RICHARD ROHR
VOM BÖSEN Eine neue Theologie
Aus dem Amerikanischen von Elisabeth Liebl
Titel der amerikanischen Originalausgabe: What Do We Do with Evil? Copyright © 2019 Center for Action and Contemplation CAC Publishing, Center for Action and Contemplation, PO Box 12464, Albuquerque, New Mexico 87195, USA, cac.org
Die Bibelzitate folgen der Einheitsübersetzung sowie den Übertragungen von Richard Rohr.
Mehr Bäume. Weniger CO2. www.cpibooks.de/klimaneutral
© Claudius Verlag München 2022 www.claudius.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden. Umschlaggestaltung: Weiss Werkstatt, München Gesetzt aus der Adobe Garamond Pro und Corporate S Pro Druck: CPI Clausen & Bosse, Leck ISBN 978-3-532-62870-6
Inhalt
Einführung
7
Die Welt, das Fleisch und der Teufel
23
Das spirituelle Genie des Paulus
27
Wir alle sind Nutznießer und Teilhaber des Bösen
45
Die Verstecke des Todes
51
Ein Weg heraus und hindurch
69
Die Spirale der Gewalt
77
Die Kritik Jesu am Sündensystem
85
Wie wir überleben und spirituell wachsen können
91
Liebe und Vergebung
101
Die Paulinische Dialektik
103
Die Spannung halten
107
Alles in allem
115
Endnoten
119
Einführung
Zuerst müssen wir fallen und dann vom Fall wieder aufstehen – beides entspringt der Gnade Gottes. Juliana von Norwich
Ich beginne mit diesem wundervollen Zitat meiner Lieblingsmystikerin Juliana von Norwich (1342– 1416), die uns immer wieder so viele befreiende Gedankenexperimente, Möglichkeiten und Herausforderungen aufzeigt. Denn ihre Gedanken sollen mir als Unterströmung für dieses Buch dienen, in dem es um die oft falsch verstandene Idee der Sünde und das erschreckende Konzept des Bösen geht. Ich hoffe, Sie werden sogleich begreifen, worauf ich hinauswill. Betrachten wir als Erstes die „Sünde“. Finden Sie es nicht auch merkwürdig, dass der Begriff „Sünde“, der uns in der Bibel immer wieder entgegentritt, heutzutage kaum noch gebraucht wird? Dabei würde der Großteil von uns wohl kaum bestreiten, dass es das Böse und die Schuld gibt (was ja auf der Hand liegt). Doch das Wort „Sünde“ selbst scheint heute veraltet, und in 7
den meisten Fällen scheint seine Verwendung die Diskussion weder voranzubringen noch zu einer Klärung beizutragen. Bei jeder Debatte lässt es das Gespräch in einem verwinkelten Kaninchenbau aus Seitenhieben, Werturteilen und Erklärungen enden, die vom eigentlichen Thema ablenken. Dabei mache ich immer wieder dieselbe Feststellung: Viele progressive Gläubige hassen das Wort und viele konservative überstrapazieren es, ohne auch nur den Versuch einer Definition zu unternehmen. Vielleicht ist der Grund, warum so viele Menschen diesen Begriff aus ihrem Wortschatz gestrichen haben, der, dass wir die Sünde in dem engen Kontext unserer eigenen kulturellen Kategorien angesiedelt haben, ohne uns der eigentlichen Subtilität, Tiefe und Bedeutung seines Kontexts bewusst zu sein. Da jede Kultur und Religion „Sünde“ auf ihre eigene, idiosynkratische Weise definiert hat, hat das Wort seinen Nutzen und Wert eingebüßt. Wir Katholiken zum Beispiel haben irgendwann erkannt, dass freitags kein Fleisch zu essen nichts damit zu tun hat, dem Bösen zu widersagen, sondern dass dieses Gebot auf die Regeln und die Praxis einer zeitgebundenen Kirche zurückgeht. Und doch galt es seit dem 16. Jahrhundert als „Todsünde“, freitags Fleisch zu essen und sonntags nicht zur Kirche zu gehen. (Siehe 1 Johannes 5,16–17, wo von der Sünde die Rede ist, „die zum Tode führt“). Wirklich? Diese 8
Lesart führte dazu, dass man vielen Dingen misstraute, die Gott angeblich „kränkten“. Letztlich aber kränkten sie nur die christlichen Moralapostel. So haben wir entdeckt, dass Sünde und das wahre Böse nicht immer dasselbe sind. Das wirklich Böse ist immer tödlich. Die Sünde hingegen ist ein guter und häufig notwendiger Markstein für Grenzen, aber sie deutet nicht immer auf das objektiv Böse und ist daher nicht immer tödlich oder „führt zum Tode“. Selbst in der katholischen Auslegung galten viele Sünden als „lässlich“, was bedeutet: nicht schwerwiegend, sondern entschuldbar und leicht verzeihlich. Schließlich stellten wir fest, dass es keine objektive Definition für das Wort „Sünde“ gibt. Stattdessen gebrauchten wir es für bestimmte Tabus, für kulturelle Erwartungen, die häufig mit den körperlichen Reinheitsgeboten zusammenhängen. Dass Frauen, die keine Nonnen sind, lange Kleider und Kopftücher tragen, gilt im Islam als tugendhaft, wird in den meisten christlichen Ländern aber als Praxis der Unterdrückung betrachtet. Am Sabbat zu arbeiten, also von Freitagabend bis Samstagabend, ist den orthodoxen Juden verboten, für die meisten Familien im Westen ist dies gewöhnlich der geschäftigste Tag. Manche Katholiken erlauben das Trinken und Tanzen, während die Angehörigen der Southern Baptist Convention darin obszönes Verhalten erblicken. 9