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BILDHAUER LORENZO QUINN

©IMAGESELECT/JUSTIN KASE ZTWOZ/ALAMY

KUNST FÜR EINE BESSERE WELT

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Die universelle Bildsprache des Lorenzo Quinn

Riesige Hände, die aus dem Canal Grande ragen um einen jahrhundertealten venezianischen Palazzo vor dem steigenden Meeresspiegel zu schützen. Oder meterhohe Arme, die einen Kanal überbrücken, um zu mehr Zusammenarbeit aufzurufen: Mit Aufsehen erregenden Projekten dieser Art ruft der italienisch-amerikanische Bildhauer Lorenzo Quinn die Menschen dazu auf, besser füreinander zu sorgen.

TEXT RONALD KUIPERS

Einige Kunstwerke schaffen es, den Betrachter am Kragen zu packen, aus der Komfortzone zu reißen und mit den Fakten zu konfrontieren. Dass wir mit unserem ungezügelten Konsum die Natur zerstören, uns gegenseitig das Leben versauern und Gewinn über Nächstenliebe stellen etwa. All dies strahlt von der Arbeit des italienisch-amerikanischen Bildhauers Lorenzo Quinn ab, der die großen Themen nicht scheut. Ihm geht es nicht um ästhetischen Selbstzweck oder leicht zu verarbeitende Gefühle. Quinn: „Jede meiner Skulpturen trägt eine Botschaft in sich. Mal ist es die Verbundenheit zur Familie, dann wieder geht es um das Treffen der richtigen Entscheidung, um Leben und Tod.“ In einer ikonoklastischen Reihe von Statuen, The Force of Nature (Die Kraft der Natur), sehen wir wie Mutter Natur – die als Frauenfigur mit verbundenen Augen auftritt – den Kurs ihres Schützlings, der Erde, durch das Weltall bestimmt. In seiner Arroganz denkt der Mensch die Kontrolle über den Planeten zu besitzen. Doch wenn Tsunamis oder Tornados wüten, weist Mutter Natur ihn in seine Schranken. „Wir Menschen betrachten uns als überlegene Wesen mit völliger Kontrolle über Schicksal und Umgebung. Doch unser Gefühl der Sicherheit ist trügerisch, bis die Natur uns mal wieder wachrüttelt. Nun, da die Temperaturen weltweit steigen und die Polkappen schmelzen, nähert sich der Moment, in dem die Natur ihre Geduld endgültig verliert.“ Zurück zur Quelle

Niemand hätte erwartet, dass Quinn Bildhauer werden würde, er selbst am wenigsten. In Rom, der Stadt in der er 1966 zur Welt kam und wo er seine frühe Jugend verbracht hat, sieht man Quinn vor allem als „Sohn des berühmten Schauspielers“. Sein Vater ist Anthony Quinn, der dank seiner Glanzrolle in Fellinis oskargekröntem Film La strada in Italien Legendenstatus genießt. In Lorenzos Jugend dreht sich alles um die Schauspielerei, vor allem nachdem er als Sechsjähriger nach Hollywood zieht: „Unser rechter Nachbar war John Wayne und links stand das Haus von Kirk Douglas. Ein Stückchen weiter wohnten Paul Newman, Henry Fonda und Jerry Lewis.” Als Lorenzo die Schule absolviert, scheint es nur logisch, dass er in die Fußstapfen seines Vaters tritt. Er bekommt prominente Rollen in biografischen Filmen über den italienischen Geigenbauer Antonio Stradivari (gemeinsam mit seinem Vater) und den spanischen Maler Salvador Dalí. Sein Talent wird allseits anerkannt, doch Lorenzo merkt nach einiger Zeit, dass er „aus den falschen Gründen schauspielert“, als Wettkampf mit seinem Vater oder um Ruhm und Reichtum zu erlangen. Von Dalí inspiriert, beschließt er in New York eine Ausbildung zum >

Künstler in Angriff zu nehmen. Schnell aber sieht er ein, dass auch die Weiterentwicklung von Dalís Surrealismus ein Holzweg ist: „Ich habe lediglich etwas kopiert, was ein Genie lange zuvor kreiert hatte.“ Auf der Suche nach Inspirationsquellen, die ihn wohl weiterbringen, landet Lorenzo in dem Land, wo sein Leben angefangen hat: Italien. Hände

