CRITICA–ZPK Issue I/ 2014

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critica

ISSN: 2192-3213 I/ 2014

Zeitschrift für Philosophie und Kunsttheorie

z e it Benedikt Franke | Thorsten Streubel | Ana Carrasco-Conde | Anita Galuschek | Dominic Lütjohann | Hannelore Paflik-Huber | Till Julian Huss | Darren Almond | Bettina Pousttchi | Björn Drenkwitz | Petra Johanna Barfs | Lutz Hengst | Danièle Perrier


zeit


inhalt

interview

interview

künstlerpositionen

Bücher

Etwas an der Bewegung. . . Zu den metaphysischen Vorbedingungen und Anfängen einer „Philosophie der Zeit“,  von Benedikt Franke. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

2

Acht Fragen zum Thema Zeit,  an Prof. Dr. Thorsten Streubel. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

12

Schelling und die (Zeit-)Schichten des Geistes ,  von Ana Carrasco-Conde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

15

Vergessen im Netz der Narrativität, von Anita Galuschek und Dominic Lütjohann. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

21

Acht Fragen zum Thema Zeit,  an Dr. Hannelore Paflik-Huber. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

28

Künstlerische (Anti-)Ökonomien der Zeit,  von Till Julian Huss. . . . . . . . .

32

Chance Encounter 9062 und Perfect Time 184,  von Darren Almond. . . .

40

Moscow Time und Seoul Time,  von Bettina Pousttchi. . . . . . . . . . . . . . . . . . .

42

Sein und Zeit sowie ∞,  von Björn Drenkwitz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

44

o.T. ,  von Petra Johanna Barfs. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

46

Melancholische Uhren? Vom stabilisierenden Erinnerungsbild zu Formen einer Konkretion des Zeitvergehens in der Kunst nach 1960 ,  von Lutz Hengst. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

48

Die Ralativität des Zeitraums in der Kunst nach 1950,  von Danièle Perrier. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

53

Bücher Kunst Philosophie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

64


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Etwas an der Bewegung... Zu den metaphysischen Vorbedingungen und Anfängen einer „Philosophie der Zeit“ von Benedikt Franke

„Die Zeit ist ein Knabe, der spielt,

Nicht umsonst zeigt sich der – spätestens

sikalischer Begriff, der sich auf eine von

hin und her die Brettsteine setzt: Kna-

auf Augustinus’ bekannte Erörterungen

uns unabhängige Natur bezieht. Abso-

benregiment!“

im XI. Buch seiner „Bekenntnisse“ zu-

lute bzw. reale Zeit wird hier zugänglich

Heraklit, Über die Natur

rückgehende – philosophische Diskurs

als objektives Erscheinen.

