critica
ISSN: 2192-3213 I/ 2014
Zeitschrift für Philosophie und Kunsttheorie
z e it Benedikt Franke | Thorsten Streubel | Ana Carrasco-Conde | Anita Galuschek | Dominic Lütjohann | Hannelore Paflik-Huber | Till Julian Huss | Darren Almond | Bettina Pousttchi | Björn Drenkwitz | Petra Johanna Barfs | Lutz Hengst | Danièle Perrier
zeit
inhalt
interview
interview
künstlerpositionen
Bücher
Etwas an der Bewegung. . . Zu den metaphysischen Vorbedingungen und Anfängen einer „Philosophie der Zeit“, von Benedikt Franke. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
2
Acht Fragen zum Thema Zeit, an Prof. Dr. Thorsten Streubel. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
12
Schelling und die (Zeit-)Schichten des Geistes , von Ana Carrasco-Conde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
15
Vergessen im Netz der Narrativität, von Anita Galuschek und Dominic Lütjohann. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
21
Acht Fragen zum Thema Zeit, an Dr. Hannelore Paflik-Huber. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
28
Künstlerische (Anti-)Ökonomien der Zeit, von Till Julian Huss. . . . . . . . .
32
Chance Encounter 9062 und Perfect Time 184, von Darren Almond. . . .
40
Moscow Time und Seoul Time, von Bettina Pousttchi. . . . . . . . . . . . . . . . . . .
42
Sein und Zeit sowie ∞, von Björn Drenkwitz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
44
o.T. , von Petra Johanna Barfs. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
46
Melancholische Uhren? Vom stabilisierenden Erinnerungsbild zu Formen einer Konkretion des Zeitvergehens in der Kunst nach 1960 , von Lutz Hengst. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
48
Die Ralativität des Zeitraums in der Kunst nach 1950, von Danièle Perrier. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
53
Bücher Kunst Philosophie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
64
CRITICA–ZPK I/ 2014
Etwas an der Bewegung... Zu den metaphysischen Vorbedingungen und Anfängen einer „Philosophie der Zeit“ von Benedikt Franke
„Die Zeit ist ein Knabe, der spielt,
Nicht umsonst zeigt sich der – spätestens
sikalischer Begriff, der sich auf eine von
hin und her die Brettsteine setzt: Kna-
auf Augustinus’ bekannte Erörterungen
uns unabhängige Natur bezieht. Abso-
benregiment!“
im XI. Buch seiner „Bekenntnisse“ zu-
lute bzw. reale Zeit wird hier zugänglich
Heraklit, Über die Natur
rückgehende – philosophische Diskurs
als objektives Erscheinen.
im Spannungsfeld zwischen objektiver
Erstmals als wissenschaftlich selbst-
1. Grundlegende Fragen
Realität oder subjektiver Idealität von
ständigen Aspekt einer Philosophie der
Was ist Zeit? – Die sokratische Frage
Zeit schon im alltäglichen Denken und
Natur erarbeitet Aristoteles in seinen
nach dem Wesen, der Idee bzw. dem
Sprechen: Zeit scheint untrennbar ver-
Vorlesungen zur Physik eine eigene The-
Begriff einer Sache gewinnt ihren phi-
bunden mit Zeiterfahrung – der Unter-
orie der Zeit, die sowohl die subjektive
losophischen Anspruch stets mit der Su-
scheidung des erlebenden Subjekts von
als auch objektive Seite der genannten
che nach den Grundlagen des scheinbar
Vergangenheit
Auffassungen in den Blick nimmt und
Selbstverständlichen – und deckt ihre
(„jetzt“) und Zukunft („später“). Objekti-
Probleme auf.1
viert – d. h. für sich – hingegen definiert
Die methodische Dimension der Spra-
Zeit eine Form des ‚Nacheinander’, das
2. „Gemäß der Ordnung der Zeit“ –
che für grundlegende philosophische
überhaupt Veränderung bedingt.5 Eben-
Anaximander und Heraklit
Fragen (nach klassischen Leitbegriffen
so im Alltagsverständnis verankert ist
Die Bedingungen unseres Daseins in
wie: „Was ist Existenz?“, „Was ist Wis-
Zeit als messbares Phänomen, als phy-
der Zeit – Entstehen, Vergehen, Verän-
sen?“ etc.) zeigt sich aber auch und gerade am Problem der Zeit: Es empfiehlt sich, zunächst einmal nach unserem Gebrauch fundamentaler Ausdrücke zu fragen – statt danach, wofür diese Ausdrücke (anscheinend) stehen.2 1 Auf diesen Umstand, wie er in Platons Dialogen mit ihren Fragen nach dem Wesen/Begriff von Tugend, Tapferkeit, Frömmigkeit, Sein, Wahrheit, Erkenntnis, . . . deutlich wird, verweist auch Augustinus in seinen berühmten Ausführungen zur Problematik der Zeit, Confessiones XI 14: „Was also ist die Zeit? Wenn niemand mich danach fragt, weiß ich es; wenn ich es jemandem auf seine Frage hin erklären will, weiß ich es nicht.“ 2 Nach W. Quine lassen sich gerade ontologische Kontroversen am besten über eine sprachliche Analyse führen. Ein wesentlicher methodischer Grund „[. . .] besteht darin, daß wir dann eine gemeinsame Grundlage für unsere Debatten erhalten. Fehlende Übereinstimmung hinsichtlich der Ontologie beinhaltet grundlegende Verschiedenheit der Begriffsschemata [. . .].“ Ontologische
2
3
(„früher“),
Gegenwart 4
Probleme sind deshalb allerdings noch keine bloß semantischen: Was es gibt und was nicht, hängt nicht von der Sprache ab. Quines Prinzip des semantischen Aufstiegs beruht also auf einem methodologischen Argument (Willard Van Orman Quine: Was es gibt. 1948, S. 22f.). 3 Interessant sind in diesem Zusammenhang die Ausführungen von Kurt Flasch zur Vielzahl an Aktualisierungsbemühungen (und nicht selten Vereinnahmung) Augustinus – seiner Auffassung der Seele als eigentlichen „Ort“ der Zeit – als besonders modernen Denker (vgl. Kurt Flasch: Was ist Zeit? Augustinus von Hippo. Das XI. Buch der Confessiones. Text – Übersetzung – Kommentar. Frankfurt a. M. 2004, S. 16ff.). 4 Nicht zu verwechseln mit dem psychologischen Zeitbegriff als rein individuelles Erleben – dem „Zeitgefühl“, das noch nicht den Sachverhalt relativer bzw. erlebter Zeit als einer subjektiven Erscheinung überhaupt umfasst. 5 Außer Acht gelassen für den philosophischen Diskurs, aber für den Sprachgebrauch relevant ist hier noch Zeit als Historie, die sich allerdings immer schon auf bestimmte, darin enthaltene Ereignisse bezieht.
miteinander zu vereinbaren sucht.
derung, Wachstum, Bewegung, nicht zuletzt im Bewusstsein unserer eigenen Sterblichkeit – bilden eine menschliche Grunderfahrung. Obwohl oder gerade weil die Philosophie seit ihren Anfängen nach dem Überzeitlichen, dem unvergänglich-ewigen Sein fragt, kann sie sich dieser Erfahrung nicht entziehen. Zunächst noch fernab unserer heutigen Auffassung der Zeit als messbares, physikalisches Phänomen zeigt sie sich als wirkmächtige ‚Kraft’ doch bereits unmittelbar an den Dingen selbst. „In diesem naiven Sinn verstanden ist Zeit etwas, dessen Realität keinen Zweifel duldet [. . .]“6: Sie lässt entstehen, wachsen, erneuern; vor allem aber bleibt 6 Bächli, A./Graeser, A.: Zeit, in: Grundbegriffe der antiken Philosophie, Stuttgart 2000, S. 230.
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nichts vom „Zahn der Zeit“ verschont –
Die Frage nach dem metaphysischen
aus dem 91. Fragment oft zitierten
muss altern, verfallen, sterben, wieder
Grund alles Seienden, nach dem Unbe-
Denkspruch, man könne nicht zweimal
zunichte gehen.7 In diesem Sinne zielt
dingten, führt nicht umsonst auch zu
in denselben Fluss steigen, rückt das
die Verwendungsweise noch nicht auf
einem Diskurs über die „Ordnung der
Zeitliche damit nicht aus dem geistigen
einen von raumzeitlichen Entitäten und
Zeit“: Ist es doch gerade der Ursprung
Blickfeld, gehört nicht minder zur phi-
Prozessen (als ‚Zeitgeschichte’ oder als
selbst, das nach Anaximander Grenzen-
losophischen Wahrheit. Vielmehr zeigt
die zeitlichen Zyklen z. B. von Tag und
lose/Unendliche, welches die entstande-
sich auch und gerade in der unaufhörli-
Nacht etc.) distinkten Begriff, wie wir
nen Dinge – deren zeitliche Existenz von
chen Veränderung der Dinge von einem
ihn heute kennen und den genannten
jenem bedingt ist – wieder zum Unter-
höheren Standpunkt aus ein Konstituti-
Bedeutungen zugrunde legen können,
gang, zum Tode ‚verdammt’.
onsprinzip des seienden Einen:
sondern ist immer schon qualitativ be-
Die darin zugrunde gelegte Unterschei-
stimmt.
dung zwischen den mannigfaltigen Objekten, die unseren Sinnen unmittelbar
Erst die griechische Philosophie entwickelt einen abstrakten Begriff von Zeit, der es ermöglicht, einerseits zwischen Z. und dem, was sich in ihr ereignet, und andererseits zwischen Zeit und Ewigkeit zu unterscheiden. Dadurch verliert die Zeit ihre qualitative Bestimmung (als Heils- oder Leidens-, Arbeits- oder Ruhezeit) sowie den Aspekt ihrer Erneuerungs- und Inganghaltungs-, Beschleunigungsund Aufhaltungsbedürftigkeit. Das gilt aber nur für den philosophischen Begriff der Z.; in der kulturellen Konstruktion von Zeit bleiben die konkreten und qualifizierten Z.-Begriffe
zugänglich sind, und einem dem allen
lebendig.
Weltprinzip zugleich: Im Gegensatz zur
8
Im vielzitierten Fragment des Anaximander, der einen Beginn der Philosophie markiert – als Zugang zu einem „Wissen, das Anspruch auf Begründung erhebt“ – wird das mythisch geprägte, 9
jeden
Erfahrungsraum
beherrschen-
de Bewusstsein einer Zeitlichkeit aller Dinge gleichwohl immer noch fühlbar: „Woher die Dinge ihre Entstehung haben, dahin müssen sie auch zugrunde gehen, nach der Notwendigkeit; denn sie müssen Buße zahlen und für ihre Ungerechtigkeit gerichtet werden, gemäß der Ordnung der Zeit.“10 7 Vgl. Aristoteles’ Rekurs auf den allgemeinen Sprachgebrauch im IV. Buch der Physik, 222b. 8 Assmann, J.: Zeit, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, hrsg. von Joachim Ritter, Karlfried Gründer, Gottfried Gabriel, Bd. 12, Darmstadt 2004, S. 1189. 9 Ebd. , S. 1194. 10 Zit. nach der Übers. v. Friedrich Nietzsche:
gemeinsamen – nur im Denken zu erschließenden – ‚Urgrund’ kündet bereits von einer Philosophie, die der Erfahrungswirklichkeit nicht mehr im Rückgriff auf die überlieferten Mythen ‚auf den Grund’ zu gehen sucht, sondern auf dem Wege der Reflexion. Heraklit, der um 500 v. Chr. – um einiges schärfer noch als später Platon – die Macht der Dichter und ihrer Göttermythen auf die allgemeine Vorstellungswelt kritisiert, etabliert erstmalig den Begriff des ‚Logos’ als Erkenntnis- und mannigfaltigen Vielheit der Einzelphänomene ist der Logos unveränderlich; er gilt immer und überall – nichts kann jenseits des Vernunftprinzips gedacht werden. Mit dieser am Beginn der klassischen Periode der griechischen Kultur sich herausbildenden Etablierung des Logos als Einheitsprinzip und damit philosophisches Prinzip zum Maßstab jeder möglichen Erkennbarkeit der Welt vollzieht sich so ein entscheidender Schritt zu einer neuen Form von Wissenschaft, die sich in bewusster Abgrenzung vom ‚vorphilosophischen’ Leben entwickelt.11 In Heraklits Dialektik von Einheit, dem aus dem 50. Fragment bekannten Leitsatz, alles sei eins, und Werden, dem Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen (1873), in: KSA 1, S. 818. 11 Vgl. Held, K.: Heraklit, Parmenides und der Anfang von Philosophie u. Wissenschaft, Berlin 1980, S. 127–210.
HERAKLIT betrachtet Zeit von einem Standpunkt aus, der sich von dem Anaximanders insbesondere dadurch unterscheidet, daß von ihm aus gesehen die Kluft zwischen Ursprung und Entsprungenem verschwindet. Der Dialektiker hebt das Entsprungene in den Ursprung auf.12
Bestimmt der Logos – als der Seele und der Welt innewohnendes Vernunftprinzip – die Einheit allen Seins, so ist darin die fortwährende Dynamik des Seienden immer schon inhärent. Dem Umstand, dass im diskursiv organisierten Denken und Sprechen über die Welt – den menschlichen Urteilen über sie in begrifflich bestimmten Unterscheidungen – immer nur Aspekte des Einen gefunden werden können, verdankt sich daher wohl auch die von Heraklit bewusst gewählte Strategie der Vermittlung: die Niederlegung seiner Gedanken in prägnanten, gnomischen Sätzen, die gerade nicht den Anspruch einer in sich geschlossenen, begrifflich aufbauenden Lehre erheben, sondern immer von mehreren Gesichtspunkten aus interpretationsfähig und auch -bedürftig sind. Insbesondere etwa im ebenso faszinierenden wie rätselhaften Fragment B 52: „Die Zeit ist ein Knabe, der spielt, hin und her die Brettsteine setzt [. . .].“13 Die griechische Bezeichnung Aion bezieht sich hier nicht auf 12 Assmann, J.: Zeit, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Darmstadt 2004 (wie Anm. 8), S. 1194. 13 Diels, H.: Die Fragmente der Vorsokratiker. Griechisch und Deutsch, 1. Band, Berlin 1922, S. 87.
3
CRITICA–ZPK I/ 2014
eine in unserem Sinne neutrale, bloß
3. Sein und Werden – von Parmeni-
keit: „Sein“ als das allem zugrunde lie-
vergehende Zeit, die eher dem Ausdruck
des zu Platon
gende Prinzip ist ungeworden, d. h. es
Chronos entspräche,14 sondern ist als
Nachdem bereits die Dichter – so wie
kennt weder Entstehen noch Vergehen
„Leben, Lebenszeit, Lebenskraft“ immer
Hesiod in seiner „Theogonie“ – den Grie-
– denn weder kann etwas schlechthin
schon mit Inhalt verbunden, einer in
chen ihre Götter, den Anfang und die
aus Nicht-Sein entstehen noch darin
der Welt wirkenden, lebendigen Schaf-
‚Grundpfeiler’ ihrer Welt lehrten, als die
vergehen. Das Seiende selbst ist ohne
fenskraft. Insbesondere am Beispiel
ersten ‚Theologen’ und damit in gewis-
Anfang und ohne Ende. Den zeitlichen
dieses Fragments wird deutlich, dass es
sem Sinne die ersten Philosophen Grie-
Kontexten der natürlichen einzelnen
Heraklit – wie etwa in seiner berühm-
chenlands17, entwickelt Parmenides um
Dinge (ihrem steten Wandel als ‚nicht-
ten Reflexion über die Weltordnung als
500 v. Chr. als erster denjenigen philoso-
mehr’ und ‚noch-nicht’) vollständig ent-
„ewig lebendiges Feuer“ im 30. Fragment
phischen Begriff, der die nachfolgende
hoben, wird „Sein“ im strengen Sinne
– weniger um bloß naturphilosophische/
geistige Epoche, vornehmlich im pla-
von Parmenides bestimmt als Einheit,
kosmologische Spekulationen geht. Dies
tonischen Denken, maßgeblich prägen
Unbewegtheit und Vollendetheit. Dem-
allein würde seine Bedeutung als eigen-
wird: einen fundamentalen Begriff von
nach ist es in allem gleich und somit
ständigen Denker bis heute auch kaum
Sein.
vollkommen, insofern es ihm an nichts
erklären. Aus der Einsicht, dass „der
Die Zielrichtung der Philosophie über
mangelt. Denn außer Seiendem gibt es
Grund von Einheit selbst nicht diskur-
die sinnlich erfassbaren Einzeldinge hi-
nur noch Nicht-Seiendes, dem es sozu-
siv fassbar“ ist, erklärt sich vielmehr
naus, von denen es – wie Aristoteles in
sagen an allem ‚mangelt’, und worüber
die Vorliebe Heraklits für einen Sprach-
seiner „Metaphysik“ später anmerken
selbst keine sinnvollen Aussagen mehr
gebrauch, der ihm schon in der Antike
wird – aufgrund ihrer raumzeitlichen
möglich sind, da es das Sein weder be-
den Beinamen „der Dunkle“ zugebracht
Bedingtheit auch „weder Definition
rührt noch ihm etwas hinzufügen könn-
hat und stets nur in seiner besonderen
noch Beweis“ gibt, hin zum unverän-
te. Zum ersten Mal – durch die im ge-
Literarizität fassbar wird – d. h. sich den
derlichen Wesen der Welt führt Parme-
suchten Begriff gefundene Verbindung,
begrifflichen Gewohnheiten zwar ent-
nides in seinem Lehrgedicht zu einem
gemeinsame Struktur, ja letztendlich
zieht, aber gleichzeitig zu neuen inter-
Seinsbegriff, der dem Kriterium der
Identität von Denken und Sein – betreibt
pretativen Zugängen reizt.
Erkennbarkeit vollständig genügen soll.
damit Parmenides in dieser Form Onto-
Wie das „ewig lebendige Feuer“ von kei-
Der „wohlgerundeten Wahrheit un-
logie. Wenn aber die Wissenschaft vom
nem Begriff vollständig sprachlich er-
erschütterliches Herz“ und nicht „der
Sein nicht von dem handeln kann, was
füllt, definitorisch quasi ‚zum Stillstand’
Sterblichen Wahngedanken, denen ver-
war oder sein wird, sondern nur noch
gebracht werden kann und doch nichts
19
läßliche Wahrheit nicht innewohnt“
von dem, was „im Jetzt vorhanden ist als
weniger ist als „Weltordnung“, ebenso
zufolge – lehrt ihm die Göttin, die eine
Ganzes, Einheitliches“20, dann gehören
wohnt dem „Knabenregiment“ der Zeit
religiöse
elementare
auch die Bedingungen der Zeit selbst
eine eigentümliche Dialektik inne: von
‚Seinserfahrung’ vermittelt – gibt es
offenbar nicht mehr zu jener unhinter-
Spiel und Ernst, von Ordnung und Kon-
in vier Hinsichten eine Unwandelbar-
gehbaren Realität, nach der Parmenides
15
18
Erfahrung
als
gesucht hat.
tingenz, die wechselseitig aufeinander bezogen sind – und deren unerschöpflicher Gesetzmäßigkeit auch der denkende Mensch am besten spielend begegnet.16 14 Sie stimmt allerdings auch mit der frühgriech. Chronos-Auffassung nur im eingeschränkten Sinne überein: Die damalige Zeitvorstellung besitzt „eine Intention auf präsubjektive Realität“, ist gekennzeichnet durch einen „Verzicht darauf, Zeit von dem in ihr Befindlichen zu trennen“, schließlich „ihr Verständnis als geschichtlicher“ (Assmann, J.: Zeit, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Darmstadt 2004 [wie Anm. 8], S. 1190.). 15 Aichele, A.: Philosophie als Spiel. Platon, Kant, Nietzsche, Berlin 2000, S. 18. 16 Zum Spielbegriff bei Heraklit u. seine
4
philosophische Bedeutung für das Verhältnis Sprache, Welt, Erkenntnis vgl. ebd. , S. 15–36. 17 Zum ambivalenten (Konkurrenz-)Verhältnis von Dichtung/Mythos und Philosophie sh. z. B. Albert, K.: Platonismus. Weg und Wesen abendländischen Philosophierens, Darmstadt 2008, S. 13. 18 Schon durch die Allgemeinstruktur von Begriffen auch in einfachsten Aussagen kann es von individuellen Dingen/Erscheinungen in Raum und Zeit selbst keine Definition – daher auch keine Wissenschaft – geben. „Wie etwa jemand, der dich definieren wollte, dich ein mageres oder weißes Lebewesen nennen wird oder sonst etwas davon Verschiedenes, das auch einem anderen zukommen wird.“ (Aristoteles: Metaphysik, 1039b–1040a). 19 Diels, H.: Die Fragmente der Vorsokratiker. Griech. u. Deutsch, Berlin 1922 (wie Anm. 13), S. 149.
Zwar enthält diese Stelle, die die Ewigkeitsspekulation PLOTINS und BOETHIUS’ beeinflusste, keinen expliziten Hinweis auf die Zeit. Doch handelt sie offensichtlich von ihr. [. . .] Wenn es keine distinkten Geschehnisse gibt, gibt es auch keine zeitlichen Abschnitte. Also gibt es keine Zeit.21 20 Ebd. , S. 154. 21 Bächli, A./Graeser, A. (wie Anm. 6), S. 231./ vgl. dagegen Jan Assmann (wie Anm. 8), S. 1195: „Indem der Eleatismus über eine Negation von Werden und Vergehen nicht hinausgeht, läßt er Zeit gerade stehen, nämlich als unbegrenzte Dauer.“ – Parmenides’ Ontologie, die (von allen Gegenständen der Erfah-
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Die Philosophie als Lehre vom Sein –
Denken, Sprache und Wirklichkeit.
nische Dialog Sein im ersten wahrhafti-
dem Unveränderlichen – steht in der da-
Während Parmenides’ radikaler Seins-
gen Sinn als das unbewegt Eine – doch
mit eingeleiteten Tradition einer Lehre
begriff als unbewegte, vollkommene,
gewinnt er dabei im Rahmen einer Na-
vom Werden – den sinnlich erfassbaren
zeitlose Einheit – d. h. als ein nur noch
turphilosophie zugleich einen soweit als
Dingen – gegenüber. Kann es also eine
intelligibles Wesen der Dinge – darauf
möglich objektivierten Begriff über das
Philosophie der Zeit schon ihrem Wesen
hinausläuft, den Bereich der sinnlich
Wesen der Zeit: nämlich als „ein beweg-
nach gar nicht geben? Doch ausgerech-
wahrnehmbaren Phänomene als bloßes
liches Bild der Unvergänglichkeit“26.
net bei Platon, dessen Grundgedanke
„Scheinwesen“
aus der wahren Philo-
Anknüpfend an den bereits vor ihm er-
sich einer traditionsreichen Deutungsli-
sophie zu verbannen, geht es Timaios im
hobenen Anspruch – und ihn weiterfüh-
nie nach (mit Bezug allerdings auf eine
gleichnamigen Platon-Dialog vielmehr
rend – den einen Logos zum primären
rekonstruierte „agrapha dogmata“, die
gerade um einen Zusammenhang: Wie
Maßstab der Gegenstände des Denkens
ungeschriebene Lehre) fundamental auf
also kann das ewige Eine konkrete Ein-
zu erheben, entwickelt Platon auf diese
„die unmittelbar schauende Erkenntnis
zeldinge in Raum und Zeit ermöglichen,
Weise eine Konzeption der Zeit vor dem
des Einen und des Seins, des seienden
die mit ihm in irgendeiner Weise zusam-
Hintergrund eines erstmals expliziten
Einen“22 richtet, finden wir erstmals
menstimmen? Der Ansatz im „Timaios“
Begriffs von Ewigkeit. Da nämlich die
auch eine explizite Theorie der Zeit.
bewegt sich demnach weniger in einer
Unbewegtheit des ungewordenen (und
Im Dialog „Timaios“ aus dem Spätwerk
Ontologie von Sein und ‚Schein’, die den
daher unvergänglichen) Seienden selbst
(ca. 360 v. Chr.), in dem durch die Titel-
Bereich der Naturphänomene dem letzt-
nicht sinnlich erfahren, sondern nur im
figur ein Mythos zur Weltentstehung
lich Unerkennbaren/Unwissenschaftli-
Denken erfasst werden kann, wird Zeit
– also eine bestimmte Kosmologie – ent-
chen zuordnet, sondern weist auf eine
als ein bewegliches Abbild nicht zuletzt
wickelt wird, geht es dabei nicht zuletzt
metaphysische
zu einer elementaren Bedingung von Er-
um eine für Platon zentrale Schwierig-
Verhältnis zwischen evident, d. h. not-
fahrung überhaupt.
keit: das Problem von Einheit und Viel-
wendig wahr Seiendem und kontingen-
„Artikuliert wird diese Behauptung be-
heit, das Verhältnis von Denken/Begriff
ten bzw. in ihrem Sein bloß möglichen
merkenswerterweise im Kontext eines
und Wirklichkeit.
Einzeldingen – dem auf einer logischen
poetisch-kosmogonischen Entwurfs“27,
Die schon im Schlagwort der Platoni-
Ebene das Verhältnis zwischen Wahr-
der – im Spannungsfeld von Mythos/
schen „Ideen“ sich abzeichnende Frage
heit/Wissen und Glauben/Meinung ent-
Dichtung und Wissenschaft/Philoso-
des Einen und Vielen, nach der Referenz
spricht – gemäß, rehabilitiert Timaios
phie – selbst ein Bild der Schöpfung von
zwischen logischen Entitäten (Begrif-
hier die Natur der sinnlich wahrnehm-
der leibhaften Natur aus dem unbewegt
fen) und konkreten Dingen in Zeit und
baren Welt selbst als entstandenes, von
Einen entwickelt. Dass Timaios’ Kosmo-
Raum, ist durchaus kein bloß ‚akademi-
einem Urheber (Gott) erzeugtes Abbild
gonie daher auch und gerade in der ihr
sches’ Problem, sondern – wie Sokrates
des Unvergänglichen, nur „durch Nach-
eigenen Poetizität verstanden werden
im „Philebos“-Dialog anmerkt – ein phi-
denken und Vernunft zu Erfassenden“25.
sollte, erhellt schon daraus, dass der da-
losophisches Rätsel, das gewissermaßen
Platons Aufnahme der von Parmeni-
rin beschriebene ‚Schöpfungsakt’ selbst
„allen Menschen zu schaffen macht mit
des und Heraklit geprägten Begriffe
nicht (wie dies ein wörtliches Verständ-
ihrem Willen und auch wider ihren Wil-
des Seins und der Einheit in die eigene
nis vielleicht nahelegen könnte) als ver-
len manchen und manchmal“23.
Philosophie differenziert den eleati-
gangenes, also zeitliches Ereignis inter-
Es betrifft letztlich die grundlegende
schen Monismus, nach dem das Werden
pretiert werden kann. Denn – so geht aus
Fragestellung nach einer Erkennbarkeit
als Nicht-Sein zum Trügerischen, bloß
dem Text ebenso deutlich hervor – „das
der Welt – dem Verhältnis zwischen
Scheinhaften gehört, zur Auffassung
WAR und WIRD SEIN sind gewordene
einer ontologischen Priorität, wie sie an
Formen der Zeit, die wir, uns selbst un-
Timaios’ Kosmologie-Entwurf im Be-
bewusst, unrichtig auf das unvergängli-
griffspaar ‚Urbild/Vorbild’ und ‚Abbild’/
che Sein übertragen“28, d. h. auf dasjeni-
Schöpfung zum Ausdruck kommt.
ge, das die metaphysische Bedingung für
Zwar identifiziert damit auch der Plato-
Zeit ja erst liefert.
24 Diels, H.: Die Fragmente der Vorsokratiker, Berlin 1922 (wie Anm. 13), S. 149. 25 Platon: Timaios: in: Sämtliche Werke, neu hrsg. v. Ursula Wolf, Bd. 4, Reinbek bei Hamburg 1994, 29a.
26 Ebd. , 37d. 27 Assmann, J.: Zeit, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Darmstadt 2004 (wie Anm. 8), S. 1196. 28 Platon: Timaios (wie Anm. 25), 37e.
rung ‚gereinigt’) nur noch im Denken fassbar wird, scheint mir allerdings eher auf ein tatsächlich überzeitliches Sein hinauszulaufen – zumal ohne Kriterien für Vergangenes und Zukünftiges („Es war nie und wird nicht sein“, ebd.) auch der Begriff Zeit für den genannten Kontext von „Sein“ jede Bestimmung verliert. 22 Albert, K.: Platonismus, Darmstadt 2008 (wie Anm. 17), S. 8. 23 Platon: Philebos, in: Sämtliche Werke, neu hrsg. v. Ursula Wolf, Bd. 3, Reinbek bei Hamburg 1994, 14c.
24
Abhängigkeit:
Dem
5
CRITICA–ZPK I/ 2014
Warum Platon für seine Weltentste-
werden können, „gewinnt auch Platons
Denken begriffen und in der Naturbe-
hungslehre – als planvollen Gestaltungs-
Rede von Zeit als Abbild der Ewigkeit
trachtung anschaulich wird.
prozess – insofern selbst ein poetisch
ihren besonderen Sinn, sowie die Vor-
Die „strukturelle Abhängigkeit der Zeit
geformtes Abbild der göttlichen Urhe-
stellung, dass der Kosmos selber Abbild
von der Ewigkeit, ohne deren Urbild-
berschaft entwirft, dürfte indes nach der
und Gleichnis eines idealen Gehaltes
funktion die Zeit gar nicht konstituiert
genannten Auffassung gerade mit dem
sei“ : nämlich als ein dem Grunde nach
werden könnte“33, bleibt in der kosmi-
Thema des Dialogs zusammenhängen:
ästhetisches Verhältnis insofern, als das
schen Betrachtung dem parmenidisch
Richtet sich dessen Gegenstandsbereich
Seiende unter den Bedingungen des Ge-
geprägten intelligiblen Seinsbegriff in-
doch notwendigerweise sowohl auf die
wordenen zum Ausdruck kommt.
sofern weiter verpflichtet.
ewige (nur durch Vernunftgebrauch er-
Ausgehend vom eigentlichen Zielpunkt
Erstmalig bei Aristoteles finden wir da-
fassbare) Einheit als auch auf die kon-
einer philosophischen Erkenntnis für
gegen eine eigenständige Theorie der
kretisierten (nur durch unmittelbar
Platon zu der einem Sachverhalt zugrun-
Natur, die im Kontext einer Forschung
sinnliche Anschauung erfassbaren) Din-
deliegenden, selbst nicht mehr ableitba-
ohne jede Transzendenz – der Suche
ge, deren ontologische Entsprechung
ren Wahrheit ist dasjenige, dem wir den
nach Begriffen von Substanz jenseits
der eigenen Konzeption zufolge ja wie-
Namen Zeit beigelegt haben, demnach
konkreter Wirklichkeit – steht und den
derum nur als ein Abbildungsverhältnis
zwar keine metaphysisch unabhängige
klassischen Zeitdiskurs maßgeblich prä-
verstanden und erkannt werden kann.
Entität – wird aber als die kontinuierlich
gen wird: am Seienden als Bewegtheit.
Auf diesen Zusammenhang deutet auch
fortwährende und in dieser Hinsicht un-
Timaios selbst, der eine dem Gegen-
endliche Prozessualität, die alle natürli-
4. Aristoteles: Seiendes als Bewegt-
stand seines Vortrags angemessene und
chen Dinge umfasst, in der spezifischen
heit. Zeit – Wahrnehmung – Seele
würdige Sprache geltend macht, die sich
Ausdrucksbeziehung zwischen Sein und
Die aristotelische Physik als „Wissen-
vom Wahrheitsanspruch theoretischer
Werden bestimmbar: zum „unvergängli-
schaft von der Natur“34 bezieht sich auf
Aussagen über das, was (der Vernunft
chen Bilde der in dem Einen verharren-
einen Begriff von Realität als dasjeni-
nach) ist, unterscheiden wird. Bestim-
31
den Unendlichkeit“ .
ge, was unabhängig von menschlicher
mungen über die göttliche Erschaffung
Dem sogenannten Referenzproblem –
Wahrnehmung oder Vorstellung in
der Natur lassen sich demnach nur hin-
der Frage nach dem Verhältnis zwischen
Wirklichkeit ist. Mit der Erforschung
reichend aufstellen, „wenn wir sie so
Logizität und Wirklichkeit – begegnet
des von Natur aus Seienden (nicht alles
wahrscheinlich wie irgendein anderer
Timaios im Konzept der ‚Nachahmung’,
dessen also, was gemeinhin als „seiend“
geben, wohl eingedenk, dass mir dem
also indem die Natur auf ein gedanklich
bezeichnet wird) richtet sich sein In-
Aussagenden, und euch, meinen Rich-
zu erschließendes Sein gewissermaßen
teresse allerdings gerade auf das, was
tern, eine menschliche Natur zuteil
verweist, d. h. unter den Bedingungen
offenbar dynamisch, d. h. in Bewegung
30
ward“ , die selbst zum Gewordenen ge-
der Erfahrung eine vollendete Wesen-
ist, und grenzt sich damit vom Erkennt-
hört und – anders als die göttliche Weis-
heit repräsentiert, die selbst kein Ge-
nisanspruch der eleatischen Philosophie
heit – an die sinnlichen Vorstellungen
genstand der Erfahrung mehr ist: „Als
von vornherein ab. Denn: „Die Untersu-
gebunden bleibt.
die immerwährende Veränderung des
chung, ob das Seiende eines und unwan-
Obwohl eine Philosophie der Natur (und
Kosmos bleibt die nur in diesem Sin-
delbar ist, ist keine Untersuchung im Be-
daher auch von der Zeit) Timaios zufolge
ne ewige Zeit von der zeitlos stagnie-
reich der Naturforschung.“35
nur in diesem bedingten Rahmen denk-
renden Ewigkeit des Urbilds streng zu
Dass die Methode der aristotelischen
bar wird, gibt seine „wahrscheinliche
unterscheiden.“32
Naturwissenschaft sich als Forschungs-
Rede“ gerade in der von ihm gewählten
Trotz der offenkundigen Literarizität
projekt versteht und an den Phänome-
Form – als eine poetisch-erzählende
des Timaios-Mythos – der seinem Ge-
nen selber messen lassen muss – daher
Nachbildung – dem Leser doch bereits
genstande würdigen Bildlichkeit – zeigt
auch kein abgeschlossenes System vor-
eine essentielle Intuition zum Wesen der
sich auch hier der prägend platonische
aussetzt –, verdeutlichen bereits die Be-
Schöpfung selbst.
Grundzug am Aufdecken einer dem We-
sonderheiten seiner Terminologie, von
Denn im analogen Sinne, in dem durch
sen nach logischen Weltordnung, die im
der aus gesehen ein neuer Zeitdiskurs
30 Bächli, A./Graeser, A.: Nachahmung, in: Grundbegriffe der antiken Philosophie, Stuttgart 2000, S. 148. 31 Platon: Timaios (wie Anm. 25), 37d. 32 Assmann, J.: Zeit (wie Anm. 8), S. 1197.
33 Ebd. , S. 1197. 34 Aristoteles: Physik. Vorlesung über Natur, übers. u. hrsg. von Hans Günter Zekl, Hamburg 1987, 184a. 35 Ebd. , 184b–185a.
29
den geformten Mythos wesentliche Momente des Logos vermittelt – d. h. zur sinnlichen Anschauung gebracht – 29 Ebd. , 29c–d.
6
CRITICA–ZPK I/ 2014
möglich wird: Seine Fachausdrücke sind vielfach Fragen entnommen [. . .]; bei den Prinzipien der Bewegung spricht er vom Woraus, Was, Woher und Worumwillen. Jedenfalls sucht Aristoteles keine philosophische Kunstsprache, wohl aber die Präzisierung und Differenzierung, gelegentlich auch Fortbildung der aus der Umgangssprache vertrauten Ausdrücke. Auf diese Weise gewinnt er eine bewegliche, durch und durch unscholastische Diktion.36
Die aristotelische Kritik am monistischen Seinsbegriff der Eleaten betrifft insofern aber auch die Frage nach dessen heuristischem Erkenntniswert überhaupt, etwa in Bezug auf Probleme der Kosmologie – über von Natur aus seiende Einzeldinge – und damit verbundene Probleme, z. B. der Bewegung/Entstehung in Raum und Zeit: „Es gibt nämlich gar keinen Anfang mehr, wenn nur eins und in diesem Sinne eines da ist. Denn ‚Anfang’ ist immer Anfang ‚von etwas’, einem oder mehrerem.“37 Nach diesen Gesichtspunkten kann im Übrigen auch die aristotelische „Metaphysik“ als durchaus modern gelten: Der Anspruch einer Erforschung der ersten Ursachen und Prinzipien des Seienden hat hier nicht auch Transzendenz zur Folge, sondern richtet sich immer bereits auf reale Dinge – und ist mit einer ‚Naturwissenschaft’ prinzipiell vereinbar, deren Grundannahme lautet: „Die natürlichen Gegenstände unterliegen entweder alle oder zum Teil dem Wechsel.“38 Damit ist ein wesentlicher Ausgangspunkt gewonnen, nach dem sich auch die Zeit auf etwas beziehen kann, was wirklich – und in vollem Sinne – ist. Denn wie wir bereits gesehen haben, steht das Problem mit der Veränderung selbst in einem engen Zusammenhang: Gerade angesichts der schon durch Parmenides gewonnenen Erkenntnis, dass 36 Höffe, O.: Aristoteles, 3. überarb. Auflage, München 2006, S. 25. 37 Aristoteles: Physik I 2 (wie Anm. 34), 185a. 38 Ebd. , 185a.
es nämlich ohne Werden/Bewegung
Die Zeit ist also in irgendeiner Weise
offenbar auch keinen für das Seiende
verbunden mit Veränderung und Be-
relevanten Begriff der Zeit geben kann,
wegung, weil sie stets daran gemessen
stellt sich allerdings – nunmehr im po-
wird, aber offensichtlich ist sie nicht
sitiven Sinne – die Frage, „was denn ihr
gleich Bewegung. Als Gegenstand einer
wirkliches Wesen ist“ .
