Christine Freitag
Vergewaltigung Psychotraumatologisches Grundlagenwissen und existenzphilosophische Ăœberlegungen fĂźr Notfallseelsorge und seelsorgerliche Begleitung
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Copyright © Claudius Verlag, München 2020 www.claudius.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden. Umschlaggestaltung: Weiss Werkstatt, München Layout: Mario Moths, Marl Gesetzt aus der Linotype Centennial und Neris Druck: cpi – Clausen & Bosse, Leck ISBN 978-3-532-62847-8
Vorwort Die Annäherung an eine Hilfestellung zur Bewältigung einer Vergewaltigung wirft zunächst die Problematik auf, dass Frauen ein solches Schreckenserlebnis sehr individuell wahrnehmen und verarbeiten. Während einige Frauen relativ schnell in den Alltag zurückfinden, weil die Vergewaltigung ein einmaliges Geschehen war, sie über gute Resilienzen verfügen und sie zudem innerhalb ihres sozialen Bezugsgeflechts auf viel Verständnis stoßen, leiden andere Frauen massiv unter den Folge- und Langzeitbeeinträchtigungen einer Vergewaltigung. Psychotherapeutische Hilfsangebote zur Verarbeitung einer Vergewaltigung lassen jedoch häufig die Wahrnehmungssensibilität für die betroffene Frau als selbstkompetente Gestalterin des Heilprozesses und/oder die Würdigung ihrer inneren Weisheit, als Ausgangspunkt des Heilgeschehens, vermissen. Betrachtet man jedoch diese beiden Aspekte als grundlegend für Heilung und nutzt diese Hintergrundbedingungen, um sie in Zielformulierungen für ein seelsorgerliches Hilfeverfahren umzuwandeln, wird deutlich, warum es bei der Begleitung von Frauen nach Vergewaltigung aus seelsorgerlicher Perspektive niemals ein Manual im klassischen Sinn geben kann, das auf konkreten Handlungsanleitungen fußt: Heilung, die nicht nur auf Symptomreduktion abzielt, sondern den fühlenden Menschen in den Mittelpunkt rückt, kann nur über einen existenzgeleiteten Prozess des Heil-Werdens befördert werden, der die Entfaltung des
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Selbst der Frau in den Mittelpunkt stellt. Das bedeutet, die Frau wird in der bewussten Gestaltung ihres Sein-Könnens, WertSeins, So-Sein-Wollens und im sinngesetzten-Sein begleitet. Trotz der Notwendigkeit einer individuellen Gestaltung seelsorgerlicher Begleitung scheinen mir aber dennoch Konturen für die Hilfestellung zur Bewältigung einer Vergewaltigung notwendig zu sein, wenn auf die konkreten Gefühlslagen der Frauen passgenau eingegangen werden soll. Dass sich eine solche Hilfeplanung jedoch nicht einfach aus einer Kombination klassischer Modelle der traumaorientierten Psychotherapie mit der Notfallseelsorgepraxis ableiten lässt, wird offenbar, wenn die Notwendigkeit einer Betrachtung, die die Frau als verletzte Einzelne wahrnimmt, für den Heilungsprozess verstanden wird: Um in das Heilungsgeschehen positiv einwirken zu können, bedarf es einer Hinwendung zu einer Frau, die alleine und höchst individuell in eine Extremsituation geraten ist und um zu überleben einen Bruch mit sich selbst und der Welt vollziehen musste. Mehr noch, diese einzelne Frau lebt seit diesem Schreckensereignis nicht nur in einer traumabedingten Selbst- und Weltentfremdung, sondern auch in einer ihr eigentümlichen destruktiven Beziehung zu ihren inneren Ressourcen, die gerade jetzt nicht als Kraftquelle für die Aktivierung der Selbstheilung genutzt werden können. Professionelle Begleitung von Frauen nach Vergewaltigung steht daher in einem Spannungsfeld aus Praxiskönnen und Fachwissen: Nicht ein umfassender Rückgriff auf wissenschaftlich belegte theoretische Kenntnisse der Psychotraumatologie ist notwendig, um der Frau professionell zu helfen, vielmehr gilt es zu klären, welches Fachwissen bedeutsam ist, um eine geeignete Handlungs- und Reflexionsgrundlage im seelsorgerischen Kontext sicherstellen zu können. Gefordert sind also stets individuell-verschränkte Zugänge, die ausgewählte therapeutische Interventionen mit seelsorgerlichem Handeln, das sich
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durch eine spezifische Haltung gepaart mit wissensgeleitetem Können auszeichnet, in Einklang bringen lässt, um so die Themenkomplexe, die eine Frau nach Vergewaltigung beschäftigen, durcharbeiten zu können. Grob umrissen erfordert eine solche auf die persönliche Welt der Frau abgestimmte Verknüpfung von Psychotraumatologie und Seelsorge, dass in der dialogischen Auseinandersetzung die Selbst- und Weltdeutung gewichtet und in den Mittelpunkt einer existenzorientierten Heilungsarbeit gerückt wird. Dieses Buch versucht einen Beitrag zu dieser Problematik zu leisten, indem zunächst psychotraumatologisches Grundlagenwissen vermittelt wird, um es anschließend in existenzphilosophische Überlegungen für die seelsorgerliche Begleitung zu überführen, ohne dabei die Seelsorgepraxis, die sehr viel methodische Beweglichkeit und ein empfindsames Gespür für individuelle Entwicklungs- und Heilungsprozesse erfordert, zu beschweren. Das Ziel ist, Notfallseelsorger_innen und Berater_innen aus seelsorgerlicher Begleitung zu ermutigen, sich mit der Beschaffenheit der Bedingungen auseinanderzusetzen, vor welchen das Erlebte durch korrigierende Seins-Erfahrungen verarbeitet werden kann. Denn erst durch tiefe Auseinandersetzung mit den Hintergründen des Selbst- und Welterlebens der Frau und durch Beleuchtung der Quelle ihrer inneren Kraft und Weisheit kann ein Beziehungsraum geschaffen werden, in dem heilsame Begegnungen erfahrbar werden und folglich Heil-Werdung stattfinden kann. Graz, im November 2019
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INHALT Vorwort
5
I.
