Ortswechsel 9/10

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Ortswechsel Evangelisches Religionsbuch fĂźr Gymnasien

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Ortswechsel

Evangelisches Religionsbuch fĂźr Gymnasien 9/10



Ortswechsel

Evangelisches Religionsbuch fĂźr Gymnasien 9/10


Herausgegeben von: Ingrid Grill-Ahollinger, Sebastian Görnitz-Rückert, Andrea Rückert verfasst von: Sebastian Freisleder, Sebastian Görnitz-Rückert, Ingrid Grill-Ahollinger, Hans Christian Kley, Andrea Rückert, Peter Samhammer unter Mitarbeit von Tanja Gojny

© Claudius Verlag München 2015 Birkerstraße 22, 80636 München www.claudius.de Rechtschreibreformiert, sofern nicht urheberrechtliche Einwände bestehen. Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Gestaltung und Typografie: Simon Schmidt, Baierbrunn Druck und Bindung: appl, Wemding ISBN 978-3-532-70052-5

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IMPRESSUM


Inhalt Kapitel 1: Dazwischen

Seite

9

Ihr denkt auf diesen ersten Seiten über die Bedeutung von Distanz und Nähe in Beziehungen nach. Ihr nehmt wahr, dass Religion mit dem Umgang mit Zwischenräumen und dem Aushalten von Abstand zu tun hat. Außerdem untersucht ihr in zwei Geschichten vom Vorabend der Passion, wie Jesus Berührung erfährt und gestaltet, und fragt nach einem Lebensstil, der sich an ihm orientiert.

Kapitel 2: So bin ich . . .

Seite 21

Wir finden uns immer schon in einer Welt vor, in der Menschen Probleme miteinander haben, sich gegenseitig kränken, scheitern und schuldig werden. Warum sind Menschen so? Die ersten Kapitel der Bibel, mit denen ihr euch hier beschäftigt, schildern das problematische Wesen des Menschen in mythischen Bildern und deuten es im Horizont der Beziehung zu Gott. Sie regen euch an, über eigene Sinnfragen zu philosophieren, und machen zugleich Hoffnung, dass der Mensch, was auch immer er anstellt, nicht aus Gottes Hand herausfällt.

Kapitel 3: Erkenntnis und Glaube

Seite 37

In diesem Kapitel geht es ums Ganze, nämlich um unser Bild von der Welt und darum, welche Auswirkungen verschiedene Weltbilder auf das Lebensgefühl haben. Im Zentrum steht dabei das Verhältnis von Schöpfungsglaube und Naturwissenschaft: Stehen Wissenschaft und Glaube in Konkurrenz zueinander? Hat die Wissenschaft den Schöpfungsglauben nicht schon längst widerlegt? Ihr lernt hier, die Weltzugänge von Glauben und Naturwissenschaft zu unterscheiden, und prüft, inwieweit sie sich miteinander ins Gespräch bringen lassen.

Kapitel 4: Der Himmel auf Erden?

Seite 53

Verschiedene Formen und Vorstellungen von Liebe werden euch jeden Tag vorgelebt, über Medien vermittelt und von euch selbst erfahren. Und doch ist es alles andere, als einfach zu sagen, was Liebe eigentlich ist, welchen Stellenwert sie im eigenen Leben haben soll und wie man damit umgeht. Ihr überprüft, was sich ändert, wenn man Freundschaft und Liebe aus der Sicht des Glaubens betrachtet und gestaltet.

Kapitel 5: Reibungsflächen

Seite 71

Kirche und Staat stehen seit jeher in einem besonderen Verhältnis. In diesem Kapitel erfahrt ihr anhand verschiedener Beispiele seit dem 18. Jahrhundert, auf welche Weise sich christlicher Glaube politisch geäußert hat. Besondere Aufmerksamkeit richtet sich dabei auf die Lebensbedingungen im nationalsozialistischen Deutschland und in der DDR. Ihr geht außerdem der Frage nach, welche Rolle Kirche in einer veränderten, pluralen Gesellschaft spielt und welche Gestaltungsräume diese Kirche euch bietet.

Kapitel 6: Zwischen den Stufen

Seite 101

Am Beispiel des Buches Hiob lernt ihr die Bibel als ein vielstimmiges Buch voller Spannungen und Auseinandersetzungen kennen, das bis heute zu unterschiedlichsten Deutungen und Gestaltungen herausfordert. Das Kapitel will dazu einladen, die »Zwischenräume« des biblischen Textes und seiner Auslegungen kritisch fragend und kreativ deutend selbst zu beschreiten.

INHALT

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Inhalt Kapitel 7: Sorgt nicht!

Seite 125

Die sogenannte »Bergpredigt« Jesu bewegt und provoziert Menschen weit über die Grenzen des Christentums hinaus: Handelt es sich um konkrete Handlungsanweisungen für eine gerechtere Praxis oder um weltfremde Träumereien? Ihr untersucht ausgewählte Texte und ihre Deutungen und prüft, inwieweit sie Denkanstöße für euer eigenes Leben enthalten.

Kapitel 8: Für mich

Seite 143

In diesem Kapitel setzt ihr euch damit auseinander, welche Bedeutung Jesus Christus für euren persönlichen Glauben und für eure Lebensorientierung hat. Ihr begegnet vielfältigen Sprachbildern und künstlerischen Gestaltungen von der Zeit der Bibel bis zur Gegenwart: Diese kreisen – teils durchaus skeptisch – um die schwierige Frage, was es bedeuten kann, wenn Christen bekennen, dass Gott sich in Christus »berührbar« gemacht und der Gewalt der Menschen ausgesetzt hat – und das alles aus Liebe, »für uns«, damit etwas anders wird in unserem Leben.

Kapitel 9: Lechaim – aufs Leben!

Seite 165

Ob in öffentlichen Debatten, in filmischen Komödien und Krimis oder in privaten Gesprächen – immer wieder ist zu spüren, dass eine Beschäftigung mit dem Judentum in Deutschland häufig von Befangenheit geprägt ist. Dies liegt an der Erinnerung an die lange Geschichte des Antisemitismus und ihrer Folgen. Gegen diese Unsicherheit, aber auch gegen Vorurteile und versteckte Formen des Judenhasses helfen historische Informationen und genaue Unterscheidungen. Auf dieser Grundlage denkt ihr darüber nach, wie Juden und Christen heute gut miteinander leben können.

Kapitel 10: So oder so?

Seite 185

»No man is an island« heißt es in einem Gedicht. Weil eben niemand nur für sich lebt, braucht es Spielregeln für das Zusammenleben. In diesem Kapitel geht es um den Sinn solcher Regeln, um den Unterschied von Moral und Ethik sowie um konkrete Beispiele für Situationen, in denen ihr im alltäglichen Leben vor ethischen Entscheidungen steht. Ihr beschäftigt euch dabei auch mit der Frage, inwieweit der christliche Glaube Auswirkungen auf das eigene Handeln haben kann.

Kapitel 11: Rad des Lebens

Seite 203

In diesem Kapitel lernt ihr Vorstellungen des Buddhismus und deren hinduistische Wurzeln kennen. Ihr erfahrt von der Biografie des Buddha und lernt die Grundlagen der buddhistischen Lehre kennen. Dabei nehmt ihr auch das Eigene in den Blick: Das Ich, das vom Buddhismus grundsätzlich infrage gestellt wird, die eigene Position, die sich durch die Beschäftigung mit der fremden Position verändern bzw. schärfen kann, und den eigenen religiösen Erfahrungsschatz, der sich, angeregt vom Blick auf den Buddhismus, vielleicht erweitert.

Kapitel 12: Auf Leben und Tod

Seite 225

Wer vom Tod spricht, spricht eigentlich vom Leben. Ihr nehmt wahr, wie uns Tod und Trauer z. B. in der medialen Welt, in Musik, Kunst und Literatur begegnen, und tauscht euch über persönliche Erfahrungen und Gedanken aus. Ihr begegnet christlichen Deutungen des Todes und Bildern von Auferstehung und ewigem Leben. Ausgehend davon denkt ihr über Konsequenzen für den Umgang mit dem Tod in ethischen Konfliktsituationen nach, z. B. im Zusammenhang mit Organspende oder Sterbehilfe.

Methoden, Lexikon, Register, Quellenverzeichnis Noch mehr Methoden und ein erweitertes Lexikon findet man unter: www.claudius.de/ow.

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INHALT

Seite 249


Vorwort Liebe Schülerinnen, liebe Schüler! Berührung und Nähe tun gut, aber sie können auch unangenehm sein. Distanz kann befremden und als bedrohlich erlebt werden, und doch will man manchmal Abstand gewinnen. Beziehungen leben davon, dass die Abstände und Zwischenräume stimmen. Jugend wird manchmal als Zeit »dazwischen« bezeichnet. Aber nicht nur bei Jugendlichen, sondern ein Leben lang widerfahren den Menschen Irritationen, Unterbrechungen, Trennungen, die schmerzliche Zwischenräume entstehen lassen. Häufig will man diese am liebsten gleich überspringen und zukitten, auch mithilfe der Religion. Andererseits spricht auch einiges dafür, Abstände auszuhalten: Wenn das eine war und das andere noch nicht ist, dann ist das womöglich eine sehr offene und kreative Zeit »dazwischen«. Vielleicht ist es erst der Mut zum Zwischenraum, der einen zu einer selbstständigen und unabhängigen Person machen kann. Im christlichen Glauben geht es um das Vertrauen in Gott, genauer, dass man Gott mehr vertrauen soll als allem anderen. Von hier aus ergeben sich vielfältige Bezugsmöglichkeiten zum Thema »Dazwischen«: Denn wo wird dieses Vertrauen über alles Greifbare hinaus sichtbarer als dort, wo jemand das Bekannte verlässt und sich in das Niemandsland wagt, ohne dass das Neue noch mehr ist als ein Versprechen?

In diesem Jahr wird es darum gehen, über Zwischenräume und Abstände in der eigenen Lebens- und Erfahrungswelt nachzudenken und darüber, was sie mit Religion zu tun haben; l in den alten Geschichten »vom Anfang« Antworten auf Sinnfragen und Deutungen des menschlichen Wesens zu entdecken; l

über die unterschiedlichen Weltzugänge von Glaube und Naturwissenschaft nachzudenken und Gesprächsmöglichkeiten auszuloten; l darüber nachzudenken, wie Liebesbeziehungen – gerade wenn man von ihnen nicht den »Himmel auf Erden« erwartet – zärtlich, respekt- und liebevoll gestaltet werden können; l wahrzunehmen, wie das Verhältnis von Kirche und Staat in den letzten Jahrhunderten herausgefordert wurde und welche Handlungsspielräume es darin für Christen gab und gibt; l am Beispiel des Buches Hiob die Bibel als Buch mit Zwischenräumen wahrzunehmen, das gerade wegen seiner Fremdheit und Abständigkeit – im Wortsinn – »interessant« sein kann; l in der Bergpredigt Kopfstandgedanken und praktikable Anregungen zu entdecken und dabei auch den Evangelisten in die Werkstatt zu schauen; l zu verstehen – oder es zu versuchen –, was die Bibel damit meint, wenn sie das Leben und Sterben Jesu Christi als Geschenk »für uns« deutet; l über »Richtig« und »Falsch« im Alltag zu diskutieren und dabei Begriffe und Denkfiguren aus philosophischem und christlich-theologischem Nachdenken über Ethik zu Hilfe zu nehmen; l die fremde Welt des Buddhismus kennenzulernen und daraus – trotz oder wegen des großen Abstands – neue Perspektiven auf eigene Sichtweisen zu gewinnen; l über die Endlichkeit des Lebens nachzudenken, die alten Hoffnungsbilder christlicher Tradition zu entschlüsseln und daraus Impulse für den Umgang mit Sterbenden zu gewinnen. l

VORWORT

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»Ortswechsel 9/10« enthält folgende zumeist aus 5/6 und 7/8 bekannte Elemente: 5/ 6

7/ 8

?