„Physik“, die – ohne jede Mathematik als
Ist die Zeit möglicherweise selbst eine
Hilfswissenschaft – bei grundlegenden
Art der Veränderung? Oder kann sie
Schwierigkeiten stets auch „an die Ar-
vielleicht eher bestimmt werden als ein
beit geht mit Hilfe logisch-semantischer
zugrunde liegendes „Naturprinzip und
Analysen“43, wird das Phänomen Zeit als
damit Ursache von Veränderung“40? Für
ein eigenständiges Problem rasch er-
das Urteil, dass die Zeit nicht als eine
kennbar. In welchem Verhältnis steht es
Form von Bewegung verstanden werden
aber zum Seienden als Bewegtheit?
kann, führt Aristoteles zwei klare Argu-
Denn „andrerseits, ohne Veränderung
mente an:
(ist sie) auch nicht“44.
Alle Arten von Veränderung (Entstehen/
Da wir nämlich – so der entscheidende
Vergehen, Ortsbewegung, Zu-/Abnah-
Gedankengang – die Zeit selbst allein
me, qualitativer Wandel) stehen immer
aus der Bewegung ableiten können, ist
bereits in Relation zu den Dingen bzw.
ihr Begriff bereits unmittelbar daran
Körpern – sind mithin also selbst schon
gebunden. Aus dieser dem eigentlichen
substanziell bzw. räumlich erfahrbar.
Wesen sich fortschreitend annähern-
„Die verändernde Bewegung eines jeden
den Explikation wird abermals deutlich,
Gegenstandes findet statt an dem Sich-
dass „Parmenides mit der Verbindung
Verändernden allein oder dort, wo das
von Veränderung und Zeit einen intuitiv
in ablaufender Veränderung Befindliche
wichtigen Punkt markiert hatte“45.
selbst gerade ist; die Zeit dagegen ist in
Ausgehend von der zugrundeliegenden
gleicher Weise sowohl überall als auch
Annahme, dass alles, was von Natur
bei allen (Dingen).“
aus ist, den Bedingungen der Verände-
39
41
Des Weiteren – so lautet das zweite
rung unterliegt, gelingt Aristoteles auf
Argument – können Veränderungen
diesem Wege aber zugleich bereits eine
schneller oder langsamer ablaufen. Sie
vorläufige begriffliche Bestimmung. In-
werden also nicht nur substanziell-
teressanterweise bringt er dabei (über
räumlich, sondern auch schon zeitlich
die Frage der Wahrnehmung nämlich)
bestimmt – und sind damit ein struktu-
auch schon den Bereich Bewusstsein ins
rell anderes Phänomen.
Spiel, ohne die Zeit indes rein vom Bewusstsein abzuleiten:
„Langsam“ und „schnell“ werden ja gerade mit Hilfe der Zeit bestimmt: „schnell“ – das in geringer (Zeit) weit Fortschreitende; „langsam“ – das in langer (Zeit) wenig (Fort-schreitende). Die Zeit dagegen ist nicht durch Zeit bestimmt [. . .]. Daß sie also nicht mit Bewegung gleichzusetzen ist, ist offenkundig; – dabei soll für uns im Augenblick kein Unterschied bestehen zwischen den Ausdrücken „Bewegung“ oder „Wandel“.42 39 Ebd. IV 10, 217b. 40 Assmann, J.: Zeit (wie Anm. 8), S. 1199. 41 Aristoteles: Physik IV 10, 218b. 42 Ebd.
Wir müssen also, da wir ja danach fragen, was die Zeit ist, von dem Punkt anfangen, daß wir die Frage aufnehmen, was an dem Bewegungsverlauf sie denn ist. Wir nehmen Bewegung und Zeit ja zugleich wahr. Ja auch, wenn Dunkelheit herrscht und wir über unseren Körper nichts erfahren, wenn jedoch in unserem Bewußt43 Zekl, H. G.: Einleitung, in: Aristoteles. Physik. Vorlesung über Natur, Hamburg 1987, S. XX. 44 Aristoteles: Physik IV 11, 218b. 45 Bächli, A./Graeser, A.: Zeit (wie Anm. 6), S. 231.
7
CRITICA–ZPK I/ 2014
sein irgendein Vorgang abläuft, dann scheint alsbald auch zugleich ein Stück Zeit vergangen zu sein. [. . .] Also: Entweder ist die Zeit gleich Bewegung, oder sie ist etwas an dem Bewegungsverlauf. Da sie nun aber gleich Bewegung eben nicht war, so muß sie etwas an dem Bewegungsverlauf sein.46
änderung und Bewegung, aber sie ist
Zeit als eine Bestimmung mit Zahl de-
auch nicht identisch mit Veränderung.
finiert, wurde seine Lösung oft „als zir-
Sie kennzeichnet vielmehr ein Messen
kulär kritisiert“54. Entscheidend ist aller-
durch Wahrnehmung – indem sie durch
dings, dass er sich damit eben nicht auf
„Jetzt“-Punkte Grenzen in Bewegungs-
Zeit als selbstständige Größe bezieht,
verläufen setzt: „Was nämlich begrenzt
die gemessen wird, sondern auf das Ge-
ist durch ein Jetzt, das ist offenbar Zeit.“51
zählte/Zählbare selbst: die quantitativen
Darin ist bereits ein wesentlicher Aspekt
Bewegungsabschnitte.
Eine Definition der Zeit kann es dem-
angedeutet, der für eine oft unterschätz-
Damit aber ist ein Verhältnis aufgezeigt,
nach also nur in ihrer Abhängigkeit von
te Entdeckung in der aristotelischen
das den zu ermittelnden Phänomenbe-
Veränderung geben: Sie ist immer schon
„Physik“ noch entscheidend sein wird:
reich nicht mehr aus dem – unabhängig
etwas an der Bewegung. „Damit setzt die
die Struktur des Kontinuums. Offenbar
vom Denken – von Natur aus Seienden
Existenz der Zeit bereits die Existenz der
ist nämlich die Zeit – wie auch die Be-
allein ableiten kann. Vielmehr setzt es
Veränderung als notwendige Bedingung
wegung – etwas Zusammenhängendes.
ein Bewusstsein, die Seele als Bestim-
voraus.“47
Die jeweils angelegten Begrenzungen
mungs- und Zählvermögen, schon vo-
Der Bereich von Wahrnehmung und in-
als ein „Jetzt“ durch Wahrnehmung, die
raus: also dasjenige womit „wir (Verän-
sofern auch der Seele ist für Aristoteles
auch das davor und danach im Bewe-
derung) wahrnehmen und abgrenzend
aber vor allem deshalb entscheidend,
gungsverlauf setzen, sind also keine
bestimmen und dann sagen, es sei Zeit
weil hier das wesentliche Kriterium ge-
Teile der Zeit, sondern eben nur Gren-
vergangen“55.
funden wird, von dem aus die Zeit als
zen – d. h. festgelegte Punkte, die selbst
Auch insofern wird deutlich, dass es sich
‚etwas an der Veränderung’ bestimmt
keine Ausdehnung besitzen. Wenn wir
beim Kontinuum als unbegrenzte Teil-
werden kann: Im Erfassen eines „ ‚davor’
nämlich nur von einem einzigen einzel-
barkeit nicht etwa um irgendeine Eigen-
und ‚danach’ bei der Bewegung“ nämlich
nen „Jetzt“ ausgehen, dann würde noch
schaft von Ort, Bewegung und Zeit han-
entdeckt er einen wesentlichen Aspekt,
keine Zeit vergangen sein, „weil ja auch
delt, sondern um einen Struktur- bzw.
den die Zeit mit der Veränderung an-
keine Bewegung (ablief). Wenn dagegen
Relationsbegriff: Er kennzeichnet ein
scheinend immer gemeinsam hat – „al-
ein ‚davor’ und ‚danach’ (wahrgenom-
Verhältnis zwischen seinen Elementen,
lerdings dem begrifflichen Sein nach ist
men wird), dann nennen wir es Zeit.
das sich nur als kontinuierlicher Zusam-
es unterschieden davon und nicht gleich
Denn eben das ist Zeit: Die Meßzahl von
menhang begreifen lässt, d. h. ein Kon-
Bewegung.“48
Bewegung hinsichtlich des ‚davor’ und
nex, der nicht aus kleinsten Einheiten
Nach der bemerkenswert sprachana-
‚danach’“ .
besteht – auch nicht aus Punkten, die als
lytischen Beobachtung, dass davor und
Die aristotelische Prinzipienforschung
ausdehnungslose, im Denken gesetzte
danach eigentlich der Ortsbestimmung
auf dem Weg entdeckender Phänomen-
Grenzen bloße Operationen sind.
entnommen sind, findet diese auch hier
analyse charakterisiert demnach Zeit als
Aristoteles’ Kontinuitätslehre, die „wie
Anwendung. Denn „auch die Zeit erfas-
spezifische Form von Bestimmung an
kaum ein anderes Stück seiner Philoso-
sen wir, indem wir Bewegungsabläufe
der Kinesis durch Zahl (also Quantität):
phie inhaltlich so unveraltet ist“56, weist
abgrenzen, und dies tun wir mittels des
Sie drückt sich aus als gemessene Anzahl
damit nicht zuletzt auf eine besondere
‚davor’ und ‚danach’“49.
der Abschnitte einer Bewegung im Hin-
Funktion, welche die Seele als Bestim-
Hier wird noch einmal deutlich, inwie-
blick auf ein Verhältnis von ‚davor’ und
mungsvermögen einnimmt. Indem sich
fern die aristotelische Auffassung des
‚danach’.
nämlich Zeit bzw. Veränderung nur ge-
Seienden als – unabhängig vom erfas-
Durch den Umstand, dass Aristoteles
danklich in einzelne Abschnitte teilen
52
53
senden Geist und den begrifflichen Festlegungen – reine, (von sich aus) unbestimmte Bewegtheit grundlegend ist. Die Zeit gibt es also nicht ohne Ver50
46 Aristoteles: Physik IV 11, 219a. 47 Assmann, A.: Zeit (wie Anm. 8), S. 1199. 48 Aristoteles: Physik IV 11, 219a. 49 Ebd. , 219a. 50 Zu den hier nur kurz anskizzierten metaphysischen Voraussetzungen für den aristotelischen Naturbegriff vgl. die eingehende
8
und somit in ein Verhältnis setzen lasUntersuchung von Alexander Aichele: Ontologie des Nicht-Seienden. Aristoteles’ Metaphysik der Bewegung, Göttingen 2009. 51 Aristoteles: Physik IV 11, 219a. 52 Dass die Bestimmung des Kontinuierlichen als der Möglichkeit nach unendlich teilbaren Zusammenhang angesichts ihres eigentlich wegweisenden Gehalts kaum ausreichend gewürdigt wurde, zeigt Wieland, W.: Die aristotelische Physik, 3. Auflage, Göttingen 1992, S. 278f. 53 Aristoteles: Physik IV 11, 219a–b.
sen, wird die Bewegung in wesentlicher Hinsicht – nach dem Quantum – überhaupt erst erkennbar: „Das ‚mehr’ und ‚weniger’ entscheiden wir mittels der Zahl, mehr oder weniger Bewegung mit54 Assmann, J.: Zeit (wie Anm. 8), S. 1199. 55 Aristoteles: Physik IV 11, 218b. 56 Wieland, W.: Die aristotelische Physik (wie Anm. 52), S. 278.
CRITICA–ZPK I/ 2014
tels der Zeit.“57
notwendige Bedingung voraus: Ohne
ne immer noch von einer größeren um-
Das „Jetzt“ (nicht zu verwechseln mit ei-
Seele gäbe es nämlich keine Zeit, son-
fasst werden kann (oder eine noch klei-
nem schon als Größe zu denkenden Be-
dern allenfalls die Veränderung, d. i. das
nere enthalten), zeichnet für Aristoteles
griff von ‚Gegenwart’) ist hier selbst kein
Substrat der Zeit“ .
ja gerade die zeitlich bestimmbare Rea-
Teil der Zeit, sondern ein dimensionslo-
Das Seiende als Bewegtheit existiert
lität jeder nur denkbaren Bewegung aus.
ser Punkt, der ein Verhältnis von ‚davor’
demnach real – d. h. unabhängig vom
Und insofern ist jede Veränderung – da
und ‚danach’ zu bestimmen imstande ist.
Denken. Doch ohne ein wahrnehmen-
sie von einem Bewusstsein ‚gezählt’ wer-
Indem durch die Wahrnehmung gesetz-
des Bewusstsein können Bewegungsab-
den kann – auch ‚in der Zeit’.
te Grenzen in einem Kontinuum sich
schnitte nicht gezählt, nicht als dynami-
dabei weder berühren noch benach-
sche Prozesse quantitativ erfasst wer-
5. Fazit
bart sein können – entweder sind sie
den. Eben dieser Vorgang kennzeichnet
Mit Blick auf die genannten Bezüge ist
identisch oder bestimmen bereits eine
den in bedingtem Sinne idealen Aspekt
nach Aristoteles also die Zeit sowohl
Größe – ist die Zeit „also auf Grund des
von Zeit als Bewusstseinsakt. Unabhän-
real als auch ideal. Grundlegend für die-
Jetzt sowohl zusammenhängend, wie sie
gig von einem Verstandesvermögen also
se Auffassung aber ist nicht zuletzt die
(andrerseits) auch mittels des Jetzt durch
„ist es unmöglich, daß es Zeit gibt, wenn
Entdeckung der Kontinuität als eine we-
61
Schnitte eingeteilt wird“ . Eine Zeit gibt
es Bewußtsein (davon) nicht gibt, außer
sentliche Strukturbedingung von Bewe-
es demnach allein in den zwischen den
etwa als das, was als Seiendes der Zeit
gung überhaupt.
Jetzt-Punkten kontinuierlich zusam-
zugrundeliegt, etwa wenn es möglich ist,
Wie das ‚woraus’ und ‚worein’ die Art
menhängenden Ausdehnungen, die –
daß es Veränderungsvorgänge ohne Be-
einer Bewegung (nach Ort, Qualität,
wie Teile einer Geraden – nur gedanklich
wußtsein (davon) gibt“ .
Quantität oder Substanz) zu bestimmen
begrenzt werden und einen gemeinsam-
Die Zeit als Bestimmtheit mit Blick
vermag, indem es kategoriale Eigen-
einheitlichen Nexus bilden.
auf ein ‚früher’ und ‚später’ ergibt sich
schaften erfasst, die selbst nicht Bewe-
Die Zeit – als das „Maß der Bewegung
demnach erst aus einem Zählen der Be-
gung sind, so leistet ein ‚davor’ und ‚da-
und ihres Ablaufs“ – kennzeichnet in-
wegungsabschnitte, ist damit aber zu-
nach’ durch punktuelle Grenzen in der
sofern ein spezifisches Verhältnis zwi-
gleich angewiesen auf (reale) Bezüge,
Bewegung ihre formale Bestimmung als
schen Veränderung und Bewusstsein,
also Bewegung. Dem dabei natürlich
Dauer, also Zeit.
das sich weder rein ‚idealistisch’ noch
naheliegenden Einwand, dass Verände-
Dass auch die zeitliche Erfassung nicht
rein ‚realistisch’ auflösen lässt.
rungsprozesse ohne Zeit nur schwer-
mit der Bewegung selbst identisch sein
Unabhängig von der Seele – Wahrneh-
lich vorstellbar sind, sei entgegnet, dass
kann, zeigt schon ihre Angewiesenheit
mung und Denken – kann Zeit offen-
gerade hier eine entscheidende ‚Pointe’
auf die Konstruktion von Zeitpunkten
sichtlich nicht gezählt, ein kontinuierli-
im aristotelischen Zeit-Denken liegt:
als Zustände, die eine an sich kontinu-
cher Bewegungsprozess in quantitativen
Als elementare Erfahrungsbedingung,
ierliche Veränderung gedanklich sozu-
Verhältnissen dargestellt werden; „eine
die mit der Bestimmung von Bewegung
sagen ‚unterbrechen’. Die bestimmbare
58
59
62
Art Zahl ist also die Zeit.“ Ihre objek-
immer schon unmittelbar verbunden
Bewegung zwischen zwei „Jetzt-Punk-
tive Seite zeigt sich aber, insoweit meh-
ist, zeigt nämlich Zeit in Bezug auf dy-
ten“ ist somit selbst Resultat einer ge-
rere wahrnehmbare Veränderungen – ob
namisches Sein wie der Ort in Bezug auf
dachten Teilung des Kontinuums, und
Ortsbewegung, qualitativ, quantitativ
das körperliche nicht bloß irgendeine
weist als insofern bloß theoretischer
oder substanziell (Entstehen/Vergehen)
beliebige Eigenschaft, sondern gehört
Gegenstand bereits auf die immanen-
– nicht etwa auch auf mehrere Zeiten
selbst bereits zu den unhintergehbaren
ten Bedingungen von Logizität, nach der
hindeuten, sondern Bewegung im Allge-
„Grundvoraussetzungen von Naturer-
Dinge erfasst und (räumlich wie zeitlich)
meinen durch Zahl als Einheit (z. B. Se-
fahrung, während das Unbegrenzte und
begrenzt werden können.64
kunden) bestimmt werden kann. Nichts-
das Kontinuum notwendig sind, um die
Im Kontext einer Prozessontologie, die
destotrotz setzt also „die Zeit – neben
beiden Voraussetzungen zu begreifen.“63
sich vom parmenideischen Seinsver-
der Veränderung – auch die Existenz der
Als konkrete Zeit ist sie zählbar, als all-
ständnis grundlegend emanzipiert hat,
Seele in ihrer Funktion qua Zählvermö-
gemeine Strukturbedingung noch unbe-
gen als eine nicht hinreichende, aber
stimmt.
60
57 Aristoteles: Physik IV 11, 219b. 58 Ebd. , 220a. 59 Ebd. IV 12, S. 231. 60 Ebd. IV 11, 219b.
Dass nämlich jede bestimmte Zeitspan61 Assmann, J.: Zeit (wie Anm. 8), S. 1199. 62 Aristoteles: Physik IV 14, 223a. 63 Höffe, O.: Aristoteles (wie Anm. 36), S. 120.
64 Zur aristotelischen Definition von Bewegung nicht als einzelne, jeweils konkrete, sondern als ein allgemein metaphysisches Grundprinzip der Natur vgl. Aichele, A.: Ontologie des Nicht-Seienden (wie Anm. 50), S. 191ff.
9
CRITICA–ZPK I/ 2014
finden wir damit erstmals eine klassische Theorie der Zeit, die das Phänomen (in den Erfahrungs- und Denkbedingungen von Bewegung) als eigenständiges Sachproblem einer ‚Naturwissenschaft’ behandelt. Noch vor Augustinus und all seinen modernisierenden Lesarten kann also schon für die Philosophie der Antike ein reger Diskurs zu metaphysischen Grundbedingungen aufgezeigt werden, die mit den Problemen der Zeit unmittelbar zusammenhängen, und – mit Aristoteles als Höhepunkt – in der entscheidenden Frage kulminieren: „nämlich ob sie zum Seienden gehört oder zum Nichtseienden.“65
Literatur Aristoteles: Metaphysik. Schriften zur Ersten Philosophie, übers. und hrsg. von Franz F. Schwarz, Stuttgart 2000. Aristoteles: Physik. Vorlesung über Natur, übers. und hrsg. von Hans Günter Zekl, Hamburg 1987. Diels, Hermann: Die Fragmente der Vorsokratiker. Griechisch und Deutsch, Bd. 1, Berlin 1922. Nietzsche, Friedrich: Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen (1873), in: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden, Hrsg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, Bd. 1, München/ Berlin/New York 1988, S. 799–872. Platon: Sämtliche Werke, neu hrsg. von Ursula Wolf, Bd. 3/ Bd. 4, Reinbek bei Hamburg 1994. Quine, Willard v. O.: Was es gibt (On what there is, 1948), in: W. O. Quine: “Von einem logischen Standpunkt”. Neun logisch-philosophische Essays, übers. von Peter Bosch, Frankfurt a. M./Berlin/Wien 1979, S. 9–25. Sekundär: Aichele, Alexander: Ontologie des NichtSeienden. Aristoteles’ Metaphysik der Bewegung, Göttingen 2009. Aichele, Alexander: Philosophie als Spiel. Platon, Kant, Nietzsche, Berlin 2000. Albert, Karl: Platonismus. Weg und Wesen abendländischen Philosophierens, Darmstadt 2008. Assmann, Jan: Zeit, in: Historisches Wör65 Aristoteles: Physik IV 10, 217b30.
10
terbuch der Philosophie, hrsg. von Joachim Ritter, Karlfried Gründer, Gottfried Gabriel, Bd. 12, Darmstadt 2004, S. 1186–1262. Bächli, Andreas/Graeser, Andreas: Grundbegriffe der antiken Philosophie. Ein Lexikon, Stuttgart 2000. Flasch, Kurt: Was ist Zeit? Augustinus von Hippo. Das XI. Buch der Confessiones. Text – Übersetzung – Kommentar, Frankfurt a. M. 2004. Held, Klaus: Heraklit, Parmenides und der Anfang von Philosophie und Wissenschaft. Eine phänomenologische Besinnung, Berlin/New York 1980. Höffe, Otfried: Aristoteles, 3. überarb. Auflage, München 2006. Wieland, Wolfgang: Die aristotelische Physik, 3. Auflage, Göttingen 1992. Zekl, Hans Günter: Einleitung, in: Aristoteles. Physik, Hamburg 1987, S. XVII–LI.
interview
CRITICA–ZPK I/ 2014
Acht Fragen zum Thema zeit Interview. Prof. Dr. Thorsten Streubel vom Institut für Philosophie der Freien
Universität Berlin erläutert das Wesen und die Rolle der Zeit aus philosophischer Perspektive. CRITICA–ZPK:
In Ihrem Buch „Das Wesen der Zeit – Zeit und
Streubel: Ich würde
es zunächst so formulieren: Im Grunde
Bewusstsein bei Augustinus, Kant und Husserl“ beschäftigen
finden sich fast alle Probleme, die wir theoretisch mit der Zeit
Sie sich ausführlich mit dem Begriff und dem Wesen der Zeit
auch heute noch haben, mehr oder weniger klar ausformuliert
aus philosophischer Perspektive. Sie widmen sich damit einem
bereits in der Antike: Gibt es die Zeit überhaupt und wenn ja,
höchst abstrakten, viel umschriebenen Thema. Mich würde
welche Seinsweise kommt ihr dann zu? Ist sie Substanz oder
zunächst interessieren, wie Sie die Rolle oder die Relevanz der
Akzidenz? Und wenn keines von beiden, was ist sie dann? Gibt
Zeit als Thema innerhalb der Geschichte der Philosophie be-
es Zeit nur, weil es Bewegung und Veränderung gibt, oder ist es
werten?
umgekehrt? Inwieweit ist die Zeit von der Seele des Menschen abhängig? Etc. Auch wenn die Zeitproblematik nicht immer als
Den Hauptunterschied würde ich vielleicht darin sehen, dass
philosophisches Kardinalproblem aufgefasst wurde, so ge-
der radikale Gedanke einer absoluten Subjektivität der Zeit
hört sie nichtsdestotrotz zu den Evergreens unter den philo-
(sieht man einmal von Augustinus ab) erst bei Kant (in seiner
sophischen Problemtiteln. Es gibt kaum einen bedeutsamen
Lehre von der transzendentalen Idealität von Raum und Zeit)
philosophischen Autor, der sich keine Gedanken über die Zeit
zu finden ist.
Streubel:
gemacht hat. Und es ist sicher keine Übertreibung, wenn ich Die Gretchenfrage der Zeitphilosophie scheint
sage, dass es gerade in den letzten Jahrzehnten einen regel-
CRITICA–ZPK:
rechten Boom hinsichtlich des Nachdenkens über die Zeit ge-
mir gerade auch in Anbetracht des immer größer werdenden
geben hat. Als die klassische Moderne der Zeitphilosophie und
Einflusses der Naturwissenschaften um die Problematik zu
Zeittheorie würde ich jedoch die zweite Hälfte des 19. (Dilthey,
kreisen, ob die Zeit erst im menschlichen Bewusstsein erschaf-
Brentano, Meinong, Stern, James) und die erste Hälfte des 20.
fen wird oder unabhängig davon sozusagen objektiv existiert.
Jahrhunderts (Bergson, Husserl, Heidegger) bezeichnen: Ei-
Insbesondere die moderne Naturwissenschaft scheint dabei
nerseits wurde hier die bei Augustinus und Kant vorgedachte
die erste Möglichkeit, also eine subjektivistische Sichtweise
Subjektivierung der Zeit weitergeführt, vertieft und spezi-
auf die Zeit abzulehnen. Wie stehen Sie zu dieser Problema-
fiziert, andererseits kamen aber auch neue Impulse aus der
tik?
modernen Physik (etwa durch Einsteins spezielle Relativitätstheorie). Mir scheint, dass wir das, was in dieser Zeit (nicht
Streubel: Der
nur über die Zeit) gedacht wurde, noch nicht wirklich geistig
plementär: einer zeitlosen Welt, ist der modernen Physik tat-
Gedanke der Subjektivität der Zeit und kom-
verdaut haben.
sächlich nicht völlig fremd. Ich bin allerdings der Auffassung, dass Philosophie und Einzelwissenschaften keine konkurrieErste systematische Überlegungen zum The-
renden Unternehmen darstellen, die das gleiche Erkenntnis-
ma Zeit finden wir bereits in der Antike etwa bei Platon oder
ziel mit unterschiedlichen Mitteln zu erreichen versuchen.
Aristoteles, auf den Sie in Ihrem Buch auch eingehen. Gibt es
Denn es ist ein großer Unterschied, ob man eine ontologische
grundlegende Unterschiede in der Auffassung von Zeit zwi-
Bestimmung der Zeit (also eine Antwort auf die philosophi-
schen diesen antiken philosophischen Erklärungsansätzen
sche Was-Frage) zu geben versucht, oder ob man die Zeit als
und späteren, insbesondere modernen oder zeitgenössischen
Messgröße und als abhängige Variable in einer physikalischen
Überlegungen zum Thema Zeit?
Gleichung betrachtet. Die Welt zu berechnen, heißt nicht, sie
CRITICA–ZPK:
zu verstehen (Lotze). Vor einer naiven Ontologisierung natur-
12
CRITICA–ZPK I/ 2014
wissenschaftlicher Theorien sollte man sich daher nicht nur
Zeit in der Transzendentalen Ästhetik der Kritik der reinen Vernunft
als Philosoph hüten. Das Problem ist doch: Was ist das, was wir
sowie Husserls berühmte Zeitanalysen), in denen Zeit und Be-
messen, wenn wir sagen, wir messen die Zeit? Das kann uns
wusstsein zusammengedacht wurden, näher ansah und syste-
letztlich keine Messung und auch kein Naturwissenschaftler
matisch fruchtbar zu machen versuchte. Diese Autoren fragen
sagen. Das Erfolgsrezept der modernen Naturwissenschaften
allerdings in den einschlägigen Texten nicht zuerst: Was ist
bestand ja gerade darin, die Wesensfrage zu suspendieren und
Bewusstsein?, sondern: Was ist das, die Zeit? – und kommen
stattdessen die gegenseitige funktionale Abhängigkeit von
zu dem Ergebnis: Zeit gibt es nicht an sich, sondern sie kons-
messbaren Größen in mathematischen Gleichungen zu be-
tituiert sich ‚im‘ Bewusstsein, welches jedoch selbst paradoxer
stimmen.
Weise durch und durch zeitlich ist. Indem sie nachforschen,
Das eigentliche ontologische Grundproblem mit der Zeit
was denn die Zeit sei, stoßen sie auf das ursprüngliche Zeit-
(welches ein, vielleicht sogar das Hauptmotiv ihrer späteren
phänomen, das untrennbar vom Phänomen des Bewusstseins
Subjektivierung darstellt) hat Aristoteles als Paradox so for-
(im Sinne von Erleben oder erlebnismäßiger Präsenz) ist:
muliert: Existiert die Zeit überhaupt, wo doch ihr einer Teil,
nämlich auf die unhintergehbare Ur- und Selbstpräsenz des
das Vergangene, nicht mehr, und ihr anderer, das Zukünftige,
Bewusstseins. Augustinus ist zwar der erste, der diese Urge-
noch nicht ist, und somit das Jetzt als unausgedehnte Grenze
genwart des Bewusstseins (bzw. des Geistes) entdeckt hat, es
zwischen zwei Nichtseienden eigentlich auch nichts sein kann
bleibt jedoch Kant und dann vor allem Husserl vorbehalten,
(denn der Gedanke einer Grenze zwischen zwei Nichtseienden
dieses Phänomen, in dem Zeit und Bewusstsein gewisserma-
ist ein widersinniger Gedanke)? Andererseits scheinen wir je-
ßen zusammenfallen, in seinem ontologischen Status und sei-
doch beständig Zeit wahrzunehmen. Die Antwort auf dieses
ner inneren Struktur aufzuhellen. Zeit ist danach die grund-
Grundparadox kann aus meiner Sicht nur darin bestehen, dass
legende Art und Weise, wie uns etwas zur Gegebenheit kommt.
man anerkennt, dass es Vergangenheit und Zukunft nicht an
Allerdings ist dieses ursprüngliche Phänomen der Zeit, dass
sich gibt, sondern nur als vergegenwärtigte Vergangenheit und
ich mit der Zeit selbst in einem ontologischen Sinne identifi-
Zukunft in Erinnerung und Erwartung. Und bereits die un-
zieren würde, keine einfältige Sache (etwa reine Sukzession),
mittelbare Gegenwart erlangt ihre Ausdehnung nur durch
sondern ein kompliziertes und dynamisches Strukturgan-
primäre Erinnerung (Retention) und Erwartung (Protention),
zes, das von seinen Inhalten untrennbar ist. Was den letzten
also durch das Noch-Präsentsein des eben Gewesenen und das
Punkt betrifft, so hat Kant hier Pionierarbeit geleistet, indem
Schon-Präsentsein des gerade Kommenden. Retention und
er einsichtig dafür argumentiert, dass man sich das Verhältnis
Protention, Erinnerung und Erwartung sind aber subjektive
von Zeit (als Anschauungsform) und Gegenstand als das von
Leistungen, die dem ein Sein verleihen, was dieses Sein be-
Form und Inhalt vorstellen muss. Zeit ist hiernach eine grund-
reits verloren bzw. noch gar nicht gewonnen hat, nämlich dem
legende Gegebenheitsweise alles Gegebenen (Erlebten), eben
Nicht-mehr- und dem Noch-nicht-Seienden.
Präsenz von Präsentem oder Intentionalität. Dies führt auch gleich zur nächsten Frage.
CRITICA–ZPK: Sie konzentrieren sich in Ihrem Buch besonders
auf Augustinus, Kant und Husserl. Wieso haben Sie gerade
CRITICA–ZPK: Kant spricht im Rahmen seiner transzendenta-
diese Autoren für eine systematische Rekonstruktion des phi-
len Ästhetik von der Identität von Zeit und Bewusstsein, was
losophischen Zeitbegriffs gewählt? Bei diesen Autoren spielt
genau ist darunter zu verstehen?
das Bewusstsein eine besondere Rolle für eine Theorie der Zeit. Was genau ist „Bewusstsein“ eigentlich? Daran schließt sich
Streubel: Kant hat zu zeigen versucht, dass wir uns das Ver-
für mich auch die weitere Frage an, was der Zusammenhang
hältnis von Wahrnehmung und Wahrgenommenem nicht als
von Zeit und Bewusstsein bzw. Intentionalität ist, sofern ich
die Relation zweier selbständiger Entitäten verständlich ma-
Sie richtig verstehe, kommt es Ihnen im Rahmen Ihrer Aus-
chen können: Denn dann stellt sich sofort die Frage, wie die-
führungen ja besonders auf die intentionale Verfasstheit des
se beiden Entitäten zusammenkommen können. Das ist aber
Bewusstseins an?
eine falsch gestellte Frage, da Wahrnehmung immer Wahrnehmung von etwas ist. Stattdessen versucht Kant zu beweisen,
Streubel: Ich
begann die Arbeit mit der Intuition, dass Zeit
dass Raum und Zeit weder Dinge an sich noch Eigenschaften
und Bewusstsein keine verschiedenen Phänomene darstellen.
von Dingen an sich, noch nachträgliche, durch den Verstand
Da bot es sich an, diese Intuition theoretisch zu explizieren, in-
gestiftete, Relationen zwischen den Dingen sind, sondern An-
dem ich mir diese drei prominenten Theorien (also Augustins
schauungsformen des wahrnehmenden Subjekts – also For-
Überlegungen zur Zeit in den Confessiones, Kants Theorie der
men des Bewusstseins. Und dies ist als ontologische Aussage
13
CRITICA–ZPK I/ 2014
zu verstehen, die auf die Frage nach dem Wesen der Zeit (und des Raums) antwortet. Der Plot ist nun, dass diese subjektiven Anschauungsformen zugleich Gegenstandsformen sind. Das heißt, die Formen, in denen uns die Gegenstände der Wahrnehmung erscheinen, sind zugleich Formen dieser Erscheinungen selbst (So ist beispielsweise die auf ein je neues Jetzt orientierte Dauer eines Tones gewissermaßen das Bewusstsein dieses Tones). Ohne diese Formen gäbe es keine Wahrnehmung und damit auch nichts Wahrgenommenes. Da also die Zeit eine Anschauungsform ist, kann man bereits bei Kant von einer Identität von Zeit und Bewusstsein sprechen. Und weil sie zugleich eine Gegenstandsform ist, wird verständlich, was es heißt, dass Bewusstsein Bewusstsein von etwas und damit intentional verfasst ist (Zeit = Bewusstsein = Anschauungsform = Gegenstandsform). CRITICA–ZPK: Wie definieren Sie Zeit? Streubel:
Eine Definition kann naturgemäß immer erst am
Ende einer Analyse erfolgen, in der auch die definierenden Begriffe geklärt wurden, weshalb sie für den, der die Analyse nicht kennt, nichtssagend erscheinen muss. Aber wenn ich Zeit (und damit Bewusstsein) definieren soll, dann würde ich das auf die folgende Formel bringen: Bewusstsein (als Erleben) oder Zeit als Anschauungsform ist die bleibende Gegenwart vergehender Gegenwarten von Vergehendem. Das heißt: Erleben (oder Zeit) besteht aus drei Strukturmomenten: 1. der Erlebnispräsenz oder Urgegenwart (ich erlebe immer jetzt), in der 2. zugleich die eben gewesenen Erlebnispräsenzen (ich habe ja schon ‚die ganze Zeit‘ erlebt) in ihrem Vergehen erlebt werden, und 3. den vergehenden Inhalten dieser Präsenzen, etwa einer Tonfolge (ich erlebe immer etwas und nicht nichts). Man könnte auch sagen: Zeit ist sowohl bleibend als auch vergehend – es gibt die vergehende Zeit nur unter der Voraussetzung der bleibenden Urgegenwart, in der sich Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft sowie die Früher-später-Struktur der Erlebnisinhalte konstituieren.
Die Fragen wurden gestellt von Dr. Julia-Constance Dissel
14
CRITICA–ZPK I/ 2014
Schelling und die (Zeit-) Schichten des Geistes von Ana Carrasco-Conde
Historie und Geschichte. Nach Koselleck kann die Geschichte als torisches Lexicon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland) die Grundbegriff über eine hypostasierte Weltgeschichte hinaus Bedeutung dar, die Schelling und Hegel im Begriff der Gebezeichnet werden, d. h. die Geschichte als ein eigenes Sub- schichte und der Historie und auch in der Geschichtsphilosojekt, das sich selbst vorantreibt. Aber man muss sich darüber phie innehaben. Er zitiert einen Abschnitt aus dem System des im Klaren sein, dass Geschichte als ein eigener Begriff in die transcendentalen Idealismus: „Wie Schelling sagt: Die Geschichte Geschichte eingegangen ist; das gilt aber nicht für die Historie: als Ganze ist eine fortgehende, allmählich sich enthüllende Geschichte lässt sich als Erzählung bzw. Narrativität gebrau- Offenbarung des Absoluten” (SW I/3, 603)3. chen1. In diesem Sinne ist bekannt, dass Reinhart Koselleck In diesem Beitrag würde ich gern die Metapher von Reinhart Historie und Geschichte unterscheidet2. Die Geschichte ist und Koselleck, „Zeitschichten”, benutzen, um die Beziehung zwibleibt eine Erfahrungswissenschaft für Koselleck, die in kei- schen Zeit und Geschichte und Bewusstsein und Subjekt in der nerlei Beziehung zur Historie, also den Berichten über Hand- „Odyssee des Geistes“ bei Schelling zu analysieren, ebenso um lungen, steht. Dennoch unterschied F.W.J. Schelling schon ex- die Konsequenzen und Folgerungen aus der schellingschen plizit in der Einleitung in die Philosophie der Mythologie (1856) diese Fragenstellung für die Bildung (oder Gestalt) der Subjektivität beiden Konzepte; immer aber hatte Schelling im Vorhinein zu ziehen. Der vorliegende Beitrag ist in drei Teile gegliedert: den Zusammenhang zwischen Geschichte, Geschehen und Er- I. Geschichte/Historie; II. Die Schichten des Geistes: Bewusstfahrung vor Augen und zwar so, dass die Geschichte für Schel- sein und Subjekt; III. Rest und Grund unter dem Bewusstsein. ling die Erfahrung des Bewusstseins ist oder, wie er bereits 1800 im (System des transcendentalen Idealismus) zum Ausdruck I. Geschichte/ Historie bringt, kann sie als „die Odyssee des Geistes“ verstanden wer- Es gibt verschiedene Geschichtsbilder und jedes bringt einen den. Bei der Geschichte (des Absoluten) handelt es sich um kei- bestimmten Zeitbegriff mit sich. Manche gehen von einer Line äußerliche Erzählung (also Historie), sondern um den in- nearität der Zeit aus, so dass Vergangenheit, Gegenwart und nerlichen Erzählvorgang (d. h. die wirklichen Begebenheiten, Zukunft aufeinanderfolgende Momente eines zeitlichen Abdas reale Geschehen, durch das das Subjekt sich seiner eige- laufs bilden. Die Zeit wird durch diese Linearität sozusagen nen Geschichte bewusst wird. Auch bei Schelling bezieht sich in drei Phasen gegliedert, was war, was ist und was sein wird. die Historie auf einen Bericht der Begebenheiten, aber nicht „Was war” ist immer ein Punkt auf dieser Linie; ein Punkt, der auf die Begebenheiten selbst. Bei Schelling ist die Geschichte hinter uns zurückgelassen werden kann. Dieser Zeitpunkt also Konstruktion, Werden, Bewegung, Leben und die Historie kann auch vor uns liegen („was sein wird”). Was in der Geist Beschreibung, Versteinerung, etwas Abgestorbenes, kann genwart geschieht, wird Teil der Geschichte sein, ebenso wie demnach als Historiographie verstanden werden. Koselleck das, was am Horizont der Zukunft erscheint, wenn es in der hat den schellingschen Unterschied im Hinterkopf und stellt Gegenwart verwirklicht wird, zu der Geschichte dazugehören z. B. in „Geschichte, Historie” (in: Geschichtliche Grundbegriffe. His- wird. Auf diese Weise könnte die Gegenwart etwa ein Erker, ein 1 Vgl. Hee Jik, N.: Geschichte und Narrativität, in: http://kgg.german. or.kr/kr/kzg/kzgtxt/kzgtxt106/106-06.pdf. 2 Koselleck, R. / Meiner, C./Engels, O./Günther, H.: Geschichte, Historie, in: Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexicon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, hrsg. v. Otto Brunner/ Werner Coze/R. Koselleck, Bd. 2, Stuttgart 1975, S. 593-717, sowie Koselleck, R.: Historia Magistra Vitae. Über die Auflösung des Topos im Horizont neuzeitlich bewegter Geschichte (1967), in: Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, 2. Aufl. , Frankfurt a.M. 1992, S. 38-66.
