Pilgern quer durch’s Jahr 12 Wege für die Seele
Quellen: Die Bibeltexte entnahm ich der Bibel nach Martin Luthers Übersetzung – Lutherbibel revidiert 2017: Standardausgabe, Stuttgart 2016 Das Gedicht Stufen findet sich in Hermann Hesses Roman „Das Glasperlenspiel“, Frankfurt/Main 2012, 7. Auflage
Copyright © Claudius Verlag, München 2019 www.claudius.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden. Umschlaggestaltung: Weiss Werkstatt, München Umschlagfoto: © plainpicture/Narratives/Jan Baldwin Layout: Weiss Werkstatt, München Gesetzt aus der Stempel Garamond und ITC Officina Sans Druck: Finidr, s.r.o., Cěský Těšín ISBN: 978-3-532-62841-6
Inhalt
Vorwort
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Pilgern in den Frühling hinein Auf_brechen: Mit dem ersten Schritt gibst du dem Leben eine Richtung
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Emmauspilgern an Ostermontag „Brannte nicht unser Herz?“
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Pilgern auf dem „Weg des Buches“ Auf den Spuren von Schmugglern, Unterdrückten und Geflohenen
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Vier-Elemente-Pilgern für Gottsuchende Erde – Feuer – Luft – Wasser
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Pilgern an heißen Tagen Licht und Schatten
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Pilgern rund um den (Un-)Ruhestand Aufbruch in ein weites Land
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Ge(h)dicht-Pilgern mit Hermann Hesses „Stufen“ „Wir sollen heiter Raum um Raum durchschreiten“
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Leben in Fülle: Erntedankpilgern Von reifen Früchten und harten Nüssen
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Ein Pilgertag in der Adventszeit, um sich auf Weihnachten vorzubereiten Pilgern statt Shoppen!
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Dreikönigspilgern zum Beginn eines neuen Jahres Raue Tage
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Pilgern, um die richtige Entscheidung zu finden Eisbrecher!
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Pilgern durch die Faschingstage Bin ich, wie ich sein will?
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Sehr häufig gestellte Fragen
Worin liegt der Unterschied zwischen Pilgern und Wandern? Was ist ein echter Pilger, eine echte Pilgerin? Muss ich einem ausgewiesenen Pilgerweg folgen?
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Weniger häufig gestellte Fragen
Muss ich mich beim Pilgern mit Fragen oder Themen meines Lebens beschäftigen? Wie gehe ich damit um, wenn ich mich verlaufe? Wie reagiere ich auf Weghinweise und Einladungen von Menschen am Wegesrand?
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Fragen, die häufiger gestellt werden sollten
Kann Pilgern süchtig machen? „Warum tue ich mir das eigentlich an?“ „Das muss ich mir nicht mehr beweisen“ – warum eigentlich nicht?
