denen ich diese Gedanken vorgetragen habe, meines Refrains mittlerweile vielleicht überdrüssig sind, aber ich bleibe in dieser Hinsicht unbußfertig.
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Entscheidungstheoretiker hinsichtlich der Möglichkeiten, das Glück zu vermessen, wissen wir, dass wir Glück nie exakt vorhersagen oder messen oder akkumulieren können.
Genauigkeit, Exaktheit und Bedürfnisse
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Und doch lassen sich anscheinend ungefähre Einschätzungen menschlichen Glücks vornehmen. Vielleicht ist das ja auch ausreichend. Schließlich brauchen wir ja keine hundertprozentige Präzision, sondern nur eine vertretbare (wenn auch vage) Genauigkeit. Wir wissen, dass Hunger und Armut zu Elend führen und dass dieses Elend beendet wird, wenn es genug zu essen gibt. Müssen wir denn wirklich mehr wissen? Wenn wir Utilitarier sind, müssen wir sehr viel mehr in Erfahrung bringen. Wir müssen nicht nur wissen, welche allgemeinen Resultate wir anstreben sollten, sondern auch, welche Mittel dazu geeignet sind. Da schon winzige Änderungen im Verhalten und in der Politik die Ergebnisse massiv beeinflussen können, müssen wir einen exakten Vergleich vieler Resultate vornehmen. Dies zeigen schon die vielen Beispiele, wie wohltätige Aktivitäten zu nicht erwarteten Ergebnissen geführt haben. Viele Entwicklungshilfemaßnahmen zur Nahrungsversorgung haben denjenigen, denen sie helfen sollten, tatsächlich geschadet und Menschen, die nicht zu den Ärmsten der Armen zählen, genützt. (Damit soll nicht gesagt werden, dass wir auf Nahrungsmittellieferungen verzichten sollten – vor allem nicht in Zeiten von Hungersnöten –, doch sie reichen nicht aus, um das Elend zu beenden, und können, so sie fehlgeleitet werden, auch schaden.) Einige Entwicklungshilfemaßnahmen, die den Lebensstandard durch Anbau von Getreidesorten, die auf den Märkten hohe Preise erzielen, heben sollten, haben die Lebensgrundlage von Subsistenzbauern zerstört und die ärmsten Schichten noch ärmer gemacht. Von Entwicklungshilfe profitieren häufig jene, die Hilfe nicht so dringend benötigen
würden, manchmal auch schlicht die Korruptesten im Land. Die Allgegenwart der Korruption zeigt auch, wie wichtig es für Utilitarier ist, exakte Vorhersagen darüber zu treffen, wie sich das menschliche Glück steigern lässt. Gute Absichten sind wohlfeil, aber eine Strategie der Wohltätigkeit lässt sich nicht festlegen, wenn wir die Resultate nicht exakt vorhersagen und vergleichen können. Um ihre Berechnungen anzustellen, brauchen die Utilitarier nicht nur exakte Messmethoden für Glück, sondern auch exakte Vorhersagen der Resultate, die die einzelnen Maßnahmen bewirken. Sie brauchen jene Art umfassender und vorhersagestarker Sozialwissenschaften, die viele Forscher anstreben, ohne sie aber bis dato erreicht zu haben. Im Moment lassen sich nicht einmal die grundlegendsten Meinungsverschiedenheiten zwischen rivalisierenden Utilitariern lösen. Wir können nicht nachweisen, ob Glück gesteigert wird, indem wir in unserem unmittelbaren Umfeld, wo wir persönlich einschreiten können, Wünsche erfüllen (auch wenn diese Wünsche nicht unbedingt echte Bedürfnisse darstellen). Oder ob wir unsere Hilfeleistungen auf die Bedürftigsten konzentrieren sollten. Tatsächlich wissen wir häufig zu wenig, um auch nur exakt vorhersagen zu können, welche Maßnahmen der öffentlichen Hand den Ärmsten zugutekommen würden. Und selbst wenn die Utilitarier jene exakten Methoden zur Vorhersage und Kalkulation entwickeln würden, die im Moment noch fehlen, könnte es sein, dass die Resultate den Armen keine Hilfe bringen. Denn utilitaristisches Denken legt keinen sonderlichen Wert auf menschliche Bedürfnisse. Das Glück, das aus der Wunscherfüllung für die Menschen in unserem Umfeld entsteht – selbst wenn dies Wünsche nach Gütern sind, die sie nicht wirklich brauchen –, zählt genauso viel oder mehr als das Glück, das aus der Beendigung echten Leids entsteht. Alles, was zählt, ist die Intensität des Wunsches. Wenn die Bedürftigsten so schwach und apathisch sind, dass sie keine starken Wünsche mehr haben oder sich Dinge wünschen, die in ihre Realität pas-