Solche umrahmte Zahlen verweisen auf einen Inhalt aus Ortswechsel 5/6 bzw. 7/8. Jedes Kapitel beginnt mit einigen philosophischen Fragen, die uns selbst, unser Leben oder Gott betreffen. Einige dieser Fragen kann niemand endgültig beantworten. Sie begleiten einen ein Leben lang. Nach den Eingangsfragen führt euch in jedem Kapitel eine Doppelseite mit besonderen Bildern oder Texten mitten in das jeweilige Thema hinein. Wenn ihr dann umblättert, findet ihr Erklärungen und Aufgaben dazu. Es folgen Doppelseiten mit weiteren Materialien, Informationen, Statements und Ideen, in denen ihr die Themen von verschiedenen Seiten beleuchtet. Hier gibt es Ideen, Aufgaben, Anregungen, Rollenspiel- und Projektvorschläge, manchmal auch einfach nur Sätze zum Nachdenken oder Diskutieren.

nfo

Was ihr wissen müsst, um die Aufgaben zu bearbeiten und euch in Religion immer besser auszukennen, steht in den Infos. Weitere Informationen enthält das Lexikon am Ende des Buches. Begriffe, die dort erklärt werden, sind im Text mit einem Sternchen* versehen. Früher gab es in Schulbüchern »Merksätze« zum Auswendiglernen und Behalten. Wenn man über Gott nachdenkt, ist das mit der

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VORWORT

»Lehre« allerdings nicht so einfach, und das ist gut so. In diesem Buch findet ihr »Merkes« dort, wo es etwas zu »bemerken« oder auch anzumerken gibt, dort, wo man sich wundert, wo man sich festbeißt, wo einem ein Licht aufgeht. Ein Schließfach-Symbol zeigt an, dass ihr in manchen besonderen Fällen etwas anfertigen könnt, das euer Geheimnis bleibt, weil es nur euch selbst etwas angeht. Am Ende eines jeden m Zusammenhang Kapitels könnt ihr ausprobieren, ob ihr das Gelernte im Zusammenhang verstanden habt und anwenden könnt. Dabei werden auch Verbindungen zu anderen Kapiteln hergestellt. Auf dieser letzten Kapitelseite findet ihr den Merkrucksack. Er regt euch an, innezuhalten und zu fragen: Was war wichtig? Welche Begriffe und Zusammenhänge wollen wir uns merken? Welche Fragen wollen wir weiterverfolgen? Wie in allen Fächern benötigt ihr auch im Religionsunterricht Methoden und Arbeitstechniken, um Inhalte zu erschließen und miteinander ins Gespräch zu kommen. Einige Methoden, die für den Religionsunterricht wichtig sind, werden im Buch durch einen kleinen Werkzeugkoffer gekennzeichnet und auf den S. 229 bis 238 erläutert.


DAZWISCHEN

?

Wovon und wozu brauche ich Abstand? Ist Abstand leer? Was berührt mich? Und wenn ich nicht berührt werden will? Schule – ein Zwischenraum? Hilft Religion?

Kapitel 1 DAZWISCHEN

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auf Abstand

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KAPITEL11 KAPITEL


nah

DAZWISCHEN DAZWISCHEN

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Der Lattenzaun

Jungsein und Bildung als die Zeit dazwischen

Es war einmal ein Lattenzaun, mit Zwischenraum, hindurchzuschaun. Ein Architekt, der dieses sah, stand eines Abends plötzlich da – und nahm den Zwischenraum heraus und baute draus ein großes Haus. Der Zaun indessen stand ganz dumm, mit Latten ohne was herum, Ein Anblick gräßlich und gemein. Drum zog ihn der Senat auch ein. Der Architekt jedoch entfloh nach Afri- od- Ameriko. Christian Morgenstern

Was es heißt, jung zu sein? Wir ahnen es noch, weil wir es selbst gewesen sind. Aber wir wissen nichts Genaues mehr, weil es vorbei ist. Es ist die Zeit dazwischen. Zwischen Kindheit und Erwachsenenalter, zwischen Schule und Beruf, zwischen Freundschaft und Liebe, zwischen Träumen und Plänen, zwischen mir und den anderen, zwischen mir und mir. Die Zeit dazwischen ist voller Schmerzen, Langeweile und hochfliegendem Selbstvertrauen; unglaublich anstrengend, selten richtig schön – was Erwachsene so schön nennen –, aber immer wichtig. Aus der Zeit dazwischen stammen unsere intensivsten inneren Bilder. Rita Burrichter

Was müssen das für Bäume sein Was müssen das für Bäume sein, wo die großen Elefanten spazieren geh’n, ohne sich zu stoßen? Rechts sind Bäume, links sind Bäume, und dazwischen Zwischenräume, wo die großen Elefanten spazieren geh’n, ohne sich zu stoßen! Kinder-Singspiel

So gesehen wäre der Raum der Bildung im doppelten Sinne ein Zwischenraum: einer zwischen Vergangenheit und Zukunft und zugleich einer, in dem den Kräften, die das Leben ausmachen, Einfluss eingeräumt und zugleich auch Einhalt geboten wird dadurch, dass der Raum der Bildung als Zwischenraum Weite gibt für das Entwickeln eines eigenen Standpunkts, einer eigenen Form, einer eigenen Lebensweise, eben einer entfalteten Gegenwart. Renate Girmes »Mittendrin statt nur dabei.«

»Mir ist etwas dazwischengekommen.« »in between«

»zwischenzeitlich«

z Fertige eine Skizze zu dem Bild auf S. 10 an, in

(Plakat oben)! Verwende dazu die Gedanken von R. Bur-

der du markierst, zwischen wem oder was es

richter und R. Girmes! – Gefragt waren künstlerische Darstel-

Abstände gibt. – Ändere in Gedanken jeweils einen

lungen aller Art (Fotografie, Malerei, Multimedia usw.) – viel-

Abstand und stelle dir vor, was sich dadurch verändert! z In dem Fotoband »Sehnsuchtsorte« wird das Foto auf S. 10

leicht habt ihr selbst Ideen, ggf. für eine kleine Ausstellung? z Das Erwachsenwerden ist in allen Religionen und Kulturen 5/ 6

so gedeutet: »Wir stellen die beiden Personen in einen

mit Übergangsriten und -ritualen* verbunden.

gemeinsamen (Gefühls-)Raum. Wir beziehen sie aufeinander,

Übergangsriten und -rituale, die in Deutschland Bedeutung

obwohl sie sich nie begegnet sind, so wie das in der Stadt

haben (auch im Bereich der Schule)!

die Regel ist. Wir sind unter vielen für uns.« Tauscht euch über eure Erfahrungen mit »Alleinsein unter vielen« (z. B. in einer Großstadt, bei Massenveranstaltungen usw.) aus! z Offensichtlich verleitet der Begriff »Zwischenraum« zu

humorvoller Auseinandersetzung. Lasse dich zu einem eigenen Gedicht inspirieren! Probiere eine Definition von »Zwischenraum« oder verdeutliche den Begriff durch eine Grafik! z Deute den Titel des Jugendkulturpreises von Sachsen-Anhalt

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»inzwischen«

KAPITEL 1

Sammelt


Berührung Die Macht der Berührung

GRATIS UMARMUNG !!!

FREE HUGS!!! Berührung z Sammelt zu dem Bild auf S. 11 Assoziationen und

ordnet sie in Form eines Clusters! Überlegt, ob auf diesem Bild auch »Abstand« zu finden ist! z Berührungen können: . . . Gänsehaut hervorrufen . . . beruhi-

gen . . . nerven . . . aggressiv machen . . . Ergänze diese Liste mithilfe des Textes und der Fotos auf dieser Seite! z Formuliere Kriterien, wann die »Macht« der Berührung eher

positiv oder negativ ist! z In manchen Berufen spielt Berührung eine besondere Rolle! z In verschiedenen Ländern und Kulturen ist der Umgang mit

Berührungen, mit Nähe und Distanz unterschiedlich. Tauscht Erfahrungen aus! z Handschlag oder Bussi-Bussi? Besprecht, ggf. getrennt nach

Ein In-den-Arm-Nehmen hier, ein Händeschütteln da, dazwischen der Gang zum Masseur oder Friseur. Berührungen begegnen uns im Alltag überall. Der Instinkt für Berührungen ist vielen Lebewesen gemein. Instinktiv nehmen wir weinende Kinder auf den Arm, streicheln ihnen über den Kopf. Aber auch im Tierreich kann man beobachten, wie sich Affen liebkosen oder wie Katzenmütter ihre Jungen ablecken. Jedes Streicheln, jede Massage, so belegen Studien, beeinflusst unseren Hormonhaushalt. Und fast jede Berührung wirkt sich positiv auf unseren Körper aus. Fünf Millionen Sinneszellen, verteilt auf circa zwei Quadratmeter – das bildet unser größtes Sinnesorgan: die Haut. Sie schützt uns vor äußeren Einflüssen, bildet eine Hülle zwischen Innen- und Außenwelt und ist oft auch ein Spiegel der Seele. Viele Hautkrankheiten lassen sich auf seelische Probleme zurückführen. Berührungen sind ein Grundbedürfnis wie Atmen, Nahrung oder Wasser. Hat man sie nicht, dann stirbt man zwar nicht unmittelbar, aber man beginnt, langsam zu verkümmern, erst emotional, dann körperlich. In der Medizin hat man längst die positiven Wirkungen von Berührungen erkannt. In zahlreichen Studien wurde nachgewiesen, dass eine als angenehm empfundene Berührung die Ausschüttung des Hormons Oxytocin bewirkt. Dieses Hormon bewirkt nachweislich eine Senkung des Schmerzempfindens und baut Stress ab. Eine Berührungstherapie kann deshalb fast als Medizin eingesetzt werden. Alzheimerpatienten können nach einer regelmäßigen Massage-Therapie ihre Gedächtnisleistung erhöhen. Und Frühgeburten, die täglich längere Zeit auf dem nackten Bauch ihrer Eltern liegen, wachsen schneller und legen besser an Gewicht zu als andere Frühchen. Berührungen sind also nicht nur gut für die Seele, sie stärken auch den Körper und machen auch ganz nebenbei einen anderen Menschen glücklich – denn zum Berühren gehören ja immer zwei. Julia Dietz (zdf )

Jungen und Mädchen, wie sich Jugendliche begrüßen! Ihr könnt euch gegenseitig typische Szenen vorspielen. z Bilde Sätze, in denen »Berührung« eine übertragene Bedeu-

tung hat! Verwende dabei die gesamte Wortfamilie (z. B. Rührung, ungerührt . . .)! Untersuche jeweils, welche Rolle »Abstand« in den einzelnen Wendungen spielt!