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Ich traf:
Ed Jesus Georg Sonja Gordon Reinhard Klaus Sebastian Ein neues Jahr Viktor Carmen Paul
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Dank
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Vorwort
Herzlich willkommen, liebe Leserin, lieber Leser! Worin liegt das Geheimnis des Pilgerns? Nach über zwölf Jahren und einigen Tausend Kilometern des Pilgerns vornehmlich auf Jakobswegen vermag ich noch immer nicht genau zu sagen, worin das Besondere dieser spirituellen Erfahrung liegt. Welche Zutaten zusammenwirken, scheint klar: Bewegung, Zeit, Natur, Begegnungen mit sich, mit anderen, mit Gott, sich der Fremde auszusetzen – das lateinische Wort für Pilger peregrinus bedeutet etwa der in der Fremde wandelt – und all das eingebunden in die alte Tradition des Pilgerns. Mithilfe dieser Kombination entstehen Räume, in denen Menschen wachsen können. Aber erklärt das schon das Phänomen Pilgern? Vielen Pilgersachverständigen ist es noch nicht gelungen, das Geheimnis zu erklären, und mir wird es ebenfalls nicht gelingen – zum Glück. Denn wenn sich das Phänomen leicht greifen ließe, wäre es, so vermute ich, schon bald entzaubert. Auf welche Weise das Pilgern wirkt, weiß ich also nicht, aber in meiner Arbeit mit Gruppen auf den Wegen gelingt es dennoch, Räume zum Wachsen entstehen zu lassen. Davon handelt das vorliegende Buch. Ich beschreibe zwölf Wege, innere Spannungsbögen mit Impulsen, die der Seele guttun wollen und Raum zur Entfaltung geben. Viele Menschen erzählen begeistert, wie eine mehrwöchige Pilgerreise, meist durch Spanien,
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ihr Leben völlig auf den Kopf gestellt hat. Sie waren auf einer Suche, in einer Krise, in einem Lebensumbruch – und das Pilgern hat geholfen, Dinge zu ordnen und in einem klareren Licht zu sehen. Andere Perspektiven machen Mut, Altes zu lassen und Neues zu beginnen. Immer wieder scheint der Weg geradezu zur Pilgerin oder zum Pilger zu sprechen. Promipilger Hape Kerkeling erzählt von einer ermutigenden Aufschrift „Keep on running!“ auf dem Shirt eines Kellners oder zufälligen Durchhalteparolen aus dem Radio „Don’t give up“. Das auf eine Wand gekritzelte „Yo y tu“ führt ihn gar zu einer Gottesbegegnung. Viele auch weniger deutliche Botschaften oder Symbole am Wegesrand können beim Pilgern zu Impulsen werden, sich selbst auf die Spur zu kommen: eine Brücke wird zum Zeichen für einen Übergang, ein gefällter Baum sagt, dass etwas zu Ende gegangen ist, und ein Klärwerk kann motivieren, darüber nachzudenken, was noch geklärt werden muss. Die Wegbeschreibungen dieses Buches wollen dazu anregen, Wege in dieser Weise lesen zu lernen und sich von den Symbolen Impulse für Kopf und Herz geben zu lassen. Dabei stellen viele Pilgerinnen und Pilger fest, dass es nicht ein vierwöchiger Jakobsweg sein muss, sondern dass man mithilfe der Anstöße auch binnen weniger Pilgertage bereits erstaunliche Entwicklungen erleben kann. Seelenöffnende Weite
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Vorwort
„Pilgern quer durch’s Jahr“ will dazu anregen, den ganzen Jahreskreis mit seinen jeweiligen Besonderheiten zu nutzen, um sich bestimmten Lebensthemen zu widmen. Dabei spielen Feiertage wie Ostern und Erntedank oder auch bestimmte Zeitspannen im Jahreslauf wie Advent oder Fasching eine Rolle. Anregen lasse ich mich auch von Hitze und Kälte, von den vier Elementen oder einem Gedicht. Spirituelle und politische Themen tauchen auf oder auch die persönliche Situation des Übergangs in den Ruhestand. Immer wieder geht es darum, Entscheidungen zu treffen oder Übergänge zu gestalten. Neben den mit Impulsen angereicherten Wegbeschreibungen für ein bis fünf Tage habe ich versucht, einige Fragen zu beantworten, die im Zusammenhang mit Pilgern oft gestellt werden. Ich warte allerdings an anderer Stelle auch mit Fragen auf, die nach meiner Ansicht zu selten behandelt werden. Über das ganze Buch verstreut finden sich Begegnungen auf Pilgerwegen, die zeigen, wie bunt das Pilgerleben sein kann, und welche Schätze auf dem Weg oder am Wegesrand zu finden sind. Namen und Orte habe ich in den Beschreibungen oft geändert, die Begegnungen jedoch wurden allesamt wahrhaftig erlebt. Um das Pilgerleben noch lebendiger und anschaulicher werden zu lassen, habe ich das Buch mit Bildern illustriert, die auf meinen Wegen entstanden sind. Sie mögen Sehnsucht wecken und Lust auf eigene Entdeckungen machen. Geschrieben ist dieses Buch für ganz unterschiedliche Menschen: Jene, die noch nie gepilgert sind, es aber gern versuchen möchten, werden ermutigt; andere, die das Pilgern bereits kennen, bekommen Anregungen für neue Themen, die sie auf Pilgerwege mitnehmen können; Menschen, denen das Pilgern, zum Beispiel aus körperlichen Gründen, nicht möglich ist, können sich anhand der Themenvorschläge auf einen inneren Entwicklungsweg