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sen, dann könnten im utilitaristischen Kalkül ihre Bedürfnisse sogar eher weniger zählen als mehr. Außerdem wissen wir, dass Wohltätigkeit, die zu Hause anfängt, wo die Wünsche der anderen für uns deutlich sichtbar sind, so viele Empfänger findet, dass sie auch zu Hause endet. Wenn Bedürfnissen im ethischen Denken nicht bestimmte Prioritäten zugewiesen werden, gehen sie möglicherweise unter. Das utilitaristische Denken lässt also viele Probleme ungeklärt und ungelöst. War es wohltätig, riesige Summen an Entwicklungshilfe als Darlehen zu vergeben, obwohl die steigenden Zinssätze einen Großteil der Exporteinnahmen armer Länder auffressen? Die aktuell reichen Länder haben sich entwickelt zu einer Zeit, als die Zinssätze niedriger und stabiler waren: Heute aber kontrollieren sie die Grundregeln einer Weltwirtschaft, die den armen Ländern nicht dieselben Entwicklungschancen lässt. Hat es das Glück maximiert, den armen Ländern unter diesen Bedingungen Darlehen zu geben? Oder wäre das Glück größer, wenn sie eher kleinteilige Investitionen vor Ort genützt hätten? Oder würden die Kosten des so verlangsamten Wachstums das Elend im Land allgemein vergrößert haben, was sich mit Darlehen, selbst zu höheren Zinssätzen, hätte vermeiden lassen? Das sind bittere Fragen, und ich kenne darauf keine allgemeine Antwort und auch keine länderspezifische Antwort. Ich werfe sie hier nur auf, um die Schwierigkeiten zu veranschaulichen, die sich bei der Entscheidung für richtige oder falsche Handlungsweisen ergeben, wenn man sich auf Vorhersagen und Kalkulationen über maximales Glück verlässt.
Die Menschenrechtsbewegung Die Schwierigkeiten des utilitaristischen Denkens scheinen größtenteils aus seiner ehrgeizigen Zielsetzung zu erwachsen. Der Utilitarismus versucht, die ganze Moral einem einzigen Prinzip unterzuordnen. Dies soll gewährleisten, dass unser Handeln
(und unsere Politik) nicht nur richtig, sondern auch das bestmögliche oder optimale ist. Daher könnte es eine Alternative sein, auf weniger abzuzielen. Zum Beispiel, indem man nach Prinzipien sucht, nach denen man Handlungen beurteilen kann, und dann jene ablehnt, die falsch sind, statt sich große Ziele zu setzen, die nur jene Handlungen und Strategien zulassen, die optimale Resultate bringen. Der am weitesten verbreitete zeitgenössische Ansatz dazu ist in der Menschenrechtsbewegung zu finden. Die Rhetorik der Rechte ist momentan allgegenwärtig. Wir kennen ihre Quellen, die größtenteils auf großen historischen Entwürfen des 18. Jahrhunderts beruhen: Thomas Paines The Rights of Man und die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte in den USA und in Frankreich. In jüngerer Zeit gründet sich der Anspruch auf Menschenrechte auf die Zeit nach dem 2. Weltkrieg, als man bemüht war, Grundlagen für eine neue internationale Ordnung zu schaffen und 1948 die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen verfasste. In den folgenden Jahrzehnten gewann die Menschenrechtsbewegung weltweit an Einfluss, sodass heute ethische Forderungen in allen, den Menschen betreffenden Angelegenheiten als Frage des Respektierens von Rechten konstruiert werden.