Es sind vor allem die Marmorskulpturen italienischer Großmeister wie Michelangelo und Bernini, die Lorenzo zu Tränen rühren. Ihre sinnlichen Gesten, scheinbar samtene Haut und ihre angespannten Muskeln verleihen den Figuren eine Vitalität, die auch nach Jahrhunderten noch spürbar ist. Lorenzo hängt seinen Pinsel an den Nagel und fängt an, dreidimensional zu arbeiten. So erlebt er bald eine Sensation: „Ich war dabei, einen Torso auf Basis von Michelangelos Skizzen von Adam zu machen, reines Handwerk. Doch dann bekam ich eine Idee und fing an, Material weg zu hacken. Und siehe da: Aus Adams Körper wurde Eva. So entstand aus einer akademischen �bung mein erstes eigenes Kunstwerk!” Vom menschlichen Körper sind es vor allem die Hände, die Lorenzo maßlos begeistern: „Ich wollte das nachahmen, was als schwierigster und technisch anspruchsvollster Körperteil gilt. Hände haben so viel Kraft – die Kraft zu Lieben, zu Hassen, zu Schöpfen und zu Vernichten. Sie sind die Träger universeller Botschaften die jeder versteht.“ Als angehender Bildhauer hält Lorenzo New York für einen ungeeigneten Wohnort. Nicht nur, weil die Stadt so „hart ist gegenüber den menschlichen Werten“, sondern auch, weil es zu wenig Fachleute gibt, die Bronze zu gießen wissen und Marmor bearbeiten können. Gemeinsam mit seiner Frau Giovanna Cicutto und ihrem ersten Sohn (es folgen zwei weitere) zieht er nach Barcelona. Dort kann er ein großes Atelier nutzen: „Wir haben uns wegen des südländischen Charakters, der menschlichen Werte und der überragenden Fachleute für Spanien entschieden.“ Dolce vita

„Ich bin von Natur aus verlegen und zurückhaltend. Andererseits aber bin ich ehrgeizig und möchte etwas er reichen!“ In Barcelona versteht Lorenzo es, seine Ambitionen in ein beeindruckendes Oeuvre um zu münzen. Er hat seine eigene Gießerei und arbeitet mit Materialien wie Harz, Aluminium, Marmor und Stahl. Kleinere Skulpturen gießt er häufiger in Auflagen, während seine großformatigen, bis zu zwölf Meter hohen Arbeiten Unikate sind. Häufig stehen verschlungene Hände bei seinen Entwürfen im Vordergrund. Lorenzo: „Es macht mich enorm glücklich, wenn ein unschuldiges Kind seine Liebe zeigt, indem es seine Hände zu dir ausstreckt.

„Support“ im Canale Grande, 2017.

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©ANP/ALEANDRO BIAGIANTI/AGF/SHUTTERSTOCK Lorenzo Quinn bei seiner Arbeit „Give“ in den Boboli-Gärten, 2020.

Hände haben so viele Kräfte – die Kraft zu Lieben, zu Hassen, zu Kreieren und zu Vernichten.

Und es ist nicht weniger zärtlich, wenn ältere Menschen während eines abendlichen Spaziergangs liebevoll ihre Hände halten.“ Auch Jugenderinnerungen erweisen sich als Inspirationsquelle. Bei der über vier Meter hohen Skulptur Vroom Vroom etwa sehen wir eine riesige Kinderhand (die einem seiner Sprößlinge nachempfunden ist, als dieser vier war), die nach einem echten Fiat 500 mit römischem Nummernschild greift. „Das erste Auto, das ich von meinem selbst verdienten Geld gekauft habe. Ich war glücklich wie ein Kind damit. Die Arbeit steht für die Unschuld der kleinen Dinge und die Freude, die sie uns bereiten.“ Mit Dolce vita, einer metergroßen Hand, die nach einer authentischen Vespa von 1964 greift, verweist Lorenzo auf die Geschichten, die sein Vater über das Rom der 1960er Jahre erzählt hat, mit Filmstars, die über die Via Veneto flanierten und den vielen Motorrollern, die bessere, freiere Zeiten versprachen. Brücken bauen

Neben dem Mikrokosmos zwischenmenschlicher Beziehungen, seiner Familie und Jugenderinnerungen bezieht Lorenzo seine Inspiration vor allem aus den großen Themen unserer Zeit: Unterdrückung, Gewalt und Klimawandel. Lorenzo: „Wir leben in beängstigenden Zeiten und ich möchte Menschen zum Handeln animieren!“ Seine Arbeit Canned Society (Dosengesellschaft) zeigt eine Frau, die zusammengefaltet in einer aufgerollten Sardinenbüchse sitzt. Lorenzo: „Die Gesellschaft will uns in Regale einsortieren, vor allem Frauen. Ihnen wird vorgegaukelt, dass sie schlank, groß und elegant sein müssen, während ihre wahre Schönheit in ihren einzigartigen Talenten liegt.“ Obwohl Lorenzo von Frankreich und England bis nach China weltweit ausstellt, sind seine wichtigsten Werke zumindest vorübergehend in Italien zu sehen – vor allem während der Biennale von Venedig. 2011 überrascht er die Welt dort mit der provokanten Antikriegsinstallation This is Not a Game! (Dies ist kein Spiel!). Ein in der Lagune von Venedig treibendes Floß mit einem russischen T55-Panzer und lebensgroßen Soldaten. Lorenzo: „Die Führer der >

Welt setzen ihre Armeen ein, als handele es sich um private Spielchen, in denen sie drohen und vernichten, wie es ein rücksichtsloses Kind täte.“ Sechs Jahre darauf präsentiert Lorenzo die Biennale-Skulptur Support (Unterstützung): zwei neun Meter große Hände, die aus dem Canale Grande hervorragen, um das geschichtsträchtige Hotel Ca’ Sagredo zu stützen. Lorenzos Art, um Aufmerksamkeit für die Verwundbarkeit der jahrhundertealten Paläste und den steigenden Meeresspiegel einzufordern. Auf der Biennale von 2019 schafft Lorenzo mit Building Bridges (Brücken bauen) sechs paar Arme, die eine 50 Meter lange und zwölf Meter hohe Brücke über einen venezianischen Kanal bilden, eine Liebeserklärung an die Stadt, die zu einem guten Teil aus Brücken besteht. Es ist zugleich Lorenzos Aufruf an die internationale Politik, alte Konflikte zu überbrücken und sich zusammen zu raufen.