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begeben. Besonders freue ich mich, wenn Menschen, die Pilgergruppen begleiten, sich inspiriert fühlen, die vorgeschlagenen Themen auszuprobieren. Außerdem habe ich gehört, dass mit den Impulsen meines ersten Buches „Pilgern mitten im Leben – wie deine Seele laufen lernt“ auch in Gruppen weitab vom Pilgern an Prozessen und Persönlichkeitsentwicklungen gearbeitet werden kann. So mag es auch mit den Anregungen dieses Buches geschehen. Worin gründen die Ideen der Seelenwege quer durch’s Jahr? Meinen persönlichen Hintergrund bildet jahrelanges Pilgern, meist auf Jakobswegen in Deutschland, Österreich, Schweiz, Frankreich, Spanien und Portugal. Seit 2008 begleite ich im Rahmen meiner Tätigkeit als Religionspädagoge in der evangelischen Erwachsenenbildung Gruppen zu bestimmten Lebensthemen auf Pilgerwegen. Aus diesem Fundus speisen sich die meisten der vorgestellten Wege. Seit mehreren Jahren bilde ich darüber hinaus Pilgerbegleiterinnen und -begleiter aus, ermutige Menschen, anderen mit ihren Ideen und in ihrem Stil Räume zum Wachsen zu eröffnen. Mögen die vorgestellten Wege, Impulse, Fragen, Antworten und Begegnungen die Seele berühren, den Geist erfrischen und die Füße in Gang bringen. Behütetes Unterwegssein wünscht herzlich Michael Kaminski
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Sehr häufig gestellte Fragen Worin liegt der Unterschied zwischen Pilgern und Wandern? Pilgern, was ist das eigentlich? Irgendetwas Religiöses scheint in dieser Tätigkeit mitzuschwingen, zumindest Spirituelles. Nach der klassischen Definition handelt es sich beim Pilgern um den Weg, den man zu einem heiligen Ort zurücklegt. Jede Religion kennt diese spirituelle Praxis. Dabei war und ist es nicht entscheidend, auf welche Weise man zu diesem heiligen Ort kommt, sondern vielmehr, dass man schließlich dort ist und oft auch bestimmte Rituale vollzieht. Im christlichen Kontext war das Pilgern oder auch Wallfahren stark von der katholischen Tradition geprägt und ging einher mit einem entsagungsreichen Weg, der zum Erlass von Sünden führen konnte. Immer jedoch schwangen andere Motivationen mit, die die Menschen auf den Weg führten: Gelübde, Sorge und Bittgänge, Dankbarkeit, vielleicht sogar Abenteuerlust waren ebenfalls Motive zum Aufbruch. Auffällig ist, dass es beim Pilgern nie nur um das äußerliche Gehen, sondern immer auch um den inneren Prozess ging. Beim in den letzten Jahren wieder populär gewordenen Pilgern, zum Beispiel auf Jakobswegen, wird behauptet, es gehe weniger um das Ziel als vielmehr um den Weg. Dahinter steckt derselbe Gedanke: Das Entscheidende geschieht in einem inneren Prozess, der Zeit braucht, dazu Bewegung, Natur, Begegnung und Umgang mit Unbekanntem und Unsicherheiten. Dieser Prozess wird dadurch unterstützt, dass er an einem Ziel endet, das auch weiterhin ein heiliger Ort ist. Ein gemeinsames Ziel, das nicht nur individuell von einem einzelnen Menschen erlaufen wird, sondern von mehreren Menschen, die ebenfalls diesen Ort zum Ziel haben und unter denen oft ein eindrückliches Gemeinschaftsgefühl entsteht. Manche beschreiben diesen Pilgerprozess mit dem blumigen Wort „Beten mit den Fü-
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FAQ
ßen“, wobei das Entscheidende vermutlich nicht in den Füßen geschieht, sondern vielmehr in Hirn, Herz und Seele. Äußerlich sieht dieser Prozess dem ebenfalls sehr beliebten Wandern zum Verwechseln ähnlich. Gerade Wanderbegeisterte, die die Natur lieben und Bewegung schätzen, fragen deshalb, ob es nicht auch Pilgern sei, was sie täten. Sie verweisen darauf, dass das Gefühl, auf einem Gipfel zu sein, durchaus ein spirituelles sein könne, weil sie sich durch die Erhabenheit dieser Situation Gott und dem Universum nahe fühlten. Der Weg sei oft ebenfalls entbehrungsreich und in so mancher Berghütte gehe es doch auch nicht anders zu als in einer Pilgerherberge. Sie haben damit recht, beides sieht sehr ähnlich aus. Der Unterschied, auf den es aus meiner Sicht jedoch ankommt, liegt Beten gehen?