Aussichtspunkt der Geschichte sein, denn von der Gegenwart aus, ist es möglich, die Vergangenheit zu deuten und auch, aufgrund der Möglichkeiten, die sich für die Gegenwart eröffnen, die Zukunft zu erahnen oder sichtbar zu machen. Ausgehend von der Gegenwart liegt „das Geschehen” vor uns, in der Gegenwart. Es ist das, „was geschieht” und ist die Geschichte 3 Ibid.
15
CRITICA–ZPK I/ 2014
selbst dessen, was passiert und was geschehen wird, wenn es
Die Taten ihrerseits müssen als Konkretisierung eines Tuns
geschehen ist und später geschah. Es ist somit, etwas, was in
(des Subjektes) verstanden werden, (als Tatsachen) und nicht
die Geschichte eingefügt ist.
als etwas äußerlich Gegebenes. Wenn also die Geschichte ein Prozess ist, der sich nach und nach das Gewicht seines Tuns
Anderen Geschichtsbildern zufolge ist die Zeit zyklisch, wieder-
auf den Buckel lädt, und es sich bei den Taten nicht um etwas
kehrend, kreisförmig dadurch, dass die gleiche Struktur als
Äußerliches oder etwas von außen Gegebenes handelt, dann
Wiederholung in der Geschichte gegeben ist, aber der Kreis
sind die Tatsachen Produkte oder Wirkungen des Handelns
ist immer noch eine Linie, die sich auf sich selbst zurückbiegt.
des Subjektes der Geschichte bzw. des Handelns (oder des
Auf diese Art lässt sich auch eine Abfolge von Punkten finden,
Tuns) des Subjektes, das, wenn es sich selbst gestaltet, gleich-
die drei verschiedene Zeitarten besitzt, der Punkt, der ist, der
zeitig auch die Geschichte gestaltet. Das ist der zweite Beitrag des
Punkt, der war, und der Punkt, der sein wird, d. h. Gegenwart,
deutschen Idealismus: der Prozess ist der Prozess eines Subjektes, das
Vergangenheit und Zukunft. Der entscheidende Unterschied
eine vollendete Verwirklichung durch die verschiedenen Pha-
zwischen diesen Geschichtsbildern ist, dass das zyklische oder
sen seiner Entwicklung erreicht. Auf diese Weise verwirklicht
kreisförmige Geschichtsbild eine Geschichte mit sich bringt,
sich das Subjekt, es formt sich gleichzeitig selbst, bestimmt
die nicht nur auf die Vergangenheit bezogen ist, sondern auf
sich selbst und erschafft dabei die Geschichte. Mit Fichte kön-
eine Geschichte, in der die ganze Bewegung der Zeit selbst ein-
nen wir sagen, dass dieser Prozess die Tätigkeit des Ichs ist,
bezogen ist (eine Bewegung in einem in sich selbst geschlos-
mit der sich das Ich durch seine eigenen Taten bestimmt. Auf
senen Kreis). Das bedeutet aber keinen Fortschritt, sondern
diese Weise ist die Geschichte in keinen Verlauf logisch ein-
lediglich Bewegung. Es gibt nur ein Wiederkehren des ewig
gebunden, sondern sie ist ein lebendiger Prozess (immanent)
Gleichen und eine fortwährende Erneuerung der Zeit. Am
durch die Handlungen, die Tatsachen, die Entscheidungen
Ausgangpunkt, nach dem Durchlaufen des ganzen Kreises,
und das Erleben des Subjektes gegliedert. Oder, wie Wilhelm
gibt es keine Spur von Vergangenheit oder Zukunft – es ist nur
v. Humboldt sagte, ist die Geschichte ein Wirkungszusammen-
eine Gegenwart vorhanden, die keinen Grund oder Hinter-
hang5. Infolgedessen muss die Geschichte, die vor dem Idealis-
grund besitzt, die noch keine neuen Inhalte in sich trägt, weil
mus als Berichte über Handlungen, historische Erzählungen,
sie in ihrer lauteren Oberflächlichkeit transparent, durchsich-
als Historie, verstanden wurde, als Idealismus, als Handlun-
tig bleibt.
gen und Ereignisse, als Schlachtfeld des Subjektes begriffen, und damit als Geschichte verstanden werden. Schelling stellt
Auch das lineare Geschichtsbild kann ein Schließen enthalten.
in der Einleitung in die Philosophie der Mythologie – und damit
In diesem Fall handelt es sich dabei aber um kein Schließen der
vor Koselleck – die Behauptung auf, „[m]an kann Geschichte
Zeit, sondern um ein Schließen des Subjektes der Geschichte
und Historie unterscheiden, jene ist die Folge der Ereignisse
(Ende der Geschichte), ein Subjekt, das lebt und erfährt, das
und Begebenheiten selbst, diese die Kunde derselben. Hieraus
sich verändert und sich entwickelt. Hier kann man von einem
folgt, dass der Begriff der Geschichte weiter ist, als der Begriff
Fortschritt sprechen, von einem Ziel, das zu erreichen ist, von
der Historie”6.
Zwecken, die ausgeführt werden. Durch die Entwicklung ist die Zeit mit wirklichen Inhalten und Bedeutungen gefüllt. Man
Das Subjekt ist Tätigkeit. Das Ich ist Tätigkeit und es ist freies
spricht also nicht von einer „Erneuerung der Zeit”, sondern
Handeln. Diese Idee stellt den dritten Beitrag und den Schlussstein des
von einer „vollendeten Zeit”, in der das Subjekt der Geschichte
deutschen Idealismus dar - die Freiheit ist der Kern und der Motor des
zur eigenen Vollendung oder eigenen Verwirklichung gelangt.
Systems. Ohne das Vorhandensein der Freiheit, kann es nichts
In diesem Sinne besteht der große Beitrag des deutschen Idealismus
geben. Ohne das Vorhandensein der Freiheit, kann man nicht
darin, das Verständnis der Geschichte als Prozess zu entfalten, eine
über das Ich oder über das Bewusstsein sprechen. Wenn es kei-
Idee, deren Ursprung sich bei Kant findet4. Die Geschichte ist
ne Freiheit gibt, gibt es keinen Prozess, keine Tätigkeit, keine
gemacht und als solche, besteht sie aus aktiven Handlungen.
Handlungen und keine Tatsachen. Wenn die Geschichte aus diesen Tatsachen besteht, lässt sich über Geschichte nur in ih-
4 Vgl. Kant, I.: Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Hinsicht (1784). Ak, VIII, 8 und 9. Vgl. Schelling: SW I/2, 603. Schellings Texte werden zitiert nach den Sämtlichen Werken, hrsg. v. K. F. A. Schelling, Stuttgart und Augsburg 1856 ff. Zitiert mit Reihen-, Band-, und Seitenangabe. Beispiel: SW I/7, 356. Die Weltalter werden zitiert nach: Schröter, M (Hg.): Friedrich Wilhelm Joseph von Schelling: Die Weltalter. Fragmente. In den Urfassungen von 1811 und 1813 (Schelling Werke, Münchener Jubiläumsdruck, Nachlassband), München 1946 (=WA).
16
rer Beziehung zur Freiheit sprechen. Die Geschichte ist immer eine aktive Geschichte des Handelns eines Subjekts und deswegen ist es auch möglich, über eine Zeitlichkeit im Zusammenhang mit einer Geschichte zu sprechen, weil die Geschich5 Humboldt, W.v.: Aufgabe des Geschichtsschreibers (1821), AA, Band. 4, 1905, S. 41. 6 SW II/1, 235.
CRITICA–ZPK I/ 2014
te durch die Entwicklung eines Wesens, das im Werden ist,
fort vorbei sein werden. In diesem Fall, meint Schelling in den
entsteht. Wie Dilthey meinte, „[g]eschichtlich ist das Leben,
Weltaltern (1810-1813), gibt es weder eine Vergangenheit noch
sofern es in seinem Fortrücken in der Zeit und dem so entste-
eine Zukunft: „Wäre die Welt, wie einige sogenannten Wei-
henden Wirkungszusammenhang aufgefasst wird” . Für das
sen gemeint haben, eine rück- und vorwärts ins Endlose aus-
Verständnis des Zusammenhangs zwischen Zeit-Geschichte-
laufende Kette von Ursachen und Wirkungen; so gäbe es im
Subjekt und Leben, hat Schellings Philosophie eine besonde-
eigentlichen Verstande weder eine Vergangenheit noch eine
re Bedeutsamkeit, mit der wir in die „Schichten des Geistes”
Zukunft. Aber dieser ungereimte Gedanke sollte billig dem
eindringen können. Ein Titel, „Schichten des Geistes“, der mit
mechanischen System, welchem allein er angehört, zugleich
dem Vortrag von Reinhart Koselleck, „Zeitschichten” (1994), in
verschwunden sein”10. Auch die Geschichte ist nicht kreisför-
Beziehung steht .
mig oder zyklisch. Obwohl der implizite Inhalt des Anfangs
7
8
am Ende expliziert wird (d.h. das Subjekt der Geschichte), beII. Die Schichten des Geistes – Bewusstsein und Subjekt
deutet seine Vollendung keine Rückkehr zum Ausgangpunkt,
Im Zuge seines Vortrags erklärt Koselleck die Wahl seines
kein „Wieder-anfangen”. Ist die Zeit erst einmal durch die Tä-
Titels: „Mein Thema lautet »Zeitschichten«. Und ich darf vo-
tigkeit des Subjektes, das bereits verwirklicht ist und das die
rausschicken, dass ich als Historiker keine physikalisch oder
Zeit mit seinem Handeln ausfüllen wird, vollendet, schließt
biologisch begründeten Aussagen zu machen fähig bin. Eher
sich der Prozess und das Subjekt biegt sich auf sich selbst zu-
bewege ich mich im Bereich der Metaphern: »Zeitschichten«
rück, es beschreibt eine reflexive Bewegung (curvus in se). Auf
verweisen auf geologische Formationen, die verschieden weit
diese Weise kann es sich selbst als transparent erkennen und
und verschieden tief zurückreichen und die sich im Laufe der
kann sich seiner selbst bewusst werden. Mit der gleichen Be-
sogenannten Erdgeschichte mit verschiedenen Geschwindig-
wegung aber, und dank der Durchsichtigkeit, kann es etwas
keiten verändert und voneinander abgehoben haben”. Kosel-
sehen, das nicht im Bewusstsein aufgehoben wird, etwas, das
leck meint weiter: „Die Rückübertragung in die Strukturge-
fremd für es selbst ist, das aber gleichzeitig aus seinem Grund
schichte erlaubt es, verschiedene zeitliche Ebenen analytisch
und seiner Basis besteht. Das Subjekt erhebt sich über sich, ist
zu trennen, auf denen sich die Personen bewegen, Ereignisse
aber Zusammenziehen und Verschweigen, es befindet sich im
abwickeln oder deren länger währende Voraussetzungen er-
Subjekt, aber in einer Schattenzone seiner selbst. Das Subjekt,
fragt werden” . „Schicht” hat eine unsichere Verwandtschaft mit
das als Selbstbewusstsein schon durchsichtig, transparent ist,
dem Begriff Ge-schicht-e, einem Begriff, dessen Bedeutung die
setzt sich auf diese Weise mit der Dunkelheit und der Opazi-
Idee von geschehen in sich birgt. Wir benutzen diese Metapher
tät seines Grundes auseinander. Ein Grund, der für sich selbst
in einem ähnlichen Sinn: „Schichten des Geistes” werden als
unergründlich ist, und der nicht aufgehoben werden kann -
9
verschiede Ebene oder Stufen verstanden, in denen die Hand-
wenn der Grund aufgehoben würde, würde ebenfalls ein Teil
lungen eines freien Subjekts in verschiedenen zeitlichen Tiefen
des Subjekts aufgehoben und das Subjekt würde keine Grund-
angeordnet werden; Handlungen, die sich in ihren Tatsachen
lage mehr besitzen. Eine Grundlage, die das Subjekt braucht,
kristallisieren, d. h. sie sind „passiert” und sie gehören der Ver-
um sich selbst zu erheben und um sich selbst in der Geschichte
gangenheit an, gleichwohl besitzen sie aber eine Wirklichkeit
zu verwirklichen. Die Opazität ist der nie aufgehende Rest: „Die-
in der Gegenwart. Auf diese Weise erklärt sich für mich der
ses ist an den Dingen die unergreifliche Basis der Realität, der
Sinn einer Wirklichkeit der Vergangenheit, einer Wirklichkeit, die
nie aufgehende Rest, das, was sich mit der größten Anstren-
nur durch eine Tat verstanden werden kann, die immer Wir-
gung nicht in Verstand auflösen läßt, sondern ewig im Grunde
kungen bewirkt und die immer Wirkungen bewirken wird.
bleibt. Aus diesem Verstandslosen ist im eigentlichen Sinne der Verstand geboren. Ohne dies vorausgehende Dunkel gibt
Für Schelling stellt sich die Geschichte nicht linear dar. Sie
es keine Realität der Kreatur”11.
ist auch nicht kreisförmig oder zyklisch. Die Geschichte ist nicht linear, wenn man davon ausgeht, dass sie auf einer li-
Der Rest ist etwas, das nach der Vollendung des Subjektes
nearen Reihe von „Taten” und „Jetzt-Punkten” beruht, die so-
bleibt, etwas, das nicht aufgehoben werden kann, und nicht einmal von diesem selbst von der Vernunft oder vom Verstand
7 Dilthey, W: Der Aufbau der Geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften, in: Gesammelte Schriften, Band VII, Göttingen 1992. S. 261. Auch “Das wirkliche Leben, von dem wir wissen, ist in der Zeit”. S. 319. 8 Koselleck, R.: Zeitschichten, 1. Ausgabe, in: Zeit und Wahrheit. Europäisches Forum Alpbach 1994 (Heinrich Pfusterschmid-Haertenstein [comp.]), Wien 1995, S. 95-100. 9 Ibid, S. 19
berührt werden kann. Dieser Rest ist jedoch keineswegs irrational. Es ist nur so, dass die Vernunft dem Rest nicht Herr wird - er bleibt also lauter, in seinem reinen Zurückziehen. Der Rest 10 WA I 20. 21, S. 10-11. Vgl. WA II 19.20, 119. 11 SW I/7, 360.
17
CRITICA–ZPK I/ 2014
ist kein Rückstand, der von der Vernunft ausgemistet oder aus-
diese Weise ist der Vergangenheit ein ontologischer und we-
geschlossen wurde; er ist vielmehr die Basis, die die ganze Be-
sentlicher Sinn inne. Sie ist immer da, sie ist die ewige potentia:
wegung des Bewusstseins (und die Geschichte) ermöglicht. Der
tò tì ên eînai (quod quid erat esse). In den Weltaltern schreibt Schel-
Rest ist somit der unverdauliche Rest . Diese Basis wird 1809
ling: „Alles, was uns umgibt, weisst auf eine unglaublich hohe
bei Schelling als Grund des ganzen Entwicklungsprozesses des
Vergangenheit zurück [. . .] Wir sehen eine Reihe von Zeiten,
Systems bezeichnet. Er braucht seinerseits keinen Grund, des-
von denen je eine der andern folgte und immer die folgende die
halb spricht Schelling über einen Un-grund. In den Weltaltern
vorhergehende zudeckte; nirgends zeigt sich etwas Ursprüng-
(1811) wird der Urgrund als zusammenziehende Kraft der Ver-
liches, eine Menge nach und nach angelegter Schichten, die Ar-
gangenheit, als absolute Vergangenheit13 bezeichnet. In diesem
beit von Jahrtausenden muss hinweggenommen werden, um
Sinne stellt Schelling 1811 die Behauptung auf: „Ein jeder er-
endlich auf den Grund zu kommen”18. Durch sie wissen wir,
kennt an, daß die Kraft der Zusammenziehung der eigentlich
dass sie durch ihre Wirkungen existiert. Oder wie Schelling
wirkende Anfang jedes Dings ist“ . Auf diese Weise erscheint
sagt: „Wo Wirklichkeit ist [. . .] da ist zusammenziehende Kraft,
diese Ekstase der Zeit nicht als etwas, das vom Subjekt hinter
da ist Tiefe und Verschlossenheit”19. Es gibt Welt, es gibt Dinge,
sich gelassen wird, als eine verfestigte Tatsache des Handelns,
es gibt Leben und Tod, es gibt Dinge, die leben und Dinge, die
die aufgehoben ist. Die Vergangenheit erscheint im Gegenteil
sterben, es gibt Änderung, Veränderlichkeit, Bewegung, Wer-
vielmehr als einsehbare, ungreifbare und aufgehende Grund-
den. Dabei ist die Wirklichkeit das Gegenteil der Möglichkeit;
lage der Realität, außerhalb des Bewusstseins, die aber die ge-
und die Gegenwart - die Zeit der Wirklichkeit, der Entfaltung,
genwärtigen und zukünftigen Taten des Bewusstseins ermög-
der Tätigkeit und der Bewegung - ist das Gegenteil der Vergan-
licht. Das bedeutet, die Vergangenheit ist die Grundlage für die
genheit, Zeit des Zusammenziehens, der aktiven Ruhe und der
Verwirklichung des Subjektes. Als Basis ist die Vergangenheit
Latenz. Auf diese Weise erzeugt die Zeit sich durch Gegensatz
auch Ursprung des Prozesses, deswegen haben Un-grund und
und Widerstand20: Keinen Widerstand (und kein Gegensetzen), kei-
12
14
Ur-grund bei Schelling auch eine synonyme Bedeutung : Der
ne Zeit, wie Schelling selbst beteuert. Nur durch die Zeit erhält
Ungrund ist der verursachende Grund, der die ganze Möglich-
jedes Ding seine Eigenheit, seine Besonderheit und seine Per-
keit der Wirklichkeit in sich trägt. So äußert Schelling 1811,
sönlichkeit21. Auch Fichte stimmt dem zu: „Alles etwas sein ist
dass „dieses Vergangene noch immer im Grunde verborgen
nur möglich durch Gegensetzen”22.
15
liegt” und er ergänzt 1813, dass „dieses Vergangene es ist, was 16
die gegenwärtige Schöpfung trägt und noch immer im Grunde
Die Handlungsweise ist hier der Idee des Gegensetzens von
verborgen ist” .
Fichte ähnlich, zumindest in der Wissenschaftslehre nova me-
17
thodo (1798), wenn das Ich begreift, dass ein Ruhestand vor der Aber was bedeutet, dass die Vergangenheit „noch immer im
Tätigkeit (eine Tätigkeit, die das Ich selbst ist) gegeben sein
Grunde verborgen liegt”? Wurde keine versteinerte Vergan-
muss. Obwohl es sich um einen großen Widerspruch handelt,
genheit zurückgelassen? Hat sie sich etwa nicht ereignet? Es
beide Prozesse (bei Fichte und Schelling) zu verstehen, gibt
ist eine Vergangenheit, aber eine lebendige Vergangenheit,
es in diesem Aspekt einen wichtigen Unterschied zwischen
die kein Produkt der wirklichen Handlungen ist, sondern eine
beiden Philosophen; dieser führt zu zwei unterschiedlichen
ermöglichende Vergangenheit. Schelling bricht mit dem line-
Begriffen von Zeit und Geschichte. Bei Fichte geschieht alles
aren Geschichtsbild, um den Begriff einer Vergangenheit zu
auf einmal, aber um den Prozess zu verstehen, lassen sich ver-
entwickeln, die nie aufhört zu sein. Die Vergangenheit war nie-
schiedene Phasen als eine Reihe von Handlungen unterschie-
mals wirkliche Gegenwart - nur durch diese ferne Vergangen-
den. Bei Fichte ist das Ich „eine in sich selbst zurückgehende
heit ist „was war”, „was ist” und „was sein wird” möglich. Auf
Tätigkeit”23. Das Handeln des Ich ist vom Denken gesteuert.
12 Vgl. Carrasco-Conde, A.: La Limpidez del mal. El mal y la historia o la otra odisea de la conciencia en la filosofía de F.W.J. Schelling, Madrid, Plaza y Valdés 2013. 13 Vgl. Pareyson, L.: Ontologia della libertà. Il male e la sofferenza, Turín, Einaudi 1995. 14 Vgl. Schelling: Die Weltalter. Fragmente. In der Urfassung von 1811 und 1813 (=W), S. 50. 15 Vgl. SW I/7, 406. Vgl. Carrasco-Conde, A.: Die Struktur des Werdens bei Schelling, in: Asmuth, C./Rogge, W. (Hrsg.): Paradoxien im Denken des Selbst – in der klassischen deutschen Philosophie und in der Gegenwart (Kultur-System-Geschichte: 7), Verlag Königshausen & Neumannn, Würzburg 2013. 16 WA I 24. 25, 13. 17 W II 27.28, 121.
18
Das Ich reflektiere über sich, um die einzelnen Momente seiner selbst zu verstehen. Der Entfaltung liegt immer dieselbe Struktur zugrunde, die Struktur einer zurückgehenden Tätigkeit, die immer eine Reihe von Reflexionen über vorigen Reflexionen des Ich mit sich bringt. Es versteht und erkennt 18 WA I 20.21,11. 19 WA I 79. 80, 44. 20 WA II 28.29, 122. 21 WA I 22.23, 12. 22 FW IV/3, 360. 23 FW IV/3, 336.
CRITICA–ZPK I/ 2014
die verschiedenen Elemente des Sich-selbst. Im Laufe seiner
das Ich einem Zweckbegriff unterliegt30 (was es machen soll –
Überlegungen wird das Ich sich seiner selbst bewusst. Wenn
oder will), denn das Ich handelt, um einen Zweck zu erfüllen
die Tätigkeit Bewegung ist, kann zuvor keine Bewegung vor-
sowie ferner die Elemente, die es hinter sich lässt. Zukunft-
handen sein. Es muss also etwas geben, das sich der Bewegung
Gegenwart-Vergangenheit. Doch bei Schelling liegt die Fra-
entgegensetzt - die Ruhe. Wir müssen also von der Behaup-
gestellung völlig anders. In diesem Fall setzt das Ich keine
tung ausgehen, „daß man Thätigkeit nicht sezen könne, ohne
Voraussetzung als Möglichkeit des Handelns und die Mög-
ihr Ruhe entgegenzusetzen”24. Aber die Ruhe ist bei Fichte eine
lichkeiten werden nicht für das ich deduziert. Der Gegensatz
bloße Voraussetzung (eine Hypothese, aber keine reale), weil es
entsteht nicht durch etwas Passives oder Untätiges, sondern
nur de facto Tätigkeit gibt: keine Tätigkeit, kein Ich - kein Ich,
dadurch, dass der Gegensatz des Ichs ein aktives Nicht-Ich
keine Tätigkeit. Das Ich überlegt in Ruhe, um zu begreifen,
ist. Es liegt eine reale Spannung, eine Latenz, vor, die gegen
dass die Ruhe etwas ist, dass das Ich nicht ist, also Nicht-
die bewusste Tätigkeit des Ich gerichtet ist. Auch bei Schelling
Ich ; aber auch die Ruhe kann als ein Vermögen verstanden
bedeutet Vergangenheit nicht eine Aneinanderreihung des
werden26, ein Vermögen zu handeln. Wenn das Ich handelt,
Handlungsproduktes bzw. eine Aufhäufung. Die Vergangen-
bedeutet das, dass es die Möglichkeit hatte, nicht zu handeln.
heit ermöglicht die Gegenwart; sie ist seine reale Basis, von der
„Nicht zu handeln” erscheint als Ruhe, und die Ruhe erscheint
sich die Gegenwart erheben kann. Schelling überlegt die Mög-
als Vermögen. Ist aber das Ich Tätigkeit, ist die Ruhe und das
lichkeit von der Wirklichkeit, aber für ihn ist die Möglichkeit
Vermögen Nicht-Ich (eine Voraussetzung, die unterhalb der
keine Voraussetzung, sondern ein reale[r] Grund des Handelns.
Tätigkeit bleibt). Das Ich handelt gerade – führt Fichte an – aber
Das Mögliche ist der Grund des Wirklichen. Die Vergangenheit
(Hypothese) es konnte nicht handeln, und diese Voraussetzung
begründet die Gegenwart. Die Zeit wird durch die Spannung
des Handelns, die für das Ich besteht, eröffnet die Möglichkeit
zwischen zwei Polen geboren und sie kann nur durch die Ne-
a posteriori im Lauf der Überlegung. Vor der Tätigkeit existie-
gativität des Anfanges bestehen bleiben: „Wäre das Nein nicht,
ren somit vielfältige Möglichkeiten und eine Entscheidung.
so wäre das Ja ohne Kraft. Kein Ich ohne Nicht-Ich, und inso-
Die Entscheidung des Ichs wird zu einer wirklichen Möglich-
fern ist das Nicht-Ich vor dem Ich”31. Aus dieser Spannung und
keit. Das Ich kann frei wählen, was es machen möchte. Wenn
dieser Polarität ergibt sich demnach die Gegenwart. Somit ist
es sich also entscheidet, bedeutet das, dass die Tätigkeit des
die Gegenwart der Kampf zwischen zwei Epochen, die Folge
Ich in einer Handlung konkret zum Ausdruck kommt. Bei der
eines unauslöslichen Gegensatzes, der zeitliche Ereignisse
Handlung haben wir es demnach mit einer Wahl zu tun. Das
erzeugt. Die Gegenwart ist keine „Masse” der Zeit, sondern
Bestehen einer Wahlmöglichkeit bedeutet, dass andere Mög-
der Weg der Bewusstseinsbildung von der Nacht der Vergan-
lichkeiten vorhanden waren, die sich nicht verwirklicht haben,
genheit in die Zukunft der absoluten Bewusstheit, die Zeit
und daher verbleiben sie in der Ruhe (weil sie nicht Tätigkeit
der Dialektik. Auf diese Weise ist die Gegenwart die Zeit der
sind). In diesem Sinne sind die Möglichkeiten in der Ruhe – die
Erwartung. Die Vergangenheit liegt noch im Grunde: „Darum
Voraussetzung des Handelns – eine Ruhe, die als Vermögen
hat alles Bewußtseyn das Bewußtlose zum Grund, und eben im
erscheint. Das bedeutet, die Möglichkeiten des Handelns sind
Bewußtwerden selbst wird es von dem, das sich bewußt wird,
im Vermögen angelegt, aber das Vermögen tritt nur a posteriori,
als Vergangenheit gesetzt“32.
25
nach der Tätigkeit in Erscheinung. Das Ich kann auf diese Weise andere Möglichkeiten deduzieren, die nicht Ich sind. Das
Die Vergangenheit ist nicht etwas „Passiertes” und Versteiner-
Ich ist bestimmte27 und wirkliche Handlung28. Deshalb wird
tes. Sie besitzt eine aktive Kraft und einen Einfluss auf die Ge-
alles von der Tätigkeit erzeugt und deduziert. Das Ich handelt
genwart. Sie stellt die Grundlage für die Gegenwart als Schich-
(Gegenwart), geht weiter (Zukunft) und lässt verschiedene Ele-
ten des Bewusstsein des Subjektes dar: „Der Mensch, der nicht
mente (Vergangenheit) hinter sich. Auf diese Weise besteht bei
fähig ist, sich seiner Vergangenheit entgegenzusetzen, hat kei-
Fichte eine Linie des Handelns29.
ne, oder vielmehr er kommt nie aus ihr heraus, lebt beständig
III. Der Rest und Grund unter dem Bewusstsein
30 Vgl. FW IV/3, 365; 370. 31 SW I/8, 227. 32 SW I/8, 262. Vgl. SW I/7, 359-360: „Nach der ewigen That der Selbstoffenbarung ist nämlich in der Welt, wie wir sie jetzt erblicken, alles Regel, Ordnung und Form; aber immer liegt noch im Grunde das Regellose, als könnte es einmal wieder durchbrechen, und nirgends scheint es, als wären Ordnung und Form das Ursprüngliche, sondern als wäre ein anfänglich Regelloses zur Ordnung gebracht worden. Dieses ist an den Dingen die unergreifliche Basis der Realität, der nie aufge- hende Rest, das, was sich mit der größten Anstrengung nicht in Verstand auflösen läßt, sondern ewig im Grunde bleibt”.
Die Fragestellung enthält einen linearen Zeitbegriff, in dem 24 FW IV/ 3, 353. Kursive Hervorhebung von der Autorin. 25 FW IV/3, 352. 26 FW IV/3, 353: „Vermögen, Ruhe, Bestimmbarkeit sind eins”. 27 Vgl. FW IV/3, 360. 28 Vgl. FW IV/3, 354; 364. 29 FW IV/3, 369.
19
CRITICA–ZPK I/ 2014
in ihr”33. Schelling geht von der Gegenwart aus und er legt die Gegenwart über die Vergangenheit. Die Vergangenheit ist aber keine vorgegebene Voraussetzung für das Ich (wie bei Fichte), sondern etwas, das sich das Ich selbst ermöglicht und das eine Basis für das Bewusstsein schafft. Auf diese Weise lässt sich mit den Schichten des Geistes die Struktur des Subjektes verstehen. Unter Schichten des Geistes müssen die verschiedenen und graduellen Ebenen, von der Unbewusstheit bis zur absoluten Bewusstheit, verstanden werden, in die die Psyche des Subjektes gegliedert ist. Wie bei Freud ist eine unbewusste Ebene vorhanden, die immer die Grundlage bildet (das Es), eine bewusste Ebene (das Ich), und eine dritte Ebene, das Moralische, durch die die Existenz und Entfaltung des Subjektes bestimmt werden (das Über-Ich). Der Rest liegt also als etwas nie Aufgehendes, ewig Verborgenes unter dem Bewusstsein-unterbewusst. Wir konnten einen neuen, von Schelling nicht vorgenommenen Unterschied zwischen der Geschichte des idealistischen Subjekts der Geschichte und der Geschichte des individuellen und einzelnen Subjekts, des Individuums ausmachen; eine eigene Geschichte, die jedes Ich vornimmt. Das einzelne Subjekt macht nicht Geschichte als solche und geht vielleicht nicht einmal in die Geschichte ein, aber in Analogie zum absoluten Subjekt der Geschichte (über das Schelling spricht), erschafft es durch sein Handeln und seine Entscheidungen seine eigene, wichtige Lebensgeschichte. In diesem Sinne ist die menschliche Vergangenheit keine versteinerte und leblose Tat, das Produkt eines Handelns, das bereits vergangen ist. Was wir im Laufe der Zeit beobachten – in der Zeit, die für uns voller Erfahrungen ist – sind wirkliche Taten, die ihre Wirkung in unserem Leben hinterlassen. Und wenn die Tatsachen Wirkungen besitzen, sind sie wirklich und wenn sie wirklich sind, sind sie auch Gegenwart. Der Mensch besitzt also keine absolute Vergangenheit, sondern eine Gegenwart – die Wirklichkeit unseres Lebens – die auf alle Handlungen (unsichtbare oder sichtbare, unbewusste oder bewusste) wirkt. Die Vergangenheit setzt sich aus den aktiven und einflussreichen Schichten unserer Gegenwart zusammen.
Literatur Baumgartner, H.M. – Jacobs, W.G. (Hgs.): Philosophie der Subjektivität? Zur Bestimmung des neuzeitlichen Philosophierens. Akten des 1. Kongresses der Internationalen Schelling-Gesellschaft, Vols. I y II, Stuttgart-Bad 1993. Buchheim, T./Hermanni, F. (Hrsg): »Alle Persönlichkeit ruht auf einem dunkeln Grunde«. Schellings Philosophie der Personalität, Berlin 2004. 33 WA I 20.21, 11.
20
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CRITICA–ZPK I/ 2014
Vergessen im Netz der Narrativität von Anita Galuschek und Dominic Lütjohann
Handeln und der damit einhergehende Austausch von Infor- wir nach unseren individuellen Bedürfnissen einstellen: Das mationen kann als eine menschliche Disposition angesehen Gedächtnis wird immer mehr entlastet und wir können uns werden. „Unser Körper hört, ruft und erinnert sich. [. . .] [K]ein mit anderen, vermeintlich wichtigeren, Dingen beschäftigen. Organismus kann ohne Austausch von Energien überleben, Es braucht keinen Ortswechsel mehr und keine langwierige aber auch nicht ohne Austausch von Informationen“ (Serres manuelle Suche, wenn stattdessen nach Stichworten in Do2007, 76). Informationen sind Kommunikationspartikel. Auf
kumenten und Web-Seiten gesucht werden kann. Durch un-
biologischer Ebene treten Organe und Nerven miteinander in sere mnemotechnische Auslagerung verbinden wir physische Kommunikation, indem sie Informationen austauschen. Die Räume und Orte des Wissens (Bibliotheken, Museen, Universoziale und kulturelle Ebene folgt den gleichen Regeln. Akte sitäten) auf virtueller Ebene. Ein Klick reicht aus, um auf das der Kommunikation sind Handlungen, die in Interaktion mit Wissen der Welt zuzugreifen: „Netze ersetzen Konzentration der Umwelt durchgeführt werden (vgl. Habermas 1987, 190). durch Distribution“ (Serres 2007, 80). Deswegen brauchen wir Der Austausch von Informationen und deren Verarbeitung uns nicht mehr daran zu erinnern, wo wir eine bestimmte Inschafft die Grundlage für den von uns initiierten Fortschritt formation abgelegt haben. Es reicht aus zu wissen, dass eine und Innovation.
mögliche Information existiert. Das allein ist die notwendi-
Unserem Wesen nach homo faber, sind wir Macher und Hand- ge Information, um etwas zu finden und es kreativ in einem werker (Irrgang 2010). Dies bedeutet, dass wir mit „Natur [. . .], Schaffensakt zu verarbeiten. Damit wird eine Dynamisierung Technik und anderen Menschen“ umgehen können (Irrgang des Wissensvorrats postuliert, indem Wissen vernetzt wird. 2010, 13). Durch Evolution konnten wir uns die Hände zum „Wir speichern nicht mehr Dinge, sondern Relationen“ (Serres Werkzeug machen und mit diesen praktisch und kreativ arbei- 2007: 80; Herv. d. A.). Somit vollzieht sich eine Hinwendung ten. Dies ermöglichte, mit der Schrift einen kulturell-histori- zu einer digitalisierten Gesellschaft des Vergessens. Damit geht eine schen Schatz zu fundieren, indem nicht mehr Traditionen aus- Enthistorisierung unseres Selbst einher. Wenn wir jedoch gewendig gelernt werden mussten, um diese zu analysieren und rade durch Geschichte, Vergangenheit und Erinnerung unzu interpretieren, sondern dieses Wissen mnemotechnisch seren „Lebenszusammenhang” als unsere „Lebensgeschichte“ ausgelagert wurde. Der Kopf wurde somit vom Behalten be- erleben (Ricœur 2005, 174), verliert sich dann unser Selbst in freit, und konnte sich interpretatorischer Arbeit widmen. Mit der digitalisierten Gegenwart? Hier schwingt die Frage nach der Erfindung des Buchdrucks wurde dieser kulturelle Schatz, einem „maßvoll-gerechten Gedächtnis (juste mémoire)“ mit und die Art und Weise mit ihm zu arbeiten, der breiten Öffent- (Ricœur 2004, 15). Von dieser Frage geleitet, werden in diesem lichkeit zugänglich. Als ein dritter solcher Meilenstein kann Essay die Formen von Gedächtnis, Erinnerung, Vergessen und die „technologische Hypermoderne“ betrachtet werden (Irr- die Wahrnehmung von Geschichte im Kontext der digitalen gang 2010, 208). Ihre technischen Errungenschaften dienen Entwicklung aus der Perspektive der narrativen Identität darals Katalysator für gesellschaftliche Prozesse. Diese wirken gestellt. nicht nur auf unsere Umwelt, indem wir mobiler (Automobi- Nach einer kurzen Betrachtung der aktuellen Gedächtnisthele), erreichbarer (Mobilfunk) und informierter (Internet) wer- orien (Assmann, Welzer) und Ricœurs Ansatz der narrativen den, sondern ebenso auf unsere kognitiven Prozesse und un- Identität vor dem Hintergerund eines autobiographischen Geser Selbstverständnis. So müssen wir uns zum Beispiel nicht schichtsverständnisses (1.), wird in einem nächsten Schritt auf mehr an Einkaufslisten oder Termine erinnern: wir werfen die Nutzung des Internet im Alltag und damit auf unsere Exiseinen Blick auf unser Handy und sind informiert. Erinnerungs- tenz im Netz eingegangen. Denn Handlungen im World Wide funktionen, Newsletter, Push-Benachrichtigungen etc. können Web als digitales Informationsnetzwerk unterscheiden sich
21
CRITICA–ZPK I/ 2014
formal wenig von Handlung in der analogen Welt, jedoch bein-
‚kommunikative Gedächtnis‘ ist im Vergleich zum kulturellen
halten sie Besonderheiten im Umgang mit Informationen und
so etwas wie das Kurzzeitgedächtnis der Gesellschaft“ (Welzer
Wissen (2.). Schließlich wird aufzeigt, welche – neuen – For-
2002, 14).
men von Gedächtnis, Erinnerung und Vergessen in einer Welt
Verfestigt sich der Inhalt des kommunikativen Gedächtnisses,
aufkommen können, deren ausgezeichnete Grundkonstituti-
dann geht er in das kollektive oder kulturelle Gedächtnis über.
on nicht darauf ausgerichtet ist, überhaupt zu vergessen (3.).