DAZWISCHEN

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Zwischenraum-Kitt »Angesichts des Werteverfalls ist Religion wichtig.« »Alte Leute brauchen Religion besonders.« »Ich will unbedingt kirchlich heiraten.« »Ich weiß nicht, ob es Gott gibt, aber wenn es mir ganz schlecht geht, bete ich.« »Es musste einfach so kommen, Schicksal!« »Mit den Zehn Geboten und der Nächstenliebe kann ich noch am meisten anfangen.« »Mein Glaube gibt mir Halt.« »Nach dem Umzug haben meine Eltern gleich im Kirchenchor Anschluss gefunden.« »Ich bin evangelisch.« »Wenn’s hilft!«

Bayern 2 Gesundheitsgespräch: Macht Glaube gesund? In Amerika ist es ein richtiges Forschungsgebiet, wie religiöser Glaube und Gesundheit zusammenhängen. Die bisherigen Ergebnisse: An einen Gott zu glauben oder spirituell zu sein, ist gut für die Gesundheit, wie das Time Magazine im Februar zusammenfasste. Ein konkretes Beispiel: HIV-Patienten, die von sich selbst sagen, sie seien spirituell, haben mehr Immunzellen im Blut als nicht religiöse. Die Studien von Prof. Harold G. Koenig an der Duke University in North Carolina haben ergeben, dass immer mehr Menschen sogenannte »religiöse Stressbewältigung« betreiben. Danach haben religiös aktive Menschen eine höhere Lebenserwartung, niedrigeren Blutdruck, ein stärkeres Immunsystem, größere Überlebenschancen nach einer Herzoperation sowie weniger Depressionen, übrigens unabhängig davon, welcher Religion sie angehören. Eine Studie von 1999 ergab sogar, dass Patienten mit Herzproblemen auf Intensivstationen einen besseren Heilungserfolg haben, wenn andere Menschen für sie beten. Die Patienten wussten jedoch nicht, dass für sie gebetet wurde – ein Placebo-Effekt ist damit ausgeschlossen.

nfo Wenn etwas dazwischenkommt Vieles im Leben ist nicht planbar: Manchmal »hat man einfach Glück«, man begegnet dem richtigen Menschen oder ist zum richtigen Zeitpunkt am richtigen Ort. Auf der anderen Seite kann durch einen Unfall oder eine Krankheit plötzlich das ganze Leben aus den Fugen geraten. Dieses Unvorhersehbare, Unplanbare und Unsichere des Lebens nennt man auch »Kontingenz« (lat. contingentia: Zufall, Möglichkeit). In der Religionssoziologie wird als eine der zentralen Funktionen von Religion die »Kontingenzbewältigung« genannt. Weil Religion mit Sinnfragen (vgl. S. 27) zu tun hat, wird ihr die Fähigkeit zuerkannt, dabei zu helfen, das Unbestimmbare im Leben zu bewältigen. Beispiele: Wenn Menschen sich binden wollen, dann versuchen sie, diesen Schritt ins Ungewisse in einen größeren Rahmen zu stellen, etwa durch eine kirchliche Hochzeit, die das Gelingen der Beziehung Gottes Begleitung anvertraut. Wenn ein Mensch gestorben ist, dann werden Worte am Grab gesprochen und symbolische Handlungen vollzogen. Bei einem Abschied wird um Glück und Segen gebeten: Auf solche Weise wird mit Kontingenz umgegangen.

z Sammle Beispiele für Kontingenzerfahrungen

und beziehe sie auf die Gedanken von Abstand, Zwischenraum und Berührung (S. 12 f.)! z Auch Literatur und Kunst beschäftigen sich mit dem Pro-

blem der Kontingenz (z. B. »Lola rennt«) – suche weitere Beispiele! z Erarbeite aus den Materialien auf dieser Seite, was Men-

schen alles von Religion erwarten! z Gesten und Rituale*, die helfen, mit Kontingenz umzuge-

hen: Ergänze die Beispiele in der Info und deute sie! Denke dabei auch an andere Religionen! z Auch außerhalb von Kirche und verfasster Religion kann

man »religiöse« Symbole und Riten entdecken. Untersuche daraufhin z. B. Werbung, Popmusik oder auch Erscheinungen im Sport und ziehe Vergleiche zu den Funktionen von Religion! z Deute die Seitenüberschrift und fertige dazu eine Grafik an!


Weltabstand Religion ist . . . . . . das Gefühl der schlechthinnigen Abhängigkeit. Religion ist Sinn und Geschmack fürs Unendliche. FRIEDRICH SCHLEIERMACHER, 1768–1834

. . . im weitesten und tiefsten Sinne des Wortes das, was uns unbedingt angeht. PAUL TILLICH , 1886–1965

. . . die Sehnsucht nach dem Anderen … MAX HORKHEIMER, 1895–1973

Religion als Weltabstand

Caspar David Friedrich, Der Wanderer über dem Nebelmeer

z Henning Luther sieht Religion nicht in erster Li-

nie als »Zwischenraumkitt« bzw. Kontingenzbewältigung. Gib seine Sicht von Religion mit eigenen Worten wieder! Vielleicht hilft dabei eine Skizze! z Beschreibe das Bild von Caspar David Friedrich und deute es

unter dem Aspekt des Weltabstands! z Deute die Zitate unter den Aspekten von Abstand und Be-

rührung! z Formuliere aus dem Textmaterial dieser Seite einen eigenen

Bildtitel zu C. D. Friedrichs berühmtem Gemälde!

e – da, wo sie nicht funktioniert, hilft sie.

Religiöse Fragen beziehen sich nicht auf etwas in der Welt, sondern auf die Welt selbst. In ihnen ist nicht Einzelnes in der Welt fraglich, sondern die Welt selber und das In-derWelt-Sein sind hier fraglich. Sie artikulieren Differenz zur Welt, um einen (neuen) Bezug zur Welt zu gewinnen. Religiöse Fragen beziehen sich also weder auf etwas in dieser Welt noch auf eine andere Welt, sondern auf den Weltabstand. Dies ist freilich ein prinzipiell paradoxer Vorgang, da es für dieses Fragen und diese Einstellung keinen archimedischen Punkt gibt, sondern sie sind immer nur vom In-der-Welt-Sein aus möglich. Daraus resultiert der Überschuss der Fraglichkeit des Religiösen vor der Endgültigkeit seiner Antworten. Religion ist wahr und illusionär zugleich. Wahr ist ihre Aussicht auf eine andere Welt, in der »der Tod nicht mehr sein wird noch Leid noch Geschrei noch Schmerz« und in der »alle Tränen« abgewischt werden (Offb 21,4). Illusionär ist Religion, wo sie irgend dieses Wahre als wirklich behauptet und wo sie leugnet, dass dies die Wahrheit eines Versprechens ist. In der Religion ist also die Erfahrung von Widersprüchlichkeit, Brüchigkeit der Welt, wie sie ist, und das Ernstnehmen eines Versprechens zugleich. Religion transportiert immer auch den Einspruch zur Welt. Dieser Einspruch ist Kritik und Hoffnung. Religion löst diesen Widerspruch nicht auf – was nicht ausschließt, dass Religionen dies immer wieder versuchen. Religion ist darum im Kern gerade nicht Sinnstiftung oder Bewältigung von Kontingenz. Religion bewahrt vielmehr die Zerrissenheit, aus der sie lebt. Sie ist Trost, indem sie das Verlangen nach Tröstung bewahrt, nährt und anstachelt. Religion wird zur Vertröstung, wo sie den Menschen den Einspruch zur Welt ausreden will, wo sie Sinn dort behauptet, wo Unsinn und Sinnlosigkeit erfahren werden. Henning Luther DAZWISCHEN

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Gott im Abstand (Ich sah) den Herrn sitzen auf einem hohen und erhabenen Thron und sein Saum füllte den Tempel. Serafim standen über ihm; ein jeder hatte sechs Flügel: Mit zweien deckGustave Doré, Moses zerschmettert ten sie ihr Antlitz, mit die Gesetzestafeln zweien deckten sie ihre Füße und mit zweien flogen sie. Und einer rief zum andern und sprach: Heilig, heilig, heilig ist der HERR Zebaoth, alle Lande sind seiner Ehre voll! Und die Schwellen bebten von der Stimme ihres Rufens und das Haus ward voll Rauch. Da sprach ich: Weh mir, ich vergehe! [. . .] denn ich habe den König, den HERRN Zebaoth, gesehen mit meinen Augen. Jes 6,1–5 . . . und sie fürchteten sich sehr. Aus der Weihnachtsgeschichte, Lk 2,9

z Erinnere dich an biblische Texte und Motive, in

denen Gott unverfügbar, »anders«, vielleicht sogar erschreckend erscheint!

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z Untersuche, wie auf dem Bild zu 2 Mose 32 (oben) das

»mysterium tremendum« (Info!) dargestellt wird! z Beziehe die Überlegungen R. Ottos auf den Gedanken des

Weltabstands (S. 15)! z Die Umschreibung des Gottesnamens im Judentum – die 99

schönsten Namen Gottes im Islam: Vergleiche, wie andere Religionen den Gedanken der Unverfügbarkeit des Göttlichen ausdrücken!

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z F. W. Graf kritisiert, dass in heutigen Gottesdiensten nur

noch vom »Kuschelgott« die Rede ist. Diskutiert, ob ihr dieser Einschätzung zustimmt und ob seine Anfrage auch für den Religionsunterricht gilt! z Der oben abgedruckte Bibeltext schildert die Berufung des

Propheten Jesaja. Das (offenbar unglaublich laute) dreifache »Heilig« der Serafim hat als »Sanctus« Eingang in den christlichen Gottesdienst gefunden. Es lohnt sich, unterschiedliche Sanctus-Vertonungen in der Kirchenmusik zu vergleichen!

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KAPITEL 1

Wir beten an den Kuschelgott »Großer Gott, wir loben dich; Herr wir preisen deine Stärke. Vor dir neigt die Erde sich und bewundert deine Werke«, sangen Deutschlands Christen früher gern an wichtigen Festtagen. Inzwischen erklingen in vielen Kirchen ganz andere Töne. »Herr, deine Liebe ist wie Gras und Ufer, wie Wind und Weite und wie ein Zuhaus.« Seit gut dreißig Jahren lässt sich im Lande ein tiefgreifender Wandel der Gottesrede beobachten. Sprach man auf den Kanzeln einst vom allmächtigen Schöpfer des Himmels und der Erden, der zugleich Richter und Retter sein könne, so wird Gott nun primär als allumfassende Liebe bezeugt. Auf den Kanzeln wird zunehmend ein Kuschelgott verkündet, an dem wer auch immer sich fröhlich erwärmen kann. Gott entbehrt hier des Stachels der Negativität, kann also keine Irritationskraft mehr entfalten. Überkommene religiöse Haltungen wie Gottesfurcht oder scheue Ehrfurcht vor dem Heiligen werden zwar noch von einzelnen christlichen Frommen und vor allem den muslimischen Minderheiten gelebt. Aber im Mainstream der christlichen Kirchen haben die Ferne und erhabene Transzendenz des »mächtigen Königs der Ehren« keinen Ort mehr. Friedrich Wilhelm Graf

nfo Das Heilige Der Religionswissenschaftler Rudolf Otto (1869–1937) sah die Erfahrung des Heiligen (des Numinosen) als den Kern aller Religion an. Das Heilige wird vom Menschen auf der einen Seite als furchterregend und erschreckend erlebt (mysterium tremendum), auf der anderen Seite als anziehend und beglückend (mysteriumfascinans). Diese doppelte Erfahrung des Heiligen hat ihre Spuren auch in der Bibel hinterlassen. Zwar ist die Bibel von Grund auf geprägt von der Botschaft des liebenden Gottes, der seine Geschöpfe liebt, ihnen in Jesus Christus nahe kommt und ihnen ihre Schuld vergibt. Doch erzählen beide Testamente auch von der Heiligkeit Gottes und von Gottesbegegnungen, die den Menschen erschauern lassen. In den Zehn Geboten wird die Unverfügbarkeit Gottes vor allem in den ersten drei Geboten und hier ganz besonders im Bilderverbot festgehalten. 5/6 Ursprünglich auf die Verehrung fremder Götter(bilder) bezogen, wehrt es jeder Festlegung Gottes auf ein bestimmtes Bild, eine bestimmte Vorstellung.