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in der inneren Motivation, die auf den Weg führt. Die meisten Wanderer haben keinen tieferen, existenziellen Grund, sich auf den Weg zu machen. Sie wollen nicht dezidiert einen biografischen Prozess gestalten, mit einer Krise umgehen oder einer tiefen Sehnsucht folgen. Dadurch, dass unter Pilgernden solche inneren Motive leitend sind, entstehen oft besondere Begegnungen und Gesprächssituationen, die für das Pilgern typisch sind. Sehr schnell wird von anderen Pilgernden oder von Menschen am Wegesrand die Frage gestellt, aus welchem Grund heraus man auf dem Weg ist. Viele daraus folgende Gespräche thematisieren Sehnsucht, Sorge, Leid, Dankbarkeit, Glaube. Sie bleiben selten oberflächlich, werden vielmehr schnell wesentlich. Weil beim Wandern keine besondere innere Motivation vorausgesetzt wird, fragt normalerweise niemand am Wegesrand oder ein Mitwanderer, weshalb man denn wandere. Selbstverständlich können dennoch auch unter Wanderern tiefe Gespräche entstehen, aber sie sind in der Regel nicht intendiert und auch nicht so häufig. Auf einem Pilgerweg kann es passieren, dass mir andere Menschen am Wegesrand etwas Ermutigendes zurufen oder Autofahrende motivierend hupen. Dass ich, auf einer Bank rastend, gefragt werde: „So, Sie pilgern – dann glauben Sie also an Gott?“ Oder es kommt vor, dass ich, aus einem Supermarkt kommend, an einem Rucksack mit Jakobsmuschel als Pilgersmann oder Pilgersfrau erkannt werde und mitten auf der Straße einen Segen zugesprochen bekomme. Dinge, die geschehen, weil andere bei der oder dem Pilgernden eine spirituelle oder zumindest innere Motivation vermuten. Viele Pilgerinnen und Pilger erleben darüber hinaus eine Geborgenheit spendende Weggemeinschaft, sprechen von besonderer Nächstenliebe und kleinen Wundern am Weg. So mancher Wanderer wird mit Recht sagen, dass es das in den Bergen auch gäbe, und doch hört man Erzählungen, dass Hilfe gerade dann um die Ecke kam, als man sie dringend brauchte, häufiger im Pilger- als im Wanderkontext.