Kunst für jedermann

Lorenzos Herz schlägt für die großen Skulpturen im öffentlichen Raum. „Ich möchte nicht nur ein paar Menschen glücklich machen. Kunst im öffentlichen Raum hat das Zeug, jeden zu erfreuen. Auch wenn ich nicht mehr bin. Daran arbeite ich.” Ein Beispiel jüngeren Datums ist Give (Gib): Die gefalteten Hände eines Manns und einer Frau, die aus Harz und recycelten Materialien besteht und einen Olivenbaum tragen, das Symbol für den Frieden. Your World (Deine Welt) wird derweil 2023 an einem Ort zu sehen sein, wo Christo vor Jahren einen treibenden, gelb-orangefarbenen Steg kreiert hat: dem Lago d’Iseo. Zwei riesige Hände kommen aus dem Wasser zu Vorschein. Sie tragen eine silberne Erde, auf der die Kontinente grün erscheinen. Seine Botschaft: Wir haben die Welt in unseren Hände. Lass uns gut zu ihr sein! Das Werk besteht zum Großteil aus recyceltem Plastik. Wer es sehen möchte, so die Idee, soll als Eintrittskarte eine Plastikflasche mitbringen. Im Gegenzug hier erhält der Besucher den Samen eines Baums, den er im Garten oder in einen Topf pflanzen kann, um auf diese Weise neues Leben zu schaffen. So bleibt Lorenzo einer Kunst treu, welche die Welt ein klein bisschen besser machen möchte: „Ein Künstler ist nie völlig zufrieden mit seiner Arbeit. Der Tag, an dem man nicht mehr lernt und sich nicht mehr weiterentwickelt, ist der Tag an dem man als Künstler stirbt.” •

Die zentrale Botschaft lautet: Wir halten die Welt in unseren Händen. Lasst uns gut zu ihr sein!

„The Force of Nature“, Venedig, 2018.

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TIPPS

„Building Bridges“, Biennale Venedig, 2019.

Aufsehen erregende Skulpturen

Lorenzo Quinn hat viele seiner Aufsehen erregenden Skulpturen im öffentlichen Raum Italiens realisiert. Doch anders als in Weltstädten wie London, Shanghai und New York, wo das Publikum dauerhaft in den Genuss seiner Arbeiten kommt, sind Lorenzos Installationen in Italien häufig zeitlich begrenzt. Seine Beiträge zu vergangenen Biennalen von Venedig (This is Not a Game! in der Lagune und Support im Canale Grande) sind, wie bei solchen Ausstellungen üblich, wieder verschwunden. Sein Beitrag zur Biennale 2019 (Building Bridges im Arsenal) wird voraussichtlich in diesem Jahr entfernt. Manchmal werden Lorenzos öffentliche Skulpturen auch versetzt. Dolce vita etwa war zunächst bei Casina Valadier im Park der römischen Villa Borghese zu bewundern. Später ist sie nach London umgezogen. Give war in mehreren italienischen Städten zu sehen. Zunächst in Florenz, später in Palermo und anschließend bis Herbst 2022 in Vicenza (Piazza Matteotti). Voraussichtliche Endstation wird Pietrasanta. Eine Ausnahme von den temporären oder weiterreisenden Objekten ist Stop Playing! (Hör auf zu spielen!), eine Skulptur, in der eine Erdkugel von einem Katapult weggeschossen wird (ein Aufruf, sorgfältiger mit der Erde umzugehen). Das Werk ist dauerhaft in der grünen Umgebung des venezianischen Forte Marghera zu bewundern. Ein neues Aufsehen erregendes (doch abermals temporäres) Projekt trägt den Titel Your World (Deine Welt): Zwei riesige Hände, die bei Sulzano aus dem Lago d’Iseo ragen und die eine silbergrüne Erdkugel festhalten. Ihre Botschaft: Wir halten die Welt in unseren Händen, lasst uns gut zu ihr sein! Aufgrund der Folgen der Corona-Pandemie hat sich die Inszenierung des Kunstwerks um ein Jahr verzögert. Statt in diesem Sommer ist das Werk nun 2023 zu sehen. Wer nicht so lange warten möchte: Auch in Leusden in den Niederlanden ist neben dem Hauptquartier der Firma Afas dauerhaft ein Werk von Lorenzo Quinn zu sehen: You are the World (Du bist die Welt) mit einem ähnlichen Thema. Darüber hinaus präsentiert Quinn seine Arbeiten auf seiner Webseite: lorenzoquinn.com.

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