. . . und ganz nah nfo Öl und Wasser Das Parfümöl, mit dem die unbekannte Frau in Mk 14,3–9 so verschwenderisch umgeht, hat den Wert des Jahreslohns eines damaligen Arbeiters. Mit Öl wurden im Alten Israel Könige gesalbt, z. B. David. Daraus leitet sich der Königstitel Messias (maschiach: Gesalbter) ab. Mit kostbarem Öl wurden auch die Toten einbalsamiert. Die Fußwaschung war im Orient eine Geste der Gastfreundschaft. Ebenfalls wichtig für die Deutung von Joh 13,1–17 ist, dass Johannes das Motiv des Wassers oft als Symbol für (ewiges) Leben verwendet. In der katholischen und in der orthodoxen Kirche gibt es den Brauch der Fußwaschung am Gründonnerstagabend; die katholische Kirche kennt das Sakrament der Krankensalbung. Auch in evangelischen Gottesdiensten werden Rituale* der Salbung wiederentdeckt.

Thomas Zacharias, Radierung zur Bibel, Mk 14,3

Er, der in göttlicher Gestalt war, hielt es nicht für einen Raub, Gott gleich zu sein, sondern entäußerte sich selbst und nahm Knechtsgestalt an, ward den Menschen gleich und der Erscheinung nach als Mensch erkannt. Er erniedrigte sich selbst und ward gehorsam bis zum Tode, ja zum Tode am Kreuz. Darum hat ihn auch Gott erhöht und hat ihm den Namen gegeben, der über alle Namen ist, dass in dem Namen Jesu sich beugen sollen aller derer Knie, die im Himmel und auf Erden und unter der Erde sind, und alle Zungen bekennen sollen, dass Jesus Christus der Herr ist, zur Ehre Gottes, des Vaters. Phil 2,6–11

Berührungsgeschichten z Kopf und Füße: Beschreibe die beiden Radie-

rungen von Thomas Zacharias genau! z Lies Mk 14,3–9 und Joh 13,1–17 und deute die Bilder! z Die Evangelisten haben sicher ganz bewusst diese Berüh-

rungsgeschichten an den Anfang ihrer Überlieferungen von Passion und Ostern gesetzt. z Phil 2,6–11 ist eine der ältesten Hymnen der frühen Chris-

tenheit. Untersuche sie unter den Aspekten »Berührung«

Thomas Zacharias, Radierung zur Bibel, Joh 13,1–17

und »Abstand«! z Lest den Text laut und verwendet dabei ggf. Methoden der

e: Jesus lässt sich etwas gefallen.

Sprechmotette. Man könnte auch eine Textcollage oder ein Texttheater aus Phil 2, der Fußwaschungs- und der Salbungsgeschichte gestalten. Dabei wird deutlich, wie sie sich gegenseitig erklären.

DAZWISCHEN

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Religion: Auf Abstand gehen Ich bin dann mal weg 9. Juni 2001 [Erster Tag]: In meinem hauchdünnen Reiseführer, den ich schließlich auch über die schneebedeckten Pyrenäen schleppen muss, steht, dass Menschen sich seit vielen Jahrhunderten auf die Reise zum heiligen Jakob machen, wenn sie, wörtlich und im übertragenen Sinn, keinen anderen Weg mehr gehen können. Da ich gerade einen Hörsturz und die Entfernung meiner Gallenblase hinter mir habe, zwei Krankheiten, die meiner Einschätzung nach großartig zu einem Komiker passen, ist es für mich allerhöchste Zeit zum Umdenken – Zeit für eine Pilgerreise. Über Monate nicht auf die innere Stimme zu hören, die einem das Wort »PAUSE!« förmlich in den Leib brüllt, sondern vermeintlich diszipliniert weiterzuarbeiten, rächt sich halt – indem man einfach gar nichts mehr hört. Eine gespenstische Erfahrung! Wer nach Santiago pilgert, dem vergibt die katholische Kirche freundlicherweise alle Sünden. Das ist für mich nun weniger Ansporn als die Verheißung, durch die Pilgerschaft zu Gott und damit auch zu mir zu finden. Das ist doch einen Versuch wert! 14. Juni: Tja, ich seh mir, glaub ich, selber kaum noch ähnlich! Mit dem Bart und dem komischen Hut bin ich kaum zu erkennen. Ich liebe das! Jetzt halten die mich für irgendwen, aber nicht für den, der ich bin. Oder bin ich es gar nicht mehr? 25. Juni: Hab nicht das Gefühl, eine Reise zu machen, sondern tausend kleine Reisen. Jeden Tag muss ich mich neu motivieren. Die Aufgaben, die dieser Weg einem Pilger immer wieder neu stellt, dessen bin ich mir sicher, heißt: »Sei einfach nur du selbst! Sei nicht mehr und nicht weniger als das!« 30. Juni: Das Erstaunlichste ist, dass alle Menschen, denen ich bisher auf der Reise begegnet bin, nicht den geringsten Zweifel an der Kraft dieses Weges haben. Alle glauben fest an die Präsenz des einen großen Wesens und seines wundersamen Wirkens in dieser Welt. Ich zweifle jeden Tag neu. Bin ich hier auf der richtigen Fährte oder bin ich nur einer von Tausenden anderen Spinnern? Der letzte Tag!: In Vigo laufe ich mit dem Rucksack auf

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KAPITEL 1

dem Rücken und dem Pilgerstab in der Hand durch die Stadt zum Bahnhof. Das, was auf dem Camino ein alltägliches Bild war, finden die Menschen hier, weit abseits des Pilgerweges, exotisch, denn jeder glotzt mir befremdet hinterher.

nfo Pilgern Der Begriff pilgern (lat. pergere / per agere: jenseits des Ackers, in der Fremde) bezeichnet heute das Unternehmen einer längeren, religiös motivierten Reise. Pilgertraditionen gibt es in den meisten Religionen, in einigen ist Pilgern sogar Pflicht. 7/8 Das Ziel ist meist ein als heilig geltender Ort, wie z. B. ein heiliger Berg, ein Tempel oder eine Wallfahrtskirche. Von Bedeutung ist aber nicht nur das Erreichen eines bestimmten Ziels, sondern vor allem das Unterwegssein dorthin.

z Hape Kerkelings Reisebericht belegte für

100 Wochen Platz 1 der Sachbuch-Bestsellerliste und gilt als erfolgreichstes Sachbuch seit über 50 Jahren. Stelle Vermutungen über die Gründe dafür an! z Am Ende seines Tagebuchs schreibt der

Autor: »Der Schöpfer wirft uns alle in die Luft, um uns am Ende überraschenderweise wieder aufzufangen. Es ist wie in dem ausgelassenen Spiel, das Eltern mit ihren Kindern spielen. Und die Botschaft lautet: Hab Vertrauen in den, der dich wirft, denn er liebt dich und wird vollkommen unerwartet auch der Fänger sein.« – Ist Kerkeling am Ende fromm geworden? Findet er zu einer biblischen Einsicht? Diskutiert! z Recherchiere Wallfahrtsorte und Pilgerrouten in Europa!

Bringe entsprechende Werbung mit und analysiere, welche Gründe für das Pilgern genannt werden! z Informiere dich über die Bedeutung des Pilgerns in anderen

Religionen! z Beim Wandern / Laufen / Reisen zu sich selbst kommen?

Tauscht euch über eure Erfahrungen aus!


Religion: ganz nah dran z Beschreibe das Plakat und seine Wirkung auf

dich! Deute seine Aussage! Berücksichtige dabei, dass es Teil eines Kreuzweges* ist; informiere dich dazu auch über die Fastenaktion von Misereor! z »Berührbar für Gott – und die Welt«: Wie hängt beides

zusammen? Und wer berührt hier wen? Probiere, wie vielfältig man die beiden Text-Stücke zusammensetzen kann (dabei kannst du die Grammatik verändern)! Wähle diejenige Formulierung aus, die dir am stimmigsten zu sein scheint! z Versuche, mithilfe der gefundenen Sprachfiguren das Dop-

pelgebot der Liebe umzuformulieren (Mt 22,37–40)!

5/ 6

7/ 8

z Wie und wann berührt Gott Menschen? Oder berührt er sie

nicht? Wiederhole Geschichten aus dem Alten Testament, die von Berührung und Distanz zwischen Gott und den Menschen handeln!

5/ 6

7/ 8

z Erinnere dich, wie in vielen Jesusgeschichten Berührung

und Heilung zusammenhängen!

7/ 8

z Gib der Frau eine Stimme: Wünscht sie sich Berührung? Will

sie, dass man ihr hilft? Welche Art von Hilfe wünscht sie sich? Wollte sie fotografiert werden? Ist es ihr recht, dass ihr Bild auf Plakaten zu sehen ist – und jetzt im Religionsbuch? z Mitleid – Compassion – Mitgefühl – Empathie – Verständnis

– Sympathie – Einfühlungsvermögen – Liebe – Nächstenliebe: Unterscheide die Begriffe, indem du Beispielsätze formulierst! Probiere aus, was sich verändert, wenn du die Begriffe austauschst! z Fasse den Text von J. B. Metz in ein bis zwei Sätzen zusam-

men!

Compassion Die Rede vom Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs, der auch der Gott Jesu ist, ist Ausdruck eines »schwachen«, eines verletzbaren, eines empathischen Monotheismus, sie ist in ihrem Kern eine leidempfindliche Gottesrede. Die Empfindlichkeit für das Leid der anderen kennzeichnet Jesu »neue Art zu leben«. Sie ist der stärkste Ausdruck jener Liebe, die er meinte, wenn er – übrigens ganz in der Tendenz seines jüdischen Erbes – von der unzertrennlichen Einheit von Gottes- und Nächstenliebe sprach. Immer wieder habe ich versucht, ein überzeugendes deutsches Wort für die elementare Leidempfindlichkeit der

christlichen Botschaft zu finden. »Mitleid« verweist zu sehr in die reine Gefühlswelt und auch das Fremdwort »Empathie« klingt mir zu unpolitisch und zu unsozial. So bleibe ich bei dem Wort »Compassion«! Johann Baptist Metz e: Hilfe braucht auch Abstand

DAZWISCHEN

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m Zusammenhang z Untersuche den Grundriss des ökumenischen Zentrums Maria Magdalena auf Abstände, Zwischenräume und »Übergänge« und arbeite heraus, welches Verständnis von Gemeinde und Gottesdienst sich in ihm ausdrückt! 7/8 z Vergleiche den Grundriss von Maria Magdalena mit einem Grundriss einer gotischen Kirche! 7/8 Welche unterschiedlichen Raumerfahrungen ergeben sich für die Menschen, die diese Räume betreten bzw. durchschreiten? Welche Konsequenzen ergeben sich für Gottesdienste, die man in diesen Räumen feiert? z Manche Menschen sitzen in der Kirche am liebsten mittendrin, andere lieber in der letzten Bank oder auf der Empore. Beschreibe, was sich durch die Sitzposition ändert! Diskutiere, ob die Sitzplatzwahl Rückschlüsse auf die Einstellung zur Religion zulässt! z Viele Menschen, die sich selbst nicht als religiös bezeichnen, suchen auch abgesehen von touristischem Interesse »sakrale«* Räume auf. Sammle mögliche Gründe und stelle einen Bezug zu den »Funktionen« von Religion her! Denke bei deinen Überlegungen nicht nur an traditionelle, sondern auch an neu geschaffene religiöse Räume! z Religion als Abstand und als Zwischen-Raum – entdecke diese beiden Aspekte im Glaubensbekenntnis sowie im Vaterunser und schreibe deine Gedanken mit unterschiedlichen Farben um Kopien dieser Texte!

Grundriss des ökumenischen Zentrums Maria Magdalena in Freiburg Rieselfeld, das sowohl ökumenische als auch konfessionelle Gottesdienste und Gemeindearbeit ermöglicht.