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Vier-Elemente-Pilgern für Gottsuchende
Erde – Feuer – Luft – Wasser
Nicht wenige der Menschen, die sich auf einen Pilgerweg begeben, sind auf der Suche. Einige nach Orientierung und Sinn, andere nach sich selbst oder Gott. Diese Wegidee mit vier Elementen könnte sich für Menschen eignen, die beim Pilgern nach neuen Zugängen zu Gott suchen. Den roten Faden bilden dabei jene Elemente, wie wir sie aus der abendländischen Tradition heraus definieren: als Erde, Feuer, Luft und Wasser. Entsprechend wähle ich einen viertägigen Pilgerweg und widme jedem Tag eines der Elemente. Dazu schlage ich vor, täglich einen biblischen Text ins Zentrum meiner Auseinandersetzung zu stellen. Jeder der Texte thematisiert in ganz unterschiedlicher Weise eine Gottesbegegnung. Dazu geselle ich einige andere Anregungen zu den jeweiligen Elementen des Tages. Weil es bei diesem Weg um Gottesbegegnung gehen könnte, wähle ich zu meinem Pilgerziel eine Wallfahrtskapelle, gern in den Bergen. Denn viele Menschen spüren in der Erhabenheit der Berge die Gegenwart Gottes leichter. Diesen begünstigenden Rahmen möchte ich für meine Pilgererfahrung auf einem Weg im Sommer nutzen.
Erde Wie viele Pilgerreisen beginne ich auch diese in einer Kirche am Wegesrand, um mich darauf einzustimmen, dass es ein spiritueller Weg mit göttlichen Bildern der christli-
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chen Tradition sein wird. Im Kirchenraum sehe ich mich um, suche nach etwas, was für mich das Element Erde repräsentieren könnte. Freilich, alles aus Stein oder aus Holz repräsentiert in dieser Einteilung das Element Erde. Ich lasse meine Hand über die Lehnen der Kirchenbänke gleiten, fühle die Struktur des Holzes, die aus dem Baum selbst kommt. Ich berühre Ecken, Kanten, Schnitzereien: Formen, die der Mensch dem Holz gegeben hat. Ähnlich verfahre ich mit Stein. Die Wände, der Boden, Säulen, Altar, Taufstein, Kanzel, vielfältig ist der Stein bearbeitet worden und gibt der Kirche seinen besonderen Charakter. Auch hier versuche ich zu unterscheiden: Wo spüre ich die Natur des Steines? Und in welcher Weise hat menschliche Hand gestaltend Einfluss genommen? Wurde die Struktur des Steines beachtet, genutzt oder wurde sie durchbrochen? Über diese künstlerisch-handwerklichen Gestaltungsmöglichkeiten denke ich nach: Was ist für mich angenehmer, Natürlichkeit belassen oder kreativ gestalten? Was tut mir, was tut meiner Seele gut? Noch immer in der Kirche merke ich jedoch, dass mir diese Verbundenheit zum Element Erde noch nicht ausreicht. Es gibt die Möglichkeit, auch die Krypta der Kirche zu betreten. Unter die Erde zu gehen – ganz bewusst steige ich Stufe für Stufe die Treppe hinab. Es wird enger, dunkler, unten warten Gräber auf mich. Menschen werden wieder zu Erde, zu Asche, zu Staub. Es könnte unheimlich oder bedrückend sein, darüber nachzudenken, heute jedoch fühlt es sich nach Einklang an. Ich gehöre zu dieser Erde und irgendwann wird zumindest mein Körper wieder ein Teil von ihr sein. Aber so weit ist es noch nicht, auf meinem Pilgerweg will ich Leben spüren, vielleicht sogar Gott. Deshalb mache ich mich auf. Noch einmal bücke ich mich, berühre den kalten Fußboden, spüre die Verbundenheit und mache mir klar, dass ich ohne festen Boden unter den Füßen
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Vier-Elemente-Pilgern für Gottsuchende