Denn „[j]ede Kultur bildet etwas aus, das man ihre konnektive Struktur nennen könnte“ (Assmann 2007, 16). Diese konnekti-
1. Im Netz der Geschichte
ve Struktur entspricht einem kulturellen Wissenspool, aus dem
Gedächtnis und Geschichte existieren durch die Erinnerung
alle Mitglieder einer bestimmten kulturellen Gruppe schöpfen
an Ereignisse, welche durch Narrative gebildet werden. Als ge-
können. Damit bindet das kulturelle Gedächtnis „das Gestern
schichtliche Wesen befinden wir uns in einem „Streben des Ge-
ans Heute“, indem in einem „fortschreitenden Gegenwarts-
dächtnisses nach Treue gegenüber dem Vergangenen“ (Ricœur
horizont“ Ereignisse, Erinnerungen und Erfahrungen geformt
2004, 22). Zum einen lassen wir durch unser Gedenken der
werden (Assmann 2007, 16). Es „speist Tradition und Kom-
Vergangenheit Gerechtigkeit widerfahren, zum anderen ver-
munikation, aber es geht nicht darin auf. Nur so erklären sich
sprechen wir uns durch unsere Erinnerung der Geschichte
Brüche, Konflikte, Innovationen und Revolutionen“ (Assmann
eine andere Zukunft (vgl. Liebsch 2010, 13). Diese Zukunft ist
2007, 23). Das dynamische Verständnis von Zeit und das Ver-
eine bessere Zukunft, die die Geister der Vergangenheit ver-
stehen des eigenen Selbst korrelieren also miteinander.
treibt, sie versöhnt und vergibt (Ricœur 2004, 443), um so der
Denn Zeit und Erzählung beruhen auf einer Vermittlung,
Geschichte zu einem „happy end“ zu verhelfen (Ricœur 2004,
die Ricœur (1988, 87) im mimesis-Begriff in Aristoteles’ Poetik
444).
findet. Indem er zwischen drei Momenten der mimesis unter-
Ausgehend von einer conditio historica des Menschen verhin-
scheidet, fügt er der menschlichen Zeit den „Modus des Nar-
dert das Vergessen, den Anspruch der Geschichte zu erfüllen
rativen“ hinzu: mimesis I (Präfiguration), mimesis II (Konfigura-
(Ricœur 2004, 442), Zeuge unserer eigenen Zeit zu sein und damit
tion) und mimesis III (Refiguration) (vgl. Ricœur 1988, 88). Jedes
uns selbst in der „Zuversicht” unseres eigenen Handelns bezeu-
dieser drei Vermittlungsmomente korrespondiert mit einem
gen zu können (Ricœur 2005, 34). Unsere eigene Geschichte zu
Modus der Zeit.
bezeugen, bedeutet, uns selbst als Handelnde innerhalb dieser
Mit mimesis I wird ein gewisses Vorverständnis der Geschich-
Geschichte zu begreifen. Jedoch nimmt da, wo Erinnerung an
te als Zeit und Erzählung beschrieben. Dieses Vorwissen kann
Erlebnisse und Erfahrungen stattfinden kann, auch das Ver-
als ruhendes Wissen verstanden werden, das einen Platz in der
gessen Raum ein.
Geschichte als Erzählung einnimmt. Geschichte hat damit
Als Handelnde stehen wir in einer permanenten Interakti-
eine symbolische Struktur, die im Anschluss an Clifford Ge-
on mit unserer Umwelt. Auf diese Weise kommunizieren wir
ertz (1973) als „Symbolnetz der Kultur“ bezeichnet werden
Erlebnisse und Erfahrungen als Informationen mit anderen
kann (Ricœur 1988, 95). Als „das Reich des Als ob“ ist mimesis
und vice versa. So wird eine Dynamik im Denken der Genera-
II das Reich der Fiktion (Ricœur 1988, 104). Damit nimmt sie
tionen garantiert (Welzer 2002, 10). Hieraus resultieren zwei
eine vermittelnde Funktion zwischen der mimesis I als Präfigu-
Gedächtniskonzepte: das kommunikative Gedächtnis und das kol-
ration und mimesis III als Refiguration ein (Ricœur 1988, 114).
lektive oder kulturelle Gedächtnis (Assmann 2007).
Sie ist in ihrem Konfigurationsvorgang dynamisch, da sie das
Das kommunikative Gedächtnis ist ein Lebensgedächtnis: Es er-
Ereignis der Handlung in den Verlauf der Geschichte einfügt.
innert nur das, was wir während unseres Lebens erlebt haben.
Durch mimesis II wird unsere Existenz zeitlich erfasst und die
Damit ist es ein Gedächtnis „interaktiver Praxis im Span-
Möglichkeit erschlossen, sie innerhalb der Zeitlichkeit zu mo-
nungsfeld der Vergegenwärtigung von Vergangenem“ (Welzer
difizieren. Diese letzte Modifikation als Refiguration vollzieht
2002, 14). Als das Alltagsgedächtnis ist es die personalisierte
sich in der mimesis III, in der die nachahmende Handlung be-
Erinnerung an die Ereignisse, Erlebnisse und Erfahrungen in
reits vollzogen ist. Damit sind die drei Momente der mimesis
Interaktion mit anderen. Dadurch lösen Handlungen Reakti-
„das Gegenteil der Kopie einer vorbestehenden Wirklichkeit”
onen in der Umwelt aus. Diese Feedbacks haben die Funktion,
(Ricœur 1988, 77). Sie konfigurieren in einer „schöpferischen
aus bestimmten Situationen zu lernen. Handlung und Reakti-
Nachahmung” ein Original (Ricœur 1988, 77), weil sie einen
on vollziehen sich in einem „zirkulären oder rückgekoppelten
innovativen Charakter besitzen. Damit geht innerhalb von mi-
Zusammenspiel von Innen und Außen“ (Assmann 2007, 20).
mesis III die nachgeahmte Handlung wieder in die Präfigurati-
Denn ohne das kommunikative Gedächtnis wären wir nicht
on über und wird zu mimesis I.
fähig, Codes zur Kommunikation mit anderen zu lernen. „Das
Diese Struktur der Zeitdynamik überträgt Ricœur auf die Kon-
22
CRITICA–ZPK I/ 2014
stitution unserer narrativen Identität. Dadurch befinden wir
34). Damit kontextualisieren wir unsere Erfahrungen und Er-
uns in einer zeitlich relationalen Dialektik. Zum einen besitzt
lebnisse innerhalb eines „Lebenszusammenhangs“ (Ricœur 2005,
das narrativierte Selbst eine Beständigkeit in der Zeit als Sel-
174). So befinden wir uns seit je her schon in Narrativen. Die-
bigkeit (idem, lat. gleich), zum anderen die dynamische Selbst-
se Narrative werden nicht erfunden, sondern ergeben sich im
heit (ipse, lat. selbst) (Ricœur 2005, 11). Diese Dialektik der nar-
Sinne der Zeitmomente der mimesis wiederum aus Kontexten.
rativen Identität löst sich zum einen in der Beständigkeit des
Durch ein Netz von Geschichten füllen wir unser Sein zu ei-
Charakters auf. Der Charakter ist „die Gesamtheit der Unter-
nem Selbstsein auf. Deswegen können durch das Vergessen
scheidungsmerkmale, die es ermöglichen, ein menschliches
keine leeren Stellen in unserer Vergangenheit entstehen, viel-
Individuum als dasselbe zu reidentifizieren“ (Ricœur 2005,
mehr werden sie durch Kontextsetzungen aufgefüllt. Unser
148). Durch seine Grundständigkeit in der narrativen Identi-
Gedächtnis funktioniert auf diese Weise relational, und nicht
tätsentwicklung stellt der Charakter eine Kontinuität in der
als ein bloßes Speichermedium von Lebensfakten.
Existenz dar. Er spiegelt eine gewisse persönliche Haltung wieder, die sich in einem individuellen Habitus manifestiert. Ha-
2. Die Poetik des Netzes
bitus als Gewohnheit „verleiht dem Charakter eine Geschichte
Als homo faber schaffen wir Objekte, Gegenstände und Medien,
[…], bei der die Sedimentierung dazu neigt, die vorangehende
welche uns bei der Bewältigung unseres alltäglichen Lebens
Innovation zu überdecken und sie im Grenzfall aufzuheben“
unterstützen. Im Sinne Aristoteles’ sind dies poietische Akte,
(Ricœur 2005, 150). Zum andern spiegelt sich im Versprechen
die eine bestimmte Kunstfertigkeit (technê) erfordern (Met.
ein dynamisches Moment wieder. Ein Versprechen zu halten
VII 7 1032a12ff). Solche „Hervorbringungen“ entstammen der
bedeutet die Verantwortung für dieses Versprechen zu über-
Kunstfertigkeit oder dem Denken (Met. VII 7 1032a25ff). Aus
nehmen. Durch das Halten des Versprechens tritt in der eige-
dieser Perspektive kann auch der Schaffensakt des Internet
nen Identität eine Beständigkeit in der Zeit zutage. Denn es
betrachtet werden: In seinen Ursprüngen ein akademisches
wird gegeben, um in einem zukünftigen Moment eingelöst zu
Forschungsprojekt, wurde es ins Leben gerufen, um auf Rech-
werden. In diesem Sinne befindet sich die personale Identität
nerressourcen an anderen Standorten zuzugreifen und so eine
nach Ricœur (2005, 141) inmitten von Narrativen, welche als
wissenschaftliche Zusammenarbeit auf digitaler Ebene zu er-
abstrakte, nie einzufangende Gegenwart die Vergangenheit
möglichen. Zu Beginn waren die Entwickler selbst die Nutzer
mit der Zukunft verbinden. Dabei verkörpern wir die Protago-
und vice versa. Der generierte und frei zugängliche Quellcode
nisten, also die Figuren unserer eigenen Lebensgeschichte.
(open source) diente hauptsächlich der Fortentwicklung dieser
Damit tritt eine Spannung in die Dialektik von idem und ipse.
Infrastruktur: „[O]pen source was a structural feature in the
Denn „[d]ie Erzählung konstituiert die Identität der Figur, [. . .]
development of the Internet […], since all its key technical
indem sie die Identität der Geschichte konstituiert. Es ist die
developments were communicated to universities, and then
Identität der Geschichte, die die Identität der Figur bewirkt“
shared over the Net“ (Castells 2001, 42). Zunächst bediente
(Ricœur 2005, 182). Der Begriff der narrativen Identität ver-
sich nur diese kleine akademische Randgruppe dieses neuen
mag es also, sowohl die Beständigkeit, wie auch die Dynamik
Mediums, die sogenannten „Techno-elites“ (Castells 2001, 39).
der personalen Identität in ihrer Lebensgeschichte zu fassen.
Diese leben in der Überzeugung des „inherent good of scienti-
Mit Jean Greisch (2009, 139) ist festzustellen, dass ein rein
fic and technological development”, und dass wir uns mit Hilfe
Geschichten erzählendes Selbst ein Idealbild ist. Ein nur er-
dieses Fortschritts weiterentwickeln können (Castells 2001,
zählendes Selbst würde bedeuten, dass jede Erzählung erzählt
39).
werden kann, und damit alles kommuniziert werden kann.
Entstanden im Spannungsfeld der Wissenschaft, der militä-
Vielmehr sind die Prozesse, die durch narrative Selbstrefle-
rischen Forschung sowie dem freien und kreativen Geist der
xion und Dynamisierung des eigenen Lebens aufgebrochen
sogenannten Hacker-Szene, entwickelte sich das Internet stetig
wurden, Auswege aus einer „drohende[n] Sprachlosigkeit“, die
weiter (vgl. Castells 2001, 17). „[T]he Internet […] then became
sich aus einer „innerlichen Passivität“ gegenüber des eigenen
the basis for its own technological upgrading through the in-
Selbst ergibt (Greisch 2009, 139). Reflexions- und Dynamisie-
put provided by the hacker culture, interacting on the Inter-
rungsprozesse machen Erzählungen erst möglich.
net“ (Castells 2001, 42). Auf dieser Grundlage wurden Dienste
Wir sind unserer Disposition nach als ein ens narrans der condi-
entwickelt, um uns über Raum und Zeit hinweg zu verbinden,
tio historica unterlegen; wir sind Erzähler, die „eine Geschichte
beispielsweise via E-Mail und World Wide Web mit Hypertext-
haben, [. . .] ihre eigene Geschichte sind“ (Ricœur 2005, 141).
Seiten. Diese benutzerfreundlichen Komponenten ließ das
Indem wir reflexiv über uns als Mich der Vergangenheit erzählen,
Internet zu einem Massenphänomen werden; dies wiederum
sind wir das direkte Objekt unserer Geschichte (Ricœur 2005,
legte den Grundstein für ein schnelleres und einfacheres Kon-
23
CRITICA–ZPK I/ 2014
figurieren neuer Ideen und Inhalte.
Raum“ (Serres 2007, 81). Denn auf der digitalen Ebene kann
Wegen der zunehmenden Kommerzialisierungsprozesse sind
Vergangenes per Mausklick abgerufen und so immer und über-
Open Access und Open Source Projekte in der heutigen Zeit zum
all vergegenwärtigt werden. Die Zeit ist zu einer immanenten,
letzten Garanten für die Persistenz von Daten und der Nutzung
digitalen Gegenwart geworden. Die mnemotechnische Ausla-
des digitalen Netzes geworden. Das Internet wird dadurch
gerung des Gedächtnisses lässt sich das erzählende Selbst in
zu einem unendlichen, jederzeit und jederorts verfügbaren
einer digitalen, ortlosen Welt ohne eigene Vergangenheit be-
Speicher und damit zu einem Weltgedächtnis (Glaser 2011). Auf
wegen.
Grund dessen schafft sich das Konzept Internet immer wieder
Die Persistenz von Daten im Internet und die technische Un-
selbst von neuem: „users became producers of the technology,
möglichkeit des Löschens derselben schließen das Vergessen
and shapers of the whole network“ (Castells 2001, 27).
aus dem digitalen Raum praktisch aus. Doch wie groß kann der
Das Internet als vernetztes digitales Medium stellt nun einen
Wunsch nach Vergessen innerhalb unseres Schaffensdrangs
schnellen und nahezu unmittelbaren Zugang zu Informatio-
und unserer Neugierde als homo faber wirklich sein? Impliziert
nen bereit. In einem Augenblick konsumiert, können sie im
ist hierbei unser Wunsch, vergessen zu können, jedoch gleich-
nächsten bereits verarbeitet werden und so neue Inhalte er-
zeitig einen immanenten Gedächtnisapparat zu besitzen, wie
zeugen: Bestehende Informationen werden auf diese Weise
der historische Prozess der mnemotechnischen Auslagerung
konfiguriert und refiguriert. Eine solche Form des Umgangs
gezeigt hat. So entfernen wir uns an dieser Stelle von Ricœurs
mit Informationen und der Konfiguration von neuen Infor-
(2004) These des Vergessens als Bedrohung, hin zu einer „Ökono-
mationen hat zur Folge, dass in einer unheimlichen Geschwin-
mie des Vergessens“ (Serres 2007): Wir entlasten uns von Er-
digkeit Informationen verarbeitet und kreiert werden, ohne
innerungen. Jedoch vergessen wir diese nicht um des Verges-
dass bereits Bestehendes gelöscht wird. „Dies führt zu einer
sens willen, sondern um in unserem Schaffensdrang nicht den
Welt, die auf das Erinnern ausgerichtet ist, und wenig Anrei-
Umweg der manuell-kognitiven Erinnerung zu gehen. Wir er-
ze kennt, Dinge zu vergessen“ (Mayer-Schönberger 2010, 111).
innern uns relational aus einem fremden Gedächtnisspeicher
Das Netz kann nicht vergessen.
heraus, um die freigewordenen Energien in Denken und kre-
In Ricœurs Sinne ist diese neue Art des Vergessens als „eine be-
ative Schaffensakte zu investieren. So „bleibt uns nichts anderes
unruhigende Bedrohung” zu verstehen, die sich gegen die conditio
übrig, als intelligent zu werden“ (Serres 2007, 84).
historica richtet und ihre „Verletzlichkeit“ herausstellt (Ricœur
Auf diese Weise vollzieht sich eine Aussöhnung mit dem be-
2004, 633). Denn das Vergessen arbeitet auf eine historische
unruhigend drohenden narrativen Leid des Vergessens von der
Entwurzelung zu, und entzieht uns jegliche Möglichkeit der
Abhängigkeit von Mnemotechniken hin zur poietischen Frei-
Versöhnung mit der Vergangenheit. Dies eröffnet einen Raum
heit des vergessen-Könnens. Wir haben auf diese Weise un-
der radikal persönlichen Erfahrung als Negation von Erinne-
sere eigene Schwäche überlistet und uns zu Nutze gemacht.
rungen und damit einer radikalen Historizitätslosigkeit, die
Anstatt gegen das Vergessen anzukämpfen, profitieren wir
den „Horizont eines zu Ruhe gekommenen Gedächtnisses, ja eines
davon, indem wir unsere kognitiven Fähigkeiten danach aus-
glücklichen Vergessens” unmöglich macht (Ricœur 2004, 633).
richten. Damit vollzieht sich eine Veränderung unseres Selbst-
Eine solche Konklusion paradoxiert jedoch die conditio histori-
verständnisses. Wir sind nicht mehr im Netz der Geschichte
ca. Denn als Geschichten erzählende Wesen (Ricœur 1988, 118)
verfangen, sondern können uns auf die Gegenwart unseres
beziehen wir seit je her Aspekte der Vergangenheit in unsere
Denkens konzentrieren. Falls wir Informationen für unsere
narrative Identitätskonstitution ein.
Denkprozesse benötigen, können wir uns diese aus unserem externen Speicher herunterladen.
3. Vergessen im Netz der Narrativität
Das Bild des Vergessens als eine „beunruhigende Bedrohung“
Gedächtnis als die Erinnerung an die Vergangenheit vollzieht
(Ricœur 2004, 633) gewinnt als ein „Abgrund“ der Vergan-
sich in Raum und Zeit. Auf sprachlicher Ebene wird Zeit in
genheit (Askani 2010, 104) durch „die Dimension der Tiefe,
Raum- bzw. Bewegungsmetaphern dargestellt und so räum-
in die die Erinnerung hinabreicht. Ein Brunnen, der zu tief
lich als Zeitfluss gemessen, wie zum Beispiel „time flows on/
ist, um ausgeschöpft zu werden, und der doch [. . .] nicht nur
by“, „The deadline is approaching“ (Evans 2005, 61). Es ist
entzieht, was erinnerbar wäre, sondern es zugleich bewahrt
deswegen nicht verwunderlich, dass die Zeit in ihrem Fluss
und gewährt“ (Askani 2010, 104). Die Metapher des Brunnens
als Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft keine Rolle mehr
nivelliert das Phänomen des Vergessens zu einer bloßen Vari-
spielt, wenn wir uns in unserer virtuellen Wahrnehmung von
ante des Erinnerns. Damit haben wir auf der analogen Ebene
physischen Orten entfernen. „Wir haben uns von den ein-
der realen Welt unsere Erinnerungen zwar vergessen, denn sie
zelnen Orten gelöst und befinden uns nur noch im globalen
sind nicht mehr in unserem Kopf vorhanden, trotzdem sind sie
24
CRITICA–ZPK I/ 2014
nicht verschwunden. Sie befinden sich in der Tiefe des Brun-
einem Dativ, der Meine eigene Vergangenheit in ein Besitztum
nens und warten darauf, in neue Relationen gesetzt zu werden.
externalisiert, indem wir nicht mehr direktes Objekt unse-
Es
rer Geschichte sind, sondern durch den Umweg des digitalen Speichers nur noch indirektes Objekt einer Geschichte sind, „zeigt sich hier, [. . .] als ein Verhältnis zur Zeit, und zwar als eines, das nicht durch uns hergestellt wird, das vielmehr uns selber in seine ‚Herstellung‘, in sein Geschehen miteinbezieht; eine Zeit, eine Zeitigung, die nicht nur das Vergessen hervorbringt (zeitigt), sondern als Vergessen Zeit ist, sich zeitigt, sich als Zeit gewährt. Das Vergessen als eine paradoxe Form der Gegenwärtigung, der Zeiti-
die von uns erzählt.
gung der Zeit“ (Askani 2010, 104f).
lichkeit des Vergessens erlangen Erinnern und Vergangenheit
Die bisherigen Begriffe von Vergessen, Erinnern, Geschichte und Vergangenheit reichen auf einer solchen abstrakten, metaphysischen Ebene nicht mehr aus, um die Erinnerungskultur, die sich durch den Gebrauch des Internet als Mnemotechnik etabliert hat, zu beschreiben. Denn durch die Unmögeinen neuen Stellenwert. Erinnern ist immer und überall
Als „Zeitigung der Zeitlichkeit“ ist der Brunnen damit eine „ge-
möglich. Damit wird die Vergangenheit als ein Resultat der
wesend-gegenwärtigende Zukunft“ (Heidegger 2001, 350).
Erinnerung omnipräsent. Dies nivelliert die Geschichte in
Auf der Ebene des Lebens umfasst die Zeitlichkeit also unsere
unserem Bewusstsein zu einer ewigen Gegenwart. Die Kon-
Existenz. Wir dynamisieren die Geschichte als unsere Vergan-
zepte des kommunikativen und kulturellen oder kollektiven
genheit in unserem Leben als die Erzählung unseres Selbst.
Gedächtnisses müssen an dieser Stelle ebenso infrage gestellt
Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft fallen auf einer abs-
werden. Schnell und überall können wir kultur- und kollektiv-
trakten Ebene zusammen. Innerhalb der Brunnen-Metapher
übergreifend mit anderen auf der ganzen Welt kommunizie-
nimmt der Brunnen selbst den Platz des Internet ein, während
ren und auf diese Weise ein Gedächtnis generieren. Dieses be-
Seil und Eimer den Computer bilden, der die Informationen
schränkt sich nicht nur auf die eigenen sozialen Kulturen und
aus dem Internet schöpft.
Kollektive, verstanden als Gruppen, die bestimmte Formen
Dem Vergessen kommt damit eine eigentümliche Rolle zu. Es
des Wissens, der Haltung und der Kommunikation teilen (Ass-
ist ein Phänomen, das es eigentlich nicht gibt. In seiner zeitli-
mann 2007). Auf einer globalen Ebene ist es ein Gedächtnis der
chen Existenz ist es im Brunnen als einem Nicht-Ort der Er-
Welt. Deswegen braucht es den Terminus des Weltgedächtnisses
innerungen nicht präsent, weil die Erinnerungen als eigene
(Glaser 2011), welcher den abstrakten Wissenspool des Internet
Vergangenheit den Brunnen auffüllen. Der Brunnen ist ein
fassen kann. Das Weltgedächtnis erfuhr ein Wiederaufleben
Nicht-Ort im doppelten Sinne: Zum einen ist er der Nicht-Ort1
in der Renaissance, in der der Mensch „sich im Besitz göttli-
des Vergessens, indem er mit Erinnerungen angefüllt ist. Zum
cher Kräfte [glaubte]“ (Yates 2012, 159). Er hatte damit Teil an
anderen kann dieser Brunnen als ein Nicht-Ort2 der Erinne-
einem „göttlichen Makrokosmos, [der sich] im Mikrokosmos
rung betrachtet werden. Denn wie mit Serres (2007) zu Beginn
seines göttlichen mens wiederspiegelte“ (Yates 2012, 159). Als
gezeigt wurde, kann Wissen, das im Internet kursiert, nicht
ein externalisierter relationaler globaler Speicher gedacht, ist
lokalisiert werden. Zwar gibt es Web-Adressen und Homepages,
das Internet ein solches Weltgedächtnis, das über Wissen und
jedoch sind diese Orte Metaphern für physische Orte, die im
Erinnerung des Einzelnen hinausgeht und einen göttlichen
abstrakten Raum des Internet nicht gegeben sind. Somit ist die
Makrokosmos konstituiert.
Erinnerung als Vergangenheit im Internet als Nicht-Ort2 gespeichert.
4. Fazit
Raum und Zeit erfahren auf diese Weise eine neue Dynamik,
Es konnte gezeigt werden, dass unter den aktuellen hypermo-
die die phänomenologische Hermeneutik der Erzählung auf
dernen Bedingungen das bisherige Begriffsinstrumentarium
eine ortlose und zeitlose Ebene erhebt. Die Ebene des Textes
nicht ausreicht. Es stellt sich damit die Frage, ob die etablierten
oder der Autobiographie des Selbst als Ort der Erzählung wird
und definierten Begriffe des Gedächtnisses, und damit auch
zugunsten einer abstrakten Ebene der Zeit verlassen, in der
des Vergessens, mit diesen einschneidenden Veränderungen
Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft scheinbar zusam-
in unserem Handeln und Denken Schritt halten können, oder
menfallen und nicht mehr voneinander zu unterscheiden sind.
ob mit der Schwierigkeit der Anwendbarkeit des bisherigen
Wir sehen uns in unserer narrativen Identität als Geschichten
Instrumentariums ein Ruf nach neuen Ansätzen, neuen Er-
erzählende Wesen somit vor eine neue Herausforderung ge-
fassungsmethoden und damit nach neuen Terminologien laut
stellt. Wir verlassen die Ebene des Sich selbst Erzählens, hin zu
wird.
der Ebene des Von sich Selbst Erzählens. Der Akkusativ des Mich,
Einerseits führen die hypermodernen Entwicklungen der Di-
wie ihn Ricœur (2005, 34) verwendet, wird auf diese Weise zu
gitalisierung die Externalisierung von Erinnerungen ins Ex-
25
CRITICA–ZPK I/ 2014
treme, indem die eigene Autobiographie extern gespeichert wird. Wir werden damit zum medialen Objekt unserer Selbst, weil wir uns über ein Medium daran erinnern müssen, wer wir sind. Andererseits ist der Computer als unser Schaffenswerk zu einer Art Mnemotechnik geworden, die die conditio historica auf radikale Weise vollendet, indem Vergessen unmöglich gemacht wird. Wenn Ricœur (2004, 112) für einen maßvollen Gebrauch des Erinnerns und des Vergessens plädiert, aber unser Schaffensdrang in dieser Hinsicht berücksichtigt werden soll, stellt sich die Frage, wie sich ein maßvolles Erinnern und ein maßvolles Vergessen in einem Zeitalter der Hypermoderne darstellt. Denn es steht uns auf noch nie dagewesene Weise frei, uns zu erinnern und zu vergessen. Wir befinden uns gerade am Anfang dieser Entwicklung, deswegen kann weder gesagt werden noch ist absehbar, wohin sie tatsächlich führen. Es konnte jedoch aufgezeigt werden, wie Vergessen und Erinnern in einer neuen Dynamik unser Denken und unsere Wahrnehmung beeinflusst und auf diese Weise ein neues Menschenbild schaffen können, das sowohl Mnemotechnik wie auch Kognition auf innovative Weise konfiguriert und refiguriert.
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26
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interview
CRITICA–ZPK I/ 2014
acht fragen zum thema zeit interview. Dr. Hannelore Paflik-Huber, Autorin des Buches Kunst und Zeit stellt sich
den Fragen der Redaktion und gibt kunstwissenschaftliche Einblicke zum Thema.
Zu einem Ihrer Forschungsschwerpunkte zählt
Bild von Marcel Duchamp Ein Akt die Treppe herabsteigend von
die Analyse von Zeitaspekten in der Gegenwartskunst. Soweit
1912. Die Bewegung und der zeitliche Ablauf wird in einem
ich sehe, hat man sich in der Kunst immer schon mit der Prä-
Bild malerisch dargestellt. Die Treppe als räumliche Setzung
sentation von Zeit und Zeitlichkeit auseinandergesetzt. Bei-
deutet sich noch an. Zeitgleich mit der Relativitätstheorie
spielsweise finden wir sequentielle Bilderzählungen als Insze-
von Albert Einstein setzt Duchamp das Phänomen Zeit in den
nierungen von ‚historia‘ in der antiken, mittelalterlichen und
Mittelpunkt künstlerischer Überlegungen. Und damit ändert
in der modernen Kunst. Ich würde gerne wissen, wie Sie aus
sich alles. Es gibt im 20.Jahrhundert und besonders nach 1945
heutiger Perspektive die Zeit als Thema innerhalb der Kunst-
zahlreiche Künstlerinnen und Künstler, die explizit formulie-
geschichte bewerten? Ist sie ein durchweg zentrales Anliegen
ren ihr Thema sei Zeit: Hanne Darboven, On Kawara, Walter
der Kunst gewesen oder eher ein Randthema, das, sofern es
de Maria, Roman Opalka, Darren Almond, Philippe Parreno,
sich bei ihr wie auch beim Raum um eine Grundkategorie han-
Kris Martin, Roman Signer etc. Dies ist nie einem Trend unter-
delt, eher als Mittel zum Zweck bearbeitet werden musste und
worfen, sondern als Parallelität zu den Forschungen anderer
erst später – ich denke dabei v.a. an das 20. Jahrhundert – als ei-
Disziplinen, wie der Physik, der Philosophie, der kognitiven
genständiges Thema in das Bewusstsein der Menschen rückte?
Neurowissenschaft und der Psychologie auszumachen.
critica–zpk:
Weshalb sollte die Kunst also außen vor bleiben, zumal sie mit paflik-huber: Die
Präsentation von Zeit in der Kunst ist ei-
den neuen Medien nochmals andere Möglichkeiten hat, Zeit
nes der großen Themen der Kunst, egal in welcher Epoche wir
zu manifestieren. Die Künstlerinnen und Künstler, die heute
uns bewegen. Nur haben Kunsthistoriker oder Archäologen oft
Zeit thematisieren, wählen nicht nur die neuen Medien, son-
nicht den Fokus auf diese Thematik gerichtet. Die von Ihnen
dern nach wie vor alle Medien. Die Malerei, wie das Gesamt-
angesprochene visuelle Lösung, Zeit als Sequenz darzustellen,
werk von Roman Opalka zeigt, der von 1965 bis zu seinem Tode
ist eine von vielen. Ein weiteres Beispiel ist Tizians Allegorie der
aufeinanderfolgende Zahlen auf die Leinwand geschrieben
drei Lebensalter des Menschen um 1565, auch als Allegorie der Zeit
hat, von 1 bis 5 607 249, versteht sich als Manifestation von
betitelt. Der Jüngling, rechts dargestellt, schaut in die Zukunft,
Lebenszeit, eine Biografie an der was abzulesen ist. Insofern
der Greis in die Vergangenheit und Tizian selbst, mittig ge-
beantworte ich die Frage, ob das Thema Zeit ein Randthema in
malt, schaut in die Gegenwart. Keiner der Drei sucht den Blick
der Kunst ist, mit einem eindeutigen Nein. Nur unser Blick hat
des Betrachters. Die Wolkenbilder von John Constable müßten
sie nicht immer in den Mittelpunkt gerückt.
noch unter den Zeitaspekten analysiert werden, um nur ein Zeit zu definieren ist nicht einfach, auch die
weiteres Beispiel zu nennen. Eine der großen Fragen inner-
critica–zpk:
halb der Diskussion zum Thema Zeit ist in der Tat folgende:
Philosophie tut sich mit ihrer Definition bisweilen schwer,
Wie lässt sich Zeit im Verhältnis zum Raum denken? Bis ins
schließlich lässt sie sich auf nichts zurückführen. Ausgehend
20. Jahrhundert hat man Zeit als vierte Dimension bezeichnet,
von einem Common Sense Verständnis wird Zeit meist als
als letzte Instanz in einer Reihe. Erst als die Philosophie, vor
ein Gefüge von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft defi-
allem Edmund Husserl und Henri Bergson und auch zeitgleich
niert, was die Kunst durch den Bezug auf den Raum und die
die Kunst der vierten Dimension mehr Beachtung geschenkt
Bewegung versucht (hat) einzufangen. Ihr Hauptproblem,
haben und deren Abhängigkeit zum Raum hinten angestellt
zumindest in klassischen Positionen wie Malerei und Plas-
hatten, kann man von einer ernstzunehmenden Diskussi-
tik, war dabei immer der statische Darstellungscharakter, was
on sprechen. Ein Beispiel aus der Kunst ist das revolutionäre
zur Folge hatte, dass man Zeit eigentlich nur mittelbar über die
28
CRITICA–ZPK I/ 2014
Aneinanderreihung von Augenblicken einfangen konnte. An-
ander ab. Sie repräsentieren ihre individuelle Zeit. Die eine
fang und Mitte des 20. Jahrhunderts beginnt man sich in der
bleibt möglicherweise vor der anderen stehen. Somit verwan-
Kunst neuen Wegen und medialen Möglichkeiten zu widmen.
delt der Künstler diese öffentlichen, neutralen Geräte für die
Was bedeuteten gerade diese neuen Ausdrucksformen für die
Messung der Zeit in eine persönliche und poetische Medita-
Darstellung von Zeit? Welche verschiedenen Strategien bilde-
tion über menschliche Beziehungen und ihre Vergänglichkeit.
ten sich heraus, mit denen Zeit praktisch umgesetzt werden
Der Zeitmesser wird zur emotionalen Erfahrung. Eine weitere
sollte? Vielleicht könnten Sie auch hier ein Paar Beispiele an-
Arbeit ist bspw. 100 Jahre von 2001. 101 fotografische Portraits
bringen?
hat Hans Peter Feldmann in seinem eigenen Verwandten- und Bekanntenkreis für seine Arbeit aufgenommen. Die Jüngste Wie sehr das Gefüge Vergangenheit, Gegen-
Portraitierte, Felina, ist acht Wochen, die Älteste, Maria Victo-
wart und Zukunft auf einem rein westlichen Denken beruht,
ria, zählt hundert Jahre. Die Chronologie des Lebens ist streng,
zeigen die Untersuchungen der Zeitsysteme von z.B. India-
Rahmen an Rahmen, auf einer Augenhöhe gehängt. In der
nervolksstämmen. Der amerikanische Sprachwissenschaftler
Mitte des Raumes steht immer ein frisch gepflückter Blumen-
Daniel Leonard Everett lebte sieben Jahre bei den Pirahã-In-
strauss in einer Vase auf einem Sockel als eine Metapher für
dianern am Amazonas in Brasilien und bezeichnet sie in sei-
Vergänglichkeit. Egal wo die Arbeit gezeigt wird, es ist so, dass
nem Buchtitel als „Das Glücklichste Volk“. Sie sprechen immer
jeder instinktiv erstmal seinen Jetztpunkt sucht, sein eigenes
nur über die Gegenwart, nie über die Vergangenheit oder gar
Alterego. Im Gegensatz zu Tizians Allegorie der drei Lebensalter
die Zukunft. Sie haben im Vergleich zu unserer Zeitwahrneh-
des Menschen dokumentiert Feldmann nicht ein einziges Leben,
mung ein völlig anderes Zeitgefühl. Für die Pirahã verläuft Zeit
sondern verknüpft hier anschaulich individuelles mit kollekti-
nicht wie für uns linear und auch nicht zyklisch wie etwa für
vem Erinnern in einem Werk.
die Aymara-Indianer, bei denen Vergangenheit und Zukunft
Die israelische Künstlerin Yael Bartana wählt für das subjekti-
identisch sind. Zeit ist für die Pirahã der gegenwärtige Mo-
ve Zeiterlebnis einer vorgegebenen Zeitspanne, nämlich eine
ment. Everett fasziniert die ungewöhnliche Heiterkeit dieses
vom Staate Israel gesetzten Gedenkminute, das Medium Video.
Volkes und die Frage, inwiefern die permanent gute Laune auf
Das Medium mit dem alles möglich war, was die Zeit betrifft:
einem Zeitbewußtsein beruht, das sich ganz auf ein Hier und
Closed Circuit Installationen, bei denen sich Künstler und Be-
Jetzt bezieht. Oder nehmen wir das Zeitbewußtsein der Ayma-
trachter im geschalteten Kreislauf von Kamera/ Aufnahmege-
ra Indianer, ein Volk in den Anden Boliviens, Perus und Chiles,
rät und Monitor selbst wahrnehmen konnten. Man konnte die
deren Zeitwahrnehmung erst seit zehn Jahren erforscht wird.
Zeit langsam ablaufen lassen, zeitverzögert etc. Die Einkanal-
Wenn sie von der Zukunft sprechen, deuten sie hinter sich,
Videoinstallation Trembling Time (2001) von Bartana ist in Far-
wenn sie von Vergangenem erzählen, zeigen sie nach vorne.
be, 6:20 Minuten lang, mit einem Soundtrack des Musikper-
Für uns ist die räumliche Zuordnung der linearen Zeit eindeu-
formers Tao G. Vrohovec Sambolec. Sie zeigt einen Moment,
tig. Vergangenes und Erlebtes liegen hinter uns, Zukünftiges
in welchem die gesamte Bevölkerung Israels Einheit durch
vor uns. Anders verhält es sich bei den Aymaras. Sie platzieren
eine kollektive Schweigeminute demonstriert, in Gedenken
die Vergangenheit vor dem Ich und die Zukunft dahinter.
an die gefallenen Soldaten der israelischen Kriege und Opfer
Die Kunst hat gar keine Schwierigkeiten, zumindest nicht
des Terrorismus. Bartana geht es um eine Allgemeingültigkeit,
mehr, mit der Thematik Zeit umzugehen. Tizian zeigt die drei
um eine trembling time. Wir sehen, wie ein kontinuierlich flie-
Zeitformen als logische lineare Abfolge. Wir denken in Bildern
ßender Verkehrsstrom sich verlangsamt und schließlich zum
und so ist z.B. die Arbeit Perfect Lovers von dem kubanischen
Erliegen kommt. Die Menschen steigen aus ihren Fahrzeugen
Künstler Felix Gonzales Torres, die er zwischen 1987 und 1991
und halten ohne sichtbaren Anlaß unvermittelt an, mitten auf
erstellte, einfach in den Mitteln und gleichzeitig überzeugend.
einer mehrspurigen Strasse, betrachtet von einer Brücke.