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KAPITEL 1


SO BIN ICH . . .

?

War ich schon immer so? Wie bin ich eigentlich gemeint? K ann ich anders? Wer ist schuld? Ist nach einer Entschuldigung alles gut?

Muss Strafe sein?

Kapitel 2 SO BIN ICH . . .

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Keine Ausreden

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KAPITEL 2


Wieder gut? »Beichte jetzt«, forderte Radio Energy Ende 2012 seine Hörer bzw. die User seiner Homepage auf und versprach: »Energy vergibt dir deine Sünden.« »Gebeichtet« wurden die unterschiedlichsten Vergehen, die dem jeweiligen »Sünder« bzw. der jeweiligen »Sünderin« einen finanziellen Verlust eingebracht hatten (z. B. Strafe, Entschädigungszahlung o. Ä.). Die gebeichteten Taten wurden von den übrigen Usern bewertet; wurde mehrheitlich für »vergeben« gestimmt, übernahm Energy die entstandenen Kosten. Hier ein Beispiel: Chris hat eine Taube mit dem Luftgewehr abgeschossen, weil die Tauben ihm ständig auf den Balkon gesch. . . haben. Ein Nachbar hat ihn angezeigt, nun muss er 1400 Euro Strafe zahlen. Sollen wir Chris’ Sünde vergeben? Linda M. Bloß nicht vergeben . . . wenn ich allen Menschen, die ich nicht mag, gleich in den Kopf schießen würde . . . Gerhard A. NICHT vergeben! So ein Tierquäler! Die Strafe ist noch viel zu niedrig. 5000 Euro wären richtig und dazu noch ein halbes Jahr Arbeit im Tierheim. Elli G. Vergeben . . . Tauben sind eklige Viecher. Kathi M. Da gibt’s Menschen, die find ich noch viel ekliger. Max B. Nicht vergeben! Helft lieber anderen, die es verdient haben. Er hätte einfach vorher nachdenken müssen. Wenn ihr ihm jetzt das Geld bezahlt, dann denkt der doch, das war o.k., was er gemacht hat. Der Sinn der Strafe ist doch, dass er etwas lernt und es nicht wieder tut. Wenn ihr die Strafe übernehmt, dann sieht das so aus, als ob ihr das in Ordnung findet, Gesetze zu brechen. Spendet das Geld lieber an eine Hilfsorganisation, die können das gut brauchen und es macht mehr Sinn.

Jan P. Geh doch mal in die S-Bahn, da sitzen lauter hustende und schniefende Menschen – die sind auch Krankheitsüberträger. Hab mich schon x-mal angesteckt. Darf ich die jetzt auch einfach erschießen, wenn sie in meine Nähe kommen? Anna S. Jep . . . ich hasse Tauben. Paul M. Armselig, mit solcher Tierquälerei auch noch Quote machen zu wollen. Du solltest das Vierfache zahlen! Jana P. VERGEBEN! Der hat seinen Schrecken gekriegt, der macht das nie wieder. Kim E. Wie könnt ihr sowas überhaupt fragen? Das geht doch gar nicht. Ich kann’s nicht fassen – mir ist ganz schlecht. Dem wünsche ich Pech bis an sein Lebensende, diesem miesen Typ, diesem Tiermörder. Ariane Z. Was macht ihr hier bloß für ein Theater??? So braucht ihr auch nicht rumzuheulen. Es war eine Taube . . . nix weiter. Der ist genug bestraft. Jetzt kann man auch nichts mehr ändern.

Enno S. Tauben sind Flugratten. Dreckige Viecher, die Krankheiten übertragen. Ratten und Mäuse darf man auch töten – warum soll das bei Flugratten verboten sein?

SO BIN ICH . . .

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Zu etwas stehen Zwei Rücktritte Am 1. März 2011 trat der damalige Verteidigungsminister Karl Theodor zu Guttenberg aufgrund massiver Plagiatsvorwürfe bezüglich seiner Doktorarbeit von seinem Amt zurück; zuvor hatte er (am 18. Februar) erklärt: »Meine von mir verfasste Dissertation ist kein Plagiat*, und den Vorwurf weise ich mit allem Nachdruck von mir. Sie ist über etwa sieben Jahre neben meiner Berufs- und Abgeordnetentätigkeit als junger Familienvater in mühevoller Kleinstarbeit entstanden und sie enthält fraglos Fehler. Und über jeden einzelnen dieser Fehler bin ich selbst am unglücklichsten. Es wurde allerdings zu keinem Zeitpunkt bewusst getäuscht oder bewusst die Urheberschaft nicht kenntlich gemacht. Sollte sich jemand hierdurch oder durch inkorrektes Setzen und Zitieren oder versäumtes Setzen von Fußnoten bei insgesamt 1300 Fußnoten und 475 Seiten verletzt fühlen, so tut mir das aufrichtig leid. [. . .]«

»Wie stehe ich denn da?« »Ich kann ihr nicht mehr unter die Augen treten.« »Ich schäme mich in Grund und Boden.« »Ich kann mein eigenes Spiegelbild nicht ertragen.« »Ich gestehe.«

z »Ich war’s.« – Tauscht euch über entsprechende

Situationen aus dem eigenen Leben und der Öffentlichkeit aus! z Analysiere das Plakat (S. 22)! Achte auf die Körperhaltung

des Mannes und überlege / probiere, welche anderen Körperhaltungen zum Satz »Ich war’s« passen könnten! z Auch in den Zitaten (oben) stecken Haltungen!

Am 24. Februar 2010 trat Margot Käßmann, gegen die z »Das war schon so.« – Erstellt gemeinsam eine Hitliste der beliebtesten Ausreden! wegen einer Autofahrt unter erheblichem Alkoholeinfluss ermittelt wurde, vom Amt der Ratsvorsitzenden der EKD* und z Untersuche die beiden Stellungnahmen! Welche der Halvom Amt der Landesbischöfin von Hannover zurück. tungen (oben) würden dazu passen? Lest dazu ggf. weitere, aktuellere Rücktrittsreden! »Am vergangenen Samstagabend habe ich einen schweren Fehler gemacht, den ich zutiefst bereue. Aber auch wenn z »Ich habe einen Fehler gemacht.« – Prüfe, welche Bedeuich ihn bereue und mir alle Vorwürfe, die in dieser Situatitungsverschiebungen entstehen, wenn man hier Formulieon berechtigterweise zu machen sind, immer wieder selbst rungen einsetzt, in denen Begriffe wie Schuld, Verbrechen, Vergehen usw. vorkommen! gemacht habe, kann und will ich nicht darüber hinwegsehen, dass das Amt und meine Autorität als Landesbischöz Sich schämen – etwas gestehen – zu etwas stehen: Dabei fin sowie als Ratsvorsitzende beschädigt sind. geht es immer auch um die Frage: »Wer bin ich?«, um die Die Freiheit, ethische und politische Herausforderungen Frage nach Identität. Diskutiert über die Gedanken von zu benennen und zu beurteilen, hätte ich in Zukunft nicht Huizing und über das Merke! mehr so wie ich sie hatte. [. . .] Ich kann nicht mit der notwendigen Autorität im Amt bleiben. [. . .] Aber mir geht es neben dem Amt auch um Respekt und Achtung vor mir Sich schämen selbst und um meine Gradlinigkeit, die mir viel bedeutet. Widerfährt uns die Scham, dann entflammt die sprichHiermit erkläre ich, dass ich mit sofortiger Wirkung von wörtliche Schamröte, die Stimme versagt, man wird allen meinen kirchlichen Ämtern zurücktrete. [. . .] stumm, senkt den Blick, wird vielleicht anschließend Zuletzt: Ich weiß aus vorangegangenen Krisen: Du kannst bleich, möchte am liebsten im Boden versinken und unnie tiefer fallen als in Gottes Hand. Für diese Glaubens- sichtbar werden (»man schämt sich zu Tode«), um den Bliüberzeugung bin ich auch heute dankbar.« cken und Kommentaren der anderen nicht länger ausgesetzt zu sein. Plötzlich ist man in radikaler Weise mit sich selbst konfrontiert, vollständig auf sich zurückgeworfen, eee: Ich war's - also bin ich? fühlt sich nackt, fragt sich, wie es zu dieser Bloßstellung in den Augen der anderen kommen konnte. Klaas Huizing 24

KAPITEL 2


angewiesen auf Vergebung »T'schuldigung!« – »Nein, ich entschuldige nicht!«: Das wäre mal ein überraschender Dialog. Einer, der ein Ende macht mit gedankenlosen Gemeinheiten und leichtfertigen Entschuldigungen. Heutzutage trampelt man ja gelegentlich ganz gern auf den Zehen und Seelen seiner Mitmenschen herum und kommentiert solche Rücksichtslosigkeit dann mit einem lässigen »Dumm gelaufen«. Entschuldigung ist wohl das schwerste Wort. Es setzt voraus, dass jemand eine ordentliche Portion Wahrnehmungs- und Einfühlungsvermögen besitzt und spürt: Hier ist etwas grundsätzlich schiefgelaufen. In einem zweiten Schritt ist die unangenehme Einsicht dran: Ich höchstpersönlich habe etwas falsch gemacht und einen Menschen getroffen, gekränkt, verletzt. Solche Selbsterkenntnis kratzt am eigenen Ego. Hat man es schließlich doch geschafft, sich voller Reue zu entschuldigen, dann ist längst nicht sicher, dass der andere verzeiht. Auch das macht es schwer, sich einen Ruck zu geben. Man kann sich eben nicht selbst entschuldigen, auch wenn es so klingt: »sich« entschuldigen. Nur der, den man geärgert, gekränkt oder verletzt hat, kann die Angelegenheit als erledigt betrachten. Immer allerdings wird das nicht gehen. Es gibt Taten, Verbrechen, die so folgenschwer sind, dass einer nie darüber hinwegkommt. Mit dieser bitteren Erkenntnis müssen dann Täter und Opfer weiterleben. »Gott vergibt, Django nie,« heißt ein Western. Ein ziemlicher Schwächling, dieser Cowboy. Denn stark muss man sein, um verzeihen zu können. In einer der biblischen Geschichten um Jesus fragt Petrus: »Wie oft muss ich denn meinem Bruder vergeben? Genügt es siebenmal?« Jesus antwortet weise: »Nicht siebenmal, sondern siebzigmal siebenmal.« Das ist ein Hinweis auf den nötigen Kraftund Zeitaufwand, auf die Intensität von Vergebung. Erst wenn ich ein kräftiges Ich besitze, wenn ich stark genug bin, um mich nicht durch andere als bedroht zu empfinden, kann ich vergeben – und wenn mir innerer Frieden für das Weiterleben mit anderen unverzichtbar ist. Entschuldigung? Klar doch. Susanne Breit-Keßler »Kein Problem.«

»Ich verzeihe dir.«

»Ist schon gut.« »Ich bin dir nicht mehr böse.« »Nix passiert.«

nfo Beichte In der Beichte bekennt man Schuld und Versagen, entweder im persönlichen Gespräch mit dem Pfarrer / der Pfarrerin oder in Form des allgemeinen Sündenbekenntnisses im Gottesdienst. Darauf folgt der Zuspruch der Absolution, der Vergebung. In der katholischen Kirche ist die Beichte eines von sieben Sakramenten*. Auch wenn nach evangelischem Verständnis die Rechtfertigung unabhängig von jeder Leistung (also auch von der »Leistung« des Bekennens) ist, schätzte Martin Luther die Beichte wegen ihrer entlastenden Funktion für den Menschen.

z Vergleiche die Energy-Aktion (S. 23) mit der tradi-

tionellen Beichte: Welche Rolle spielen in ihr »Sünde«, »Bekenntnis«, »Vergebung«? z Untersuche und bewerte die Argumente in den

Forumsbeiträgen! z Fasse die Grundgedanken des Textes von S. Breit-Keßler

zusammen und beziehe sie auf Beispiele aus deinem eigenen

und aus dem öffentlichen Leben (vgl. S. 94 f.)!

z Auf dieser Seite findest du Entschuldigungskarten und ty-

pische Reaktionen auf Entschuldigungen. Finde weitere Beispiele! Untersuche, welche Auffassung von Schuld und Vergebung darin steckt, und ziehe Vergleiche zu den Aussagen des Textes von Breit-Keßler! z Entwirf selbst eine Entschuldigungskarte, die die Überle-

gungen dieser Doppelseite berücksichtigt!