Freiheitsrechte und soziale oder „Wohlfahrts“-Rechte Im Rahmen dieser Rechtedebatten gab es bis heute andauernde Meinungsverschiedenheiten über die Anzahl der Rechte, die als gerecht gelten dürfen. Einige Denker des rechten Flügels gehen, allgemein gesprochen, davon aus, dass es nur Freiheitsrechte gibt und dass unsere Pflichten im Grunde nur darin bestehen, die Freiheit des anderen nicht einzuschränken. Andere Vertreter der Rechte-Frage sind hingegen der Ansicht, es gäbe auch soziale oder „Wohlfahrts“-Rechte, also positive Verpflichtungen, anderen zu helfen und beizustehen. Die Vordenker der Freiheitsrechte
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richten ihr Augenmerk auf ein angebliches Recht auf Leben, Freiheit und das Streben nach Glück, wozu auch eine vollkommen deregulierte Wirtschaft zählt. Aus dieser Perspektive wäre es ungerecht, sich in die Ausübung demokratischer politischer Rechte oder (voller) kapitalistischer Wirtschaftsrechte einzumischen oder sie gar zu beschränken. Wer hingegen für soziale oder „Wohlfahrts“-Rechte eintritt, verweist auf das Recht auf Nahrung, Gesundheitsfürsorge oder Sozialleistungen. Da das Recht auf unregulierte ökonomische Aktivität sich damit nicht vereinbaren lässt, lehnen sie deregulierte wirtschaftliche Rechte ab. Diese Meinungsverschiedenheiten lassen sich nicht klären durch Rückgriff auf historische Schriftstücke. Die Erklärung der Vereinten Nationen war ein politischer Kompromiss und tritt rigoros für die Verleihung aller möglichen Rechte ein. Die Verfechter der Freiheitsrechte finden daher, dass diese Dokumente einige recht fadenscheinige Rechte begründen, die nichts mit Gerechtigkeit zu tun haben und mit ihr auch nicht vereinbar sind. Doch wir sollten nicht vergessen, dass dieser politische Kompromiss tatsächlich von nahezu allen Regierungen akzeptiert wurde, die dann prima facie in ihre Institutionen vertragliche Verpflichtungen aufnahmen, die sowohl Freiheits- als auch soziale oder „Wohlfahrts“-Rechte verleihen.
Menschliche Rechte und menschliche Bedürfnisse Für die Armen ist es von entscheidender Bedeutung, welche Interpretation der Rechte als Leitlinie für politisches Entscheiden und Handeln akzeptiert wird. Wenn die Menschenrechte durchweg Freiheitsrechte wären, dann würde den Armen und Hungernden Gerechtigkeit widerfahren, wenn man eine Laissezfaire-Politik betreibt: In diesem Fall würden Freiheiten nicht eingeschränkt und der Gerechtigkeit wäre gedient. Diese Position kann sehr harte Konsequenzen haben, geht sie doch davon aus,
dass die ökonomischen Auswirkungen von individuellem oder unternehmerischem Handeln, falls keine Freiheitsrechte verletzt werden, gar nicht ungerecht sein können, selbst wenn dieses Handeln die Wirtschaft zugrunde richtet, von der viele Menschen abhängen und damit auch viele Leben, und zudem keinerlei Netz aus sozialen oder „Wohlfahrts“-Rechten bereitstellt. Härten, die sich einstellen, weil Zinssätze und Rohstoffpreise schwanken, wären nicht ungerecht, wenn keinerlei Freiheiten eingeschränkt worden sind. Wenn aber die Menschenrechte bestimmte soziale und ökonomische Rechte einschließen, zu denen auch das Recht auf soziale Fürsorge gehört, dann fordert die Gerechtigkeit von uns, dass wir uns dieser Bedürfnisse annehmen. Zum Beispiel: Wenn es ein Recht auf Nahrung oder ein Existenzminimum gibt, dann wäre es ungerecht, diese Bedürfnisse nicht zu erfüllen und die wirtschaftlichen Aktivitäten nicht zu regulieren, wenn diese die Erfüllung dieser Bedürfnisse verhindern. Doch jeder Anspruch auf soziale oder „Wohlfahrts“-Rechte bleibt rein rhetorisch, wenn er sich nicht an einen Gegenpart richtet, dessen Pflichten gerechtfertigt sind und diese Pflichten auf Menschen bzw. Institutionen verteilt werden, die sie auch erfüllen können. Wo es aber um die realen Anforderungen der Rechte, für die sie eintreten, geht, reagieren viele Parteigänger der Menschenrechte eher ausweichend. Es ist bedeutsam und keineswegs belanglos, dass es keine Menschenpflichtsbewegung gibt.