Es sind zwei identische Wanduhren. Die eine Uhr steht für sei-
Die Schweigeminute wird in einer aufwendigen Postproduk-
nen 1991 an Aids verstorbenen Lebenspartner Ross Laycock.
tion am Computer zu fast 7 Minuten ausgedehnt. Bartana ver-
Die andere für ihn selbst (er starb 1996 an Aids). Die Wanduh-
zögert also den Moment des Anhaltens mittels Zeitlupe und
ren sind aus der industriellen Massenproduktion. Sie werden
Überblendungen und verstärkt das kollektive Erinnerungsri-
so aufgehängt, dass sie sich berühren. Zu jedem Ausstellungs-
tual. Ihre Version einer Schweigeminute ist ein Zeitvakuum,
beginn werden sie auf die gleiche Uhrzeit gestellt, weichen
ein Stillstand.
aber, wie Gonzales-Torres wusste, im Laufe der Zeit vonein-
Als weiteres Bespiel sei The Clock des amerikanischen Künst-
paflik-huber:
1
lers und Komponisten Christian Marclay genannt. Der Film 1 Daniel Everett: Das glücklichste Volk. Sieben Jahre bei den PirahãIndianern am Amazonas, München 2008.
von 2010 ist eine beeindruckende, 24 Stunden umspannende
29
CRITICA–ZPK I/ 2014
Montage mit Ausschnitten aus Tausenden von Kinofilmen. Er
critica–zpk:
Neben der Strategie wählt ein Künstler ja auch
hat den Goldenen Löwen bei der vorletzten Biennale in Vene-
immer eine bestimmte Zeit-Kategorie auf die er sich bezieht, so
dig erhalten. Zwei Jahre lang hat Marclay mit Hilfe von sechs
wie eben beispielsweise die Bewegungs-Raum-Zeit. Mit wel-
Assistenten die Jahrzehnte der Kinogeschichte nach Filmse-
chen Kategorien von Zeit hantiert die Kunst? Aus philosophi-
quenzen mit Uhren und Ansagen von Uhrzeiten durchforstet.
scher Perspektive gibt es beispielsweise gerade auch die reine
So vereint The Clock unterschiedlichste Genres, von Western,
subjektive Erlebniszeit. Wieviel Impuls bekommt die Kunst
über Musicals, bis hin zu Komödien, deren Szenerien mit Hil-
eigentlich mit Blick auf die Frage der Zeit-Kategorien und ih-
fe einheitlicher Sounds und Musik, komponiert von Marclay
rer theoretischen Untermauerung von Seiten der Philosophie;
selbst, zu einem Ganzen zusammengefügt wurden, so dass die
gibt es Wechselwirkungen?
einzelnen Ausschnitte nicht abgehackt wirken, sondern ineiDie Künstlerinnen und Künstler, die Zeit zu
nander fließen, mit sich teils überlappenden Dialogen. Dabei
paflik-huber:
haben alle ausgewählten Filmsequenzen eines gemeinsam,
einem zentralen Thema ihrer künstlerischen Arbeit machen,
dass in allen eine Uhr gezeigt wird. Altmodische Wecker, di-
kennen die aktuellsten Forschungen und Publikationen zu
gitale Uhren, die goldene Rolex am Arm eines schmierigen
dem Phänomen Zeit. Umgekehrt sehe ich da kaum eine No-
Gangsters, die Taschenuhr, die aufgeklappt wird, Uhren am
tiznahme. Für die genannten Disziplinen spielen in ihren
Bahnhof, in der Kirche, in der Schule oder am Turm von Big
Denkmodellen oder Forschungsschwerpunkten die Kunst-
Ben laufen in Echtzeit ab. Wenn James Bond auf einer rütteln-
werke selten eine Rolle. Besteht daher in unserer Disziplin
den Foltermaschine liegt, ihm eine kühle Dame „noch 15 Mi-
Handlungsbedarf? Haben wir in der Vermittlung vielleicht
nuten, Mr. Bond“ verkündet und der durchgeschüttelte Sean
etwas vernachlässigt? Man glaubt auch heute noch zu wenig
Connery auf die Uhr an der Wand blickt, ist es nicht nur im
an den Erkenntniszuwachs, den die Kunst bietet. Immer noch
Film zehn vor eins, sondern auch in unserer Betrachtungszeit.
beschränken wir zu vieles auf den ästhetischen Mehrwert der
Wenn das Werk gezeigt wird, wie im Moma in New York oder
Kunst. Wenn ich die Liste der Themen meines neuesten Buch-
im Kunsthaus Zürich, stehen Schlangen von Menschen davor.
projektes vor dem Hintergrund Ihrer Frage betrachte, sage ich,
Man ist begeistert, eingefangen in die Marclaysche Kinowelt,
dass keine Kategorie der Zeit ausgespart ist. Vielleicht ist die
die mit dem Gedächtnis eines jeden Zuschauers spielt. Nähert
oben genannte Closed Circuit Installation, die es so nur in der
sich der Film und damit auch die Realzeit der vollen Stunde,
Videokunst gibt, eine visuelle Entsprechung für die subjektive
wird eine Spannung aufgebaut und fünf vor Zwölf ist diese an
Erlebniszeit. Wie so oft in einem Interview, treffen wir mit der
Dramatik kaum zu übertreffen. Wenn keine Uhr zu sehen ist,
Frage genau den Punkt. Wie definieren wir die Differenz der
dann fragen die Menschen im Film nach der Zeit oder sie spre-
Disziplinen und wo sind deren Gemeinsamkeiten?
chen darüber, wie viel Zeit ihnen noch bleibt. Sie vereinbaren Das Thema Zeit wird individualgeschichtlich
Treffen, sie verbringen qualvolle Minuten des Wartens oder
critica–zpk:
sind einfach zu spät dran. Der Film dauert also 24 Stunden
sicherlich immer ein Thema in der Kunst bleiben. Es geht den
und wann immer ein Betrachter den Film sieht, ist die Zeit,
Menschen in seiner Produktion einfach an. Dennoch könnte
die dort im Film gespielt ist, die Jetztzeit. Es wird folglich eine
man meinen, dass die Zeit als zentrales Motiv der Kunst im
hyperreale Übereinstimmung zwischen Filmzeit und Realzeit
Sinne der künstlerisch medialen Ausschöpfung heutzutage
erzeugt. Somit ist der Unterschied zwischen der subjektiven,
eher ein hauptthematisches Auslaufmodell ist. Wie sehen Sie
gefühlten Zeit und der erbarmungslos tickenden chronome-
das?
trischen Zeit eindrücklich dargestellt worden. Hier sind wir einem Minutentakt ausgesetzt, einem Zerhacken der Zeit, wie
paflik-huber: Hier folgt ein eindeutiges Nein. Die Recherche
es sie in der Realzeit nicht gibt. Die Realzeit kennt auch keine
zu meinem neuen Buch Gegenwart oder Unendlichkeit. Visualisie-
Verlangsamung, keine Entschleunigung, kein Verweilen, kein
rung von Zeit zeigt, dass in der Kunst seit der Jahrtausendwende
Auslöschen, keine Dehnung und keine Wiederholung. Die
wieder eine Konzentration auf das Thema Zeit (medienüber-
Kunst kann dies alles mühelos leisten. Hier ist alles möglich.
greifend) festzustellen ist. Ein Grund dafür – und hier schließt
Den Film Psycho von Hitchcock dehnt Douglas Gordon auf die
sich der Kreis zu unserem linearen Zeitbewußtsein – ist, dass
24 Stunden, die er im Film „real“ dauert. James Joyce lässt sei-
die Zukunft heute nicht mehr mit utopischen Modellen be-
nen Leopold Bloom in Ulysses einen Tag lang, den 16. Juni 1904
stückt ist, wie dies noch um 1984 der Fall war. Heute wendet
in Dublin, eine mythische Welt durchstreifen, einen Tag wie
sich der Blick zurück. Zurück in die Vergangenheit. Die Ar-
bei Marclay und Gordon, gedehnt auf 1014 Seiten.
chäologie hat enorm an Aufmerksamkeit gewonnen und Cern in der Schweiz will zeitlich immer näher an den Ursprung der
30
CRITICA–ZPK I/ 2014
Welt gelangen. Ein anderer Grund sind die aktuellen Forschungen der Neurowissenschaften, die versuchen, die Zeitwahrnehmung und damit verbunden die Abläufe im Gehirn zu erklären. Der französische Künstler Pierre Huyghe kopiert beinahe die ganze Welt als Modell und transportiert Ausschnitte ins Museum ( z.Z. Museum Ludwig, Köln), um dort ein Zeitmodell zu konstruieren, an dem wir leichter als an der Welt selbst ablesen können, wie das System Zeit funktioniert.
Die Fragen stellte Dr. Julia-Constance Dissel
31
CRITICA–ZPK I/ 2014
künstlerische (anti-) Ökonomien der zeit von Till Julian Huss
Im Zuge der Globalisierung ist Gleich-
Phänomene ein, die gleichzeitig auftre-
im späten 19. Jahrhundert, einerseits
zeitigkeit zu einem ökonomischen Dik-
ten oder wahrgenommen werden, aber
die Aufnahme eines Bruchteils einer
tum geworden, das die unmittelbare
nicht einem regulierenden Angleichen
Sekunde durch Eadweard Muybridge,
Gegenwart und die Kommunikation in
unterworfen werden.
anderseits das simultane Ablichten ei-
Echtzeit feiert und Verfügbarkeit zur
Gleichzeitigkeit ist Teil des Beschleu-
nes
Maxime erklärt. In der Kunst lassen sich
nigungsparadigmas2 der Moderne. Der
durch Étienne-Jules Marey, stellten der
zahlreiche Strategien ausmachen, die
Geschwindigkeitsdruck der modernen
gewöhnlichen
diesem Diktum Anti-Ökonomien der
Gesellschaft, der durch die technischen
nehmung Verfahren entgegen, die eine
Zeit entgegensetzen und hierdurch der
Entwicklungen und sozialen und kul-
neue, nur technisch mögliche Sichtbar-
Wirtschafts- als auch Kommunikations-
turellen Veränderungsraten enorm ge-
keit erzeugten. Physikalische Zeitmo-
logik entsagen und Reflexionsräume er-
steigert wurde und wird, drängt auf ein
delle der Relativität nach Albert Einstein
öffnen. Künstlerische Simultaneitätsef-
Handeln und Wirken in Echtzeit, das im
und der Raumzeit nach Hermann Min-
fekte, De-Synchronisationen und Ereig-
Phänomen der Gleichzeitigkeit seine
kowski enthoben die Zeit endgültig ihrer
nishaftigkeit bieten Zeitmodelle, die der
strukturelle und epistemologische Form
seit Isaac Newton allgemein zugespro-
Funktionalisierung,
sukzessiven
Bewegungsablaufes
menschlichen
Wahr-
erhalten hat.
chenen Absolutheit. In der Philosophie
Synchronisation und permanenten Ver-
Um ein gegenwärtiges Verständnis die-
nahmen William James, Henri Bergson
fügbarkeit zu entkommen scheinen.
ser Begriffe für die Kunst herauszuar-
und später Martin Heidegger die zeit-
Der Begriff der Gleichzeitigkeit wurde
beiten, ist es wichtig, ihre Grundlagen
theoretischen Überlegungen Gottfried
in der Moderne zum Losungswort, um
in der Moderne zu umreißen und die
W. Leibniz’ und Immanuel Kants auf
einen zentralen Impuls der urbanen Le-
konzeptuellen Verschiebungen der Ter-
und entwarfen Gegenmodelle subjekti-
benswelt, der Bedeutung der neuen in-
mini im Verlauf des 20. Jahrhunderts zu
ver Zeitwahrnehmung, die in den phy-
dustriellen und kommunikativen Tech-
skizzieren.
sikalischen
Gleichschaltung,
niken und der bahnbrechenden Einsich-
Positionen
unterminiert
schienen und das Gewicht vor allem
ten der Zeittheorie in Philosophie und
Gleichzeitigkeit und Simultaneität
auf ein Erleben und Wahrnehmen der
Physik zusammenzufassen. Innerhalb
in der Moderne
Zeit und das Sein richteten. Der urbane
dieses Gleichzeitigkeitsparadigmas der
Die technischen Errungenschaften als
Alltag war durch die reizüberflutende
Moderne setzen sich allerdings Syn-
auch wissenschaftlichen Erkenntnisse
Pluralität von Handlungen, heteroge-
chronisation und Simultaneität als be-
gegen Ende des 19. und Anfang des 20.
nen Lebensentwürfen und geteilten Ar-
sondere und differente Konzepte ab. So
Jahrhunderts führten zu paradigmati-
beitsabläufen geprägt. Diese Situation
beschreibt die Synchronisation einen
schen Veränderungen im Zeitverständ-
zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurde
Modus, der gleichzeitig Auftretendes
nis und waren mit dafür verantwortlich,
in Wirtschaft, Wissenschaft und Kunst
gleichschaltet
und vereinheitlichend
dass das Nachdenken und Veranschauli-
gleichsam zu bewältigen versucht, aber
zusammenzieht, zugunsten einer bes-
chen der Zeit in den Fokus der künstleri-
auf grundlegend unterschiedliche Weise
seren und schnelleren Nutzbarkeit und
schen Avantgarden rückte.
bearbeitet.
Ökonomisierung.
Die Entwicklungen in der Fotografie
Die durch Paul Cézanne und den Im-
1
Simultaneität
hin-
gegen steht für eine Einheit disparater 1 Für eine genauere Ausführung und ideengeschichtliche Herleitung vgl. Hubmann/ Huss 2013.
32
2 Eine tiefgehende Analyse dieses Paradigmas bietet Hartmut Rosa, der alle Temporalstrukturen der Moderne auf die Beschleunigung zurückführt. Vgl. Rosa 2005.
pressionismus angestoßene perzeptionstheoretische Wende bildet neben der subjektivistischen Zeitphilosophie, den
CRITICA–ZPK I/ 2014
neuen physikalischen Zeitmodellen und
Gleichzeitigkeit und Simultaneität
Bedeutung der Gleichzeitigkeit und
der fototechnischen Entwicklung der
in der Nachmoderne
Simultaneität im Verlauf des 20. Jahr-
„Chronophotographie“ von Muybridge
Im Zuge einer Kontrolle und Nutzbar-
hunderts. Neue Medien schaffen in der
und Marey einen entscheidenden Teil
machung des modernen Phänomens der
Gegenwart ganze „Zeitfelder“, die sich an
des historischen und theoretischen Kon-
Gleichzeitigkeit wurden Synchronisati-
der Stelle des Zeitpunktes auf der line-
textes, aus dem heraus die avantgardisti-
onsstrategien und -techniken etabliert.
aren Zeitachse bewegen (vgl. Großklaus,
schen Experimente der Darstellung von
Niklas Luhmann grenzt in seinem Ge-
1995, 24). Die Moderne wird gerade auch
Zeit entstanden. Der Kubismus brach
sellschaftsmodell die Synchronisation
durch die medialen Zeitkonzepte zu ei-
durch die Mehransichtigkeit von Ge-
von der Gleichzeitigkeit ab, indem er
nem Zeitalter der Polychronie, der Plu-
genständen in einer fragmentarischen
ihr die Funktion eines Kontrollmecha-
ralität von Zeitmodellen: Mit den neu-
Aufsplitterung
Wahrnehmungs-
nismus der gleichzeitig auftretenden
en Medien Fotografie und Film tritt die
eindrücke mit der traditionellen Zent-
Phänomene zuschreibt (vgl. Luhmann,
Zeit aus der Unanschaulichkeit heraus.
ralperspektive und bildet den histori-
1990). Zugleich Auftretendes aber Dis-
Anders als die Musik bemächtigen sich
schen Grundstein für die künstlerischen
parates könne durch Synchronisation
die neuen medialen Künste der Zeit, um
Darstellungen von Gleichzeitigkeit zu
vereinheitlicht und Risiko somit abge-
der neuen modernen Erfahrung der Si-
Beginn des 20. Jahrhunderts. Simulta-
baut werden. Dieses Konzept der Syn-
multaneität Ausdruck zu verleihen – um
neität wurde zum Schlagwort des Futu-
chronisation entwirft eine Ökonomie
das Unanschauliche des Zeiterlebens an-
rismus.3 Auf die urbane und moderne
der Gleichzeitigkeit, indem sie Diffe-
schaulich werden zu lassen – und um die
Dynamik und Geschwindigkeit der Le-
renz zugunsten der Nutzbarkeit und
Abwesenheit von Vergangenheit- oder
benswelt reagierend, erklärte Umberto
Verwertbarkeit reduziert. In einer me-
Zukunftszuständen in Anwesenheit zu
Boccioni in seinen futuristischen Mani-
dientheoretischen Begrifflichkeit prä-
überführen (Großklaus, 1995, 30).
festen Simultaneität zur Grundlage der
sentiert Friedrich Kittler das verwand-
künstlerischen Arbeit und Darstellung
te Modell der technisch induzierten
Mit den medialen Neuerungen seit Mitte
der universellen Dynamik (vgl. Boccio-
Gleichschaltung (vgl. Kittler, 1998). Syn-
des 20. Jahrhunderts gingen stets künst-
ni 1914, 159). Ebenso ist in den Collagen
chronisation und Gleichschaltung sind
lerische Aufarbeitungen und Neuinter-
von Hannah Höch und dem Polykino
Teil des Gleichzeitigkeitsparadigmas,
pretationen einher. Die Entwicklungen
von Laszlo Moholy-Nagy am Bauhaus
das den Fokus verstärkt auf die Gegen-
der Videotechnik aufgreifend, arbeiteten
und der subjektivistischen teils parodis-
wart richtet. Kommunikation und Ver-
zahlreiche Künstler wie Nam June Paik,
tischen Aneignung der atomisierten Le-
arbeitung können durch die technischen
Wolf Vostell, Beryl Korot, Friederike
benswelt im Dadaismus eine Auffassung
Entwicklungen des 20. Jahrhunderts
Pezold und viele weitere in den 1970er
von Simultaneität auszumachen, die in
auf vielen Feldern nahezu bis gänzlich
Jahren mit Videoskulpturen und Moni-
ihr einen Gegenbegriff zur Synchroni-
in Echtzeit ablaufen. Einer Notiz von
torwänden, welche die gleichzeitige Prä-
sation formuliert. Die Simultaneität der
Ulrich Schacht folgend, der die Transpa-
sentation unterschiedlicher Aufnahmen
künstlerischen Avantgarden bejaht die
renz als neues Wort für Gleichschaltung
ermöglichen, die oftmals bewusst so
ausufernde und risikohafte Pluralität
sieht, beschreibt Byung-Chul Han unse-
konzipiert wurden, als seien die unter-
der modernen Lebenswelt, indem sie
re heutige „Transparenzgesellschaft“ als
schiedlichen Sequenzen doch zu einer
für eine Einheit einsteht, die Disparates
eine „Hölle des Gleichen“, die unter dem
eigenwilligen Einheit zusammengefügt
nicht angleicht sondern als Verschiede-
modernen Beschleunigungsdruck steht
worden. Gleichzeitigkeit tritt hierbei als
nes nebeneinanderstellt. Über die Ma-
und Kommunikation derart einebnet,
epistemologisches Phänomen der Über-
lerei und Plastik hinaus wurden durch
dass nur noch „das Gleiche auf das Glei-
lagerung von Wahrnehmungsebenen
die futuristischen Performances und
che antwortet“, um die Geschwindigkeit
oder als Simultaneität heterogener, aber
das Polykino am Bauhaus Modelle der
der Abläufe zu erhöhen (Han 2013, 6f.).
einheitlich präsentierter Sinneseindrü-
Gleichzeitigkeit und Ereignishaftigkeit
In den Medien Film und Fernsehen lässt
cke auf. In den vielschichtigen Variatio-
entworfen, die den Grundstein für viele
sich Gleichzeitigkeit noch stärker mit
nen der Überführung der zuvor singulä-
Auseinandersetzungen mit der Darstell-
der Dynamik und Geschwindigkeit der
ren Ausstrahlung in Mehrkanalpräsen-
barkeit von Zeit im Laufe des 20. Jahr-
Lebenswelt verbinden, so Götz Groß-
tationen scheint die Zeit des Bewegtbil-
hunderts lieferten.
klaus. Die neuen Anschauungs- und
des auf den Raum übertragen worden
3 Für eine präzise Darlegung des avantgardistischen Diskurses um den Begriff der Simultaneität vgl. Coen 2009.
auch Konzeptualisierungsmodelle die-
zu sein (vgl. Decker 1989). Hieraus er-
ser Medien steigern zunehmend die
geben sich völlig neue Möglichkeiten
der
33
CRITICA–ZPK I/ 2014
der Wahrnehmung wie beispielsweise
angeleitete Wahrnehmungssituationen
auflöst und einen bewussten reflexiven
die Überführung des einheitlichen per-
zu gestalten, in denen sich medial ver-
Umgang mit ihm erzwingt. So sieht Jörg
spektivischen Feldes der Augen in eine
mittelte ortsbezogene Narration, reine
Heiser in der komplexen Überkreuzung
Multidirektionalität
unterschiedlicher
Fiktion und der reale visuelle Eindruck
von physischen und psychischen Ebe-
Kameraeinstellungen, die dem Betrach-
der Umwelt überlagern. Die Simultane-
nen in den Arbeiten von Cardiff und
ter als scheinbar einheitliches Bild über
ität der verschiedenen Wahrnehmungs-
Miller „die Chance der Kunst, der alltäg-
mehrere Monitore präsentiert wird, wie
ebenen und deren teils verstörendes
lichen Erfahrung der Überlagerung von
es Gary Hill exemplarisch in seiner Ar-
Zusammenwirken machen die Dimen-
physischen und medialen Wirklichkei-
beit Crux von 1983-87 vorführte.
sionen der Beeinflussbarkeit unserer ei-
ten eine reflexive und zugleich konkret
genen Wahrnehmung durch technische
erfahrbare Form zu geben“ (Heiser 2005,
De-Synchronisation
Medien deutlich.
19).
Gegenüber der Heterogenität, die in
Besonders in Alter Bahnhof Videowalk auf
Strategien der De-Synchronisation kon-
den simultaneistischen Verfahren vom
der Documenta 13 von 2012 nutzten sie
frontieren den Rezipienten mit dem
Kubismus bis zur Videokunst zum Aus-
gezielt Formen der De-Synchronisation,
Spannungsverhältnis von Kontrolle und
druck gebracht wurde, setzten sich zahl-
um Wahrnehmungsirritationen zu er-
Kontrollverlust, einerseits durch Irri-
reiche Künstler in den 1960er und 1970er
zeugen. Der Besucher wurde über einen
tationen und grobe Störungen der Ori-
Jahren mit einer zeitlichen Differenz, ei-
Kopfhörer von der Stimme Janet Cardi-
entierung im eigenen realen Wahrneh-
ner Diastase auseinander, die gezielt die
ffs angewiesen, den erhaltenen iPod in
mungsfeld, andererseits als Aufheben
Synchronisation der Medien aufbricht.
der Weise vor sich zu halten, dass sich
der Kontrollfunktionen der Überwa-
Indem die technische Gleichschaltung
das dort laufende Video genau in das
chungstechnik durch Zeitverschiebun-
von Bild und Ton oder von Realität und
eigene Sichtfeld einfügt. So verlangten
gen.
deren Aufnahme durch eine Verschie-
Cardiff und Miller eine rudimentä-
bung beider Ebenen gestört wird, wer-
re Synchronisation von vorhandenem
Kuratorische Ökonomien der
den die technisch-medialen Mechanis-
Material und realer Situation, die sie
Gleichzeitigkeit
men bewusst erfahrbar. Diese neue Er-
dann durch gezielte Störung aufbrechen
Natürlich hält das Gleichzeitigkeitspa-
fahrung kann einen ästhetischen Mehr-
konnten. Der Anweisung Cardiffs fol-
radigma auch verstärkt Einzug in die
wert darstellen. So griff Bruce Nauman
gend, versuchte der Besucher stets, den
kuratorische Praxis, die sich mit der glo-
in die Liveübertragung der Closed-Cir-
Wahrnehmungsraum des Videos in sein
balisierten Kunstwelt auseinandersetzt
cuit-Systeme ein, wie sie in der Überwa-
eigenes Wahrnehmungsfeld einzuglie-
bzw. auseinandersetzen muss. Exem-
chungstechnik benutzt werden, und leg-
dern, um einen einheitlichen, kontinu-
plarisch stehen hierfür die Reaktionen
te durch eine De-Synchronisation von
ierlichen Raum zu erzeugen. Die räum-
der Documenta als Großausstellung der
Aufnahme und Wiedergabe die mediale
liche Kontinuität wird allerdings durch
Gegenwartskunst auf einen Umgang
Bedingtheit unserer durch Videotech-
die Ereignisse auf dem Display und um
mit globalem Raum und globaler Zeit
nik unterstützten Wahrnehmung offen.
den Betrachter herum gestört, da sie
ein. So sprengte Okwui Enwezor mit der
Dan Graham trieb die Differenz der De-
sich nicht über die Grenzen der Wahr-
Documenta 11 im Jahre 2002 den raum-
Synchronisation in seiner Installation
nehmungsfelder fortsetzen. So beginnt
zeitlichen Rahmen, indem er – statt von
Present Continous Past(s) von 1974 bis zum
man, Passanten auszuweichen, die le-
einer Ausstellung über 100 Tage mit be-
Exzess, indem er in den Aufnahmebe-
diglich auf dem Display erscheinen. Die
gleitenden Veranstaltungen – von einem
reich Spiegel einbaute und die zeitlich
scheinbare räumliche Kontinuität macht
Gefüge von fünf „Plattformen“ ausging,
versetzt abgespielten Sequenzen durch
die zeitliche Diskontinuität der Ereig-
die sich über verschiedene Felder (das
die hierdurch entstehende Rückkopp-
nisse zu einer irritierenden Störung der
Politische, das Juristische, das Geogra-
lung bis ins Unendliche laufen ließ.
eigenen Realitätserfahrung. Zeit und
fische und die Ausstellung im globalen
Janet Cardiff und George Bures Mil-
Raum scheinen keine homogene Einheit
Kontext), verschiedene Zeiten (die erste
ler verlagerten ihre Strategie der De-
mehr zu bilden.
Plattform begann bereits im Jahre 2001)
Synchronisation bzw. Simultaneität aus
Die sonst für eine reibungslose und rein
und verschiedene Orte (Wien, Neu Delhi,
dem Ausstellungsraum hinaus in den
funktionale Nutzung entwickelten tech-
Berlin, Santa Lucia, Lagos und Kassel)
Alltag. In ihren bereits 1991 begonnenen
nischen Medien werden in derartigen
erstreckten. Das Hier und Jetzt der Groß-
Audiowalks machten sie sich die mobi-
Werken in eine Form überführt, welche
ausstellung in Kassel wurde im Zuge
le Technik der Walkmans zu nutze, um
die reine Transparenz des Mediums
einer Reaktion auf die Globalisierung
34
CRITICA–ZPK I/ 2014
in seiner räumlichen und zeitlichen Ex-
chronisation und Gleichschaltung eine
unter dem Ausdruck „relational aest-
pansion gesteigert. Dennoch folgen die
wirtschaftliche Entsprechung bekom-
hetics“ (Bourriaud 1998) summierten
Plattformen in ihrer zeitlichen Abfolge
men hatte, äußert sich nicht ausschließ-
Kunst, die in der zwischenmenschlichen
einem linearen Konzept der Zeitlichkeit.
lich in einer als homogen wahrnehmba-
Interaktion die Materialität der Werke
Das Hier und Jetzt bleibt als singuläre Ein-
ren Zeitlichkeit. Der technischen Eineb-
sieht und den Aspekt der leiblichen Ko-
heit bestehen, bewegt sich aber um den
nung von zeitlichen Dissonanzen steht
Präsenz von Akteuren und Zuschauern
Globus.
eine subjektive Wahrnehmung gegen-
auf eine ontologische Ebene verlagert.
Einen entscheidenden Schritt in der
über, der sich Zeitlichkeit immer auch
Gleichzeitigkeit wird in den Werken
Verhandlung neuer Zeitkonzeptionen
als „uneben“ präsentiert, wie Enwezor in
Sehgals zur grundsätzlichen Bedingung
ging schließlich Carolyn Christov-Ba-
seinem Einleitungstext zur Documenta
des Werkstatus’, denn nur in der gleich-
kargiev mit der Documenta 13 im Jahr
11 in Bezug auf die Globalisierung be-
zeitigen Anwesenheit von Interpreten
2012, indem sie sich von der linearen
reits konstatierte:
und Betrachtern kann es sich temporär
Zeitlichkeit der Ausrichtung der Groß-
konstituieren. Sehgals konsequente und
ausstellung zugunsten einer Gleichzei-
„Die meisten Definitionen von Globa-
radikale Verweigerung anderer Formen
tigkeit verabschiedete. Die Ausstellung
lisierung zeichnen sich unter anderem
der „Materialisierung“ unterstreicht die
fand gleichzeitig an vier Orten – Kassel,
dadurch aus, dass sie den Begriff per-
Bedeutung der Flüchtigkeit seiner Ar-
Kabul, Alexandria/Kairo und Banff –
manent in den phänomenologischen
beiten. So sangen die Interpreten von
statt und vervielfachte ihr Hier und Jetzt.
Sphären von Räumlichkeit und Zeit-
This is so contemporary auf der Biennale
Zwar fügt sich dieses Konzept auch in
lichkeit ansiedeln zum Zwecke seiner
in Venedig 2005 auch den Namen des
die Informationslogik einer totalen
Disziplinierung innerhalb der kalten
Künstlers, den Titel der Arbeit und so-
Verfügbarkeit durch die Medien ein, da
Logik mathematischer Analyse von
gar das Copyright der Galerie, um auf
wir jederzeit Ausstellungsansichten der
Kapitalproduktion und -akkumula-
ein Schild mit Angaben als materiellen
verschiedenen Orte abrufen und wahr-
tion und ökonomischer Rationalisie-
Teil des Werkes zu verzichten. Selbst
nehmen konnten, doch zeigt die Wahl
rung [. . .]. Dass die kumulativen Effek-
Kaufverträge werden zwischen ihm und
der entlegenen Orte, dass der mediale
te und Prozesse der Globaliserung als
den Kunden als „oral contract“ (Obrist /
Zugriff nicht mit einem physischen Zu-
Mediatisierung und Repräsentationen
Sehgal 2003, 53) geschlossen. Die Flüch-
gang gleichgesetzt werden kann.
von Räumlichkeit und Zeitlichkeit zu
tigkeit der Werke Sehgals liegt in ihrer
Christov-Bakargiev richtete mit den
verstehen seien, legt auch noch ein
ereignishaften Produktion, die bereits
verschiedenen Ausstellungsorten ein
weiterer Aspekt nahe: Einerseits be-
die „Deproduktion“ (Umathum 2011,
Konzept von Gleichzeitigkeit ein, das
seitige die Globalisierung große Dis-
120) als intrinsische Bedingung enthält.
sich faktisch äußerte, von den Besu-
tanzen, andererseits lasse sich Zeit-
Keine Aufnahmen, Dokumentationen,
chern aber nur medial bzw. abstrakt
lichkeit bestenfalls als uneben erfah-
noch Verträge können diese Deproduk-
nachvollzogen werden konnte. Der nicht
ren“ (Enwezor 2012, 44).
tion relativieren. Die radikale „Demate-
gänzlich risikofreie Besuch der Orte der
rialisierung“ (Lippard / Chandler 1968
Documenta 13 – so das von Unruhen ge-
Ereignishaftigkeit
und Lippard 1973 als Negation des Ob-
zeichnete Kabul in Afghanistan – zeigte
Auf der Docmenta 13 stand ein Beitrag
jekts) des Kunstwerks bei Sehgal, macht
dem Rezipienten die Diskrepanz zwi-
besonders für eine künstlerische Öko-
die Zeit zum zentralen Aspekt seiner
schen medialer Schau und leiblicher
nomisierung der Zeit ein: In einen ab-
Ontologie, seiner Seinsweise. Zudem
Präsenz. Dieser Umstand lässt eine Les-
gedunkelten Raum stellte Tino Sehgal
benutzt Sehgal bewusst nicht den Be-
art zu, nach der die Documenta von 2012
die Interpreten (wie er die Protagonis-
griff „Performance“, um sich von klas-
ein Exempel für die Wahrnehmung und
ten seiner Arbeiten nennt) als anonyme
sischen Konnotationen wie dem Bezug
Wahrnehmbarkeit des globalen Kunst-
und nicht ausmachbare Beteiligte un-
zum Künstlersubjekt in der Body Art zu
geschehens
Zusammengedachtes
ter die Besucher und ließ sie inmitten
vermeiden. Diese Distanzierung ist für
kann nicht immer zusammen präsent
der Menge einen Dialog führen. Sehgal
eine zeittheoretische Diskussion der Ar-
sein, sondern nur in einer medienin-
inszenierte seine Arbeit als temporäre
beiten Sehgals besonders virulent, da sie
duzierten Gleichzeitigkeit zusammen
zwischenmenschliche Interaktion, die
sich bereits durch ihre Wiederaufführ-
repräsentiert werden. Das Gleichzeitig-
genauso abrupt wieder abbrach wie sie
barkeit von der ereignishaften Singu-
keitsparadigma der Moderne, das in der
begann. In derartigen Werken formu-
larität als klassische Selbstbegründung
kommunikativen und logistischen Syn-
liert er den Inbegriff der mittlerweile
der Performance Art wegbewegt (vgl.
ist.
35
CRITICA–ZPK I/ 2014
Umathum 2011, 128-134). Hierbei kann
The Artist is present bot totale temporale
the encroaching ideologies of capital
die radikale Dematerialisierung seiner
Verfügbarkeit bei einer gleichzeitigen
and reproduction, it frequently deva-
Arbeiten allerdings als Bestreben gese-
absoluten kommunikativen Verweige-
lues this strength“ (Phelan 1993, 149).
hen werden, trotz Aufgabe der Singula-
rung.
So entkommt die Performance Kunst
rität an einer jeweiligen Ereignishaftigkeit
Noch vor zwanzig Jahren sah Peggy Phe-
dem wirtschaftlichen System nicht nur,
festzuhalten.
lan in der Ereignishaftigkeit ein wesent-
indem es auf reine Präsenz und Singu-
Die Frage nach der Dokumentierbarkeit
liches Kriterium der Performance:
larität pocht. Phelans Diktum der Nicht-
und deren Bedeutung für die Seinsweise von Performances hat besonders seit den großen Ausstellungen von Marina Abramovic im vergangenen Jahrzehnt an Virulenz gewonnen. Bereits 2005 stellte Abramovic die Frage nach der Singularität von Performances als sie in Seven Easy Pieces im Guggenheim Museum wichtige historische Performances wiederaufführte. Entgegen der üblichen dokumentarischen Aufbereitung versuchte sie, die Performances wiederzuholen und war danach sogar
Wiederholbarkeit mag auf einer grund„Performance’s only life is in the present. Performance cannot be saved, recorded, documented, or otherwise participate in the circulation of representations of representations: once it does so, it becomes something other than performance. To the degree that performance attempts to enter the economy of reproduction it betrays and lessens the promise of its own ontology. Performance’s being, like the ontology of subjectivity proposed here, becomes itself through disappearance“ (Phelan 1993, 146).
legenden Ebene angemessen sein – da kein Ereignis in seiner Wiederholung identisch auftreten kann4 –, doch haben Künstler Strategien entwickelt, sich dem wirtschaftlichen System nicht zu entziehen und dennoch nicht die konventionellen Ökonomien der Dinghaftigkeit und des Umgangs mit Zeit zu übernehmen. So bietet beispielsweise Sehgal seine Kunst zwar als Ware an, fügt sich aber nicht gänzlich den gängigen Methoden des Kunstmarkts, der performative, konzeptuelle oder allgemein dema-
von der Wiederholbarkeit einiger Arbeiten überzeugt: „Ich erkannte, dass man
Es scheint, als würden die Werke von
terialisierte Werke über Verträge oder
Vergangenes wiederaufnehmen kann,
Tino Sehgal und Marina Abramovic die
Zertifikate an konkrete Objekte in Form
dass sich dabei neue Ideen auftun und
Einhaltung dieses Diktums gezielt un-
von Dokumenten bindet. Sehgals Arbei-
dass manche Performances tatsächlich
terwandern. Längst hat sich der nor-
ten existieren dennoch rein ereignishaft
wiederholbar sind“ (Schlenzka 2009,
mative Anspruch Phelans als obsolet
zum Zeitpunkt ihrer jeweiligen Produk-
45). Eine Erkenntnis, die der Einzigar-
erwiesen angesichts des vielschichtigen
tion durch die Interaktion zwischen den
tigkeit von Performances als Ereignis-
Hinterfragens eben dieser reinen Prä-
Interpreten und den Besuchern. Trotz
se in der Zeit gegenübersteht. In ihrer
senz der Performance. Abramovics Ret-
der Marktfähigkeit lässt Sehgal seine Ar-
großen Retrospektive im MoMA 2010
rospektive stellt ihren sehr reflektierten
beiten nicht marktförmig werden.
setzte sie diese Strategie fort und ließ
und differenzierten Umgang mit der
ihre eigenen Performances der letzten
reinen Präsenz unter Beweis, indem sie
Anti-Ökonomien der Zeit
Jahrzehnte von anderen Darstellern auf-
durch ihre ‚objekthafte Anwesenheit’ die
Die angeführten künstlerischen Positio-
führen. Diesen Wiederholungen fügte
Einzigartigkeit des Augenblicks hinter-
nen entziehen sich auf unterschiedliche
sie durch ihre permanente Anwesenheit
fragt: „Die Performance wird mehr wie
Weise den konventionellen Ökonomi-
in The Artist is present einen konzeptuel-
ein Gemälde oder eine Skulptur, sie ist
en der Zeit und den dahinterstehenden
len Gegenpol hinzu: Die ganze Ausstel-
jederzeit für einen da“ (Schlenzka 2009,
Auffassungen von Verfügbarkeit und
lungszeit über saß sie an einem Tisch,
45).
