Rainer Bayreuther
Der
Sound Gottes
Kirchenmusik neu denken
Rainer Bayreuther
Der
Sound Gottes
Kirchenmusik neu denken
Inhalt
Ω
Dämmerung
1.1 1.2 1.3 1.4 1.5 1.6 1.7
Im Ohrensessel Musikbausteine für den Gottesdienst Aus dem Musikwörterbuch des Gutmenschen Der Wort-Wahn-Witz der Kirchenmusik Lieder, Lieder, nichts als Lieder Geschichten erzählen Musik zum Wohlfühlen
Α. Β. Γ. Δ. Ε.
Kultus Griechen Juden Jesus Paulus
101 115 131 145 159
2.1 2.2 2.3 2.4 2.5 2.6 2.7
Ins Offene, Freund Gottes Finger am Bausteindomino Verantwortungs-los Sounds ohne Worte Melos Daten generieren Sounds zur Hingabe
185 190 197 200 208 218 226
Anmerkungen
9 11 20 31 40 52 62 76
238
Ω
Dämmerung
Die Gewissheit von der Größe und Sicherheit der christlichen Kirchenmusik ist erodiert. Trotz eines Fundaments frommer Sozialisation, trotz tiefer Liebe zu den Werken der Kirchenmusik und ihres langen Studiums hat sich meine Befürchtung verdichtet, dass sie nicht mehr in die Zukunft des christlichen Glaubens an Gott tragen. Es ist der Kirche etwas abhandengekommen, ohne das alle musikalische und kulturelle Bedeutung eines kirchenmusikalischen Werks nichtig wird, eine tatsächliche Begegnung mit Gott, wenn die Musik erklingt. Was allerdings nie abhanden kommen wird, sind: Gott und Klang. Die Frage ist, welche Stellung wir darin einnehmen. Aktuelle krisenhafte Umbrüche wie der Medienwandel, neue Formen politischer Repräsentation und der pandemische Ausnahmezustand zeichnen die Krise der Kirchenmusik in schärferem Licht. Gewiss gaben sie äußere Anstöße für das Entstehen dieses Buchs. Zu manchen Thesen und Argumentationen fühlte ich mich von ihnen aufgerufen. Schwerer jedoch wiegt, dass diese Umbrüche tief ins Religiöse hineinragen. Dass die Kirchenmusik von der Digitalisierung, von der Tektonik des Politischen und von Corona tangiert wird, ist trivial. Dass in diesen Umbrüchen ein epochaler religionsgeschichtlicher Niedergang wie auch ein Aufgang von Neuem vor sich geht, das gilt es 9
zu denken. In diese Dämmerungen ist die Kirchenmusik hineinverwoben. Die sieben Abschnitte des ersten Kapitels sind der Versuch, gegenwärtige Symptome der Krise zu diagnostizieren und ihre tieferen Ursachen zu verstehen. Das zweite Kapitel greift Punkt für Punkt die sieben Themen auf und kehrt ihre Perspektive um. Nun wird aufgezeigt, wie sich die Gegenwart Gottes in einem Klanggeschehen denken lässt. Die fünf Abschnitte in der Mitte sind eine Art Spiegelachse. Sie erörtern den Zusammenhang von göttlicher Gegenwart, Kultus und Klang in einem religionsgeschichtlichen Durchgang. Auf der Heuberghütte im Chiemgau, Karsamstag 2021
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1.1 Im Ohrensessel
Die Kirchenmusik ist zu einem Ohrensessel geworden, in dem man sehr weich und sehr tief sitzt. Schon lange haben sich Rückenschmerzen eingestellt. Sobald man sich erheben will, wird der Schmerz stechend, und man lässt sich zurücksinken. Wenige Füllstoffe stecken im Polster, von denen aber sehr viel. Umfragen bescheinigen stabil, dass es an erster Stelle kirchenmusikalische Veranstaltungen sind, die die Menschen noch zum Gang in die Kirche bewegen. Von den immer Wenigeren, die überhaupt eine Kirche betreten, sind es immer mehr, die es nur wegen der Musik tun. Stabil seit über zweihundert Jahren, seit der Säkularisation von 1803 nämlich, als sich in der klerikalen Peripherie eine bürgerliche Kirchenmusik bildete, werden die Programme der großen, konzertanten Kirchenmusik von denselben Schlachtrössern dominiert: Händels Messias, Haydns Schöpfung, Mozarts Requiem, den drei Bach’schen Oratorien. Das Angebot bestimmt die Nachfrage, die Nachfrage das Angebot. Der Kreislauf im engen Radius bringt nach wie vor Sänger in die Chöre. Er hält Sponsoren und Kulturpolitiker bei der Stange, die sich allemal lieber mit dem Bekannten und Bewährten schmücken als mit Experimenten. So lässt eine geschlossene „self fulfilling prophecy“ die wenigen Satelliten um sich selber kreiseln. Um den schmalen Erfolg nicht zu riskieren und eine der letzten Gewiss11