Rechte, Freiheiten und Autonomie Diese Auseinandersetzungen können nicht geklärt werden, ohne zu zeigen, welche Rechte es tatsächlich gibt. Die Pioniere des 18. Jahrhunderts gingen ja häufig davon aus, dass bestimmte Rechte sich von selbst verstehen. Dieser Anspruch erscheint heute fast unverschämt und kann die Meinungsverschiedenheiten zwischen den Verfechtern der verschiedenen Rechte nicht lösen. Ein häufig vorgebrachtes Argument, das diese Probleme
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lösen soll, geht davon aus, dass Menschenrechte kollektiv den höchstmöglichen Ausdruck entweder der menschlichen Freiheit oder der menschlichen Autonomie darstellen. Doch selbst wenn wir es rechtfertigen könnten, dass (eine bestimmte Konzeption von) Freiheit oder Autonomie die grundlegendste aller moralischen Fragen ist, dann weisen die beiden Aspekte immer noch in vollkommen unterschiedliche Richtungen beim Thema, welche Rechte es nun tatsächlich gibt. Kein Wunder also, dass die Verfechter dieser Ansprüche sich nicht auf eine gemeinsame Liste von Rechten bzw. auf die richtige Interpretation der Menschenrechte einigen können. Wer die Freiheit für grundlegend hält, verstanden als bloße „negative“ Nicht-Einmischung seitens anderer, erkennt nur Freiheitsrechte an. Die Idee von teilbaren Freiheiten würde sofort in sich zusammenfallen, sobald wir Rechte auf Hilfen oder Dienstleistungen in unseren Katalog mit aufnehmen, denn die Pflichten, die diese sozialen Rechte Realität werden lassen, vertragen sich nicht mit den Handlungsrechten, die die grundlegendsten Freiheitsrechte schützen sollen. Wenn wir die Pflicht haben, für alle, die es nötig haben, Nahrung zur Verfügung zu stellen, können wir nicht das unbeschränkte Recht ausüben, mit den Nahrungsmitteln, die uns gehören, zu tun, was wir wollen. Bestenfalls können bestimmte Gesellschaften ihre Freiheitsrechte nutzen, um institutionalisierte Rechte auf bestimmte Leistungen – für Bildung, Wohlfahrt, gesundheitliche Versorgung – einzuführen, wie dies ja auch die meisten wirtschaftlich entwickelten Staaten getan haben. Doch ein institutionalisiertes Recht ist kein Naturrecht oder Menschenrecht. Und die sozialen oder „Wohlfahrts“-Rechte, die in entwickelten Ländern den Institutionen übertragen wurden, haben keine Auswirkung auf Hunger oder Armut in Staaten, wo diese Rechte keinen Eingang in die Institutionen gefunden haben. Wer hingegen annimmt, dass Autonomie (oder in manchen Versionen auch „Würde“) zentral ist und nicht die simple Nicht-Einmischung, akzeptiert bestimmte soziale Rechte
auf Güter und Dienstleistungen, zum Beispiel das Recht auf ein Existenzminimum. Denn ohne angemessene Nahrung und Unterbringung geht die menschliche Autonomie zugrunde, womit auch Freiheitsrechte sinnlos wären. Doch die Verfechter des Rechts auf ein Existenzminimum haben bisher keine überzeugenden Argumente vorgelegt, wer nun die Verpflichtung übernehmen soll, für andere den Lebensunterhalt bereitzustellen. Doch diese Frage ist die allerwichtigste, wenn das „Recht auf Lebensunterhalt“ die menschlichen Bedürfnisse tatsächlich decken soll.