Instrumentalisierbarkeit. Der Begriff
an dem die Besucher auch Platz nehmen
Sehgals und Abramovics kritisches
der Anti-Ökonomie beweist hierbei einen
konnten. Hierdurch war sie präsent und
Verhandeln der Ereignishaftigkeit von
ambivalenten, wenn nicht gar strittigen
nur präsent, denn sie blickte starr ge-
Performances zeigt, dass eine Unter-
und sehr wertenden Charakter. Die be-
radeaus. Der Besucher konnte sich zur
wanderung dieser nicht gleich den Ver-
schriebenen Strategien im Umgang mit
Künstlerin setzen, aber nicht mit ihr in
lust ihrer Autonomie gegenüber den
der Zeit lassen sehr deutlich eine indivi-
Interaktion treten. Abramovic führte
wirtschaftlichen Ökomonien der Zeit
duelle Ökonomisierung der Zeit erken-
die sonst so geschätzte und immer an-
bedeuten muss, wie es Phelan kons-
nen. Erst in der Konfrontation mit den
gekündigte Präsenz des Künstlers zur
tatiert: „Performance‘s independence
wirtschaftlichen und konventionellen
Ausstellung(seröffnung) ad absurdum,
from mass reproduction, technologi-
technisch-medialen Modellen der Zeit-
indem sie der Zeit ihrer Anwesenheit
cally, economically, and linguistically,
jede Exklusivität und Flüchtigkeit nahm.
is its greatest strength. But buffeted by
36
4 Diese Erkenntnis hat bereits eine lange Tradition von Kierkegaard bis Derrida.
CRITICA–ZPK I/ 2014
Ökonomisierung werden sie zu Antipo-
Ästhetischen einer utopisch umrisse-
keit in Abgrenzung zur Mediatisierung
den der „gängigen“ Konzepte.
nen Zukunft zuwandte, scheint er in der
der Performance Kunst setzt. Liveness ist
Je nach Interpretationsfolie bewegen
zweiten Hälfe des 20. Jahrhunderts einer
nicht direkt übersetzbar, da der Begriff
sich die besprochenen künstlerischen
semantischen Verschiebung unterzogen
nicht mit dem deutschen Verständnis
Positionen zwischen ästhetischer Refle-
worden zu sein. Daher gilt es für unse-
von „Live“ und seinen televisionären
xion und ideologischer Subversion. Das
re Zeit besonders eine Bestimmung von
Konnotationen übereinstimmt, sondern
Suffix „Anti“ dient hierbei als Verweis
Simultaneität vorzunehmen, die den
„Live“ in einem retronymen Verständnis
auf den Umstand, dass die künstleri-
Begriff von seinen Konnotationen als
(wie etwa bei „unplugged“) entgegen der
schen Modelle der Ökonomisierung der
modernistisches Reizwort löst und ihn
Mediatisierung auf die ursprüngliche
Zeit stets in Bezug zu den konventionel-
vor dem Hintergrund einer Kunst-, Wis-
Unmittelbarkeit des Ereignisses hin-
len Modellen gesehen werden müssen.
senschafts- und Wirtschaftswelt reflek-
weist.7 Der künstlerische Umgang mit
Das Anti beinhaltet in dieser Gegenüber-
tiert, die sich vom Anspruch einer uni-
und das diskursive Verhandeln von Live-
stellung sowohl ästhetische Differenz,
versalistischen Einheit verabschiedet
ness stellt unter Beweis, dass der Ereig-
künstlerische Aneignung, medienrefle-
hat. Für diese Neubestimmung können
nishaftigkeit in der Performance Kunst
xive Subversion als auch ideologische
die diskutierten künstlerischen Strate-
bereits ein kritisches nachmodernes
Opposition.
gien als Seismographen einstehen. Der
Denken eingeschrieben ist.
Mehrere Momente einer Lesbarkeit
Begriff der De-Synchronisation hinge-
dieser Anti-Ökonomien können aus-
gen geht nicht auf ein frühes avantgar-
gemacht werden, die unterschiedlich
distisches Verständnis zurück, sondern
stark an den Gedanken eines autonomen
setzt direkt bei den technischen Gleich-
Umgangs mit Zeit anknüpfen: (1) in der
schaltungen der medialen Synchroni-
Kunst werden alternative Umgänge mit
sationsverfahren an, die beispielsweise
den konventionellen Praktiken der Zeit
durch die Fernseh- und Videotechnik in
erprobt, die durch ihre Differenz die
die Alltagswelt eindrangen. Ereignishaf-
Mechanismen der etablierten Modelle
tigkeit wurde besonders in der Perfor-
bewusstmachen und somit die Mög-
mance Kunst Mitte des 20. Jahrhunderts
lichkeit ihrer Reflexion eröffnen, (2) die
als Differenzkriterium eingesetzt, um
künstlerischen Strategien bieten neue
sich vom Theater abzugrenzen und die
Konzepte des Umgangs mit Zeit, die als
Geltung als eigenständige Kunstform
ästhetische Neuentwürfe neben die kon-
zu behaupten.5 Die „singuläre Darbie-
ventionellen Praktiken treten, (3) die
tung“ (Umathum, 2011, 131) galt als Au-
künstlerischen Modelle sind Subversi-
tonomieanspruch gegenüber der Wie-
onen, welche die etablierten Varianten
deraufführbarkeit von Theaterstücken.
der Zeitökonomisierung unterwandern
Neuere
und im Bereich des Ästhetischen aus-
entgegen den Legitimationsansprüchen
schalten sollen.
der frühen Performance Kunst bewusst
Performances
hinterfragen
die Singularität des Ereignisses als notGeltung und Aktualität der Begriffe
wendiges Kriterium von Performances,
In dem Begriffsnetzwerk Simultaneität-
so sieht Marvin Carlson besonders in
Synchronisation-De-Synchronisation-
der „liveness“ von Performances einen
Ereignishaftigkeit scheinen Dimensi-
Bereich der postmodernen Destabilisie-
onen des modernen Gleichzeitigkeits-
rung.6 Der Begriff der Liveness kann da-
paradigmas auf, die für die Diskussion
hingehend als Zäsur im Diskurs gesehen
künstlerischer Strategien der Ökonomi-
werden, als dass er die Ereignishaftig-
sierung von Zeit besonders virulent sind. Während der Begriff „Simultaneität“ in den Avantgarden für ein modernistisches Denken einstand, das sich durch revolutionäre Neuformulierungen des
5 Vgl. Goldberg 1995, S. 7-9, zum Verhältnis der Performance Art zu theatralen Formen der Avantgarde vgl. Goldberg 1995 und bes. Carlson 2004. 6 Carlson 2004, S. 132, Carlson übernimmt den Begriff „liveness“ von Austerland 1999.
Literatur Austerland, Philip: Liveness, London 1999. Bourriaud, Nicolas: Relational Aesthetics, Dijon 1998. Boccioni, Umberto: Futuristische Malerei und Plastik: (bildernischer Dynamismus), Hrsg. v. Astrit Schmidt-Burkhardt, ital. Org. v. 1914, Dresden 2002. Carlson, Marvin: Performance. A critical Introduction, Org. v. 1996, New York u.a. 2004. Coen, Ester: Simulaneity, Simultaneism, Simultanism, in: Futurism, Hrsg. v. Centre Pompidou, fr. Org. v. 2008, Paris u.a. 2009, S. 52-57. Decker, Edith: Zum Raum wird hier die Zeit – Einige Aspekte der Videoskulptur, in: VideoSkulptur. Retrospektiv und aktuell 1963-1989, Hrsg. v. Wulf Herzogenrath und Edith Decker, Köln 1989, S. 51-55. Enwezor, Okwui: Die Black Box, in: Documenta 11_Plattform 5: Ausstellung. Katalog, Ostfildern-Ruit 2002, S. 42-55. Fischer-Lichte, Erika: Ästhetik des Performativen, Frankfurt am Main 2004. Goldberg, RoseLee: Performance Art. From Futurism to the Present, Org. v. 1979, neue Edition, London 1995. Großklaus, Götz: Medien-Zeit, MedienRaum. Zum Wandel der raumzeitlichen Wahrnehmung in der Moderne, Frankfurt am Main 1995. 7 Vgl. hierzu die erhellenden Ausführungen von Erika Fischer-Lichte 2004, S. 114-126, die Phelan und Austerland in Bezug auf die Differenz zwischen Liveness und medialer Reproduktionen einer kritische Revision unterzieht.
37
Han, Byung-Chul: Transparenzgesellschaft, Berlin 2013. Heiser, Jörg: Imagination: das Making-Of, in: The Sectred Hotel, Janet Cardiff + George Bures Miller, hrsg. v. Eckhard Schneider anlässlich der Ausstellung The Secret Hotel, Janet Cardiff + George Bures Miller, 26.11.2005 bis 15.01.2006 im Kunsthaus Bregenz, Köln 2005, S. 10-21. Hubmann, Philipp und Huss, Till Julian: Das Gleichzeitigkeitsparadigma der Moderne, in: Simultaneität. Modelle der Gleichzeitigkeit in den Wissenschaften und Künsten, hrsg. v. Philipp Hubmann und Till Julian Huss, Bielefeld 2013, S. 9-36. Kittler, Friedrich: Gleichschaltungen. Über Normen und Standards der elektronischen Kommunikation, in: Geschichte der Medien, hrsg. v. Manfred Faßler, Wulf R. Halbach, München 1998, S. 255-268. Lippard, Lucy und Chandler, John: The Dematerialization of the Art, in: Art International 1968. Lippard, Lucy: Six Years. The Dematerialization of the Art Objects from 1966 to 1972, New York u.a. 1973. Luhmann, Niklas: Soziologische Aufklärung 5, Wiesbaden 1990. „Round Table: Live is life“, Jenny Schlenzka im Interview mit Marina Abramovic, Adam Pendleton und RoseLee Goldberg, in: Monopol, 2009 Nr. 11, S. 43-47. Phelan, Peggy: Unmarked. The Politics of Performance, New York u. a. 1993. Rosa, Hartmut: Beschleunigung. Die Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne, Frankfurt am Main, 2005. Umathum, Sandra: Kunst als Aufführungspraxis, Bielefeld 2011. „Hans Ulrich Obrist interviews Tino Sehgal“, in: Kunstpreis der Böttcherstraße in Bremen, hrsg. v. d. Kunsthalle Bremen, Bremen 2003, S. 50-55.
Künstlerpositionen Zeit Video Installation Fotografie Malerei
CRITICA–ZPK I/ 2014
Darren Almond
Darren Almond, der sein Studium in den 1990er Jahren an
halbiert und zu potentiell unendlichen Zahlenreihen kombi-
der Winchester School of Art in England absolvierte, arbei-
niert werden, stehen Zeit und Bewegung maßgeblich im Fokus.
tet mit unterschiedlichen Medien, insbesondere im Bereich
Einerseits im Sinne des linear Sequenziellen wie auch des illu-
Film und Video, Zeichnung, Malerei, Installation, Skulptur
sionistisch Dynamischen, insofern nämlich die Ziffern durch
und Fotografie. In seinen Werken setzt sich der in London
die Halbierung der Sicht des Betrachters stetig zu entgleiten
lebende Künstler immer wieder mit dem Thema Zeit und der
scheinen.
Vermessung von Realität auseinander. Auch die hier gezeigten Arbeiten sollen das Bewusstsein dafür wecken, dass Zahlen, vom Finanzsystem über das menschliche Genom bis zur Konstellation der Sterne, unser Leben in vielerlei Hinsicht oft auch wirr durchdringen und sich diese doch in einem System verbinden lassen, das eine Positionierung des Individuums in der Welt ermöglicht. In der Arbeit Chance Encounter 9062, bestehend aus einzelnen klein-formatigen Leinwänden auf denen Ziffern, reduziert in Schwarz und Weiß, in der Waagerechte
Chance Encounter 9062, 2012 Photo: def image Courtesy: The artist and Galerie Max Hetzler, Berlin | Paris
40
Auch in der Arbeit Perfect Time 184 setzt sich der Künstler mit dem Begriff der Zeit und ihrer Messbarkeit auseinander. Das Werk – eine Agglomeration von digitalen Uhren – enthält Zifferblätter, die automatisch jede Minute umblättern, da aber die Zifferblätter jeweils in der Horizontalen halbiert sind, ist ein konkretes, ein perfektes Funktionieren der Uhren unmöglich. Die Zeit wird als Prozess realisiert, dessen Elemente die Arbeit jedoch als variante Größen bewusst machen will.
CRITICA–ZPK I/ 2014
Almond vertrat Großbritannien 2003 auf der Biennale von Venedig. Er hatte bisher über 50 Einzelausstellungen und zahlreiche Gruppenausstellungen u.a. in der Tate Gallery (London), der Nicola TrussardiStiftung (Mailand), dem Museum Folkwang (Essen), der Albertina (Wien), er war auf der Berlin Biennale (2001), der Moskau Biennale (2007) und auf der Tate Triennale (2009) vertreten.
Perfect Time 184, 2012 Photo: def image Courtesy: The artist and Galerie Max Hetzler, Berlin | Paris
41
Moscow Time, Fotografie, 120 x 150cm, 2012, Courtesy Buchmann Galerie Berlin
Die Arbeiten der deutsch-iranischen Künstlerin Bettina Poust-
alle Uhren mit gleicher Zeit, um so nicht nur ein Bewusstsein
tchi, die in Paris, Köln und an der Kunstakademie in Düssel-
für das Phänomen der Gleichzeitigkeit in einer Welt globaler
dorf studierte, kreisen um unterschiedliche Zeitbegriffe und
Vernetzung und steigender Mobilität zu schärfen, sondern
die Zeitwahrnehmung in den Medien Fotografie und Skulptur.
auch um die Rolle der Fotografie im Hinblick auf die Zeitwahr-
Hier zu sehen sind zwei Arbeiten aus der 24-teiligen Fotoserie
nehmung und die damit verbundene mediale Konstruktion
World Time Clock.
von Geschichte und Erinnerung zu thematisieren.
Seit 2008 fotografiert Bettina Pousttchi in verschiedenen Städ-
Ausstellungen u.a.: Nasher Sculpture Center Dallas; Schirn
ten der Welt öffentliche Uhren. Die Werkgruppe wurde Anfang
Kunsthalle Frankfurt; Kunsthalle Basel; Museum Morsbroich
2014 abgeschlossen, Aufnahmen aus 24 Zeitzonen bilden zu-
Leverkusen; Arp Museum Bahnhof Rolandseck Remagen.
sammen eine „fotografische Weltzeituhr“. Die Künstlerin zeigt
CRITICA–ZPK I/ 2014
bettina pousttchi
Seoul Time, Fotografie, 120 x 150cm, 2012, Courtsey Buchmann Galerie Berlin
43
CRITICA–ZPK I/ 2014
BJÖRN DRENKWITZ
Sein und Zeit, Videostill, 2013; © VG Bild-Kunst, Bonn 2014.
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CRITICA–ZPK I/ 2014
∞, Fotomontage aus 16 Videostills, 2011; © VG Bild-Kunst, Bonn 2014.
Björn Drenkwitz studierte Medienkunst an der Kunsthoch-
In dem zweiten Video „∞“, das hier als eine Fotomontage aus
schule für Medien in Köln und an der Kunsthochschule Mainz
16 Videostills präsentiert wird, fliegt ein Drache in nur knapp
bei Prof. Dieter Kiessling und Prof. Mischa Kuball bis 2009,
6 Sekunden das Symbol der Unendlichkeit ab, diese Bewegung
Meisterschüler 2010. Thematisch beschäftigt sich der Künstler
wiederholt sich unentwegt. Die Arbeit visualisiert eine Sei-
schwerpunktmäßig u.a. mit dem Thema Zeit, so beispielsweise
te des Paradoxons Zeit: die Unbeschwertheit im Umgang mit
in seinen beiden Videos „Sein und Zeit“ und „∞ „ .
dem, was sich der Mensch kaum vorstellen kann.
Die Arbeit „Sein und Zeit“ nimmt Bezug auf das Hauptwerk
Ausstellungen u.a.: National Gallery of Contemporary Art,
Martin Heideggers, aus dem ein zentraler Teil herausgegriffen
Yaoundé, Kamerun, „5th Cairo Video Festival Selection“,
wurde, der sich damit beschäftigt, wie uns unser Wissen um
Cairo Opera House, Kairo, Ägypten; Videokunstfestival
eine bevorstehende Zukunft zu dem macht, was wir sind. Die
D‘Konschtkëscht“, TUFA, Trier; Basis Frankfurt; Kunst- und
Darstellerin im Video rezitiert Heideggers Text, während sie
Ausstellungshalle der BRD, Bonn; Museum für angewandte
schnell auf dem Laufband eines Fitnessgeräts läuft. Auf diese
Kunst, Frankfurt; Künstlerhaus Mousonturm, Frankfurt.
Weise läuft sie dem Text buchstäblich hinterher und stolpert über Worte. Für den Betrachter ist es schwer den Zusammenhängen zu folgen. Durch den Verlust an Kohärenz öffnet sich der Text jedoch für neue Assoziationen.
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CRITICA–ZPK I/ 2014
PETRA johanna bARFS
o.T. , Collage mit Originalprintausgabe Filmwelt 1941, 30 x 40 cm, 2013
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CRITICA–ZPK I/ 2014
o.T. , Collage mit Originalprintausgabe Spiegel 1992, 20 x 30cm, 2013
Petra Johanna Barfs, geboren 1974 in Emden, lebt und arbei-
Arbeiten der „Spiegel“ und die „Filmwelt“. Es sind vor allem
tet in Frankfurt am Main. Sie studierte von 1996-2000 inter-
Themen wie Identität und Erinnerung, die die Künstlerin in-
disziplinäre Kunst an der Akademie Minerva in Groningen,
teressieren, Erinnerungen etwa an Frauenbilder oder Ikonen
Niederlande und absolvierte bis 2002 ein Aufbaustudium
vergangener Zeiten. Ironisch und ernsthaft zugleich erzählen
„Elektronische Medien“ an der Hochschule für Gestaltung
die Bilder ihre Geschichten. Dabei lassen sich Bedeutungen
in Offenbach. Die Künstlerin arbeitet vorwiegend im Medi-
herauslesen, die nicht schon gleich dem Bilderwert des Darge-
um der Collage, einer surrealistischen Collage im Stile Max
stellten entsprechen. Barfs Arbeiten können als freudsche Rät-
Ernsts, in der sie zusammensetzt was nicht unbedingt zusam-
sel verstanden werden, bei deren Betrachtung man sich immer
men gehört. Als Material dienen ihr neben Fotografien, die ihr
wieder mit neuen Fragen konfrontiert sieht und in denen das
von Zeitzeugen zur Verfügung gestellt werden, insbesondere
Thema ‚zeitgeschichtliche Reflexion‘ vor dem Hintergrund je-
alte Zeitungen und Zeitschriften wie in den hier abgebildeten
der weiteren Betrachtung neu beleuchtet wird.
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CRITICA–ZPK I/ 2014
Melancholische Uhren? Vom stabilisierenden Erinnerungsbild zu Formen einer Konkretion des Zeitvergehens in der Kunst nach 1960I von Lutz Hengst
Fragen nach der Zeitlichkeit von oder
erwähnte, alltagsgängige Schema in ih-
Wenn sich nämlich Vanitas-Symbole in
in Kunst sind gerade eines nur sehr be-
rem Sein wesentlich durch ihr Vergehen
der frühneuzeitlichen Malerei vom pla-
dingt: zeitlos. In dem sehr allgemeinen
mitdefiniert ist, während sie zugleich als
kativen Totenschädel (der freilich wie
Umstand, dass sie durch die Jahrhun-
Gegenwart (und Zukunft) da sein soll.
in den Gesandten Hans Holbeins d. J. als
derte fortwährend erneut aufgeworfen
Jurgeleit schreibt:
komplizierte Anamorphose gewandet
werden, stimmt die künstlerische Problementfaltung mit den Wechselfällen eines philosophischen Fragens nach Zeit überein. Doch auch für eine inhaltlich ausgeprägte Nähe zwischen den Diskursen lassen sich seit alters her Belege finden: In der spätantiken Zeittheorie Augustinus’ etwa, dem – im Anheben von einer empirischen Fundierung – „die Zeit insofern als objektives Faktum [gilt], als sie eine unserer Erfahrung prinzipiell zugängliche Gegebenheit von Welt darstellt“1, kommt es zum Rekurs auf das Bild. Es leistet dabei einen Beitrag zur Überwindung einer nur schwach reflektierten, schlicht alltagspraktischen Aufteilung von gegebener Zeit in die drei Abschnitte Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Augustinus nutzt insbesondere die Vorstellung von einem Bild als Erinnerungsspur – und selektiv diese Funktionsebene bildet hier eine Ausgangsbasis für weitere Überlegungen – mit dem Ansinnen, ein logisches Problem im empirischen Dreiphasenmodell der Zeit zu überwinden. Die Problematik, die Augustinus erst auf das Bild Bezug nehmen lässt, resultiert, wie Roland Jurgeleit anschaulich aufschlüsselt, nicht zuletzt daraus, dass Zeit durch das 1 Jurgeleit, Roland: Der Zeitbegriff und die Kohärenz des Zeitlichen bei Augustinus, in: Revue des Études Augustiniennes 34/1988, S. 209-229, hier S. 211f.
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Indem Augustinus – ausgehend von der Wortbedeutung – die Adjektive «vergangen» und «zukünftig» primär als Negationen der Gegenwart, welche letztere allein prima facie als «seiend» genannt zu werden pflegt, versteht, ist für ihn eine nicht-präsentistische Zeit gleichbedeutend mit einer nichtseienden Zeit.2
Vergangenheit kann folglich nur Teil einer einzig seienden Zeit sein, wenn sie sich (ähnlich wie die Zukunft, aber mit anderen Mitteln) vergegenwärtigen lässt. Just dieses Vergegenwärtigen gewährleistet das in Erinnerung gehaltene Bild von etwas Gewesenem. Erinnerungsbilder bleiben damit im Sinne von Augustinus zugleich an die Zeitlichkeit menschlichen Seins gebunden, während Zeitlosigkeit exklusiv Gott auszeichnet.3 Über die Trennung diesseitiger Zeitgebundenheit von jenseitiger Zeitenthobenheit lässt sich eine Kontinuität christlichen Denkens bis in die Neuzeit hinein behaupten, während der Diskurs im Bild vordergründig eine zweischneidigere Sprache zu sprechen scheint: 2 Ebd. , S. 214. 3 Dass die Abwehr einer Infragestellung Gottes mithilfe der Bezugnahme auf ein Vor-der-Schöpfung Keimzelle Augustinischer Zeitphilosophie ist, setzt ebenfalls Jurgeleit, in genauem Nachvollzug der entsprechenden Passagen der Confessiones (v.a. Kapitel 14), voraus, vgl.: ebd. , S. 214.
sein kann) bis zum kleinen Insekt an einem Blatt in vielen Formen ausdifferenzieren, erinnern diese ikonographisch codierten Formfindungen eine christliche
Rezipientengemeinschaft
angesichts einer nur vermeintlich stabilen Bildwelt an den unweigerlich allumgreifenden Verfall irdischen Seins. Grundwichtig scheint so gerade nicht die konservierende Leistung der Bilder, die Augustinus in der Betonung ihresr Erinnerungs- und Spurfähigkeit herausgestellt hatte. Selbstverständlich firmiert das bildliche Konservierungsvermögen als Erklärung bei Augustinus auf einer anderen, einer wahrnehmungspsychologisch gedachten Ebene des Internalisierungsgeschehens in einem Gedächtnis, während das Vanitas-Symbol sich aus einem moralischen Impetus auf ein Zielpublikum richtet, um die Eitelkeiten der endlichen diesseitigen Welt zu entlarven und dagegen ein Memento mori zu setzen. Um nichts weniger aber zählen damit die gemahnenden Bilder vormoderner Epochen letzthin selbst unter jene, in der Dauer fundamental limitierten und zu Zeitübergriff unfähigen Manifestationen des Irdischen, durch die auf das Überirdische lediglich hingewiesen werden kann (und erscheinen entsprechend oft selbst als Symbol in Vanitas-Stillleben).
CRITICA–ZPK I/ 2014
Ein 1891 erstveröffentlichter literari-
und überdies in Abwendung von einem
aus dem Bild heraus anstoßen, indem sie
scher Stoff wiederum wie Oscar Wil-
erstarrten Salon-Akademismus des 19.
Versatzstücke (zumeist flacher) Alltags-
des The Picture of Dorian Gray verarbeitet
Jahrhunderts, bricht die historische
dinge in ihre Werke hineincollagieren.
zwar ebenfalls das Phänomen der Eitel-
Avantgarde mit Traditionsbeständen
Rasch, allen voran mit den ready mades
keit, stellt jedoch unter einem bilddis-
und sucht ein neues bildnerisches Leis-
von Marcel Duchamp, kommt es zu ul-
kursiven Aspekt betrachtet die Leistung
tungsvermögen, das gerade nicht länger
timativ zugespitzten Ausformungen,
besonders von Portraitmalerei heraus,
auf möglichst (perspektiv-)realistischer
durch welche man Distanzen zwischen
einen Zeitschnitt gleichsam festzuhal-
Nachahmung beruht. Solches Aufbre-
Bereichen des greifbar Gegenständ-
ten, also eine dargestellte Person in ei-
chen vor, im und nach dem Impressio-
lichen einerseits und künstlerischen
nem Moment zu zeigen, der angesichts
nismus ebnet einer modernen Kunst im
Entwürfen andererseits zu überwinden
des vergleichsweise langsamen Alterns
frühen 20. Jahrhundert den Weg. Aller-
trachtet; und letzteren gegenüber war
etwa eines nicht zu luftfeucht, zu hell
dings, trotz darüber ganz neu erschlos-
eine breite Rezipientenschicht, unter
oder ähnlich abträglich, sondern ge-
sener künstlerischer Felder, problema-
Absehung von der Eigenkörperlichkeit
schützt deponierten Ölgemäldes sehr
tisieren auch nachfolgende Avantgarde-
der Bildwerke und ausgehend von dem
viel stabilere Verhältnisse (zumindest)
Künstler weiterhin nicht konsequent
darin Dargestellten, geübt, lesend und
suggeriert , als sie die Physis eines Por-
die Stabilität und zeitliche Dauer künst-
imaginierend, also nicht dinggeleitet
traitierten selbst je garantieren könnte.
lerischer Erzeugnisse.5 Zwar reichen
Gehalte zu erschließen. Doch, bei allem
Dass Wilde das Bildvermögen, dauer-
die Neuerungen von Künstlern wie den
Brechen mit solchen Kunstkonventio-
haft zu konservieren, auf den im Roman
Kubisten sehr weit, und es gehört mit
nen und der Disponierung fast all des-
lange Zeit nicht alternden Protagonisten
entsprechender Berechtigung zum com-
sen, was den künstlerischen Werkbe-
überträgt und es selbst an dessen Statt
mon sense kunsthistorischer Progressi-
griff bis dato ausgemacht hatte (insbes.
altern lässt, affirmiert letztlich mithilfe
onserzählungen, dass Braque und Picas-
die mit einer spezifischen Kreativleis-
der Verkehrung um so stärker den Glau-
so so etwas wie die Vergegenständlichung6
tung verbundene originäre Urheber-
ben an die Macht des Mediums.
5 Zwar sind surrealistische Arbeiten aus der Zwischenkriegszeit bekannt, die organisch-verfallsgeneigtes Material verwenden (wie die Sculptures involontaires Brassaïs und Dalís/vgl. dazu etwa: Rübel, Dietmar: Die Fotogenese der Skulptur (molekulare Gemeinschaften), in: Ecker, Bogomir et al. (Hg.): lense-based sculpture. Die Veränderung der Skulptur durch die Fotografie (Katalog zur gleichnamigen Ausstellung) Köln 2014, S. 110-125, hier S. 117); und Siegfried Giedion weist u.a. auf „sogar verwitterte Knochen“ hin, wenn er die umfassende Hinwendung zu Alltagsdingen seitens solcher AvantgardeKünstler wie Picasso und Juan Gris um 1910 beschreibt (vgl.: Giedion, Sigfried: Raum, Zeit, Architektur. Die Entstehung einer neuen Tradition, Basel/Boston/ Berlin 2000 [1976], S. 278.). Doch sind diese Alltagsdinge so bemerkenswert nicht etwa, weil sie verwittern, sondern weil sie (auch in der Argumentation Giedions) für eine neue Hinwendung zur Gegenwart und zur Jetztzeit stehen, anstatt über die Vergänglichkeit des Materials nachdrücklich Instabilität zu Thema zu machen. Obschon also im Kubismus, ebenso im Futurismus, auch im Surrealismus und Dadaismus, verstärkt Protoformen der Prozesskunst entstehen, erweist sich dieser Prozess in der Hauptsache als gegenwartsfixiert. 6 Heinrich Klotz hat die demonstrative Vergegenständlichung bzw. Verdinglichung von Kunstwerken als eine Avantgardetypische Strategie der Entgrenzung von Kunst und Leben in den 1960er Jahren besonders herausgestellt, in: ders.: Kunst im
schaft), weist auch ein metallener Fla-
4
Soweit der Autor also nicht (was Wilde durchaus zuzutrauen wäre) die fotografische Konservierungseuphorie im ausgehenden 19. Jahrhundert als Verblendung kommentieren wollte, hinkt hier das literarische Bildkonzept dem bildkünstlerischen Diskurs im Erstveröffentlichungsjahrzehnt des Dorian Gray hinter her. Nicht zuletzt unter dem Druck der massenhaften Verbreitung fotografischer Reproduktionstechniken 4 Von der besonderen Dauer der Werke aus anzusetzen, erscheint als konsensuale Basis auch ambitionierter Versuche, die Zeitlichkeit von Artefakten zu fassen, bei Georger Kubler etwa heißt es: “Our main interest here is in the shapes and forms of those durations which either are longer than human lives, or which require the time of more than one person as collective durations.“ (Aus: Kubler, George: The Shape of Time: Remarks on the History of Things. New Haven 1970 [1962], S. 99.) Das, was Kubler hier als Zeitspanne vorausdefiniert, um seinen Untersuchungsgegenstand gegen die individuelle Erfahrung von Lebenszeit abzugrenzen, deckt sich mit dem gängigen Verständnis der, gemessen an einer durchschnittlichen Lebensspanne menschlicher Individuen, Überdauer von Kunstwerken.
schentrockner, wie ihn Duchamp 1914 zum Kunstwerk erklärt, weiterhin eine hohe Materialstabilität auf und lässt sich entsprechend dauerhaft lagern. Allein das Konzept vergleichsweise ausgeprägter physischer Zeitenthobenheit von Kunstwerken also überlebt die ansonsten avantgardistisch-radikale Abkehr von tradierten Kunstbegriffen; und es wird noch einige Dekaden dauern, bis auch instabile, organische Materialien der entscheidende Grundstoff für Kunstwerke werden… Dieter Roth gibt, beginnend in den 1960er Jahren, schnell schimmelnden Materialien den Vorzug als Grundstoff von Arbeiten wie Selbstturm (1969ff.). Im Katalog zur Retrospektive Roth-Zeit (Basel, Köln und New York 2003-2004) heißt es dazu: Der etwa acht Meter hohe «Selbstturm» durchstösst die Zimmerdecke 20. Jahrhundert. Moderne, Postmoderne, Zweite Moderne, München 1999 [1994], insbes. S. 40ff.
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CRITICA–ZPK I/ 2014
und setzt sich im ersten Obergeschoss fort. Der Turm besteht aus in Schokolade gegossenen Büsten der «Selbstportraits als alter Mann», die etagenweise auf Glasböden übereinander gestapelt sind. Diese Büsten stehen alle in eine Richtung schauend, in beinahe militärisch geschlossener Anordnung. Die dichte Aufstellung hat auch statische Gründe. Das enorme Gewicht führt dennoch dazu, dass die einzelnen Abteilungen allmählich in sich zusammen- und dabei seitlich herausgedrückt werden. Auch die unzähligen Insekten, deren Larven sich durch die Schokoladenköpfe nagen, haben ihren Anteil an der permanenten Veränderung.7
Dass diese Art Veränderung von Roth zweifellos selbst angelegt und zeitlebens aktiv begleitet worden ist, unterstreicht Theodora Vischer, wenn sie in der Einleitung zum just zitierten Katalog summiert, dass sich mit jenen, durch den Künstler verfallsoffen ausgebreiteten Dingen aus dem Alltag eines einzelnen Lebens werkkonstitutiv ein „Diskurs über die Prozesse von Wandlung und Vergänglichkeit alles Bestehenden“8 entfalte. Roth gehört mit seinen, durch organisch-fragiles Material ausgezeichneten Werken zu den Pionieren einer nur noch sehr begrenzt (oder unter Zuhilfenahme ganz neuer konservatorischer Mühen) lagerfähigen Kunst. Neben Italienern aus dem Umfeld der Arte Povera sind es von deutscher Seite besonders noch Joseph Beuys und andere, der neo-dadaistischen Fluxusbewegung nahestehende Künstler wie Wolf Vostell, die bisweilen rasch verfallende Kunstwerke schaffen (legendär Vostells Verschickung von Salatköpfen mit der Bundesbahn im Jahr 1971, die ihm ein juristisches Nachspiel über die Versendbarkeit vergammelnder 7 Dobke, Dirk/Walter, Bernadette: Chronologie und Werkkommentare, in: Vischer, Theodora/Walter, Bernadette (Hg.): Roth-Zeit. Eine Dieter Roth Retrospektive. Basel/Baden 2003, S. 18-267, hier S. 258. 8 ebd. , S. 11-15, hier S. 15.
50
Waren mit dem damals noch staatlichen
ausgesucht ephemer müssen diese aber
Unternehmen einbrachte). Über eine
nicht sein).
erstmals derart pointierte Thematisie-
Altes Hausgerät, getragene Kleidung,
rung einer eigenen Materialzeit in der
Fallschirmgarn – auf derartige Fund-
Objekt- und Installationskunst hinaus,
stücke unterschiedlichen Zuschnitts,
sticht an Roths Gestaltungen auf eph-
die zum Beispiel an einem Dorfrand, in
emerer Basis der permanente Konnex
verlassenen Behausungen oder auch auf
mit dem Vergehen individueller Lebens-
der Straße gefunden werden können,
zeit heraus. Roth stellt diesen, wie zuvor
richten paradigmatische Spurensiche-
veranschaulicht, beispielsweise darüber
rer wie Nikolaus Lang von Beginn der
her, dass er Kleintorsi aus Schokolade
künstlerischen Tendenz an ihre Blicke.
nach seinen eigenen (karikaturhaft ge-
Für die Kunst der Spurensicherung ty-
fassten) Zügen fertigt.
pische Objekte verweisen dabei, und
Eine andere Form, Materialvergäng-
noch verstärkt, indem sie in das deikti-
lichkeit und das Vergehen individueller
sche Ordnungsgefüge einer Installation
Lebenszeit zu parallelisieren, finden
aus Sammelgut überführt worden sind,
verstärkt seit den 1960er Jahren, vor
von einem gegenständlichen Außen her
allem aber in der 1970ern Künstler, die
auf anthropogene Vergangenheit. Das
man hierzulande, ausgehend von einer
dingliche Von-außen-her schafft einen
Ausstellung im Hamburger Kunstver-
Unterschied zu jener inneren Spurträger-
ein, Spurensicherer zu nennen pflegt. Bis-
schaft eines Bildes im Rahmen der oben
weilen spielt in Werken der Spurensi-
angesprochenen
cherung fast so prominent wie bei Roth
ration bei Augustinus. Gleichwohl be-
die begrenzte Haltbarkeit eine Rolle,
darf es unbenommen dieses Lokalisie-
und weiterhin eröffnen darin einige
rungsunterschieds eines Bewusstseins,
Selbstbildnisse Möglichkeiten (auto-)
das interpretativ auf das retrograde
repräsentativer Bezugnahme.9 In der
Indikationspotential eines Spurensem-
Gesamttendenz jedoch werden bildne-
bles anspricht.10 Doch erst die Hervor-
rische Repräsentationen in der Spuren-
hebung einer Eigenkörperlichkeit der
sicherungskunst durch Vorgefügtes sub-
Spur macht augenfällig, wie eigentüm-
stituiert. Konkret legt diese Kunst einen
lich nah außen und innen, Präsenz und
konstitutiven Akzent darauf, dass Ge-
Transzendenz in deren zutiefst zeitlich
genstände als solche ausgestellt werden,
geprägtem Phänomenkreis beieinander
die solcherart Benutzungs- und Verwen-
liegen. Mit Fokus auf eine gleichsam ne-
dungsspuren aufweisen, welche nicht al-
gative Seite typischer Spurphysiologien,
lesamt schon im Rahmen eines Herstellungsprozesses vorgegeben worden sind (es handelt sich so gewissermaßen um Objekte mit Vulnerabilität – durchweg 9 Allerdings zeigen sich die Selbstrepräsentationen von Künstlern wie Christian Boltanski, die seit der o.g. Ausstellung 1974 der Spurensicherung zugerechnet worden sind, bevorzugt im Medium der Fotografie, das, wenn nicht aufgrund seiner technischen Anlagen, so vor dem Hintergrund seiner Gebrauchs- und Rezeptions-formen traditionell stärker als ein authentischer Zeugnislieferant anerkannt ist, als es die in Roths Schokoladenvarianten fortlebenden künstlerischen Techniken der Selbstabformung je zu erhoffen gehabt hätten.
Erinnerungskonfigu-
10 Von unserem alltäglichen Können des Spurenlesens ausgehend, hat Sybille Krämer u.a. Felder „kognitiver Bedeutsamkeit der Spur“ ausgemacht, in: Krämer, Sybille: Was also ist eine Spur? Und worin besteht ihre epistemologische Rolle? Eine Bestandsaufnahme, in: Krämer, Sybille/Kogge, Werner/Grube, Gernot (Hg.): Spur. Spurenlesen als Orientierungstechnik und Wissenskunst, Frankfurt am Main 2007, S. 11-33, hier S. 21ff. Spurkünstler selbst unterbreiten übrigens mit ihren Installationen nicht allein ein Wahrnehmungsangebot für ein Rezipientenbewusstein, sondern exerzieren in der eigenen, oft im Werk (z.B. vermittels beigefügter Feldforschungstagebücher/ vgl. unten) nach-hallenden Einlassung eine gegebene Gewahrwerdung von Spuren selbst integral vor.