keine Möglichkeit hätte, gehend voranzuschreiten und an mein Ziel zu kommen. Dankbar, dass es Erde gibt, breche ich nun auf, schließe die massive Kirchentür hinter mir, spüre gleichzeitig luftige Leichtigkeit und erdende Bodenhaftung. Auf meinem Weg versuche ich zunächst, weiterhin jene Brille aufzubehalten, mit der ich wahrnehme, wie wir Menschen Erde gestalten können. Auf welche Weise wir Natur verändern, Kultur erschaffen, beispielsweise in der Gestaltung von Gebäuden, von Landschaften und Gärten. Gleichzeitig suche ich nach ungestalteter Erde, etwa Berge, die ihre Faszination vielleicht daraus gewinnen, dass sie aus urwüchsigen Naturkräften entstanden sind und Menschen gerade nicht die Macht hatten, solche Gewalten zu erschaffen. Ich richte meinen Blick nach unten auf den Weg, sehe dort tatsächlich braune, krümelige Erde: ein gepflügtes Feld. An einer Baustelle wird Erde ausgehoben. Wo Kiesel auf meinem Fußweg enden und Wiese noch nicht beginnt, bildet festgetretenes Erdbraun den Pfad. An einem Friedhof wurde ein Grab frisch aufgeschüttet. Ein Bach hat sich in ein Stück Grün gegraben, zwischen sprudelndem Wasser und Graskante ist ein breites, braunes Erdband zu sehen. An einer dieser Möglichkeiten, auf dem Weg Erde wahrzunehmen, nehme ich die mitgebrachte Bibel aus meinem Rucksack. Der biblische Text, den ich für den heutigen Tag vorgesehen habe, findet sich gleich auf den ersten Seiten, im zweiten Kapitel des Buches Genesis ab Vers 5: „Und alle die Sträucher auf dem Felde waren noch nicht auf Erden, und all das Kraut auf dem Felde war noch nicht gewachsen. Denn Gott der HERR hatte noch nicht regnen lassen auf Erden, und kein Mensch war da, der das Land bebaute; aber ein Strom stieg aus der Erde empor und tränkte das ganze Land. Da machte Gott der
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HERR den Menschen aus Staub von der Erde und blies ihm den Odem des Lebens in seine Nase. Und so ward der Mensch ein lebendiges Wesen.“ Es ist also einer der beiden biblischen Schöpfungstexte. Nicht jener, in dem die Welt in sieben Tagen erschaffen wird, sondern der, aus dem heraus die Geschichte von Adam und Eva erzählt wird. Einer der Unterschiede dieser beiden Texte: Im Sieben-Tage-Text wird der Mensch erst am sechsten Tag, also nach allem anderen, erschaffen. Im vorliegenden Text jedoch gibt es noch nichts, keine Pflanzen, keinen Regen, keine Tiere. Der Mensch wird in diesem archaischen Bild ganz zu Anfang von Gott aus Staub und Erde geschaffen. Erdenergie
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Vier-Elemente-Pilgern für Gottsuchende
Ich glaube nicht, dass der Text wirklich sagen will, dass ein schöpferischer Gott tatsächlich Erde in die Hand genommen und daraus Fleisch, Blut und Knochen gestaltet hat. Das wäre sehr wundersam, wobei die Vorstellung, dass aus Einzellern irgendwann Tiere und schließlich Menschen geworden sind, eine ebenfalls sehr kreativ-schöpferische Leistung darstellt, die ich gern einem Gott zuschreiben würde. Was mir jedoch wichtiger erscheint: Der Text könnte auch aussagen wollen, dass der Mensch nicht aus eigener Leistung so wunderbar geworden ist, sondern dass er geschaffen wurde, dass er ein Kunstwerk ist. Heute Vormittag habe ich Erde in Form von Holz und Stein betrachtet und gesehen, was aus natürlichem Material geschaffen werden kann. Wenn ich das Bild übertrage und mir die Erde vor mir auf dem Weg ansehe, wird mir deutlich, wie großartig und einzigartig jeder einzelne Mensch geschaffen ist. Das „Rohmaterial“ betrachtend, schaue ich auf das Ergebnis und beginne, meine Schlüsse daraus zu ziehen. Beispielsweise dass es meine Aufgabe