Rechte und Wohltätigkeit Einige der Parteigänger der Menschenrechte gehen, vor allem, wenn sie einen libertären Ansatz verfolgen, davon aus, dass wir uns nicht weiter darum kümmern sollten, wenn Theorien von Rechten die menschlichen Bedürfnisse vernachlässigen. Wir sollten doch im Hinterkopf behalten, dass Gerechtigkeit nur ein Teil der Ethik ist, die auch weiterreichende Verpflichtungen umfasst wie die zur Barmherzigkeit und Wohltätigkeit. Die Vorstellung, dass die Bedürfnisse der Armen durch Wohltätigkeit erfüllt werden könnten, finden viele Menschen reizvoll. Im Kontext einer Theorie der Menschenrechte aber wirkt sie wenig überzeugend. Allein die Idee der Rechte untergräbt den Status der Wohltätigkeit, denn diese wird gewöhnlich nicht als Verpflichtung betrachtet, sondern als etwas, das wir tun oder lassen können, oder gar (was noch weniger plausibel ist) schlicht als „gutes Werk“. Solch eine Sicht der Hilfe für die Bedürftigen ist für die „Besitzenden“ dieser Welt natürlich sehr bequem, weil sie ihnen suggeriert, dass sie über ihre Pflichten hinausgehen und etwas wirklich Gutes tun, wenn sie anderen überhaupt helfen. Für die „Nicht-Besitzenden“ hingegen ist sie schädlich und deprimierend, weil sie vor diesem Hintergrund keinen Anspruch auf Hilfe haben, da er ihnen ja nicht als Recht
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zuerkannt wird. Sie können nur hoffen, dass jemand ihnen helfen wird. Und was dabei getan wird, ist gewöhnlich erschreckend unzulänglich.
Menschliche Handlungen, Rechte und Pflichten
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Gerechtigkeit muss weder in den Begriffen der Menschenrechtsbewegung noch in denen der Utilitarier verstanden werden, die Gerechtigkeit nur als einen Aspekt unter vielen sehen, der zum menschlichen Glück beiträgt. Eine andere Herangehensweise wäre es, Verpflichtungen oder Pflichten, anstelle der Rechte, als grundlegend zu erachten. Dies war ein durchaus üblicher Ansatz für ethische Fragen, sowohl vor der Herausbildung der christlichen Tradition als auch danach. Rechte sind sozusagen die Emporkömmlinge in der moralischen Diskussion, die erst im 18. Jahrhundert die Bühne betraten. Dasselbe gilt auch für das individuelle Glück als Maßstab für moralisches Handeln. Beiden Ansätzen liegt ein reichlich passives Menschenbild zugrunde. Besonders deutlich wird das in der utilitaristischen Vorstellung vom Menschen als Träger von Schmerz und Vergnügen. In der Menschenrechtstheorie tritt dieses passive Bild von Männern und Frauen schon weniger scharf hervor. Ganz im Gegenteil, die Hinwendung zu den Rechten wird mitunter verteidigt durch Verweis auf die aktivere Rolle, die die Ohnmächtigen hier einnehmen, können sie sich selbst doch als Träger von Ansprüchen sehen, die ihnen vorenthalten werden, statt sich im traditionell-feudalen Rahmen als bescheidene Bittsteller erleben zu müssen. Es ist schon richtig, dass die Menschenrechtsbewegung ein aktiveres Menschenbild vertritt, als Utilitaristen oder Wohlfahrtstheoretiker dies tun. Aber sie sieht sie eben immer noch nicht vollständig als Akteure an. Denn wer einen Anspruch erhebt, will ja andere dazu bringen, etwas zu tun. Wenn wir unsere Freiheitsrechte einfordern, verlangen wir als Erstes, dass an-
dere etwas tun, um uns den Raum und die Möglichkeiten zu geben, innerhalb derer wir dann handeln können oder auch nicht. Fordern wir unsere sozialen Rechte ein, dann müssen wir uns überhaupt nicht als Handelnde sehen, denn es sind ja andere, denen die korrespondierende Pflicht obliegt, etwas zu tun. Sehen wir aber im Gegensatz Pflichten als grundlegend an, dann wenden wir uns an jene, die den Wandel schaffen oder verweigern können – eben jenes Publikum, das die Rechte-Verfechter nur indirekt ansprechen. Die französische Philosophin Simone Weil, die ihre Werke während des 2. Weltkriegs verfasst hat, schreibt in Die Einwurzelung: 65