CRITICA–ZPK I/ 2014
namentlich auf die Leerstellen, lässt sich
der Spurobjekte.
historische
dies Beieinander erläutern:
Im Fall der spurensichernden Kunst
lassender und suchender Subjekte im
Eine eigene Affinität zur Leerstelle un-
wiederum resultiert diese jedoch nicht
Ausstellungsjetzt wahrnehmbar wer-
terstreicht der erwähnte, vielleicht profi-
einzig aus dem Nicht-mehr-Dasein eines
den. Die Bezugszeit der Spurkunst ist
lierteste deutsche Spurkünstler Nikolaus
ersten Spurauslösers. Der Wert von typi-
also zunächst ein Rekonstruktionsges-
Lang, indem er nicht nur ein Werk unter
schen Ausstellungsinstallationen dieser
tern, eröffnet darüber aber Blicke auf
den Titel Terra Nullius stellt, sondern eine
Kunst, die regelmäßig im Anschluss an
Orte als überwucherte, deren vormalige
ganze Auswahl in Australien entstande-
Sicherungsinterventionen in einem Feld
anthropologische Qualität individuell
ner Arbeiten 1992 für eine Ausstellung
hervorgebracht werden , gründet nicht
zurückgewonnen, jedenfalls imaginativ
im Kunstverein Ruhr so überschreibt.
mehr ausschließlich auf der primären
aktualisiert werden kann. Die zeitliche
Die lateinische Bezeichnung terra nul-
Spurhaltigkeit
Reliktmaterialien
Perspektive entbirgt in der Spurensiche-
lius verwendeten europäischstämmige
und bezieht sich nicht länger allein auf
rung erst den zuvor übergangenen, nur
Australier um Land zu benennen, für
eine vergangene Ereignisschicht. Doku-
potentiellen Fundplatz als Ort der Wie-
das kein Besitzer festgestellt worden ist.
mente von Phasen der Hebung und des
deridentifizierung.
Dass solches Land aber in sehr vielen
Ordnens des historisch vorkonnotierten
Man könnte darüber auf die eingangs
Fällen von Seiten der indigenen Bevölke-
Materials, die Spurkünstler gezielt in
und in Anlehnung an Augustinus’ Zeit-
rung durchaus in angestammter Zuge-
ihre Installationen integrieren, und die
philosophie konturierte These zurück-
hörigkeit gesehen wird, ist dem Künstler
mitunter zudem am Fundobjekt kon-
kommen, dass Spurträger nur in der Ver-
bei seiner Titelwahl bewusst. Die koloni-
kret hinzugekommenen Spuren der He-
gegenwärtigung Teil seiender Zeit sind.
ale Begriffstönung macht über die hier
bungsunternehmungen, sie beide – Do-
Dass nun gerade das Bild in der Erinne-
räuberisch-funktionale
Ausblendung
kumente und Zusatzspuren – verankern
rung nach Augustinus funktional eine
von Vorgeschichte hinaus auf die per-
ebendiese Einwirkungsphase als unter-
Stabilisierungs- und physisch eine (re-
spektivische Verkürzung aufmerksam,
dessen selbst geschichtlich gewordene
lative) Verfestigungstendenz aufweist13,
die eine Wahrnehmung von Leerstellen
Nachfolgeformung palimpsestgleich in
während die außerbildliche Kunst der
kennzeichnen kann: Was von dem, das
den Werken.
Spurensicherung bewusst Instabilitäts-
wir in der ersten Betrachtung als sol-
Das Wann der Spurensicherungskunst
marker an Objekten ausstellt, bereichert
che wahrnehmen, wäre frei von dem
referenziert damit ein mehrfaches Ges-
die Epochen- und Genre-überspannen-
Verweis auf zuvor Anwesendes? Denn
tern, das über Exponate zum Nachvoll-
den Versuche zeitdiskursiver Bezugnah-
Leerstellen erscheinen als chronisch limi-
zug bereitsteht. Der quasi-dokumentari-
me um fruchtbare Paradoxien. Gleich-
nal, insoweit sie innerhalb eines Gefüges
sche Verweisungszusammenhang stellt
sam in nachmodern verfallsoffener
umgrenzt sind. Erst ein Angrenzen an
im Idealfall die spezifische Ort-Zeitlich-
Exposition von Erinnerungen und einer
gefüllten Umraum ermöglicht ihnen das
keit unter dem Eindruck der Spur so zur
Destabilisierung selbst möglicher Vani-
spurgleich-potentielle Verweisen auf
Schau, dass ein hybrides Arrangement12
tas-Symbole, vergegenwärtigen künst-
ein Abwesendes vor einem noch wahrnehmbaren Grund. Ihre Restgebundenheit in einem Rahmen bewirkt zugleich die Konstruktivität der Leerstelle, die so als ein an- und begrenzender Bereich erkennbar wird, der insbesondere Spurformen zu konstituieren vermag. Ohne Abplatzungen, Lücken, ganze Abbrüche erschienen Objekte mit Gebrauchsgeschichte wie unbenutzt. Einer Unvollständigkeit im Raum, für die die Leerstelle innerhalb des Spurensembles einsteht, korrespondiert, und das ist hier der entscheidende Punkt, zeitlich eine Aufspannung zwischen dem Rückverweis auf Abwesendes und dem Dasein
11
der
11 Insbesondere die Installationen Nikolaus Langs bestehen vielfach aus Ansammlungen heterogener Objekte, die der Künstler teils im Laufe mehrjähriger Geländearbeit zusammenträgt, um die Vorgeschichte eines bestimmten Ortes (bspw. verwaiste Grundbauernhöfe in Oberbayern) anschaulich zu machen und Restzeugnisse dieser Vorgeschichte dem Übersehenwerden und Verlorengehen zu entziehen. 12 Dieses ist als verweisende, später entwickelte Installation insgesamt Substitut für den Reliktort, in seinen aus dem Feld mitgebrachten Elementen aber auch Translokat. Von einem repräsentativen „pars pro toto“ hatte der (Haupt-)Kurator der oben angesprochenen, der Tendenz einen Namen gebenden Hamburger Ausstellung, Günter Metken, gesprochen, allerdings mit Blick auf die gesellschaftliche Relevanz und weniger die konkreteren Bezugsverhältnisse; siehe: Metken, Günter: Spurensicherung. Kunst als Anthropologie und Selbsterforschung, Köln
Raumformungen
hinter-
lerische Materialeinsätze der hier beschriebenen Art etwas Zusätzliches: Sie halten nicht allein die Spur von einem Vorgängigen im Gedächtnis wach, son1977, S. 15. 13 Das funktionale Anliegen Augustinus’, Vergangenheit in Gegenwart zu integrieren, ist eingangs angesprochen worden. Dass diese Gegenwartsintegration der Vergangenheit durch die Gedächtnisleistung bei Augustinus mithin als ein nachgerade physischer Verdopplungsakt – späteren engrammatischen Konzeptionen von Erinnerungsspuren verwandt – von großer Ausdehnung vorgestellt wird, arbeitet auch Paul Ricœur heraus (der ferner eine Kontrastierung göttlicher Überzeitlichkeit und irdischer Zeiterfahrung gegenüber einer Abschließungstendenz offen gehalten sieht), in: Ricœur, Paul: Wege der Anerkennung, Frankfurt am Main 2006 [2005], S. 154ff.
51
dern strapazieren eines seiner Reservoire, indem sie Trägergrundlagen für Rekonstruktionen zur gleichen Zeit und unter unseren Augen Befragungen sowie zum Teil tatsächlich substanziellen Prüfungen aussetzen. Die so zugespitzte Darstellung von Zeitvergehen durch eine, in dieser Hinsicht melancholische, Kunst nach 1960 stellt Objekte bereit, die wie dystopische Zeitmessanlagen wirken: Unerbittlich wie Uhren geben sie einen Zeitablauf vor, während parallel just die Substanz, die das Zeigeobjekt selbst ausmacht, zusehends schwindet.
Literatur Giedion, Sigfried: Raum, Zeit, Architektur. Die Entstehung einer neuen Tradition, Basel/ Boston/Berlin 2000 [1941 bzw. 76]. Jurgeleit, Roland: Der Zeitbegriff und die Kohärenz des Zeitlichen bei Augustinus, in: Revue des Études Augustiniennes 34/1988, S. 209-229. Krämer, Sybille/Kogge, Werner/Grube, Gernot (Hg.): Spurenlesen als Orientierungstechnik und Wissenskunst, Frankfurt am Main 2007. Kubler, George: The Shape of Time: Remarks on the History of Things, New Haven 1970 [1962]. Metken, Günter: Spurensicherung. Kunst als Anthropologie und Selbsterforschung, Köln 1977. Ricœur, Paul: Wege der Anerkennung, Frankfurt am Main 2006 [2005]. Rübel, Dietmar: Die Fotogenese der Skulptur (molekulare Gemeinschaften), in: Ecker, Bogomir et al. (Hg.): lense-based sculpture. Die Veränderung der Skulptur durch die Fotografie (Katalog zur gleichnamigen Ausstellung), Köln 2014, S. 110-125. Vischer, Theodora/Walter, Bernadette (Hg.): Roth-Zeit. Eine Dieter Roth Retrospektive, Basel/Baden 2003.
1 Zwei ausgewählte Absätze dieses Aufsatzes basieren auf der noch unveröffentlichten Dissertation des Autors unter dem Titel Ich war gestern – Spurensichernde Kunst und Kulturtechniken nach 1960 (Berlin/Gießen 2014).
CRITICA–ZPK I/ 2014
Die Relativität des Zeitraums in der Kunst nach 1950 von Danièle Perrier
Erste Darstellungen des
nach rechts und jenes der alten Frau
Generationenwechsels auf und wird
Zeitraums: Die Entstehung eines
nach links. Der schnelle, entschlossene
dadurch zum Symbol der Evolution.
Begriffs
Gang hat etwas Unaufhaltsames und
Im Gegensatz zu Chronos, der sich
deutet auf eindrückliche Weise auf den
zyklisch selbst regeneriert indem er
Zeit
ist
heraus
aus
unserem
primär
als
Verständnis
Dauer
fassbar,
Fortschritt der Zeit ohne Wiederkehr,
Generation für Generation die eigenen
etwa als Lebensdauer, als histori-
was
wird,
Kinder verschlingt, projiziert Hommage
scher Zeitabschnitt oder Epoche, als
dass keines der Gesichter nach vorne
à New York in der Selbstauflösung seine
Geschichte der Menschheit und jene
schaut. Auffallend ist die Energie, die
Ableger in die Zukunft. Sie führen ein
des Kosmos. Als solche werden immer
die Figur ausstrahlt, das Motorische
eigenständiges Leben, sind aber auch
neue Dimensionen der Zeitmessung
ihrer Gehbewegung. Das Verstreichen
als Ausdehnung der Hommage und
erschlossen,
die
ins
dadurch
unterstrichen
Unermessliche
der Zeit wird somit als aktiver Vorgang
ihrer Erweiterung in die Zeit zu ver-
münden, so, dass der Zeitbegriff sich in
dargestellt. Dies verbindet die Skulptur
stehen. Der Begriff der Zeit bildet hier
ihnen wieder auflöst als eine Ewigkeit.
mit einem berühmten Werk des 20.
kein geschlossenes System, sondern er
Umgekehrt erlauben die modernen
Jahrhunderts, Hommage à New York 1 von
folgt dem Prinzip der Evolution. Neu
Messgeräte
präzisere
Jean Tinguely. Diese Maschine, die sich
bei Tinguely ist der Einsatz der reellen
Zeitmessung und eine Untergliederung
während der Eröffnungszeremonie der
Bewegung. In dieser Hinsicht steht er
in immer kleinere Zeiteinheiten. Wir
Weltausstellung in New York 1959 selbst
in der Tradition jener Werke, die seit
sind bereits bei Nanosekunden an-
zerstörte, erhob durch die Loslösung
der Erfindung der Chronophotographie
gelangt. Ob lang oder kurz die Dauer
von der Figuration die Darstellung der
durch Etienne-Jules Marey und jene des
wird als lineare Entwicklung begriffen,
Vergänglichkeit des Lebens auf eine
Stroboskops den Bewegungsablauf in
die sich aus der Vergangenheit in die
Meta-Ebene. Aus der Allegorie von da-
seiner zeitlichen Entwicklung begreifen.
Zukunft entwickelt, manchmal auch
mals wurde eine moderne Metapher
Diese neuen Techniken ermöglich-
als wiederkehrender Zyklus. Die alten
für den Zeitablauf. Das Memento
ten eine neue Form der Zeitmessung,
Griechen stellten die Zeit in Form von
Mori bezieht sich hier nicht auf das
jene der Zeitspanne. Die Zeitspanne
Chronos, der seine Kinder verschlingt
Leben, sondern auf die Endlichkeit
kann als jene Zeiteinheit definiert wer-
dar und legten somit den Akzent auf
des Kunstwerkes. Bei „Hommage à
den, die notwendig ist, um eine be-
Evolution und Revolution, d.h. auf den
New York“ kommt noch eine zusätz-
stimmte Distanz zurückzulegen oder
Zyklus von Leben und Tod als immer
liche Komponente hinzu: indem es
um einen Bewegungsablauf
wiederkehrender Prozess. Die Neuzeit
sich selbst zerstört, produziert es aus
zuführen. Zeit an Distanz gemessen
hingegen nahm die Lebensdauer des
den Überbleibseln neue Plastiken wie
setzt Bewegung voraus. Diese entwi-
Einzelnen als Maßstab und verstand
Klaxon . Der Vorgang greift die Idee des
ckelt sich von einem Punkt zum an-
eine
immer
die verstreichende Zeit als Prozess des Verfalls, was sich in Darstellungen der drei Zeitalter und in den Memento Mori widerspiegelt. In Andrea Riccios dreiköpfige Hekate aus dem 16. Jahrhundert ist das Gesicht des Kindes nach rückwärts gedreht, jenes der jungen Frau
2
1 Hommage to Jean Tinguely’s Hommage to New York , 1960 - Künstlerfilm von Robert Breer (1926 - 2011), 1960, erwähnt in: Christina Bischofberger: Jean Tinguely, Werkkatalog Skulpturen und Reliefs, Band 1, 1982, S. 111-113. 2 Jean Tinguely, Klaxon, 1960, Museum Tinguely, Basel, Abb. in: Christina Bischofberger: Jean Tinguely, Werkkatalog Skulpturen und Reliefs, Band 1-3, 1982, Nr. 1124.
durch-
deren, linear oder auch nicht. Die Chronophotographien
von
Etienne-
Jules Marey und Eadweard Muybridge stellen beide den Bewegungsablauf dar und implizit die zu ihrer Ausführung notwendige Zeit. Diese Zeitmessung hebt sich von der ersten dadurch ab,
53
CRITICA–ZPK I/ 2014
dass die Dauer nicht mehr mittels der
Auf einer weißen Halbkugel, die wie
Zeit, über deren Auswirkung auf Leben
Allegorie dargestellt, sondern an einem
ein Auge aus einer schwarzen Scheibe
und Tod, auf ihre Malerei, auf die Frage
reellen
gemessen
hervorquillt, ist eine schwarze Spirale
nach der eigenen Präsenz im Werk, der
wird. Die Dauer wird durch einen de-
gezeichnet. Die Halbkugel steht auf ei-
Verkörperung des Ichs im Bild. Damit ist
finierten Anfang und ein ebenso defi-
nem Tripod und ist mit einem Motor
bereits gesagt, dass jeder von ihnen eine
niertes Ende bestimmt. Hinzu kommt
ausgestattet, der sie zum Drehen bringt.
eigene Zeitmessung entwickelt, eigene,
die Relativität der Zeiterfassung. Zeit
Durch die Geschwindigkeit der rotieren-
subjektive Kriterien aufstellt.
als Distanz gemessen, besitzt keinen
den Scheibe nimmt das abstrakte Muster
festen Nenner: die in einer Minute zu-
Form an, eine Form, die Tiefe erzeugt
OPALKA: die gedehnte Zeit
rückgelegte Distanz hängt davon ab,
und damit einen fiktiven optischen
An einem Tag im Jahr 1965 entschied
mit welchen Mitteln man sie zurück-
Raum. Was Duchamp damit intendier-
Opalka, sein Werk auf
legt, ob zu Fuß, mit einem Wagen, dem
te, geht aus dem Sammelbegriff hervor,
ges
Zug, dem Flugzeug oder einer Rakete.
unter dem er diese Werkgruppe zusam-
Zahlenprogression beginnend mit Eins,
Es steht fest, dass mit den aktuellen
menfasste, nämlich Précision optique, was
die er Tag für Tag, sein Leben lang, bis
Fortbewegungsmitteln immer größere
sinngemäß mit „durch die Optik auf den
Unendlich fortführen würde. Seither
Distanzen in kürzeren Zeitspannen zu-
Punkt gebracht“ übersetzt werden kann.
malt er mit dem kleinsten verfügbaren
rückgelegt werden können, was unsere
Duchamp benutzt hier die Bewegung
Pinsel und Titanweißer Ölfarbe Zahlen
Wahrnehmung der Zeit maßgebend be-
ausschließlich um einen „Raum“ zu pro-
auf einer schwarzen, dann grauen und
einflusst.
duzieren, der optisch nur solange wahr-
schließlich
An der Erkenntnis, dass Zeit sich nach
nehmbar ist, wie die Bewegung anhält.
Bilder sind gleichen Formates. Nur die
verschiedenen Kriterien messen lässt,
Nicht die Darstellung des Zeitablaufs ei-
Reisekarten bilden eine Ausnahme im
war auch jene der Subjektivität ihrer
ner bestimmten Bewegung steht hier im
Format und sind auf Papier gemalt. Sie
Wahrnehmung gekoppelt. Der Film ver-
Vordergrund, sondern der Begriff der
zeugen von der Bedeutung für Opalka,
stand es schon früh, die Subjektivität
Zeit an sich als reiner „Zeitraum“, der von
unabhängig vom Ort, wo er sich befindet,
der Zeitempfindung zugunsten der
jeglicher Vorstellung einer Handlung
die Zahlenprogression Tag um Tag fort-
Auslegung einer Situation zu nutzen.
losgelöst, im wahrsten Sinn des Wortes
zusetzen. Damit legt er den Akzent auf
Die Zeit wird gedehnt oder gerafft.
objektiviert ist. Der Zeitraum verquickt
die Kontinuität des Tuns als Ausdruck,
In Douglas Gordons 24 Hours Psycho
sich mit der effektiven Laufzeit des
dass Zeit, unabhängig von den persönli-
zum Beispiel, der Interpretation von
Motors des Objektes und hört auf zu
chen Ereignissen, vergeht.
Hitchcocks Film, wird die Handlung
existieren beim Abstellen des Motors.
Nur das erste Bild trägt das Jahr seiner
wie in Zeitlupe gedehnt, sodass der
Die Objektivierung des Zeitraumes und
Entstehung 1965 / 1∞. Die anderen wer-
Eindruck
Bewegungsablauf
Thema
zu
ein einzi-
beschränken:
weißen
Leinwand.
einer
Alle
entsteht.
seine Loslösung aus dem Kontext der
den durch die erste und letzte Zahl der
Dehnung und Raffung werden einge-
Narration war ohne Zweifel ein not-
Progression bezeichnet, sind aber unda-
setzt, um Beklemmung, Erwartung,
wendiger Schritt, um ihn neu zu defi-
tiert – ein Hinweis dafür, dass es Opalka
Langeweile oder Dynamik, Plötzlichkeit
nieren, zum Beispiel als Raum aus Zeit:
nicht darauf ankommt, in welchem
auszudrücken. Die Zeit erhält eine ei-
Die Zeit ist nun die einzige Materie
Zeitraum sie gemalt wurden, noch wann
gene Dimension. Sie nimmt Volumen
aus welcher der Zeitraum gestaltet ist.
sie entstanden. In seinen Augen sind
an, entwickelt sich in einem Zeitraum.
Wenn also die Raumgestaltung in direk-
alle gleichwertig. Um die Kontinuität
Der Zeitraum ist formbar geworden;
ter Abhängigkeit von der Zeitmessung
zwischen den einzelnen Bildern zu un-
er behält insofern einen narrativen
steht, wie lässt sich Zeit messen?
termauern, hört Opalka nie mit dem
Charakter, als er dazu dient Emotionen
Drei Künstler haben ihr Gesamtwerk
Ende eines Bildes auf zu malen, son-
auszudrücken.
der
bestimmten
dern malt mindestens eine Zahl auf das
Die Objektivierung des Zeitraums wurde
Zeitraumes gewidmet: Roman Opalka,
nächste Bild – außer, wenn eine Reise
nicht im Film, sondern, wie es das Wort
On Kawara und Tatsuo Miyajima. Alle
ansteht, damit er die Progression auf die
Objektivierung suggeriert, tatsächlich in
drei drücken die Zeit anhand von Zahlen
Reisekarte fortsetzen kann. Alles deutet
einem Objekt realisiert: der Demi-Sphère
aus. Sie begreifen ihr gesamtes Werk
darauf hin, dass Opalka nicht zahlreiche
rotative von Marcel Duchamp, um 19203.
als Reflexion über die sie bedingende
Werke malt, sondern an einem einzigen
3 Marcel Duchamp, Demi-Sphère rotative, Paris, 1925, Coll. Raché, Abb. in: Marcel Duchamp, The Box in a Valise de ou par Marcel
Duchamp ou Rrose Sélavy, Inventory of an Edition by Ecke Bonk, Rizzoli New York, 1989, S. 114-115.
Zeitfresko arbeitet, vom Tag an, an wel-
54
des
Stillstandes
Darstellung
eines
chem die Idee geboren wurde bis zu sei-
CRITICA–ZPK I/ 2014
nem letzten Atem, am 6. August 2011.
gelmäßig hin plätschernden Wogen oder
kumentiert zwar einen bestimmten
In einem Interview mit G. Nabakowski
von ziehenden Wolken. Auch der un-
Lebensabschnitt des Künstlers, dennoch
1973 sagte er: „Die Bilder sind Details,
terschiedliche Zeilenabstand, der durch
erfahren wir nichts Konkretes, umso
die einen Anfang und ein absehbares
den persönlichen Schriftduktus be-
weniger als jedes Detail über mehrere
Ende haben. Die Zeit wird in ihnen fest-
dingt ist, unterstreicht diesen Eindruck.
Tage, bzw. Wochen entsteht und von ent-
gehalten. Damit sind sie angefüllt“ . Die
Opalka will nichts Privates über sich mit-
sprechend vielen Selbstportraits beglei-
Tatsache, dass er von den Einzelbildern
teilen, weder seine Träume noch seine
tet wird. Bei jeder Aufnahme schreibt
als Details spricht, zeigt, dass es in seinen
Lebenseinstellung; aber im kontinuierli-
Opalka die letzte Zahl auf, die er vor dem
Augen nur ein malerisches Gesamtwerk
chen Malen von Zahlenprogressionen –
Fotografieren gemalt hat. Diese Zahl
gibt. Nur ein Bild wird anders ausfallen
einer Tätigkeit die größte Konzentration
wird zum Inventar der Fotografien.
als alle anderen: das Letzte, zwangswei-
erfordert und eine mönchische Disziplin
Das Werk von Opalka steht zweifelsoh-
se ein Fragment. Denn das Ende ist si-
– drückt sich die Wahrnehmung der
ne in engem Bezug mit seinem Leben:
cher, nur wann und wie ist ungewiss. Das
äußeren Umstände aus, die sich in
Neben der Handschrift, die das Aussehen
Zeichen ∞ steht für die Ungewissheit der
Stimmungen niederschlagen.
der Bilder maßgeblich prägt und den
Lebensdauer und für die davon abhängi-
Es sind Bilder der Ruhe mit einem
begleitenden
ge Größenordnung der letzten Zahl, da-
wiederkehrenden
Der
Opalka seit 1978 auch Tonaufnahmen der
mit auch der Anzahl der Details. Somit
Rhythmus spielt in den frühen Details
laut in seiner Muttersprache Polnisch
ist der Zeitraum der Malerei von Opalka
eine größere Rolle als in den späten
aufgesagten, gemalten Zahlen. Die ge-
ein beschränkter, mit einem bestimm-
Bildern, denn 1973, als Opalka die Zahl
sprochene Zahl bedingt den Rhythmus
ten Anfang und ein inzwischen auch
von einer Million erreichte, beschloss er
der Malerei, die Tonaufnahmen bilden
bekanntes Ende. In den meisten Fällen
den Hintergrund der Bilder graduell auf-
eine akustische Entsprechung zu den
sieht der Betrachter ein einzelnes Detail,
zuhellen. Als Folge davon verschmilzt
Nuancen im Farbauftrag der Zahlen
gegebenenfalls ein paar, die nicht unbe-
die
zunehmend
und im Spätwerk, wenn die weißen
dingt zeitlich direkt aufeinander folgen.
mit dem Hintergrund, sodass das Auge
Zahlen auf weißem Grund kaum noch
Betrachtet man ein solches Detail, in
in den späten Details die Nuancen der
wahrnehmbar sind, untermauern sie
diesem Fall das erste 1965 / 1∞, Detail
Handschrift kaum noch wahrnehmen
die Verständlichkeit der Progression.
1- 353275, so gibt dieses zunächst nur
kann – als ob mit zunehmendem Alter,
Wenngleich Opalka in seinem Werk
eine Progression aneinander gereih-
die persönlichen Züge an Bedeutung
präsent ist, entzieht er sich diesem als
ter Zahlen zu sehen. Die Zahlen sind
verlieren, sich die Individualität im
Person und verschwindet hinter allge-
eng aneinander gefügt; sie bilden ein
Universellen auflöst, ein Teil des Ganzen
meinen Betrachtungen. Die einzige Art,
dichtes Maschenwerk, das die gesam-
wird.
wie er im einzelnen Detail erscheint, ist
te Leinwand überzieht. Erst nach ein
Opalka
zur
durch die gemalte Zahlenprogression.
paar Ziffern, wenn fast keine Farbe
Entstehungszeit her. Diese wird durch
Oberflächlich betrachtet könnte sie als
mehr haften bleibt, tunkt Opalka den
die Selbstportraits
festgehalten, die
Symbol seines Lebens angesehen wer-
Pinsel wieder in den Farbtopf, sodass
er täglich am Ende seiner Maltätigkeit
den. Dagegen spricht allerdings, dass
der Zahlenfluss an - und abschwillt. Die
von sich selbst macht. Sein Alter, ge-
Opalka nur zählt, wenn er malt. Die
Farbnuancen zwischen den Ziffern, die
meinsam mit dem Helligkeitsgrad des
Progression beschreibt also sein aktives
mit frischer Farbe gemalt sind und den
Details sind die einzigen Anhaltspunkte
Dasein und von diesem auch nur sein
anderen, erwecken den Eindruck von re-
für die Ermittlung der Entstehungszeit.
künstlerisches Tun. Sie dokumentiert
Das Leben des Künstlers selbst gilt als
die Zeit des Arbeitsprozesses. Dem ist
Maßeinheit, oder besser gesagt, sein
hinzuzufügen, dass Opalka alle Pinsel,
Alterungsprozess.
die er verwendet, nummeriert und archi-
4
4 Nabakowski, Gislind: Interview mit Roman Opalka, in: Heute KUNST, internationale Kunstzeitschrift, N° 4-5, Dezember 1973 – Februar, 1974, Mailand-Düsseldorf, S. 7. 5 Roman Opalka, 1965 / 1- ∞ , Détail 1- 35327, Acryl auf Leinwand, 196 x 135 cm, Museum Sztuki w. Lodzi, Lodz, Abb. in: Edition Opalka 1965 / 1 - ∞ Spur der Zeit, in den Museen: Neues Museum Weserburg Bremen, Musée d’Art Moderne de la Ville de Paris, Städtische Galerie im Lenbachhaus, München, Museum des 20. Jahrhunderts, Wien, 1992-1993, Hrsg. Neues Museum Weserburg, Thomas Deecke, 1992.
Rhythmus.
Zahlenprogression
stellt
keinen 6
Jedes
Bezug
Detail
do-
6 Roman Opalka, Détail 1196638, Photographie, 30,5 x 24 cm, Roman Opalka, Bazerac. Abb. in: Edition Opalka 1965/1- ∞ Spur der Zeit, in den Museen: Neues Museum Weserburg Bremen, Musée d’Art Moderne de la Ville de Paris, Städtische Galerie im Lenbachhaus, München, Museum des 20. Jahrhunderts, Wien, 1992-1993, Hrsg. Neues Museum Weserburg, Thomas Deecke, 1992.
Selbstportraits,
macht
viert. Das Werkzeug der Malerei potenziert die Wahrnehmung des Wachstums des Werkes. So gesehen ist Opalkas Werk selbstreferentiell und spricht vom Akt des Malens. Während die Lebensdauer als Messlatte für das Volumen des Gesamtoeuvres
55
CRITICA–ZPK I/ 2014
genommen wird, erfahren wir durch
verdichtender
Zeitraum
dar,
des-
Concept Künstler On Kawara mit sei-
die Zahlenprogression den Zeitraum
sen
der Malerei. Denn Opalka zählt nicht
unendlich
sein
nem Buch-Diptychon One Million Years
könnte, jedoch durch den Tod des
(Past) und One Million Years (Future).8
die Zeit, er sagt Zahlen auf. Zählen ist
Künstlers
Auf
Beide Serien bestehen aus 10 Volumen,
ein Prozess der Bewusstwerdung des
seiner Homepage steht als Leitsatz
in denen Buchseiten gefüllt sind mit
irrreversiblen
Ausdehnung
unterbrochen
wird.
Die
„le fini défini par le non fini“ (das
auf
Progression macht die Zeit sichtbar und
Abgeschlossene durch das Unvollendete
Jahreszahlen. „Past“ beginnt im ersten
ist Ausdruck der steten Dynamik.
definiert).
Volumen mit 998.031 BC und deckt eine
Opalka verdeutlicht dies wie folgt: Als
und
entwickeln
Periode von 100.000 Jahren, sodass die
er anfing Zahlen zu malen, waren die
sich beide linear, allerdings im um-
letzte Zahl des 10. Bandes mit 1969 AD
ersten wiederkehrenden Zahlen 22, 333,
gekehrten Verhältnis: Während die
aufhört, einem Jahr bevor On Kawara
4444 im ersten Teil des ersten Bildes,
Zahlenprogression
nimmt
mit diesem zwischen 1970-71 entstanden
55555 am Ende des zweiten Bildes. Der
die Farbintensität ab sowie das Werk
Werk begann. Jede Seite umfasst einen
Wechsel erfolgte schnell. Bis zur Zahl
wächst, das Leben des Malers hinge-
Zeitraum von 500 Jahren, beginnend
666666 malte Opalka sieben weitere
gen schwindet. Die Lebensdauer ist der
mit dem ersten Jahr eines Jahrhunderts.
Jahre und erst im achten Jahr überschritt
Zeitraum der Malerei, das Werk bleibt
Dementsprechend sind auf der ersten
er die Million. Dies war ein so wichtiger
auch als Gesamtwerk ein Fragment
Seite nur 31 Jahre aufgezeichnet und auf
Schritt, dass Opalka dieses Datum fest-
des potentiell Erreichbaren. Und ge-
der letzten fehlen wieder 31 Jahre. Die
hielt, indem er am 7. September 1973 ein
nau in diesem Bewusstsein, einerseits
10 Volumen sind anders als bei Opalka
Telegramm an den Galeristen Franco
der Dimension des Menschsein und ih-
mit
Paludetti sandte mit der Feststellung: „I
rer Begrenztheit in einer kosmischen
was ihnen den Charakter von nüchter-
crossed the million“. Damals rechnete
Zeitrechnung und ihrer Darstellung ist
nen Archivbüchern verleiht. Sie sind
er aus, dass er noch ca. 30 Jahre malen
die von ihm erwähnte „selbstangetane
„To all those who have lived and died“.
müsste um die Zahl 7777777 zu errei-
Stigmatisierung“ zu verstehen.
Die Menschheitsgeschichte wird hier
Zeitverstreichens.
die
Die
Zahlenprogression
Farbintensität
wächst,
Schreibmaschine
geschriebenen
Schreibmaschine
geschrieben,
summa summarum dargestellt, ohne
chen. Mit anderen Worten, je größer die Progressionen, desto schwerer wird es,
ON KAWARA: Zeitarchive – die
Anspruch auf eine genaue geschichtli-
sie zu erreichen. Die Zahl 88888888 ist
Relativität der Zeiterfassung
che Referenz, außer jener, dass es den
unermesslich und befindet sich außer-
Neben dem expandierenden Zeitbegriff,
Zeitrahmen von einer Million Jahren vor
halb eines menschlichen Lebens7. Als
wie ihn Opalka vertritt, wird Zeit,
der Entstehung des Werkes umfasst. Im
Opalka im Alter von 80 Jahren starb,
als Resultat der Beobachtung un-
Prinzip ließe sich der Zeitausschnitt aus-
schrieb er als letzte Zahl 5607249.
seres Sonnensystems, auch als zy-
dehnen, worauf die unfertige erste Seite
klische
Opalkas
Zeitverständnis
ist
linear
Sekunden,
hindeutet. Im 2. Teil des Diptychons, das
wie das Leben. Kennzeichnend ist die
Minuten, Stunden, Tagen, Monaten,
bis zum Jahr 1980 fertig gestellt wurde,
Tatsache, dass er davon spricht, die
angesehen, die allerdings wieder in eine
beginnt die Zeitrechnung mit 1981 AD
Bilder mit Zeit zu füllen. Je mehr Zeit
Progression münden, wenn es um Jahre
und reicht entsprechend bis 1.001.980
Opalka in seine Details investiert, des-
geht. Der Beginn einer derart erfass-
AD. Sie ist „for the last one“ geschrieben,
to mehr setzt er Energien frei. Das
ten Zeitspanne wird an historischen
also für den Letzten. Die Jahreszahlen
Besondere daran ist, dass jedes Detail
Gegebenheiten gemessen, etwa Christi
bilden auch hier eine Progression, die
eine dichtere Zahlenfolge als das vo-
Geburt, oder jene Mohammeds; sie kann
allerdings
rangehende, das es ergänzt, erreicht.
auch an Ereignissen wie Kriegen oder
te Richtungen expandiert, ausgehend
In seiner Auffassung der Zeit ist jedes
Herrschern festgemacht werden. Und
von einem bestimmten Zeitpunkt. Im
Detail ein Teilaspekt des Ganzen und in
wie oft hört man den Begriff „als ich
Gegensatz zu den Progressionen von
der Vergegenwärtigung des einzelnen
noch Kind war“ oder einfach „früher“.
Opalka, die sich, wie wir gesehen haben
Moments wird der Zeitfluss bewusst
Diese Form der Zeitrechnung richtet
als Anreicherung von Energien und als
wahrgenommen, der Einzelne als Teil
sich auf ein bestimmtes Ereignis und
Raum der schöpferischen Aktivität de-
des Ganzen präsent.
rechnet von diesem nach vorn oder auch
finiert, ist diese Arbeit von On Kawara
Das Gesamtwerk stellt einen sich
zurück. Ausschlaggebend ist das Datum
den
oder auch ihre Folge, der Kalender.
8 http://www.fact.co.uk/newsarticles/2012/03/slow-art.aspx (Aufgerufen am 25.05.2014).
7 Frei zitiert nach dem Interview von G. Nabakoswki, op. cit. S. 8.
56
Einem
Wiederkehr von
solchen
Prinzip
folgt
der
in
zwei
vergangenen
entgegengesetz-
und
zukünftigen
CRITICA–ZPK I/ 2014
Generationen gewidmet. Die Zeit defi-
unser
Fassungsvermögen
auf den kulturellen Sprachraum, in
niert sich hier außerhalb der Präsenz,
sprengt, beschreibt es, im Gegensatz zu
dem sich On Kawara befindet, ohne je-
als unendlich große Zeiträume, in de-
Opalkas Progression, einen von vorn he-
doch eine örtliche Bestimmung zuzu-
nen sich das menschliche Leben unsäg-
rein begrenzten und bedingt bestimmten
lassen. Genauere Auskunft darüber ge-
lich klein einschreibt. Es fällt auf, dass
Zeitraum: begrenzt, weil die Widmung
ben die Zeitungsausschnitte, die jedes
ausgerechnet der Zeitabschnitt von
„for the Last one” die Endlichkeit der
Date Painting begleiten. Diese sind den
1970-80, in dem die Bücher entstan-
Menschheit voraussetzt; bedingt be-
Tageszeitungen des jeweiligen Landes
den, in der Zeitrechnung ausgespart ist.
stimmt, weil der Zeitausschnitt willkür-
entnommen und werden in der spezi-
Die Schaffenszeit wird nur durch ein
lich ist und in beiden Richtungen erwei-
ell zur Verpackung der jeweiligen Date
Vorher und ein Nachher abgegrenzt.
tert werden kann. Darauf weisen die un-
Paintings angefertigten Schachtel auf-
Die Präsenz existiert nicht oder bes-
fertigen Seiten hin. In der Tat lässt sich
bewahrt, als Zeitdokument. Man ver-
ser gesagt, sie lässt sich nur als „in bet-
die Entstehung des Universums heute
mutet einen Zusammenhang zwischen
ween“ wahrnehmen, als ein flüchtiges
um Millionenjahre weiter zurückverfol-
den Themen der Zeitungsausschnitte
Etwas, zwischen dem Gewesenen und
gen als noch vor 50 Jahren und auch die
und der Wahl von Farbe und Format;
dem zu Erwartenden, das im Moment
Zukunftsvision rückt immer weiter in
doch On Kawara verweigert den kausa-
des Bewusstseins seiner Existenz schon
die Ferne.
len Bezug, genauso wie Opalka das ge-
der Vergangenheit angehört. Dies wird
Ein wesentlicher Teil des Oeuvres von
naue Entstehungsdatum seiner Details.
auch durch das Verstreichen der reel-
On Kawara hat einen konkreten Bezug
Die
len Zeit verdeutlicht: konnte man 1980,
zum Jetzt: Die Werkgruppe Today, die
werden nicht unbedingt mit den Date
als die 10 Volumen von One Million Years
sich in seinem Oeuvre zwischen den bei-
Paintings gezeigt. Sie sind stille Zeugen
(Future) erstmals ausgestellt wurden,
den Teilen von One Million Years (Past) und
ihres Entstehungsortes und erzählen
noch den gesamten Inhalt als Projektion
(Future) als Ausdruck der Präsenz ein-
über Ereignisse, die der Presse wert
in die Zukunft betrachten, so gehö-
fügt. Zu diesem, der Präsenz gewidme-
schien, aufgezeichnet zu werden und
ren heute (2014) bereits 32 Jahre von
tem Werkkomplex, gehören verschiede-
an einem bestimmten Tag in einer be-
„Future“ der Vergangenheit an. Die
ne Werkgruppen: die Date Paintings, die
stimmten Gegend relevant waren. Es
Arbeit spricht also über die Relativität
Listen I met, die Postkarten I got up at …
scheint, dass sie im Verhältnis zum
unserer Wahrnehmung von Zeit in
und noch die Telegramme I am still alive.
