Teichert, Wolfgang: Ihr lacht wohl über den Träumer

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Wolfgang Teichert

Ihr lacht wohl über den Träumer Weihnachten – ein Wachtraum



Wolfgang Teichert

Ihr lacht wohl über den Träumer

Weihnachten – Ein Wachtraum



INHALT

Vorbemerkung 7 1. Entbindung tut weh!

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2. Leicht neben der Krippe

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3. Spiralflug im Finstern

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4. Schweben: Wachtraum Weihnachten

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5. Nacht muss sein

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6. Bewegung im Zwischenraum

60

7. Wenn der Himmel aus allen Wolken fällt

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8. Ahnen, ankĂźndigen, ansehen, ankommen, Andenken

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9. Zur Welt kommen

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10. Weihnachten als Einwanderung

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Vorbemerkung

Weihnachten ist das Datum, an dem sich die Zeitrechnung orientiert. Es ist auch ein Datum für solche, denen die einzelnen biblischen Geschichten, das kirchliche Ritual und die Lieder fremd geworden sind. Gegenwärtig gelebtes Christen­ tum ist, wenn überhaupt, Weihnachts­ christentum. Es setzt auf Stimmungen, auf Gesänge, auf Feiertagspause. Ich habe 40 Jahre lang in einer kleinen Dorfkirche am Sachsenwald die Weih­ nachtsgeschichte des Lukas (Kapitel 2: „Es begab sich aber ...“) und die Weis­ sagungen des Propheten Jesaja („Das Volk, das im Finstern wandelt, sieht ein großes Licht“, Kapitel 9, Vers 1) ausge­

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legt, wie man so sagt. Diese beiden Texte waren die Grundlage für das, was man „Christvesper“ nennt, also jener Got­ tesdienst am Heiligen Abend, der um 18 Uhr beginnt. Die nachfolgenden Texte sind vor der Krise durch die weltweite Pande­ mie entstanden. Aber sie haben – übri­ gens eher unbewusst – „Pandemisches“ im Blick: „Pan-demie“, wörtlich „alles Volk betreffend“. Weil Weihnachten überall in der Welt begangen und ge­ feiert wird, betrifft es eben heute ir­ gendwie „alles Volk“. Weihnachten ist „Volksreligion“. Beim Wiederlesen dieser Texte habe ich zwei rote Fäden entdeckt. Einer ist die in Variationen wiederkehrende Be­ tonung, dass diese jüdisch-christlichen Geschichten auf mich beim jährlichen „Wiederholen“ ungeheure Intensität von

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Jugendfrische haben. Sie sind eben nicht fixiert auf Tod, Leid und Schuld (ob­ wohl sie die nicht verleugnen). Sie ver­ mitteln einen Anfängergeist, den sich bereits Hannah Arendt auch für die Politik gewünscht hat. Es lässt sich, so wurde mir klar, die geburtliche Potenz dieser Erzählungen auf verschiedenste Weisen entdecken. Das andere war, wie man heute sagt, der Versprechenscharakter dieser nicht kleinzukriegenden Geschichten. Verspro­chenes muss man halten, dach­ te ich immer wieder, wenn die Lebens­ realität in Politik und Privatem diese Geschichten zu dementieren schien. Man kann dann schon einmal als „Träumer“ verlacht werden, wenn man die Lebensversprechungen dieser alten Geschichten beschwört. Aber es las­ sen sich, so die immer wieder variierte

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Wahrnehmung, „Blumen im Winter se­ hen“. Und sei es als Wachtraum. Wird man durch solch ständiges Ritual glücklicher, wie jedenfalls von Sisyphos behauptet wird? Wir Kinder jedenfalls kamen nach dem Rodeln in den Vor­ weihnachtstagen von draußen ins Stroh­ dachhaus hinterm Deich. Und da sahen wir sie real: Blumen, Eisblumen am Fenster. Erst später kamen mir die Zeilen aus Schuberts „Winterreise“ in den Sinn: „Ihr lacht wohl über den Träumer, der Blumen im Winter sah“ – Weihnachten als Kunst, Blumen im Winter zu sehen? Nicht als Illusion nach dem Motto: Es sind ja gar keine richtigen Blumen. Son­ dern eher als Imagination: Weihnachten sieht Blumen selbst in winterlichen Zei­ ten. Blumen eines geheimnisvollen Gas­ tes, so fantasierten wir als Kinder – eines Gastes, der längst in der verschlossenen

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„guten Stube“ saß. Später dann wurden für mich die Texte der Weihnachtsge­ schichte bei Lukas und Jesaja vertraut, aber eben auch gastlich fremd, als träten sie eben über die Schwelle des Hauses. Diese Geschichten wurden zu „Frem­ den auf der Schwelle“, wie Georg Sim­ mel den Gast bezeichnet. Begegnet man diesen Gästen wiederholt, erzeugen sie so etwas wie eine bestimmte „Haltung“. Man sieht dann auch die eigene Lebens­ zukunft eher und leichter unter dem Gesichtspunkt von Gastfreundschaft, vom Beherbergen und vom Neu-anfan­ gen-Können her. Die sonst gegenwärtig beschworenen apokalyptischen Bedro­ hungen durch Klimawandel, Migration oder Pandemien weichen zurück vor neuen Gelegenheiten. So sind im Laufe der Jahre aus mei­ nen Annäherungen an die Weihnachts­

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geschichte kleine Vignetten entstanden, Imaginationen, Vermutungen, Mutma­ ßungen auch. Es sind Versuche, anders sehen zu lernen, als eine optisch über­ flutete Zeit es tut. Diese kleinen Vig­ netten liegen – und das eint sie – immer leicht daneben, neben den jeweiligen Ta­ gesaktualitäten und Aufgeregtheiten der vergehenden Jahre.

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Menschen brauchen Rituale. Das Lesen der Weihnachts­ geschichte an Heiligabend ist solch ein Ritual. Doch was ­fasziniert uns daran so? Vielleicht weil das Lukasevangelium in seiner Ambivalenz wiederholt, was man im Alltag vergisst? Das Geschehen in Bethlehem ist eine Geschichte von Licht und Schatten: Jesu Geburt unter ärmlichsten Bedingungen, von Engeln bejubelt und von Hirten be­ staunt, einer Geburt, die uns in seiner Außergewöhnlichkeit schon Tod und Auferstehung vorausahnen lässt. Es ist die Geschichte von größter Freude und größter Not – wie wir alle sie erleben. Denn »Es begab ...« sich nicht nur vor 2000 Jahren, es »begibt« sich noch heute. Und gerade, weil so viel von uns selbst in dieser Geschichte steckt, möchten wir sie jedes Jahr wieder hören. Teichert setzt die Weih­ nachtsgeschichte in Beziehung zur heutigen Zeit – poetisch und politisch relevant. Er lädt ein, in das Mysterium von Weihnachten einzutauchen, wie in Schuberts »Winterreise«, in der es heißt: »Ihr lacht wohl über den Träumer, der im Winter Blumen sah …«.


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