Der Begriff der Verpflichtung hat den Vorrang vor dem des Rechtes, der ihm untergeordnet und von ihm abhängig ist. Ein Recht ist nicht wirksam durch sich selbst, sondern einzig durch die Verpflichtung, der es entspricht; die tatsächliche Erfüllung eines Rechtes geschieht nicht durch den, der es besitzt, sondern durch die anderen, die ihm gegenüber eine Pflichtleistung ihrerseits anerkennen.26 Wir wissen nicht, worauf ein Recht hinausläuft, bevor wir nicht wissen, wer die Verpflichtung hat, was für wen unter welchen Umständen zu tun. Wenn wir versuchen, in puncto Rechte Klartext zu reden, müssen wir über Verpflichtungen sprechen. Die grundlegende Schwierigkeit mit der Rhetorik der Rechte ist, dass sie nur einen Teil – den ohnmächtigeren Teil – des relevanten Publikums anspricht. Diese Rhetorik mag Resultate bringen, wo die Armen nicht völlig machtlos sind. Wo sie es aber sind, bringt die Einforderung von Rechten herzlich wenig. Wo die Armen machtlos sind, müssen die Mächtigen überzeugt werden, dass sie Verpflichtungen haben – ob die Menschen die Erfüllung dieser Pflichten nun als Recht einfordern oder nicht. Eine Ethiktheorie, die sich auf das Handeln konzentriert, sollte daher eher Verpflichtungen als Rechte rechtfertigen.
Die Pflichten der Gerechtigkeit
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Eine Theorie der Pflichten kann bei Überlegungen zum Welthunger nur dann Sinnvolles beitragen, wenn es möglich ist zu zeigen, welche Pflichten Menschen haben. Die Mühe, dies ohne Rückgriff auf theologische Grundlagen zu tun, hat im 18. Jahrhundert Immanuel Kant auf sich genommen. Kants Arbeit gilt manchen als Menschenrechtstheorie. Das mag daran liegen, dass er seine Argumente auf eine Konstruktion gründet, die analog bei der Einschätzung der Menschenrechte als Ausdruck maximaler menschlicher Freiheit oder Autonomie Anwendung fand. Denn er fragt danach, welche Handlungsmaxime von allen Akteuren geteilt werden kann. Die grundlegenden Handlungsmaximen müssen teilbar sein. Es geht nicht an, dass Prinzipien nur für einige Privilegierte da sind. Kants Methode, die Prinzipien der Pflichten festzulegen, lässt sich nicht auf die oberflächlichen Details des Handelns anwenden: Wir können nicht das Getreide verzehren, das jemand anderer isst, oder alle unter demselben Dach leben. Aber wir können versuchen, darauf zu achten, dass die grundlegendsten Maximen unseres Lebens und unserer Institutionen von allen geteilt werden können, und dann ausarbeiten, was diese Maximen für jeweils einzelne Situationen bedeuten. Das Kantische Prinzip liefert einige interessante Schlussfolgerungen im Hinblick auf menschliche Verpflichtungen. So gehört zu den Pflichten der Gerechtigkeit, die dieses Prinzip fordert, zum Beispiel die Freiheit von Zwang. Denn ein grundlegendes Prinzip des Zwanges kann nicht von allen geteilt werden, da jene, die gezwungen werden, letztlich am Handeln gehindert werden und daher dieses Prinzip des Handelns nicht teilen können. Zwang, so könnten wir mit Kant sagen, ist nicht universalisierbar. Doch dieses Argument allein sagt uns noch nicht, was die Freiheit von Zwang in bestimmten Situationen erfordert. Offensichtlich schließt es viele Dinge aus, die auch die Beachtung der Freiheitsrechte ausschließt. So schließt das Prinzip