»Wir können’s ja versuchen.«

SO BIN ICH . . .

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Von Anfang an

Hamilton-Bibel (1345), Szenen aus der Genesis. Die ersten drei »Zeilen« beziehen sich auf die Urgeschichte, die letzte auf die Überlieferungen von Abraham und seiner Familie (ab 1 Mose 12).

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KAPITEL 2


... und immer wieder nfo Die biblische Urgeschichte 1 Mose 1–11 wird als sog. Urgeschichte bezeichnet, um auszudrücken, dass es sich hier nicht um einen historischen Bericht über die Anfänge der Menschheit handelt, sondern um zeitlose, mythische* Erzählungen (aus unterschiedlichen Quellen zusammengesetzt), die zu erklären versuchen, wie es um die Welt steht, wozu der Mensch auf der Welt ist, warum er so ist, wie er ist, und worauf er hoffen darf. Sie beantworten Sinnfragen des Menschen (vgl. S. 42). Aber sie begründen auch alltägliche Phänomene, z. B.: Warum fürchten sich Menschen vor Schlangen? Warum ist Arbeit anstrengend? Solche Erklärungsgeschichten nennt man Ätiologien. In der Urgeschichte wird ein dramatischer Bogen gespannt von der Erschaffung der Welt und des Menschen über die Vertreibung aus dem Paradies und den ersten Mord bis zur großen Flutkatastrophe und dem Scheitern des »Prestige- und Machtprojekts Babel«. Von »Sünde« ist dabei nicht explizit die Rede, aber geschildert wird die zunehmende Entfremdung des Menschen von Gott, seinen Mitmenschen, sich selbst und der Welt, in der er lebt, die in der späteren Theologie als Sünde gedeutet wird. Manche Theologen sehen die Urgeschichte auch mit Gen 9 abgeschlossen: Dem Schöpfungsbund Gottes mit den Menschen korrespondiert der Noahbund, in dem Gott verspricht, diese Welt trotz der Bosheit der Menschen zu erhalten. Mit 1 Mose 12,1–12, der Segensverheißung an Abraham, beginnt die Erzelternerzählung und damit die Geschichte Gottes mit seinem Volk Israel.

Sinnfragen Es ist durchaus ins allgemeine Bewusstsein vorgedrungen, dass Religion es überhaupt nicht mit Fragen der Welterklärung, auch nicht mehr mit denen der Geschichtsdeutung zu tun hat, nicht mit der Entstehung und Ausdehnung des Universums im interstellaren Raum, nicht mit der Hand Gottes in den großen Geschichtsbewegungen der Menschheit. Die Religion hat es zu tun mit den Fragen nach der Stellung des Menschen in der Natur und damit nach dem Sinn, dem Grund und Zweck unseres endlichen, kontingenten* Daseins, mit der Frage nach dem Sinn meines individuellen Lebens in einem physikalisch, biologisch und historisch letztlich unergründbaren Universum. Die Religion interessiert sich nicht für das, was der Fall war, ist und sein wird. Sie arbeitet an der Deutung des Sinns unseres kontingenten, individuellen menschlichen Lebens. Wilhelm Gräb

z Versuche mithilfe der Bibel Szenen aus der Urge-

schichte 1 Mose 1–11 auf dem Bild S. 26 zu identifizieren!

5/ 6

z Arbeite aus W. Gräbs Text heraus, worauf Religion

nicht antwortet, und prüfe diese Sicht mithilfe der nachfolgenden Aufgaben an der biblischen Urgeschichte. z Übertragt die Struktur der Seite aus der Hamilton-Bibel in

eure Hefte; bearbeitet die abgebildeten Episoden in Gruppen. Tragt in die leeren Felder die Bibelstellen ein und formuliert dazu jeweils eine oder mehrere Sinnfragen, die in der betreffenden Episode gestellt werden! Sucht nach möglichen Antworten, die die Geschichte gibt, und diskutiert darüber! z Umgekehrt könnt ihr auch probieren, zunächst eigene

Sinnfragen zu formulieren und dann zu prüfen, ob sie in einer der biblischen Episoden »verborgen« sind.

Wo komm ich her und wo geh ich hin. Wer sagt mir, was ich war und wirklich bin. Bin ich echt, oder träum ich nur schlecht. Bin ich hier nur zum Spaß oder zu was. Nur zur Zier. Ein Goldfisch im Glas. Ist das der Sinn, wo liegt der Sinn.

z Bezieht die Gedanken von W. Gräb auf die Überlegungen

zu Religion (Kap. 1) und zu Glaube und Naturwissenschaft (Kap. 3)!

Peter Maffay

SO BIN ICH . . .

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Was ist der Mensch, dass du sein gedenkst? Ps 8,5 Du hast ihn wenig niedriger gemacht als Gott, mit Ehre und Herrlichkeit hast du ihn gekrönt. Ps 8,6

Da machte Gott der HERR den Menschen aus Erde vom Acker und blies ihm den Odem des Lebens in seine Nase. Und so ward der Mensch ein lebendiges Wesen. 1 Mose 2,7

Der Mensch, vom Weibe geboren, lebt kurze Zeit und ist voll Unruhe, geht auf wie eine Blume und fällt ab, flieht wie ein Schatten und bleibt nicht. Hi 14,1f.

Ein Mensch sieht, was vor Augen ist; der HERR aber sieht das Herz an.

Das lebensgroße Modell des »gläsernen Menschen«, das 1930 im Hygienemuseum in Dresden erstmals gezeigt wurde (hier in einer Fassung von 1995), gilt inzwischen als Leitobjekt dieses Museums. Der menschliche Körper begegnet in dieser Darstellung »als funktionale, wohlgeformte, durchschaubare und optimierbare Maschine« (aus einer Ausstellungsdokumentation). In seiner Haltung ist das Modell antiken Statuen nachempfunden.

Und Gott schuf den Menschen zu seinem Bild, zum Bilde Gottes schuf er ihn; und schuf sie als Mann und Frau. 1 Mose 1,27

. . . denn das Dichten und Trachten des menschlichen Herzens ist böse von Jugend auf. 1 Mose 8,21 b

1 Sam 16,7b

e: Zum Glück sind wir nicht aus Glas.

z Beschreibe deinen Eindruck vom »gläsernen Men-

schen«; deute seine Körperhaltung! z Was ist der Mensch? Beantwortet die Frage mit

eigenen Standbildern und vergleicht sie mit dem »gläsernen Menschen«! z Lies die Bibelstellen im Kontext, wiederhole ggf., was ihr

dazu schon in früheren Jahren besprochen habt! Stellt auch zu diesen Aussagen zum Menschen Standbilder und vergleicht sie miteinander! z Erst fünf Jahre nach dem »gläsernen Menschen« wurde

erstmals eine »gläserne Frau« ausgestellt! z 1999 wurde die »Aktion Sorgenkind«, eine bundesweite Ini-

tiative für Menschen mit Behinderung, in »Aktion Mensch« umbenannt. Deute die Namensänderung und beziehe sie auf die Gedanken zum Menschen auf dieser Seite!

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KAPITEL 2


In sich verkrümmt nfo Sünde Sünde meint biblisch nicht, wie die Umgangssprache es nahelegt, die einzelne Verfehlung, sondern ein verkehrtes Sein. Der Theologe Paul Tillich beschreibt diesen Zustand als Entfremdung, als gestörtes Verhältnis zu Gott, zu sich selbst, zu den anderen Menschen, zu der ganzen Welt. Aus dieser Entfremdung folgen dann erst die einzelnen schlechten Taten. Der Mensch findet sich in Strukturen der Entfremdung immer schon vor, er kann sich nicht dagegen entscheiden. Dieses problematische Wesen des Menschen schildert die sog. Sündenfallgeschichte (1 Mose 2 f.) in mythologisch-bildhafter Sprache. Martin Luther hat dafür das Bild des In-sich-Verkrümmtseins (incurvatus in se ipsum) gebraucht. Sünde = Entfremdung

zwischen den Menschen

»Die verbotene Frucht, hier symbolisch der Apfel, war nicht der einzige und letzte Sündenfall«, schreibt Sven Schalenberg zu seinem Kunstwerk: Adam und Eva, Acryl und Lack auf Schaufensterfiguren, 2000

des Menschen von sich selbst

Schicksal (Ursünde)

z Steuersünder, Verkehrssünder . . . Sammelt Bei-

spiele für den umgangssprachlichen Gebrauch von »Sünde« und zieht Vergleiche zum biblischen Verständnis (Info)! z Sucht Beispiele für »Sünde« bzw. das Motiv des »Sünden-

falls« in der Werbung; analysiert und bewertet sie! z Ihr könnt das Bild vom In-sich-Verkrümmtsein einmal nach-

stellen und damit verbundene Wahrnehmungen beschreiben! Probiert aus, was passieren müsste, damit der / die Verkrümmte sich aus dieser Haltung löst! z Fasse den Textausschnitt von Safranski in eigenen Worten

zusammen! Suche alle »Neins« in 1 Mose 2 f.! z Philosophiere über den Zusammenhang von »Nein« und

»Freiheit«! z Deute das Bild, ausgehend von den Texten auf dieser Seite!

aller Menschen vom Urgrund des Seins

Paul Tillich beschreibt Sünde als mehrdimensionale Entfremdung, die sich in aktuellen Verfehlungen realisiert.

Schuld (Aktualsünde)

Die Geburt des »Nein« In der Sündenfallgeschichte werden wir Zeugen der Geburt des Neins, des Geistes der Verneinung. Gottes Verbot war das erste Nein in der Geschichte der Welt. Die Geburt des Neins und die der Freiheit gehören zusammen. Denn nun kann auch der Mensch »Nein« sagen. Er sagt »Nein« zum Verbot, er setzt sich darüber hinweg. Nachdem Adam und Eva vom Baum gegessen haben, heißt es: »Da wurden ihrer beiden Augen aufgetan, und sie wurden gewahr, dass sie nackt waren; und flochten Feigenblätter und machten sich Schürzen . . .« Plötzlich sieht sich der Mensch von außen. Die erste Reaktion: Zurückkehren in die Unsichtbarkeit. »Und Adam versteckte sich mit seinem Weibe vor dem Angesicht Gottes des Herrn unter die Bäume im Garten.« Wer vor Scham in den Boden versinken möchte, will nicht nur eine Tat, sondern sich selbst, als ihr Urheber, ungeschehen machen. Er sagt »Nein« zu sich selbst. Aus Verneinungen werden schließlich Vernichtungen, was die Geschichte von Kain und Abel zeigt. Rüdiger Safranski SO BIN ICH . . .

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Da ergrimmte Kain

László Hegedús, Kain und Abel, 1899

Und der HERR machte ein Zeichen an Kain, dass ihn niemand erschlüge, der ihn fände. 1 Mose 4,15 z Lies 1 Mose 4 sehr genau; achte dabei auf die Lücken im Text! Du

kannst z. B. auf einer Kopie deine Gedanken zwischen die Zeilen schreiben. Oder jemand liest den Text mit langen Pausen und die anderen sprechen Fragen und Kommentare hinein. z ». . . und senkte finster seinen Blick« – untersuche den Text daraufhin, welche Rol-

le Blicke spielen! Beziehe deine Beobachtungen auf die Erkenntnisse zu »Sünde« auf S. 29!