Belastende und traumatische Lebensereignisse – Symptome und Behandlung 15
1.
Hinführung zum Thema
16
2.
Vergewaltigung
20
2.1
Akute Belastungsreaktion (ABR)
25
2.1.1
Orientierungslosigkeit
27
2.1.2 Kontrollverlust
30
2.1.3 Dissoziation
32
2.2
35
Anpassungs- und Krisenphase
2.2.1 Vermeidung 2.2.2 Überwältigung
40 41
2.2.3 Weltentfremdung
44
2.2.4 Selbstentfremdung
45
2.3
49
Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS)
2.3.1 Prävalenz und Verlauf
53
2.3.2 Komplexe Posttraumatische Belastungsstörung (KPTBS)
56
2.3.3 Symptomatik im Überblick
60
3.
Intervention und Therapie
62
3.1
Akuthilfe durch Krisenintervention und Notfallseelsorge
64
10
3.1.1
Sicherheit durch Beziehung
65
3.1.2 Stabilität durch Struktur
67
3.1.3 Selbstbestimmung durch Handlungsfähigkeit
70
3.1.4 Gesprächsabschluss und Psychohygiene
72
3.2
Trauma in der Psychotherapie
75
3.2.1
Verhaltenstherapeutische Therapieformen
77
3.2.2 Eye Movement Desensitization and Reprocessing (EMDR)
81
3.2.3 Dialogische Traumatherapie 4.
84
Zusammenfassung des Forschungsstands und richtungweisende Schlussfolgerungen
87
II.
Seelsorge nach Vergewaltigung
95
5.
Grundlagen der Seelsorgearbeit
98
5.1
Aufgaben des seelsorgerlichen Handelns
101
5.2
Grenzgänge zwischen Seelsorge und Psychotherapie
103
Seelsorge als Ereignis durch Begegnung
107
5.3
5.3.1 Seelsorgerliche Haltung: Hinwendung zum Menschen
109
5.3.2 Seelsorgerliches Können: Gesprächsführung 5.4
111
Beichtgeheimnis und seelsorgerliche Schweigepflicht
114
Existenzphilosophische Überlegungen für die seelsorgerliche Begleitung nach Vergewaltigung
115
6.1
Erste Kontur: Sicherheit vermitteln
118
6.1.1
Stabilität durch Beziehung
119
6.
6.1.2 Beruhigung durch Gegenbilder und Rituale
121
6.1.3 Herstellung von Kontrollierbarkeit durch Distanzierung
124
6.2
Zweite Kontur: Annäherung an das traumatische Ereignis
6.2.1 Der verletzten Frau begegnen
125 126
11
6.2.2 Bildhermeneutische Überlegungen für die Seelsorge
129
6.3
Dritte Kontur: Integration des Erlebten
132
6.3.1 Körperorientierte Seelsorge für Frauen
133
6.3.2 Verstehen und dialogische Bearbeitung
136
6.3.3 Arbeit an der Selbst- und Weltbeziehung
139
6.4
143
Vierte Kontur: Loslösung
6.4.1 Hoffnung im Heilgeschehen
144
6.4.2 Die Paarbeziehung als Heilungsraum nutzen
148
6.4.3 Biografiearbeit mit Frauen
154
7.
Besondere Herausforderungen für Seelsorger_innen
158
7.1
Sexualität im Seelsorgegespräch
159
7.2
Opfer-Täter-Beziehung
163
7.3
Gemeinschaft, Ritual und Zugehörigkeit
166
8.
Existenzphilosophisches Nachdenken über Selbst- und Weltentfremdung
170
„In welchem Sinne betrifft mich der Andere?“ – Emmanuel Lévinas
172
„Über sich verzweifeln und verzweifelt sich selbst los sein wollen“ – Søren Kierkegaard
175
„Warum ist es so schwer, die Welt zu lieben?“ – Hannah Arendt
180
Perspektiven einer Christlichen Seelsorge nach Vergewaltigung
185
9.1
Heilung als unverfügbare Heil-Werdung
189
9.2
Die mit Gott im Traumageschehen verstrickte Frau
190
9.3
Christlich-feministische Seelsorge in der Praxis
193
9.4
Die Schutzmantelmadonna als Identifikationsfigur
195
9.5
Trauma in der Bibel
198
8.1 8.2 8.3 9.
9.5.1 Das Hiob-Buch: Was bedeutet Gottes Schweigen?
200
9.5.2 Das Ezechiel-Buch: Was darf der Mensch hoffen, wenn er glaubt?
204
12
10.
Möglichkeiten und Grenzen der Seelsorgearbeit nach Vergewaltigungstrauma
211
Literaturverzeichnis
214
Abbildungsverzeichnis
228
Tabellenverzeichnis
229
Anhang
230
Anhang 1: ‚Anamnesefragebogen nach Vergewaltigung‘
230
Anhang 2: ‚Ablauf der Untersuchung nach Vergewaltigung‘ 231 Anhang 3: ‚Tests und Sammeln von Beweismaterial‘
234
Anhang 4 – Übung: ‚Innerer sicherer Ort‘
235
Anhang 5 – Übung: ‚Entleerte Bilder‘
237
Anhang 6 – Übung: ‚Vorbeiziehende Wolken‘
238
Anmerkungen
239
13