der Freiheit von Zwang aus, dass wir andere töten, verletzen, angreifen und bedrohen. Dieses Spektrum von Pflichten, die sich aus dem Prinzip der Freiheit von Zwang ergeben, sind für die Wohlhabenden genauso bedeutsam wie für die Hungernden. Andere Aspekte dieses Prinzips sind hingegen hauptsächlich für die Hungernden von Belang. Wer also auf ein solches Prinzip abzielt, muss sich klar machen, dass es immer vergleichsweise einfach ist, jene zu zwingen, die schwach oder verletzlich sind, und zwar auch durch Aktivitäten, die für die wohlhabenderen oder mächtigeren Menschen keinerlei Zwang bedeuten würden. Wollen wir Zwang vermeiden, dann geht es dabei nicht um eine kurze Liste von Einmischungen in anderer Leute Tun, wie der Rechte-Ansatz uns dies nahelegt. Zwang zu vermeiden heißt sicherzustellen, dass wir in unserem Umgang mit anderen diesen den Raum lassen, die angebotenen Chancen und Möglichkeiten wahrzunehmen oder auch nicht. Dies zeigt auch, warum die Betonung der Pflicht, keinen Zwang auszuüben, so aussagekräftig ist, wo es um unseren Umgang mit den Armen und Schwachen geht: Sie sind nun einmal leichter zu etwas zu zwingen. Wir können ihnen mit größter Leichtigkeit „Angebote machen, die sie nicht ablehnen können“.27 Chancen, die unter Gleichgestellten durchaus echte Angebote darstellen können, die diese annehmen oder zurückweisen können, sind für die Bedürftigen und Schwachen bedrohlich oder eben nicht abweisbar. Wer verwundbar ist, kann durch ganz normale wirtschaftliche oder gesetzliche Maßnahmen Schaden erfahren: durch Geschäftsabschlüsse, die gefährliche industrielle Prozesse im Lebensraum der Armen installiert; durch massive politische Zugeständnisse, die für Investitionen oder angebliche Entwicklungshilfe gefordert werden; durch brutale wirtschaftliche Auflagen für „Entwicklungshilfe“ wie zum Beispiel unnötige Importe von der „Geber“-Nation. Arrangements dieser Art üben Zwang aus, selbst wenn sie nach außen hin den Regeln wirtschaftlichen und gesetzlichen Handelns gehorchen. Diese Regeln wurden für Parteien ge-
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macht, die in etwa über dieselbe Machtfülle verfügen. Doch genügen sie unter Umständen nicht, um die Machtlosen zu schützen. Daher müssen sowohl Individuen als auch Institutionen wie Unternehmen und Regierungen (im Norden wie im Süden), aber auch Hilfsorganisationen hohe Standards erfüllen, wenn sie den Schwachen nicht durch ganz normale gesetzliche, diplomatische und wirtschaftliche Maßnahmen schaden wollen. Wirtschaftliche oder materielle Gerechtigkeit kann nicht erzielt werden, ohne darauf zu achten, dass institutionalisierte und individuelle Formen des Zwangs vermieden werden. Eine zweite grundlegende Pflicht der Gerechtigkeit ist die, auf Täuschung zu verzichten. Auch ein Prinzip der Täuschung wäre nicht universalisierbar, weil die Opfer eines Betrugs – wie die Opfer von Zwang – letztlich daran gehindert werden, das Handlungsprinzip des Täters zu teilen, das ihnen ja verborgen bleibt. Da die Pflicht zur Freiheit von Täuschung jedoch für alles öffentliche und politische Leben von Belang ist und nicht nur für die Armen, die Hungernden und die Schwachen gilt (auch wenn sie am leichtesten zu täuschen sind), werde ich mich mit diesem Prinzip hier nicht weiter beschäftigen.
Pflichten: Nothilfe, Entwicklung und Respekt In einem Rahmen, in dem Rechte als grundlegend gelten, werden all unsere moralischen Pflichten unter der Überschrift „Gerechtigkeit“ subsumiert. Ein Pflichtenansatz vom Kantischen Typ hingegen kann auch Verpflichtungen rechtfertigen, die keine Gerechtigkeitspflichten sind und deren Erfüllung nicht als Recht eingefordert werden kann. Manche Arten von Handlungen können nicht für alle anderen vollzogen werden, daher können sie keine universelle Pflicht sein oder entsprechende Rechte begründen. Und doch sind sie nicht von einer bestimmten Beziehung abhängig, sodass sie auch nicht zum Gegenstand einer speziellen, institutionellen Pflicht werden