Und du, Gott?, flüsterte Kain. Gott wandte sich ab, denn er weinte. Und eine Träne fiel auf Kain und blieb ihm auf der Stirn. Du weinst?, sagte Kain. Jetzt weiß ich: So sehr hast du Abel geliebt. Ich weine, sprach Gott, vor allem um dich.

z Beschreibe und deute das Bild! Achte auch hier auf das Motiv des Blicks. Verglei-

che es mit dem Bibeltext! z Gott meint, Kain habe eine Wahl. z Vergleiche die Erzählung von Erich Fried (S. 31) mit der biblischen Vorlage. Ver-

folge, wie die Empfindungen des Ich-Erzählers sich entwickeln; achte auch hier auf das Motiv des Sehens! z In Frieds Umdichtung stecken Aussagen zum Wesen des Menschen; arbeite sie

heraus! Zugleich ist der Text aber auch als Stellungnahme zur Politik Israels, das damals (1982) Krieg gegen Libanon führte, zu verstehen. Beziehe dies und die Informationen auf S. 173 ff. in die Deutung ein!

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KAPITEL 2

Geh jetzt, Kain, geh weit fort. Du kannst hier nicht länger bleiben. Du gehst einen langen Weg voller Leid und Gefahren. Ich gehe . . . allein?, fragte Kain. Dein Bruder ist tot, sagte Gott. Ich werde sterben, sprach Kain. Nein, sagte Gott, denn zum Schutz bleibt dir . . . meine Träne. aus einer Nacherzählung von Martina Steinkühler


. . . und senkte finster seinen Blick. Der Präventivschlag Kein Zweifel mehr: Mein eigener Bruder Kain will mich töten. Ich habe ihn genau gesehen, wie sich sein Gesicht zu einer hasserfüllten Fratze verzog, weil sein Opfer nicht so gnädig angenommen wurde wie meines. Und ich habe die Stimme gehört, die Stimme dessen, dem er und ich Opfer bringen, jeder sein eigenes, wie er Kain wegen seines Zornes zur Rede stellte und ihn vor der Sünde warnte. Dass die Sünde vor seiner Türe ruht und wartet und Verlangen nach ihm trägt. Und was diese Sünde ist, die Kain in sich herumträgt wie meine Schafe ihre ungeborenen Lämmer, das weiß ich ganz genau. Lange genug leide ich schon Angst. Ich habe keine Hoffnung, seinen hinterlistigen Angriff abwehren zu können. Ich weiß, Kain ist stärker als ich; er ist nicht nur der Ältere, ich war immer schon schwächer, sondern auch das Umgraben seines Ackers stärkt ihm die Arme und den ganzen Körper weit mehr als mir das Aufziehen und Hüten der Schafe, das meine Arbeit ist. Außerdem hat er seine gefährlichen Geräte, den Spaten und seinen Pfahl mit der scharfen, im Feuer gehärteten Spitze. Und überhaupt, der, der den anderen unversehens überfällt, ist immer im Vorteil. Und doch ist er, dem wir unsere Opfer bringen, ich die Erstlinge meiner Herden, er seine Ähren und Früchte und sein Grünzeug, nur mir zugeneigt, nicht ihm. Das zeigt schon der Rauch unserer Opfer: Mein Opferrauch stieg, wie immer, geradeaus zum Himmel auf, der seine aber kroch wieder schwer und mit üblem Unkrautfeuergeruch am Boden hin und wollte sich nicht heben. Ich glaube, der Wille, der über uns ist, kann nicht wollen, dass dieser Erdbodenzerhacker auch mich mit seinen staubigen, kotverkrusteten Werkzeugen trifft und zerhackt, als Dünger für sein umgegrabenes Feld, auf dem er vielleicht schon den Boden locker gemacht hat für mein Grab. Nein, so darf es nicht sein. Ich selbst muss den Vorteil wahrnehmen! Nicht er soll mich, sondern ich will ihn überraschen. Und weiß er Spaten und Pfahl zu handhaben, so habe ich doch mein Steinbeil, mit dem ich meine Herde vor den reißenden Tieren schütze. Er, der mein Opfer gnädig angenommen und das seine verschmäht hat, weiß es: Mein Bruder Kain ist nicht mehr besser als das reißende Raubzeug, das meinen Lämmern und Schafen nach dem Leben trachtet. Ärger noch, denn er hat es nicht auf ein Tier abgesehen, nein, auf mich, seinen eige-

nen Bruder. Aber er soll sich getäuscht haben! Da kommt er. Ja, ja; sein Gruß kann mich nicht betrügen. Damit will er mich nur in Sicherheit wiegen, aber die Zeiten sind vorbei. Er soll mir vom Leibe bleiben. Da: Auch das ist ein Anzeichen. Nie noch in letzter Zeit hat er meinen Blick lange ertragen. Und auch jetzt wendet er wieder den Kopf ab und sieht nicht mich an, seinen Bruder, sondern er blickt zurück auf seinen elenden Altar, von dem die Rauchschlange immer noch hinunterkriecht, zu Boden, dunkel und schwer. Jetzt muss es sein! Jetzt, solange er nichts als den unerlösten Rauch sieht . . . Wie schnell das gegangen ist; als ob ich es gar nicht getan hätte. Als ob es gar nicht wahr wäre. Aber es ist wahr: Da liegt er vor mir, auf dem Boden. Aus. Er wird keine Mordpläne mehr gegen mich hegen. Er wird nicht den Spaten hinterrücks gegen mich heben, und auch nicht den spitzen Pfahl. Sein Blut ist es, nicht das meine, das jetzt hier die Vertiefung im Stein füllt, fast wie drüben das Wasser den Tümpel dort, am Weg, auf dem meine Tiere zur Tränke gehen. Der Wille dessen, der mein Opfer angenommen und das seine verworfen hat, ist geschehen! Seine Stimme war es, die für mich und gegen ihn entschieden hat . . . Ja, seine Stimme. Ich höre sie. Sie spricht laut und vernehmlich. Aber was ruft sie? »Kain«, ruft sie, »Kain, wo ist dein Bruder Abel?« Hier bin ich, Herr, hier! Hab keine Angst mehr um mich: Hier stehe ich, Abel, dessen Opfer du gnädig angenommen hast. Und Kain, den du verworfen hast, liegt dort hinter mir. Seine eigene Sünde hat sich gegen ihn gekehrt. Ich habe sein Gesicht mit welkem Laub zugedeckt, dass seine starren Augen nicht den Himmel beleidigen. Nein, Herr, du irrst. Ich bin nicht Kain! Abel ist nicht mein Bruder, das bin ich selbst. Wieso fragst du mich, wo mein Bruder Abel ist? Du irrst dich! Da: Ich zeige ihn dir, meinen Bruder. Da liegt er. Ja, gewiss, das ist Kain, wer sonst? Warte: ich nehme das Laub von seinem Gesicht, dass du es selbst . . . Das kann doch nicht sein? Nie im Leben hat er mir so ähnlich gesehen. Fast als . . . oder bilde ich mir das nur ein? Aber ich kenne doch mein Gesicht. Da drüben im Tümpel, der alles spiegelt, sehe ich es tagtäglich. Und jetzt soll er wie ich aussehen? Nein, das kann nicht sein . . . Ich weiß, ich gehe zum Tümpel: Ich will mein eigenes Gesicht wieder sehen. Jetzt weiß ich, warum er sich irrt und mich Kain ruft. Erich Fried SO BIN ICH . . .

31


Solange die Erde steht . . . Ich will hinfort nicht mehr die Erde verfluchen um der Menschen willen; denn das Dichten und Trachten des menschlichen Herzens ist böse von Jugend auf. Ich will hinfort nicht mehr schlagen alles, was da lebt, wie ich getan habe. Solange die Erde steht, soll nicht aufhören Saat und Ernte, Frost und Hitze, Sommer und Winter, Tag und Nacht. 1 Mose 8,21 b f.

Die Sintflut, Mosaik aus der Markuskirche in Venedig, 13. Jh.

Alles soll sehr gut werden Die Geschichte von der Sintflut und Noahs Arche hat Parallelen in der Umwelt Israels. In diesen Geschichten sind Menschheitserfahrungen von verheerenden Naturkatastrophen verarbeitet. Ihre »Absicht ist es, die Angst zu bewältigen, dass es jemals eine solche kosmische Katastrophe als ein von den Göttern bzw. vom Schöpfergott geschicktes Strafgericht geben werde. Um die Hoffnungsbotschaft, dass es eine solche Flut nie geben werde, zu vermitteln, wird erzählt, dass es einmal, »am Anfang«, vor der historischen Zeit, eine solche Flut gab. Der Schöpfergott sagt zu, dass er seine Schöpfung nie gewaltsam vernichten werde, auch nicht wegen der Bosheit der Menschen, wie groß diese auch immer sein mag. So kommt gerade in der Sintflutgeschichte deutlich zum Ausdruck, was Schöpfung als theologische Kategorie (im Unterschied zum naturwissenschaftlichen Schöpfungsbegriff ) meint: Dass der Schöpfergott eine Beziehung der Liebe und Treue zur Erde hat und dass er grundsätzlich und unwiderruflich Ja zu dieser Erde und zu diesen Menschen sagt. Die biblische Erzählung von der Bedrohung der Welt durch eine chaotische Flut ist ein Anti-Mythos, der mit dem Mythos von der Erschaffung der Welt zusammen erst die dialektische Aussage über die Erde als Schöpfung Gottes ergibt: Gerade als die gefährdete und von menschlicher Gewalt bedrohte Erde ist sie von Gott geliebt, weil er über sie sein liebendes Schöpferwort spricht: »Siehe, alles soll sehr gut werden.« Karl Löning / Erich Zenger 32

KAPITEL 2

Gott schickt eine Sintflut und nur mit Noah und den Seinen macht er eine Ausnahme. Dieser eine Gerechte darf überleben. Noch einmal ein Anfang. Aber mit Gott hat sich nun eine Wandlung vollzogen. Er findet sich mit der Tatsache ab, dass es im Menschen »das Böse« gibt. Gott hat sein Geschöpf von Grund auf kennengelernt. Er wandelt sich, er ist nicht nur mächtig, er wird auch gnädig. Nach der Sintflut gilt auch für Gott der Grundsatz: Man muss lernen, mit dem Bösen zu leben. Vielleicht hat der göttliche Welterhalter im Spiegel des Menschen sogar gelernt, den bösen Anteil in sich selbst zu entdecken. Rüdiger Safranski

z Erinnere dich an Begegnungen mit der Geschich-

te von der Arche Noah in deiner Kindheit! Gibt es Dinge, die dir schon damals fraglich waren? Welche Fragen möchtest du heute stellen? z Eine bedrohliche Geschichte oder eine Hoffnungsgeschich-

te? Untersuche die Materialien auf dieser Seite daraufhin und beziehe sie auf 1 Mose 7–8!


nicht »einerlei Zunge noch Sprache« 1 Mose 11,1 Sprachverwirrung? Hat Gott nach 1 Mose 11 die Menschen für ihre Hybris* mit der Zerstreuung und der Verwirrung ihrer Sprachen »bestraft«? Alttestamentliche Wissenschaftler sind anderer Meinung. Hinter der Erzählung stehen Erfahrungen mit den Imperien der Assyrer und Babylonier, die ein Reich mit einer von oben verordneten Einheitssprache errichten wollten. Gegen diese von oben verordnete Einheit (gezielt anachronistisch formuliert: ein Reich, ein Volk, ein Führer . . .) stellt Gott die Vielfalt der Menschen wieder her. Diese Vielfalt ist also gerade keine Strafe Gottes, sondern die »Gott sei Dank« wieder hergestellte Multikulturalität. Die Vielfalt der Worte, die Mehrdeutigkeit des Redens, all das, was Kommunikation unter Menschen zuweilen so schwer, doch allemal erst möglich und nötig macht, wird gerettet gegen das imperiale Konzept eindeutiger, vereinheitlichter Sprache. Jürgen Ebach

z Türme bauen fasziniert nicht

nur Kinder: Suche Gründe dafür! z Beschreibe die beiden Fassungen des

Brueghel-Bildes; vergleiche sie im Blick auf die biblische Vorlage! z Fasse die Deutung Ebachs in einem Satz

zusammen! z Ebach scheint es gut zu finden, wenn

Kommunikation schwierig ist. Diskutiert über seine Sicht von Sprachenvielfalt! z »Von oben verordnete Einheit« als Gefahr

Pieter Brueghel d. Ä., Der Turmbau zu Babel, Wiener Fassung 1563 und Rotterdamer Fassung 1567 / 68

– sammle Beispiele aus Geschichte und Gegenwart (vgl. S. 84)! z Pfingsten und »Babel« werden einander

An

ung: Man muss nicht

oft gegenübergestellt. Doch auch nach Pfingsten besteht die Vielfalt der Spra-

immer verstehen.

chen weiter. Wiederhole dazu Apg 2!