sein könnte, achtsam mit mir, meinem Körper umzugehen – und gleichzeitig die Körper anderer Menschen unversehrt zu lassen. Auf meinem Weg kommen mir weitere Konsequenzen in den Sinn, wenn ich den Menschen nicht einfach als eine biologische Schlussfolgerung, sondern als kreativ erschaffenes Geschöpf sehen kann. Einige Kilometer weiter sehe ich einen Wasserfall. Eigentlich unpassend, diesen hätte ich gern am „Wasser“-Tag entdeckt. Dennoch denke ich darüber nach, was der Wasserfall mit Erde zu tun haben könnte. Zunächst kann er nur dort sein, weil plötzlich weniger Erde da ist und das Wasser aus seinem Flussbett, der Schwerkraft folgend, nach unten fällt. Erde verändert sich durch die Begegnung mit dem Element Wasser: wird geschliffen, verliert Substanz, löst sich nach und nach. Ich greife erneut
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das biblische Bild auf, nach dem der Mensch aus Erde gestaltet ist. Wo hat es Konsequenzen, wenn plötzlich menschliche Substanz fehlt und etwas anderes im freien Fall nach unten stürzt? Ich muss an Zivilcourage denken: Wenn der Mensch nicht Verantwortung übernimmt, geht etwas „den Bach hinunter“. Oder auch die Frage: Wodurch wird der Mensch so geschliffen, dass er seine ursprüngliche Form verliert und immer weniger wird? Wie ist es in meinem Leben vielleicht schon passiert, dass ich Wesenssubstanz verloren habe – und wodurch? Wie habe ich das verkraftet? Was hat mich davon geheilt – oder was muss ich noch tun, um Heilung zu erfahren? Mit diesen Fragen pilgere ich weiter, meinem Tagesziel entgegen. Ich beschließe den Tag mit dem Gefühl, inmitten von Schöpfung ein kreativ erschaffenes Geschöpf zu sein – oder, um es in weltlicher Sprache auszudrücken: Ich bin als Mensch ein Teil dieser beeindruckenden Natur, ahnend, dass es nicht nur biologischer Zufall sein kann, dass es mich gibt. Und dass es sich deshalb lohnt, auf mich selbst achtzugeben!
Feuer Auch diesen Tag beginne ich in einer Kirche. Den Raum, die Wände, Bänke, die ganze Ausstattung sehe ich heute schon mit anderen Augen: durch die Elementebrille. Wo finde ich das Element Feuer in diesem Kirchenraum? Ich schaue mich um, auf den ersten Blick ist nicht viel zu sehen. In den Darstellungen an den Wänden gibt es hier und dort ein Strahlen, aus dem Himmel kommend oder ein leuchtender Heiligenschein. Womöglich sehe ich gar einen Erzengel Michael mit Flammenschwert. Eindrücklich, aber all das sind nur Abbildungen von Feuer. Echtes Feuer finde ich, wenn es eine katholische Kirche ist, in
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Ich traf:
Sonja
Ich traf Sonja kurz vor dem Alto de Perdón, dem Pass der Vergebung. Schon auf der Terrasse einer Bar auf halber Höhe des Anstiegs hörte ich, wie die Mittzwanzigerin in einem strahlend türkisfarbenen Shirt anderen Pilgerinnen erzählte, dass sie aus Hannover komme und dort gerade ihr Sozialpädagogik-Studium beendet habe. Bis sie ihr Anerkennungsjahr antreten könne, habe sie noch Zeit zur Orientierung und so kam's, dass sie heute ihre Pilgerschaft in Pamplona begonnen habe. Während ich noch meine Zitronenlimonade trank, machte sie sich schon auf den Weg, die Passhöhe bald zu erreichen. Kurz vor der höchsten Stelle holte ich Sonja ein, wir begrüßten gemeinsam die Pilgerschar, die dort aus Eisen gefräst als ewiges Denkmal allen Wettern trotzt. Hier soll der Weg der Sterne den Weg der Winde kreuzen, sage ich zu ihr. Sonjas Offenheit und Neugier regte mich an, allerlei motivierende Dinge über das Pilgern zu formulieren, von denen Windweg kreuzt Sternenweg