Datum eine genauso untergeordnete
Bezug zur Geschichte. Bei genauer
Die Date Paintings sind Ölbilder, auf de-
Rolle spielen, wie jene Menschen, de-
Betrachtung zeigt sich, dass auch der be-
nen ein bestimmtes Datum zu lesen ist,
nen One Million Years gewidmet ist. Die
schriebene Zeitraum der Vergangenheit
also gemalte Zeit. Das erste entstand am
Zeitungsartikel, die On Kawara seit dem
keinen konkreten Bezug zur tatsäch-
4. Januar 1966, nur kurz nachdem Opalka
2. Oktober 1966 sammelt, werden nicht
lichen Menschengeschichte herstellt;
mit der Ausarbeitung seines Zeitfreskos
nur den Date Paintings beigelegt, sondern
er bemisst nur einen potentiellen
begann. Im Gegensatz zu Opalka sind
in Büchern archiviert und unter dem
Zeitraum, dem ein ebenso langer in die
die Date Paintings immer in typographi-
Begriff I read gebunden. Jeder Artikel
Zukunft entspricht. Diese Spiegelung
scher Schrift gemalt, wodurch sie eine
ist gestempelt und mit der Nummer des
von Vergangenheit und Zukunft rela-
möglichst objektive Berichterstattung
zugehörigen Date Paintings versehen. Als
tiviert unser Bewusstsein für die Zeit.
anstreben. Die Daten sind mit wenigen
Ansammlung von Gelesenem zeugen
Die beiden Archivbücher gleichen den
Ausnahmen weiß, meistens auf einem
sie durch die Auswahl der Ausschnitte
Gedenktafeln für unbekannte Soldaten,
dunkelgrauen Hintergrund mit grün,
von den persönlichen Interessen des
was übrigens auch durch die graue Farbe
rot, oder blau unterlegt. Gelegentlich
Künstlers. Durch die Selektion gibt On
der Vorblätter, die an den Granit der
gibt es rote oder blaue Bilder, manchmal
Kawara dem gelebten Tag eine persön-
Grabstelen erinnert, unterstützt wird.
auch weiße. On Kawara verwendet acht
liche Auslegung. In gewisser Weise malt
Der Zeitraum, der hier eine fiktive
unterschiedliche Querformate, von 20,5
er sich jeden Tag ein Bild der Welt, der
Zeitspanne
x 25,5 cm bis 155,5 x 226,5 cm.
seinen Ausdruck in einem noch so neu-
darstellt, enthält als einzige sichere
Für seine Date Paintings benutzt On
tralen Date Painting findet. Hinter dem
Aussage jene ihrer Endlichkeit. Auch
Kawara immer das Datumskürzel, wie
nüchternen Datum verbirgt sich eine
wenn der berücksichtigte Zeitrahmen,
es für die Landessprache des Landes, in-
subjektive Wahrnehmung der Realität
gemessen an der Lebenserwartung des
dem er sich aufhält, üblich ist. Auf die-
durch den Künstler. Sein Kalender ist
Einzelnen, fast unendlich erscheint und
se Weise gibt das Datum einen Hinweis
bis in die freie Wahl, ein Datum festzu-
der
Menschengeschichte
zeitliches
beigelegten
Zeitungsausschnitte
57
CRITICA–ZPK I/ 2014
halten oder es kommentarlos zu übergehen, ein persönlicher Kommentar der Präsenz der Zeit. Im Gegensatz zu Opalka malt On Kawara nicht täglich ein Date Painting. Es kann daher nicht von ununterbroche-
einem bestimmten Plan zu folgen. Man wird an Kalligraphie erinnert, nicht nur weil es sich um Schrift handelt, sondern wegen der frei gesetzten Akzente und dem meditativen Charakter, welchen die Herstellung eines solchen Schriftbildes voraussetzt. 9
Festhalten dieses Zeitpunktes entsteht ein persönlicher Kalender, der ganz anders als die Date Paintings, in direktem Bezug zur Person des Künstlers steht. Auch die Telegramme, mit dem Text I am still alive stellen einen Bezug zur Person des Künstlers her. Henning10 bemerkt
ner Kontinuität wie bei Opalka die Rede sein. Doch eine Regel hält er scheinbar
Die Date Paintings selbst werden in ei-
mit Recht, dass die Feststellung nur zum
ein: Wenn ein Date Painting nicht an dem
nem Journal verzeichnet, das in der
Zeitpunkt des Versands seine Gültigkeit
Tag fertig werden kann, an dem es be-
Landessprache in dem On Kawara das
hatte. Theoretisch könnte es passieren,
gonnen wurde, wird es vernichtet. Der
erste Bild des Jahres malt, verfasst ist.
dass das Telegramm seinen Adressaten
Zeitraum eines Bildes überschreitet
In einem vor Ort gekauften Kalender
erst nach dem Tod des Künstlers er-
jenen eines Tages nicht. Da allerdings
trägt On Kawara ein, wann er ein Date
reicht. Einmal mehr konfrontiert uns On
mehrere Bilder am selben Tag entstehen
Painting gemalt hat, wie groß es ist
Kawara mit der Relativität der zeitlich
können, kann ein Bild nicht automatisch
und welche Farbe es hat. Jedem Date
bedingten Wahrheit. Seine Feststellung
als Darstellung eines Tages angesehen
Painting entspricht ein Untertitel, dass
ist ebenso lakonisch wie jene von Opalka
werden. Das Datum gibt Aufschluss über
den Schlagzeilen aus den jeweiligen
„I crossed the million“ und dennoch
den Zeitpunkt seiner Entstehung, nicht
Zeitungsausschnitten entnommen ist.
trennen Welten die beiden Aussagen.
über die Dauer seiner Fertigung. Was
Alle Informationen dienen nur dem
Denn Opalka hält damit ein ganz be-
das Bild im Einzelnen verweigert, veran-
einen Zweck: der Vergegenwärtigung
stimmtes Ereignis fest, verleiht ihm
schaulicht eine Fotodokumentation des
gelebter Zeit. Die Date Paintings legen
durch die einmalige Meldung einen
Entstehungsprozesses, die von Henning
davon Zeugnis ab, sie sind ein Stück
feierlichen Charakter. On Kawaras I am
Weidemann dargestellt ist:
Erinnerung.
still alive könnte als Lebenszeichen ver-
Es scheint, dass das Bewusstmachen der
standen werden, das man Freunden und
Zeit auch On Kawaras eigenes Leben
Bekannten schickt, die man eine Zeit
prägt. In der Werkgruppe I met (Ich habe
lang nicht mehr gesehen hat. Die ständi-
getroffen), die aus Listen besteht, zählt
ge Wiederholung der Meldung verleiht
On Kawara seit dem 10. Mai 1968 alle
der Nachricht einen anderen, auf sich
Personen auf, die er an einem Tag in einer
selbst bezogenen Charakter. Man kann
bestimmten Ortschaft trifft. Sie verraten
hier die Feststellung von René Denizot
aber nichts über die Art der Beziehungen
zu den Date Paintings wörtlich überneh-
zwischen On Kawara und den Anderen,
men: „Es gibt kein Ende, keinen Anfang,
ob es sich um berufliche, freundschaft-
keinen Fortschritt, keinen Niedergang.
liche oder Zufallsbegegnungen handelt.
[. . .] Das Individuum misst sich in sei-
Über Jahre verschickte On Kawara täg-
ner Praxis an der Universalität von
lich eine Postkarte an einen Bekannten
Bedingungen.“11
oder an eine Postfachadresse mit der
Die letzte Werkgruppe I went (ich bin
stereotypen Meldung I got up at ... . Die
gegangen)
Tatsache, dass er entweder einen Freund
ab. Seit dem 1. Juni 1968 sammelt On
oder eine Postadresse als Adressaten
Kawara Kopien der Stadtpläne, in de-
wählt, zeigt, dass es nicht darum geht,
nen er die Strecken, die er am Tag zu-
ein Lebenszeichen von sich zu geben,
rückgelegt hat, markiert. Damit gibt er
auch nicht darum, ein Verzeichnis der
seinem Kalender feste geographische
Freunde zu erstellen. Das Aufstehen ist
Standorte. Wichtiger als der Standort ist
ein aktives in den Tag treten. Mit dem
vielleicht die Tatsache, dass im Gehen
6 Aug.1992, 12:10 [PM]: ein Tisch, darauf ein Karton, ein paar Pinseln und Farbe, ein Wischtuch, dann die weiße Leinwand bereits aufgezogen. Der Malprozess kann beginnen, wo auch immer. 01:05 die Grundierung in rotbraun ist beendet. Im nächsten Foto ist das Bild bereits schwarz ausgemalt und das Datum sorgfältig vorgezeichnet. Es ist 11:23 [AM]. Interessant ist die Prozedur. On Kawara beschränkt sich auf ein Minimum an Mitteln und setzt Akzente, eines nach dem anderen. Er malt zuerst die 1 und ein Teil der 2 von 1992, dann die erste 9 und ein Teil der zweiten, beendet dann die 2 und die 9 und beginnt mit einem Strich von A. Wenn schließlich das ganze Datum steht, fängt er an daran zu basteln, verdickt den einen Strich, dreht das Bild um, um die Beine genau abzuschließen und, da offensichtlich die Farbe krakeliert, bessert er sie aus bis zur Perfektion. Der Prozess endet laut der Uhr um 10:28 [PM]. Mit den Trocknungsphasen hat die Erstellung dieses Bildes fast einen vollen Tag in Anspruch genommen. Der Malprozess gleicht einem Ritual. On Kawara malt wirklich seine Daten, setzt da ein Akzent, dann dort, scheinbar ohne
58
rundet
das
Gesamtbild
das Verrinnen der Zeit ins Bewusstsein 9 Weidemann, Henning: Der Chronograph, in: On Kawara, Whole and Parts 1964-1995, proposed by On Kawara, Edited by Xavier Douroux & Franck Gauthier, Les Presses du Réel, 1996, Abb. S. 11-46, Text S. 501-509.
10 Weidemann, Henning, op. cit. , S.507. 11 Denizot, René: On Kawara. Schriften zur Sammlung des Museums für Moderne Kunst, Frankfurt am Main 1991, S. 15.
CRITICA–ZPK I/ 2014
Tatsuo Miyajima – Kollektive
Im Unterschied zu Opalka und On
Werkgruppen, die vermeintlich sei-
Zeitwahrnehmung: Ort und
Kawara, die mit ihren Zahlenbildern
ne Aktivitäten aufzeichnen, verharren
Ereignis im Zeitalter des Internets
zwar
dabei so sehr im Allgemeinen, dass al-
Opalka und On Kawara suggerieren bei-
System aufgreifen, damit aber Bilder
les, was einer privaten Mitteilung ent-
de eine objektive Zeitmessung. Genau
produzieren, die insofern einen elitären
sprechen würde, nicht erwähnt wird.
genommen sind sowohl der poetische
Anspruch an den Betrachter stellen, als
Es geht On Kawara ebenso wenig wie
Zeitbegriff von Opalka als auch On
er sich mit Malerei auseinandersetzen
Opalka darum, Privates mitzuteilen.
Kawaras fiktiver Kalender die Frucht
muss, verlässt Tatsuo Miyajima das Feld
Vielmehr dienen die Informationen
einer persönlichen, also subjektiven
der Malerei zugunsten der mit Dioden
zur Vergegenwärtigung der Zeit, des
Zeiterfassung. Mit anderen Worten:
generierten Zahlen. Es sind LEDs, die
Zeitverbrauchs, des Zeitvergehens. Der
Zeit messen und Zeit erfahren ist nicht
der digitalen Sprache entnommen sind
Zeitbegriff On Kawaras entwickelt sich
dasselbe. Wie eingangs erwähnt, er-
und von den meisten Weltbürgern gele-
zwar aus der faktischen Realität, entzieht
lauben die heutigen Messgeräte eine
sen werden können. Außerdem erfüllen
sich ihr zugleich, indem die Aussage auf
präzise Zeitmessung. Dennoch bleibt
sie einen weiteren Zweck. Sie führen die
das alleinige Datum reduziert wird. So
die Erfahrung des Zeitraumes nach
Bewegung des Performers ins plastische
gesehen ist das Datum Ausdruck von
wie vor subjektiv. Es hängt von emo-
Werk, ein wesentliches gestalterisches
gelebtem Leben, von der Einmaligkeit
tionalen Erfahrungen ab, ob die Zeit
Element zum Zeichen des Wandels, der
des einzelnen Tages, die sich in der
schnell oder gar nicht verstreicht. Auf
die Arbeiten von Tatsuo Miyajima in
Wiederholbarkeit
Tagesablaufs
dieser Beobachtung, die im Film zu
die Nähe jener von Tinguely rückt. Jede
wieder aufhebt. Sie sind zugleich, wie
den wichtigen Ausdrucksmitteln ge-
einzelne Ziffer wechselt ständig zwi-
Henning Weidemann sagt „in den Raum
hört und auf die neuerdings Arbeiten
schen 1 und 9, die 0 wird ausgelassen,
überführte Zeit, die während des Malens
wie jene von Gordon Douglas reflektie-
aber nicht ausgespart. Die Ziffern sind
vergangen ist und die selbst unsichtbar
ren – basiert auch das Werk von Tatsuo
einzeln oder in komplexeren Werken
ist, dennoch konstitutiv.“12 Der Prozess
Miyajima, einem japanischen Künstler,
zu Zahlenkombinationen, die manch-
zeigt, dass – wie bei Opalka – auch hier
der in seinen Anfängen Performances
mal aus 20 Ziffern bestehen, grup-
das Malen an sich zum Thema des Bildes
aufführte, die als zentrales Thema die
piert. Tatsuo Miyajima bezeichnet die-
wird. Die Date Paintings von On Kawara
Frage von Ursache und Wirkung hat-
se Einheiten als Gadget, also als kleine
sind nach Heinemann im Einzelnen
ten. Dabei bemerkte er, dass der Stoff
technische Spielerei. Das Prinzip der
eine Ansammlung kleiner Ikonen an die
der Performance zum Großteil aus
Gadgets ist der ständige Zahlenwechsel,
Malerei und in toto ein Archiv von in die
Zeit besteht: Nicht nur die Zeit der
wobei jedes Gadget unterschiedlich
Malerei überführten Leben.
Aufführung ist damit gemeint, son-
schnell programmiert werden kann und
Der Raum der Zeit bei On Kawara wird
dern auch die Tatsache, dass eine nur
daher einen eigenen Rhythmus hat.
vom Lebensraum des Künstlers be-
einmal aufgeführte Performance zum
Keep changing, Connect with everything,
stimmt, von den verschiedenen Kulturen
richtigen Zeitpunkt am richtigen Ort
Continue Forever (Abb.1) ist in sei-
der Welt in denen er sich bewegt. Ein
aufgeführt werden muss und das es
ner Erscheinungsform ein digitales
Datum wird an Fakten festgemacht, auch
ein Zufall ist, ob man sie sieht oder
Tafelbild.
wenn diese nicht für jeden nachvollzieh-
nicht. Ab 1984 gibt er die Performance
Die Trägerfläche des Quadrats ist aus
bar sind. Die unterschiedlichen Daten
auf, weil es ihm nicht mehr reicht, nur
grünem Metall, die LED-Ziffern leuch-
potenzieren sich nicht, sie sind gleich-
ein paar Leute zu erreichen. Er sucht
ten gelb oder rot vor schwarzem Grund.
wertig nebeneinander; manchmal ragt
nach Mitteln, die eine möglichst große
Das strenge orthogonale System, wird
ein Datum hervor. Angesichts der Date
Gruppe von Weltbürgern erreicht, denn
durch die Anordnung der Ziffern und
Paintings, in denen sich die Gegenwart
er ist überzeugt, dass es im Rahmen der
durch die sichtbaren Chips betont, wobei
des eigens gelebten Moments einprägt,
Globalisierung notwendig geworden ist,
die Geometrie der sichtbaren Technik
nimmt die Unbestimmtheit der One
eine überregionale Ausdrucksweise zu
durch die bunte Farbzusammensetzung
Million Years (Past und Future) einen neu-
finden. Mit überregional meint er eine
einen Pop’ artigen Eindruck erhält und
en Sinn, eben als nicht persönlich erfah-
Sprache, die sowohl von der westlichen
das Spiel mit der Technik evident wird.
rene Zeit.
als auch von der östlichen Kultur ver-
Der Titel dieser Arbeit ist Programm für
standen wird. Das ist der Grund, wieso
das Gesamtwerk von Tatsuo Miyajima.
er auf Zahlen zurückgreift.
Der erste Punkt „Keep Changing“ for-
gerufen
wird.
Diese
des
verschiedenen
12 Weidemann, Henning, op. cit. , S. 506
ein
allgemein
verständliches
59
CRITICA–ZPK I/ 2014
zeitlich präsent, als Leerstelle, was in Abb.1. Tatsuo Miyajima, Keep Changing, Connect with Everything, Continue Forever, 1998, L.E.D. rot/grün, IC, Elektrokabel, Aluminum Tafel, Stahl, 32 x 32 x 7,5cm, Courtesy der Künstler und Buchmann Galerie Berlin
den Zahlenprogressionen der Gadgets durch erlöscht bleiben der Zahl dargestellt wird. Während die Null in einer Progression üblicherweise zur davor stehenden Zahl addiert wird, bedeutet die Darstellung durch das Ausbleiben des Lichtsignals einen sichtbaren Moment der Nicht-Existenz. Ein genaues Hinschauen zeigt, dass manche Zahlen mit anderen in Verbindung stehen. Die dritte Zahl der ersten vertikalen Reihe ist mit der untersten der vierten Reihe, die zweite Zahl der dritten vertikalen Reihe mit der vierten derselben Reihe gekoppelt. Das heißt, dass es einen Impulsgebenden Sender und einen Empfänger gibt. Die Systeme sind miteinander verbunden und beeinflussen sich gegenseitig. Auf diese Form der wechselwirksamen Einflussnahme verweist Tatsuo Miyajimas digitales
Frühwerk
Time
Landscape
Acrylzeichnung mit gelber Farbe, über eine chinesische Landschaftsdarstellung der Qing Dynastie aus dem 19. Jh. . komplex. Das Bild, das in der Abbildung
rum? Auf der Suche nach einer Antwort
zu sehen ist, wird sich in dieser
drängt sich das Manifest von Tinguely
Konfiguration kaum wiederholen, denn
Für Statik13 mit seinem widersprüchli-
die Zahlenprogression von 1-9 ist bei
chen Aufruf „seid statisch, seid statisch
den einzelnen Einheiten unterschiedlich
in der Bewegung“ auf, was nichts ande-
eingestellt. Deshalb werden die oberen
res fordert, als im Einklang mit der Zeit
und die unteren acht der ersten hori-
gemeinsam fortzuschreiten. Durch die
zontalen Zeile nicht gleichzeitig die Null
gleich-schnelle Bewegung entsteht der
erreichen, und für die Zeit der nicht ge-
Eindruck der Statik und letzten Endes
zählten Zahl Null unterschiedlich lang
der Ruhe. Das digitale Zahlensystem,
ausgelöscht bleiben. Tatsuo Miyajima
auf das Miyajima seine gesamte Arbeit
spart gezielt die Null als Leuchtdioden
aufbaut, verkörpert dieses Prinzip in be-
aus. Sie wird aber als Auszeit mitgezählt,
sonderem Ausmaß. Aus Modulen beste-
weil Null im Sinne des Buddhismus
hend, kann das System jede Zahl formen,
Symbol des Nichts ist und daher auch
sodass jede Zahl sich in alle anderen
des Todes. Das Nichts kann nichts gene-
verwandeln kann. Die Veränderung fin-
rieren, daher kann es auch nicht leuch-
det ohne räumliche Verschiebung statt.
ten. Die Null lässt sich nicht einfach
Miyajimas System ist allerdings sehr
überspringen, denn sie gehört dazu,
60
Programmpunkt
von 1994. Es handelt sich um eine
dert zur Veränderung auf. Wie und wa-
13 Tinguely, Jean: Flugblatt Für Statik, Düsseldorf, März 1958, Tinguely Museum.
zweiter
„Connect with Everything“. Ein nicht
wie der Tod zum Leben. Deshalb ist sie
Tatsuo Miyajima hat die Form von Digitalzahlen beim Übermalen ausgespart, sodass Teile der Zeichnung in den Zahlen durchscheinen. Somit kommt es zu einer Überlappung von Gestern und Heute, von alten und neuen Ausdrucksmitteln und auch von alten und neuen Zeitrechnungen, war doch die Landschaft in der chinesischen Kunst Ausdruck des Zeitlosen. „Connect with everything“ kann ein gleichzeitiges staffeln von Zeiterlebnissen wie in Time Landscape meinen, es kann auch das Ineinandergreifen von verschiedenen Zeitspuren bedeuten wie in Running Time14. Hier durchkreuzen sich die Leuchtspuren von U-Cars (Uncertainty Cars) in einem Gewirr von farblich differenzierten
Zeitschnüren,
die
den
14 http://www.tatsuomiyajima.com/en/text/ ucar.html (aufgerufen am 25.05.14)
Abb.2 Tatsuo Miyajima, Sea of Time, 1998, L.E.D, IC, Plastic Belag, Elektrokabel, Wasser in FRP Wasserbecken, 486 x 577 x 15 cm, Courtesy Lisson Gallery, London.
CRITICA–ZPK I/ 2014
Richtungen der unterschiedlich schnell
eine Geschwindigkeit für Ihr ei-
Juden, die vom nahe gelegenen
und nach vorn oder rückwärts fahrenden
genes Leben anzugeben und die
Bahnhof aus im Nazi-Deutschland
Autos folgen. Running Time greift nach
Zahlenfolge von 1-9 oder 9-1 zu be-
stattfand. 16
Aussage des Künstlers Einsteins Prinzip
stimmen. Ihre Lichterketten/Zahlen
Für Miyajima entwickelt sich Zeit in
der Relativität von Zeit und Raum
leuchteten in einem Wasserbecken,
Kreisbewegungen oder, wie er selbst
auf, die untrennbar miteinander ver-
ein digitales Bild der Vielfalt ih-
sagt, als Spirale, die sich in beiden
knüpft sind. Es nimmt auch Bezug zu
rer Lebensrhythmen und gleich-
Richtungen ausdehnt. Kreisbewegungen
Heisenbergs Theorie, nach der das
zeitig die Veranschaulichung ihrer
bedingen die Wiederkehr, was auf
Verhältnis von Zeit und Raum nicht
Vernetzung. Die Realität einer Dorf-
die
absolut, sondern flexibel ist. Diese
gemeinschaft fließt hier in die vir-
Wiedergeburt verweist. Optisch gilt
Flexibilität ist bedingt durch die
tuelle Darstellung einer Installation
dies für die ständige Wiederholung des
Menschheit und die unendlich vie-
und greift auf diese Weise den Ge-
Zählens von eins bis neun oder bes-
len persönlichen Lebensrhythmen,
danken der sozialen Plastik von
ser gesagt bis zehn, wenn man die Null
die miteinander vernetzt sind. Denn
Joseph Beuys in vollkommen neu-
mitzählt. Die Spirale bedeutet auch die
„Connect with everything“ ist auch
er Form auf 15 . Ein weiterer wesent-
Ausdehnung ins Unendliche, dies in
als „Connect with everyone“ zu ver-
licher Aspekt in Miyajimas Werk
beide Richtungen, da viele Projekte den
stehen. Im Gegensatz zu Opalka
ist die politische Stellungnahme,
Count down thematisieren. Zeit wird
und On Kawara handelt es sich bei
z.B. in Mega Death, das auf den Tod
in die dritte Dimension projiziert und
Miyajima nicht um ein persönli-
von 167.000.000 Menschen durch
ches Zeitempfinden, sondern um
Gewalt im 20. Jahrhundert ver-
ein kollektives, von unterschied-
weist, oder noch in Time Train to the
lich vielen Menschen gebildet. Das
Holocaust, das er in der Kunsthalle
Projekt Sea of Time (Abb.2) für das
Recklinghausen aufstellte, in An-
Künstlerhaus Kayoda auf der Insel
denken an die Deportation der
16 Zur Frage der Hybridisierung zwischen Realität und Virtualität sowie der gesellschaftlichen Relevanz des Werke von Tatsuo Miyajima verweise ich auf die sehr detaillierte und fundierte Analyse von Spielmann, Yvonne: Hybridkultur, Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft, Erste Auflage 2010, besonders S. 53-56 und 213-216, die mich hier zur Aktualisierung meines Textes im Hinblick auf die historische Stellungnahme seines Werkes und den Bezug zwischen Realität und Virtualität inspiriert hat.
Naoshima in Japan bringt diesbezüglich Aufschluss. Miyajima bat die Dorfbewohner
15 Spielmann, Yvonne: Hybridkultur, Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft, Erste Auflage 2010, S. 214.
Buddhistische
Philosophie
der
61
CRITICA–ZPK I/ 2014
nicht unerheblich, dass Tatsuo Miyajima dieser Arbeit den Titel „Modell“ gibt. Damit suggeriert er, eine noch nicht vorhandene Struktur und projiziert die Darstellung in die Zukunft. Indem Miyajima nicht mehr sich als Maß der Dinge nimmt, sondern die Menschheit und mit ihr die Welt oder sogar den Kosmos, begreift sich sein Zeitsystem in der vierten Dimension des unendlichen Universums. Sein ambitioniertestes Projekt Region 200 Serie 133651 (Abb.4) ist eine der komplexesten und utopischsten Zeitdarstellungen überhaupt. Der Titel „Region“ bringt die Zeit in Bezug zur Geographie. Die Zeit wird dadurch räumlich fixiert und hat eine räumliche Ausdehnung, eine logische Folgerung zu Modell (100) #2. Die Abb. 3 Tatsuo Miyajima, Modell (100) #2, 1992, L.E.D. rot, IC, Elektrokabel, 74x74x39,5cm, Courtesy der Künstler und Buchmann Galerie Berlin
Installation besteht aus roten und grünen LEDs, IC (integrated circuit chips) und Elektrokabeln (4 Alu-Paneele von
nimmt architektonische Formen an.
Zahlen stehen für Individuen. Als solche
je 210 x 210 cm). Die Zahlenfolgen, be-
Dies kommt in Modell 100 #2 (Abb. 3)
wird der unterschiedliche Rhythmus
stehend aus 20 Zahlen sind in Systemen
zum Ausdruck. Der immer neu konfi-
der Progressionen ein Symbol für die
von 10 Zählern gepaart, den Gadgets.
gurierten Bildgestaltung entspricht eine
Subjektivität der Zeiterfassung. Wenn
Jedes Gadget zählt von 1-99 in unter-
visuelle Darstellung. Die Wiederholung
die Zeit verschiedentlich dehnbar ist,
schiedlichen Tempi. Die Zähler sind mit-
der gleichen Bildkonfiguration ist nicht
so ist es verständlich, dass sie sich auch
einander verbunden, sodass zwischen
vorgesehen und in den meist komple-
architektonisch entfalten kann. Das
ihnen eine Sender-Empfänger-Relation
xen Installationen ausgeschlossen. Der
veranschaulicht Miyajima im Modell
besteht. Diese Kommunikation ermög-
Grundsatz „mach immer weiter“ sug-
(100) #2. Was das Gesamtbild zunächst
licht eine Vielzahl von Kombinationen.
geriert eine Progression im Sinne einer
zu erkennen gibt, ist eine chaotische
Die
Expansion, wie bei Opalka. Während
Anordnung der Gadgets, die unter-
Möglichkeiten belaufen sich auf 133651
Opalkas Progression nur solange wächst
schiedlich scharf und in verschiede-
Varianten, eine Zahl die der Serie ihren
wie er künstlerisch tätig ist, was mit sei-
ne Richtungen liegen. Aus der Ferne
Titel gibt. Diese wird allerdings immer
nem Tod endete, werden die digitalen
wirken sie wie die Lichter einer aus der
nur partiell ausgestellt, denn es würde
Zahlen von Tatsuo Miyajima unabhän-
Flugperspektive gesehenen Stadt. In
tausende von Quadratmetern brauchen,
gig von seiner Person auch nach seinem
der Tat sind die Schärfenunterschiede
um alle Konfigurationen zu zeigen.
Ableben weiterzählen. Der zweite we-
auf die Positionierung im Raum zu-
Daher begnügt sich Miyajima mit der
sentliche Unterschied liegt darin, dass
rückzuführen, denn die Dioden gene-
Darstellung von Details, ein Symbol da-
Opalka eine einzige Progression auf-
rierten Gadgets sind auf dünne Stäbe
für, dass auch wir nur Fragmente des ge-
baut, Miyajima hingegen mehrere un-
in der Luft suspendiert. Statt um eine
samten Universums zeitlich wie räum-
gleiche Progressionen in einem Bild ver-
flache Ausdehnung handelt es sich hier
lich erfassen. Bei Opalka stand jedes
eint. Wie das Medium, das er auswählt,
um eine strukturierte Stadtarchitektur.
Detail für einen Lebensabschnitt, wobei
ein Medium der Massenverständigung
Jedes der Gadgets hat zudem eine ei-
es theoretisch möglich wäre, anhand al-
ist, so stellt seiner Ansicht nach „Jeder
gene Orientierung und einen eigenen
ler Details das gesamte Lebensfresko zu
Zähler [. . .] einen anderen Menschen
Rhythmus. Daraus entsteht der Eindruck
betrachten. Bei Miyajima hingegen steht
oder einen anderen Planet”17 dar.
eines pulsierenden Gefüges. Es ist sicher
das Detail für ein, unserer Wahrnehmung
17 Ein persönliches Interview mit T.M. und
der Autorin, 1995.
62
von
Miyajima
ausgerechneten
sich entziehendes, kosmisches Ganzes.
Abb.4 Tatsuo Miyajima, Region, 1991, 49 Einheiten, L.E.D. , IC, Elektrokabel, Aluminium Träger, 131 x 287 cm, Courtesy der Künstler und Buchmann Galerie Berlin (Vorstufe von Region 200 Serie 133651)
CRITICA–ZPK I/ 2014
In gewisser Weise nehmen Opalka und
im Verhältnis zum Kosmos dargestellt.
Miyajima entgegengesetzte Positionen
Opalka geht von einer mönchischen
ein: Bei Opalka ist die Zeitrechnung
und auratischen Ausgangsposition aus,
ein physischer Akt, welcher von der
wobei der Künstler als Individuum sich
Befindlichkeit des Malers abhängt und
am Ende seines Lebens im universellen
sich mit zunehmenden Alter entschleu-
Licht auflöst; On Kawara nimmt eine
nigt. Im Zeitalter des Internets und der
vom Existenzialismus geprägte Stellung
digitalen Kultur greift Tatsuo Miyajima
ein, indem ein wesentlicher Teil seines
auf eben diese, hochtechnisierten Mittel
Werkes sich mit der alltäglichen Präsenz
zurück und entwickelt ein kollektives
befasst. Diese wirkt allerdings durch sein
Zeitverständnis. Manchmal knüpft er
Monumentalwerk One Million Years (Past)
an prägende, oft mit Massensterben ver-
und One Million Years (Future) verschwin-
bundene Ereignisse an, oder er projiziert
dend wie bei Opalka. Schließlich verlässt
die Zeitrechnung visionär in die vierte
Miyajima die Perspektive des Ichs, um
Dimension. In neueren Arbeiten wie Sea
im Zeitalter des Internets, auf eine ver-
of Time wird der Rhythmus nicht mehr
netzte Gesellschaft hinzuweisen, die die
durch ihn selbst bestimmt, sondern
individuelle und die universelle Zeit zu
durch andere, an der Installation betei-
einer sozialen Plastik entwickelt.
Sammlung des Museums für Moderne Kunst, Frankfurt am Main 1991. Douroux X. & Gauthier F. (Hrsg.): On Kawara, Whole and Parts 1964-1995, proposed by On Kawara, Les Presses du Réel, 1996. Duchamp, Marcel: The Box in a Valise de ou par Marcel Duchamp ou Rrose Sélavy, Inventory of an Edition by Ecke Bonk, Rizzoli New York, 1989. Edition Opalka 1965 / 1 - ∞ Spur der Zeit, in den Museen: Neues Museum Weserburg Bremen, Musée d’Art Moderne de la Ville de Paris, Städtische Galerie im Lenbachhaus, München, Museum des 20. Jahrhunderts, Wien, 1992-1993. Heute KUNST, internationale Kunstzeitschrift, N° 4-5, Dezember 1973 – Februar, 1974 Mailand-Düsseldorf. Spielmann, Yvonne: Hybridkultur, Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft, Erste Auflage 2010.
ligte Menschen. Damit bringt er erneut seine Erfahrung der Performance in die Installation ein. Opalka, On Kawara und Tatsuo Miyajima haben alle drei die menschliche Existenz bemessen und sie jeder auf seine Art
Literatur Bischofberger, Christina: Jean Tinguely, Werkkatalog Skulpturen und Reliefs, Band 1-3, 1982. Denizot, René: On Kawara, Schriften zur
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CRITICA–ZPK I/ 2014
bücher kunst philosophie
Bild und Zeit. Temporalität in Kunst und Kunsttheorie seit 1800 -Hrsg.: Thomas Kisser
Ausgehend vom Epochenwandel um 1800 bis zu den neuen Formen der Kunst des 20. Jahrhunderts in Fotografie und Kino, stellen sich die Beiträge des Bandes der Frage nach der Zeit im Bild. Im Gespräch von Kunstgeschichte, Literaturwissenschaft und Philosophie entsteht so ein Bild der Zeit. Temporalisierung ist eine der Grunddynamiken der Moderne. Kann aber Zeit überhaupt ins Bild gesetzt werden? Kann ein Bild der Zeit gegeben werden? Was steuert die polyfokal, reflexiv und sentimentalisch werdende Kunst um 1800 zu diesen Fragen bei?
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Arnold Gehlen Gesamtausgabe Band 9: Zeit-Bilder und andere kunstsoziologische Schriften -Hrsg.: Karl-Siegbert Rehberg und Matthes Blank
Mit Beiträgen von: Oskar Bätschmann, Werner Busch, László F. Földényi, u.a.
In der 1960 erstmals erschienenen Monografie beschreibt der Autor die moderne Malerei, insbesondere die von ihm bewunderte Revolutionierung der Künste durch den Kubismus und Maler wie Klee, Kandinsky oder Mondrian, und analysiert sie als „peinture conceptuelle“ historisch, gestaltpsychologisch und soziologisch. Auch entwickelt Gehlen hier die berühmt gewordene These von der „Kommentarbedürftigkeit“ der modernen Kunst und zeigt erstmals die Ähnlichkeit materialer Experimente in den Künsten und in der Industrieproduktion auf. Die Monografie wird ergänzt durch dreiundzwanzig weitere thematisch ganz eigenständige Abhandlungen in drei thematischen Abteilungen: „Anthropologische und kulturgeschichtliche Voraussetzungen der Künste“, „Kunstsoziologische Studien“ und „Einzelstudien zur Kunst“.
Wilhelm Fink Verlag • 500 Seiten • EUR 66 ISBN 978-3-7705-4806-4
Vittorio Klostermann Verlag • 800 Seiten EUR 99 • ISBN 978-3-465-03687-6
CRITICA–ZPK I/ 2014
Georg W. Bertram : Kunst als menschliche Praxis Eine Ästhetik
Rauchwolken und Luftschlösser. Temporäre Räume
In der Theorie und Philosophie der Kunst wird gemeinhin die Differenz der Kunst zu anderen menschlichen Praktiken betont. Dies führt dazu, dass weder die Pluralität der Künste noch die Relevanz der Kunst im Rahmen der menschlichen Lebensform hinreichend verständlich werden. Georg W. Bertram plädiert aus diesem Grund für einen Neuansatz in der Bestimmung von Kunst und verteidigt die These, dass in der Auseinandersetzung mit Kunstwerken unterschiedliche Bestimmungen der menschlichen Praxis neu ausgehandelt werden. In diesem Sinne ist Kunst eine hochproduktive reflexive Praxis im Rahmen des menschlichen Weltverhältnisses. Mehr noch: Kunst ist eine Praxis der Freiheit.
Vulkanausbrüche, Großbrände und Atomkatastrophen sind die Produzenten großer, auch medial dahintreibender Wolkengebilde aus Rauchpartikeln. Luftschlösser können hingegen als Produkte des Wunsches und der Einbildungskraft gelten. Räume sind Rauchwolken und Luftschlösser nur, insofern sie durch die Anwesenheit von Dingen, von Menschen und Umgebungskonstellationen tangiert werden. Doch Spuren können oftmals nicht auf Dauer hinterlassen werden. Zumeist sind nur kurzfristige „Prägungen“ – temporäre Räume – möglich. Beide Ballungsformen werden hier als markante Positionen eines Prozesses verstanden, in dem Medien, Technik, Politik, Kultur und Literatur Räume vermessen und somit markieren. Es lassen sich Überkreuzungen und Überlagerungen des „Aktualen“ und des „Imaginären“ feststellen.
suhrkamp taschenbuch wissenschaft • 225 Seiten EUR 17 • ISBN 978-3-518-29686-8
–Hrsg.: Dennis Paul und Andrea Sick
Publiziert in der Reihe des Instituts für Kunst- und Musikwissenschaften der Hochschule für Künste Bremen. Textem Verlag • 288 Seiten • EUR 24 • ISBN 978-386485-054-7
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IMPRESSUM H ERA U S G EB ERI N Dr. Julia-Constance Dissel C H EF REDA K T I O N Ferdinand Schwieger Julia-Constance Dissel REDA K T I O N Maria Rudolf Sandra Mann Claudia Gaida AU T O REN/A U T O RI NNEN Ana Carrasco-Conde Anita Galuschek Benedikt Franke Danièle Perrier Domonic Lütjohann Lutz Hengst Till Julian Huss KÜNSTLER/KÜNSTLERINNEN Bettina Pousttchi Björn Drenkwitz Darren Allmond Petra Johanna Barfs COVERBILD Fotolia gestaltung Basislayout European School of Design, Frankfurt Ferdinand Schwieger VERKAUF Direktvertrieb Printausgabe: 8€ (DE)/ 10SFR (CH) E-Book (open-access): critica-zpk.net bestellung@critica-zpk.net REDAKTIONS- & VERWALTUNGSSITZ CRITICA–ZPK Frankfurter Str. 6 63500 Seligenstadt COPYRIGHT CRITICA–ZPK © 2014, die Autoren und Künstler, wenn nicht anders im Inhalt angegeben Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie ISSN 2192-3213 critica-zpk.net