SO BIN ICH . . .

7/ 8

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Muss Strafe sein? Von Recht und Schuld

Thomas Zacharias, Radierung zur Bibel, Joh 8,7

Aus israelitischem Recht: Das Verbot des Ehebruchs (6. bzw. 7. Gebot) soll die Familie schützen (Schutz vor illegitimen Erben und Zerbrechen des Familienverbands). I Wenn ein Mann mit einer verheirateten Frau schläft, sollen beide sterben (5 Mose 22,22). I Steinigung gilt als Strafe für Verstöße gegen Gott (z. B. Götzendienst, Fluch). I

z Fasse die Aussagen von G. Friedrichsen zusam-

men und beziehe sie auf Gedanken über den Menschen in der Urgeschichte! z Strafe muss sein? Sammelt eigene Erfahrungen zum Thema

Strafe! Unterscheidet dabei verschiedene Zwecke von Strafen, z. B. Sühne, Vergeltung, Abschreckung! z Lies Joh 8 zunächst einmal aus »juristischer« Perspektive

(Sachlage, Beteiligte, Rechtsgrundlage usw.): Es bleiben eine Menge Fragen offen! z Deute das Bild von T. Zacharias ! – Gib der Frau auf dem Bild

eine Stimme: Wie erlebt sie die Situation? Und wie geht es für sie weiter? z Jesus sagt nicht: Nicht so schlimm! Er nennt Ehebruch »Sün-

de«. Überlegt, welches Verhalten heute Familien gefährdet! z Weitere Gedanken zu Jesu liebevoller Zuwendung zu den

Menschen findest du in Kap 8. Dieses Kapitel, dazu die S. 17, helfen auch das Merke zu deuten!

Ge

t? Jesus bückt sich

und richtet sich wieder auf.

34

KAPITEL 2

Ein Gespräch mit der Gerichtsreporterin Gisela Friedrichsen Hat sich Ihr Menschenbild in der langen Zeit, in der Sie als Gerichtsreporterin tätig sind, verändert? Gisela Friedrichsen: Ja sicher . . . wenn man es dann konkret erlebt, wenn man Menschen vor sich hat, Täter wie Opfer, wenn man sieht, was Menschen einander antun und wie schwer es auf der anderen Seite ist, darüber richten zu müssen, sieht man die Welt mit ganz anderen Augen. Und man wird auch ungeheuer dankbar, dass einem selbst viele Situationen erspart geblieben sind; vor Gericht werden Schicksale offenbar, die man sich im schlimmsten Albtraum nicht ausmalt. Das hört sich ja fast nach einer Portion Mitleid mit dem Täter an. Sind Sie aufgrund Ihrer Erfahrungen bei Gericht barmherziger geworden? Ja, aber ich habe im Laufe der Zeit auch mehr Gespür bekommen für das, was Opfer mitmachen. Wenn man die Bild-Zeitung aufschlägt, liest man fast auf jeder Seite von Verbrechen. Aber was diese für die Opfer bedeuten, erfährt man erst richtig, wenn man die Menschen vor sich hat. Und was die Täter betrifft, bin ich nicht mehr so schnell mit meinem Urteil. Denn, wenn man hinter die Fassade eines Menschen schaut, und das geschieht ja bei Gericht, erklärt sich vieles. Spielt das Christentum, das, was es zu Schuld und Vergebung sagt, eine Rolle für Sie? Ja, das christliche Menschenbild hilft selbst – oder soll ich sagen: »gerade« – im Umgang mit dem schlimmsten Straftäter. Auch er ist und bleibt ein Geschöpf, ja ein Abbild Gottes. Und zur Vergebung gehört für mich, dass ein Mensch, der seine Strafe abgebüßt hat, frei von dieser Schuld ist, auch wenn diese nicht vergeht. Denn ein Kind, das ermordet wurde, wird natürlich nicht wieder lebendig, wenn der Mörder verurteilt wird, egal, wie hoch die Strafe ausfällt. Aber das heißt doch, Sie verstehen Strafe auch als Sühne für Schuld. Ja, und ich habe die Erfahrung gemacht, dass es auch viele Straftäter so sehen. In meiner Tätigkeit habe ich Angeklagte erlebt, die gesagt haben: Dass ich ins Gefängnis muss, ist völlig in Ordnung, sonst komme ich mit mir nie ins Reine.


Träumen und Handeln

Die Skulptur »Freedom« des USamerikanischen Bildhauers Zenos Frudakis (2001) steht in Philadelphia, am Gebäude der Hauptniederlassung von GlaxoSmithKline, einem der weltweit größten Pharmaunternehmen.

Denn ich schäme mich des Evangeliums nicht; denn es ist eine Kraft Gottes, die selig macht alle, die daran glauben [. . .] Denn darin wird offenbart die Gerechtigkeit, die vor Gott gilt, welche kommt aus Glauben in Glauben.

Ich dein baum Nicht du sollst meine probleme lösen sondern ich deine gott der asylanten nicht du sollst die hungrigen satt machen sondern ich soll deine kinder behüten vor dem terror der banken und militärs nicht du sollst den flüchtlingen raum geben sondern ich soll dich aufnehmen schlecht versteckter gott der elenden Du hast mich geträumt gott wie ich den aufrechten gang übe und niederknien lerne schöner als ich jetzt bin glücklicher als ich mich traue freier als bei uns erlaubt Hör nicht auf mich zu träumen gott ich will nicht aufhören mich zu erinnern dass ich dein baum bin gepflanzt an den wasserbächen des lebens.

Röm 1,16 f.

z Martin Luther hat den Zustand der Sünde und

Entfremdung als ein In-sich-Verkrümmtsein beschrieben (S. 29). Auf dieser Seite findest du alternative Körperhaltungen, die symbolisch für den Ausbruch aus einem verkrümmten Leben stehen. Arbeite sie aus den Materialien heraus! z Aufstehen, aufrichten, losgehen: Auch viele biblische Ge-

schichten symbolisieren Befreiung und Veränderung in Körperbildern. Lies dazu z. B. Mk 2,1–12; Lk 13,10–13! z Das Nachdenken über Röm 1,16 f. war ausschlaggebend für

Luthers reformatorische Erkenntnis.

7/ 8

Vergleiche Luthers

Verständnis von Freiheit mit der Skulptur »Freedom«! Ändert sich etwas an dem Ergebnis, wenn du den Standort der Skulptur mit einbeziehst? z »Du hast mich geträumt gott« – arbeite aus den Aussagen

der biblischen Urgeschichte »Träume Gottes vom Menschen« heraus und vergleiche sie mit Sölles Aussagen! z Gestalte ein Plakat, ein Bild, ein Gedicht . . . : »Gottes Traum

von mir«!

Dorothee Sölle

SO BIN ICH . . .

35


m Zusammenhang Der Journalist Lars Reichardt durfte drei Wochen lang an seinem alten Gymnasium als Aushilfslehrer arbeiten. Er berichtet von seinen Eindrücken: In einer siebten Klasse erzählt mir ein Schüler, dass er gerade im Krankenhaus war. Ein Mitschüler schubste ihn nach einem Streit im Sportumkleidezimmer an die Wand, er wurde ohnmächtig. »Hat der sich wenigstens bei dir entschuldigt?« – »Nein, er glaubt, er sei im Recht, weil ich ihn zuvor mit einem schlimmen Wort beschimpft habe. Jetzt muss er vor die Klassenkonferenz.« Im letzten Schuljahr ist von diesem Gymnasium gerade mal ein Schüler geflogen: weil er jemanden mit einem Messer bedroht hatte. Im Lehrerzimmer hängt zwei Tage später das Urteil des jüngsten Disziplinarausschusses: keine Entlassung, der Schubser muss jeden Tag den Pausenhof aufräumen und darf sich den Rest des Jahres nur getrennt von seinen Mitschülern für den Sportunterricht umziehen. Der Vater des Täters habe seinen Sohn gedrängt, seine Schuld zuzugeben, höre ich später, das Opfer seine Mitschuld eingestanden und auch das schlimme Wort verraten: Hurensohn. Der Vertreter des Elternbeirats habe auf Schulausschluss des Täters plädiert, der Direktor sich um Milde bemüht, ebenso die Mutter des Opfers. Anscheinend eine umsichtige Entscheidung und keine Demonstration von Härte.

z Erziehungs-

und Ordnungsmaßnahmen: Informiert euch über die Rechtslage in eurem Bundesland / an eurer Schule! Untersucht, welche Vorstellungen über Sinn und Funktion von Strafen hinter den jeweiligen Vorschriften stehen und welche Spielräume für Vergebung es darin gibt! z Untersucht den in der SZ geschilderten Fall oder wählt einen Fall aus eurem eigenen Erfahrungsbereich: Versetzt euch in Gruppen in die Perspektive aller beteiligten Personen! Rekonstruiert dazu, was man über ihre Motive, ihre Vorgeschichte etc. wissen müsste! Entwerft eine Lösung des Konflikts! Dazu kann hilfreich sein, was ihr schon über Streitschlichtung 5/6 und Täter-Opferausgleich 7/8 gelernt habt. Bezieht in eure Überlegungen Gesichtspunkte eines biblischen Menschenbildes, wie es in diesem Kapitel entfaltet wurde, mit ein! Ggf. könnt ihr die Klassenkonferenz anschließend im Rollenspiel darstellen. z Vergleicht eure Lösung mit der in der SZ geschilderten!

Schulische Ordnungsmaßnahmen nach dem Niedersächsischen Schulgesetz: 1. Ausschluss vom Unterricht in einem oder in mehreren Fächern oder ganz oder teilweise von dem den Unterricht ergänzenden Förder- oder Freizeitangebot bis zu einem Monat, 2. Überweisung in eine Parallelklasse, 3. Ausschluss vom Unterricht sowie von dem den Unterricht ergänzenden Förder- und Freizeitangebot bis zu drei Monaten, 36

KAPITEL 2

4. Überweisung an eine andere Schule derselben Schulform oder, wenn eine solche Schule nicht unter zumutbaren Bedingungen zu erreichen ist, an eine Schule mit einem der bisherigen Beschulung der Schülerin oder des Schülers entsprechenden Angebot, 5. Verweisung von der Schule, 6. Verweisung von allen Schulen.



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