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ich glaubte, dass sie einer gerade aufgebrochenen Pilgerin guttun könnten. Gemeinsam schauten wir zurück in die Weite, nach Pamplona, in die Pyrenäen – auf das, was hinter uns lag, die Vergangenheit. Und wir warfen einen Blick auf das, was auf uns wartete, in die Zukunft: Der Weg war deutlich zu erkennen, wie er sich bis zum Horizont an den grünen und ockerfarbenen Hügeln vorbeischlängelte. „Es ist gut, dass du jetzt hier auf dem Weg bist“, sagte ich zu Sonja. Ob sie denn einen Segen zum Start ihrer Pilgerreise mitbekommen habe? Nachdem sie verneinte, fragte ich sie, ob ihr das wichtig wäre, und auf ihr Nicken hin sprach ich ihr ein segnendes Wort für ihre Reise zu. Sonja wollte an diesem besonderen Ort zwischen Vergangenheit und Zukunft ihrem Leben noch ein wenig nachspüren, während es mich schon wieder den Berg hinabzog. Am nächsten Tag traf ich Sonja wieder, in einer Bar wählte sie ein Bocadillo, während mir ein Kaffee guttat. Sie erzählte ein wenig von Handball und Schwimmen, beides hatte sie als Leistungssport betrieben. Auch heute noch machte sie einen sehr durchtrainierten Eindruck, weshalb ich ihr in ihre Unsicherheit, den Weg zu schaffen, versicherte, dass ich überhaupt keine Zweifel hätte. „Du machst deinen Weg!“, ermutigte ich sie – sie sah mich mit ihren munteren grauen Augen an, freute sich und meinte, irgendwie reagiere sie auf meine Zusprüche in besonderer Weise. Als ich Sonja wenig später noch einmal auf einem Wegstück zwischen Himmel und Erde traf, fragte ich sie, wie ihr das Pilgern denn so bekomme. Sie hätte es sich nicht so schmerzhaft vorgestellt, meinte sie. Ich schaute sie zweifelnd an, augenscheinlich machte ihr das Gehen keine Mühe. „Der Schmerz ist innen“, erklärte sie. Ich schaute sie fragend an, sie zögerte: „Ich weiß nicht, ob ich schon bereit bin, über so etwas Persönliches zu sprechen.“ Auf den nächsten Kilometern erzählte sie mir dann doch, welcher Schmerz sie erfüllte. Ihr Vater sei gegangen, als sie acht Jahre war. Er war Leistungsschwimmer gewesen, habe eine Lun-
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Ich traf:
genentzündung verschleppt und sei dann überraschend gestorben. Die Mutter verbot Trauer und Tränen, ließ Sonja und ihre beiden Geschwister mit ihrem Kummer allein. Zur Traurigkeit gesellte sich bei Sonja mit den Jahren auch die Wut auf ihren Vater, der sie so früh alleingelassen hatte. Sie versuchte trotz des inneren Vorwurfs, den Vorstellungen einer guten Tochter gerecht zu werden – und weil es zu Hause Anerkennung für Leistung gab, wurde sie eben Leistungsschwimmerin und Handballerin. Aber sie fühlte sich dennoch nie akzeptiert, wie sie war. Sie wisse schon, Selbstliebe sei wichtig, vielleicht finde sie ja hier eine Portion davon auf dem Weg. „Übrigens, mein Vater hieß auch Michael ...“, sagte Sonja. Und ich ahnte, weshalb das, was ich der jungen Pilgerin sagte, besonders berührte: Ich sagte wohl einfach jene Dinge, die sie von ihrem Vater hätte hören müssen. Wir verabschiedeten uns am Ende des Gesprächs, Sonja winkte mir zu: „Wir sehen uns!“ Aber wie es auf Pilgerwegen so ist, weiß man gerade nicht, ob man sich wieder trifft. Ich jedenfalls begegnete Sonja nicht mehr. Aber ich bin überzeugt, dass sie wie geplant in Santiago angekommen ist. Vermutlich ist sie noch manchem inneren und äußeren Schmerz begegnet und hoffentlich auf dem Weg zur Selbstliebe meilenweit vorangekommen.
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