heiten der Kirchenmusik nicht zu erschüttern, bewegt man sich lieber nicht von der Stelle. Die Phantasielosigkeit auf den kirchenmusikalischen Programmzetteln ist aber nicht das eigentliche Problem. Die Kirchenmusik ist mittlerweile findig geworden, die ganze Kirchenmusikgeschichte zu bespielen. Musik aus dem Mittelalter, aus der Moderne oder dem Pop ist kein Tabu mehr. Wir werden sogar sehen, dass es tief im Wesen der Kirchenmusik liegt, ihr Repertoire ständig zu entgrenzen und zeitgemäß zu halten. Kirchenmusiker und Pfarrer finden selbstverständlich Händel erhebend und Mozart göttlich und geben augenzwinkernd zu, dass sie auch schon mal inkognito nach Wacken fahren. Religiöse Erfahrungen machen sie hier wie dort nicht, und wenn ein klein wenig doch, dann eher dort als hier. Eine tiefer gehende Problemanzeige ist, dass der Traditionsfundus auf Werke hin abgegrast wird, die funktionieren. Die funktionieren bei einer bestimmten Zielgruppe, in bestimmten Stimmungslagen, für diese und jene Kasualien. So bilden und erneuern sich die Repertoires. So zieht man mit den bewährten Schlachtrössern in den Kampf, bis sie nach Jahrzehnten doch irgendwann lahm und siech werden. (Wer spielt, wer kennt heute noch Grauns Passion, Schneiders Weltgericht, selbst Beethovens Missa solemnis? Bewährte Schlachtrösser über Jahrzehnte, die jetzt das Gnadenbrot der CD-Einspielungen fressen.) Aber alle diese längeren oder kürzeren Konjunkturen sind merkwürdig irrelevant bei den großen Verfallserscheinungen der kirchlichen Frömmigkeit. Die manchmal immer noch prächti12
ge und erhebende klassische Kirchenmusik dreht nur am Hamsterrad. Das ist es, was müde macht. Ein anderer Füllstoff ist Bach, Bach und immer wieder Bach. Bach sei das fünfte Evangelium. Evangelien sind sakrosankt, aber nicht, weil irgendwelche Autoritäten sie für kanonisch erklären. Der Grund für die Heiligsprechung ist, dass aus ihnen mit objektiver Zuverlässigkeit Heil und Segen strömt. Die Autorität, die Bach zum Evangelisten erklärt hat, war übrigens nicht der Arzt, Theologieprofessor, Orgelvirtuose und Friedensnobelpreisträger Albert Schweitzer. Ihm wird das Diktum fälschlicherweise zugeschrieben, aber was er tatsächlich gesagt hat in seinem Bachbuch, fordert auf zum Sitzenbleiben: „So ist Bach ein Ende. Es geht nichts von ihm aus; alles führt nur auf ihn hin.“1 Was ist, wenn viele nicht zu ihm hingeführt werden, weil sie auf diesem Feld der Kirchenmusik gar nicht mehr unterwegs sind? Was ist, wenn das Offensichtliche offensichtlich wird, dass Bach kein Evangelist ist, sondern einfach ein sehr guter Komponist von Kirchenmusik? Wenn das Hohle, Verlegene, Verlogene dieser Formel herauskommt? Die Orgel, noch so ein Polstermaterial. Sie ist limitiert in ihren Ausdrucksmöglichkeiten wie andere Instrumente auch, das gibt jeder zu. „Danke für diesen guten Morgen“ auf der Orgel zu begleiten ist aus stilistischen Gründen suboptimal. Aber andererseits ist sie doch auch das Welteninstrument, die Universalmaschine, die Gott selbst baut und spielt, wie ein katholischer Autor im 17. Jahrhundert einmal wirkmächtig schrieb. Von einer E-Gitarre 13
kann man das nicht gerade sagen. Daher darf dieses Instrument wuchtig in jeder Kirche stehen und, Stilbedenken hin oder her, alles und jedes begleiten. Es gibt nämlich allem und jedem das Kirchengschmäckle. „Danke für diesen guten Morgen“, „I did it may way“ und „Highway to hell“ auf der Orgel gespielt klingen plötzlich wie von einem Kirchenmusiker komponiert. Wie Bach ist die Orgel „the winner that takes it all“. Eine riskante Wette auf ein einziges Pferd. Sie zwingt alle Musik, die auf ihr stattfindet, in ihre Chancen, Risiken und Nebenwirkungen. Die Kirchengemäßheit all dessen, was durch ihre Pfeifen strömt, ist garantiert. Aber diese Art Beruhigung ist beunruhigend, von ihr geht nichts aus, alles führt nur auf sie hin, sie ähnelt Beruhigungspillen. In der Kirchenmusik kursieren Totschlagargumente. Ein Totschlagargument lässt jedes Gegenargument so dastehen, als habe es den Zusammenbruch zur Folge. Der Status quo ist zwar nicht optimal, niemand in der Kirchenmusik hat das in der jüngeren Vergangenheit behauptet. Aber jede Veränderung würde alles nur noch schlimmer machen. Aus dieser Haltung ist eine paradoxe Melange aus Unmut und Selbstzufriedenheit, aus kreisendem Stillstand, aus laut gähnender Müdigkeit erwachsen. Kirchenmusikmikado: Wer sich bewegt, hat verloren. Jetzt schrillen die Alarmglocken der kirchlichen Versammlungsbeschränkungen, der Singeverbote, der Verlagerung des Frommseins ins Virtuelle, der unweigerlich auf die Kirchenmusik durchschlagenden Wirtschaftskrise. Die Kirchenmusik muss sich bewegen, aber erstens tut 14
es fürchterlich weh, und zweitens weiß sie nicht wohin. Impulse des Aufstehens hat es in der Geschichte der Kirchenmusik viele gegeben. Der Protestantismus der Lutherzeit protestierte gegen das überbordende Kunstgebaren der katholischen Kirche. Die Restauration des späten 18. Jahrhunderts forderte für die Kirchenmusik ein „back to the roots“, in beiden Konfessionen. Die Liturgiebewegung im späteren 19. Jahrhundert, ebenfalls konfessionsübergreifend, mahnte das satte bürgerliche Oratorienwesen zu musikalischer Diät und liturgischem Training. Das Zweite Vatikanische Konzil der 1960er-Jahre beschloss den kirchenmusikalischen Pluralismus. Diese Reformen haben den Finger in Wunden der Kirche und immer auch der Kirchenmusik gelegt. Sie haben – aus tiefliegenden theologischen Gründen – aber immer nur ein Ja-aber hervorgebracht. Ihre Predigt war am Ende immer: aufstehen und sitzenbleiben gleichzeitig. Die Kirchenmusik ist verkeilt in einer widersprüchlichen Situation, und zwar seit Jahrhunderten. Vielleicht zeitigt die gegenwärtige Krise den Impuls, der endlich ausreicht, um sich aus dem Geflecht herauszuwinden. Vielleicht ist sie groß genug, dass die alten Argumente des Ja und des Aber von selber zerbröseln. Vielleicht aber reicht sie immer noch nicht aus fürs Aufstehen aus dem Ohrensessel. Ich bin kein Prophet und schon gar kein Evangelist. Dieses Buch versucht nichts weiter, als die gegenwärtige Lage der Kirchenmusik zu denken, worunter letztlich zu verstehen ist: die gegenwärtige Lage Gottes und seines irdischen Erklingens zu denken. 15
Die Kirchenmusik ist zu einem Ohrensessel geworden, in dem man sehr weich und sehr tief sitzt. Zweifellos gehört die hörbare und gemeinschaftliche Ekstase unverzichtbar zur christlichen Frömmigkeit. Aber lässt sich daraus nicht viel mehr ableiten, als auf der Kirchenbank Gesangbuchlieder mit Orgelbegleitung zu singen oder den Kirchenchor auftreten zu lassen? Und ansonsten Bach, Bach und wieder Bach. Der Musikwissenschaftler Rainer Bayreuther plädiert leidenschaftlich für mehr experimentellen Mut in der Kirchenmusik, für den Einsatz auditiver Medien und die kreative Verknüpfung von digitaler und physischer Kommunikation.