im Spannungsfeld zwischen objektiver

Erstmals als wissenschaftlich selbst-

1. Grundlegende Fragen

Realität oder subjektiver Idealität von

ständigen Aspekt einer Philosophie der

Was ist Zeit? – Die sokratische Frage

Zeit schon im alltäglichen Denken und

Natur erarbeitet Aristoteles in seinen

nach dem Wesen, der Idee bzw. dem

Sprechen: Zeit scheint untrennbar ver-

Vorlesungen zur Physik eine eigene The-

Begriff einer Sache gewinnt ihren phi-

bunden mit Zeiterfahrung – der Unter-

orie der Zeit, die sowohl die subjektive

losophischen Anspruch stets mit der Su-

scheidung des erlebenden Subjekts von

als auch objektive Seite der genannten

che nach den Grundlagen des scheinbar

Vergangenheit

Auffassungen in den Blick nimmt und

Selbstverständlichen – und deckt ihre

(„jetzt“) und Zukunft („später“). Objekti-

Probleme auf.1

viert – d. h. für sich – hingegen definiert

Die methodische Dimension der Spra-

Zeit eine Form des ‚Nacheinander’, das

2. „Gemäß der Ordnung der Zeit“ –

che für grundlegende philosophische

überhaupt Veränderung bedingt.5 Eben-

Anaximander und Heraklit

Fragen (nach klassischen Leitbegriffen

so im Alltagsverständnis verankert ist

Die Bedingungen unseres Daseins in

wie: „Was ist Existenz?“, „Was ist Wis-

Zeit als messbares Phänomen, als phy-

der Zeit – Entstehen, Vergehen, Verän-

sen?“ etc.) zeigt sich aber auch und gerade am Problem der Zeit: Es empfiehlt sich, zunächst einmal nach unserem Gebrauch fundamentaler Ausdrücke zu fragen – statt danach, wofür diese Ausdrücke (anscheinend) stehen.2 1  Auf diesen Umstand, wie er in Platons Dialogen mit ihren Fragen nach dem Wesen/Begriff von Tugend, Tapferkeit, Frömmigkeit, Sein, Wahrheit, Erkenntnis, . . . deutlich wird, verweist auch Augustinus in seinen berühmten Ausführungen zur Problematik der Zeit, Confessiones XI 14: „Was also ist die Zeit? Wenn niemand mich danach fragt, weiß ich es; wenn ich es jemandem auf seine Frage hin erklären will, weiß ich es nicht.“ 2  Nach W. Quine lassen sich gerade ontologische Kontroversen am besten über eine sprachliche Analyse führen. Ein wesentlicher methodischer Grund „[. . .] besteht darin, daß wir dann eine gemeinsame Grundlage für unsere Debatten erhalten. Fehlende Übereinstimmung hinsichtlich der Ontologie beinhaltet grundlegende Verschiedenheit der Begriffsschemata [. . .].“ Ontologische

2

3

(„früher“),

Gegenwart 4

Probleme sind deshalb allerdings noch keine bloß semantischen: Was es gibt und was nicht, hängt nicht von der Sprache ab. Quines Prinzip des semantischen Aufstiegs beruht also auf einem methodologischen Argument (Willard Van Orman Quine: Was es gibt. 1948, S. 22f.). 3  Interessant sind in diesem Zusammenhang die Ausführungen von Kurt Flasch zur Vielzahl an Aktualisierungsbemühungen (und nicht selten Vereinnahmung) Augustinus – seiner Auffassung der Seele als eigentlichen „Ort“ der Zeit – als besonders modernen Denker (vgl. Kurt Flasch: Was ist Zeit? Augustinus von Hippo. Das XI. Buch der Confessiones. Text – Übersetzung – Kommentar. Frankfurt a. M. 2004, S. 16ff.). 4  Nicht zu verwechseln mit dem psychologischen Zeitbegriff als rein individuelles Erleben – dem „Zeitgefühl“, das noch nicht den Sachverhalt relativer bzw. erlebter Zeit als einer subjektiven Erscheinung überhaupt umfasst. 5  Außer Acht gelassen für den philosophischen Diskurs, aber für den Sprachgebrauch relevant ist hier noch Zeit als Historie, die sich allerdings immer schon auf bestimmte, darin enthaltene Ereignisse bezieht.

miteinander zu vereinbaren sucht.

derung, Wachstum, Bewegung, nicht zuletzt im Bewusstsein unserer eigenen Sterblichkeit – bilden eine menschliche Grunderfahrung. Obwohl oder gerade weil die Philosophie seit ihren Anfängen nach dem Überzeitlichen, dem unvergänglich-ewigen Sein fragt, kann sie sich dieser Erfahrung nicht entziehen. Zunächst noch fernab unserer heutigen Auffassung der Zeit als messbares, physikalisches Phänomen zeigt sie sich als wirkmächtige ‚Kraft’ doch bereits unmittelbar an den Dingen selbst. „In diesem naiven Sinn verstanden ist Zeit etwas, dessen Realität keinen Zweifel duldet [. . .]“6: Sie lässt entstehen, wachsen, erneuern; vor allem aber bleibt 6  Bächli, A./Graeser, A.: Zeit, in: Grundbegriffe der antiken Philosophie, Stuttgart 2000, S. 230.


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nichts vom „Zahn der Zeit“ verschont –

Die Frage nach dem metaphysischen

aus dem 91. Fragment oft zitierten

muss altern, verfallen, sterben, wieder

Grund alles Seienden, nach dem Unbe-

Denkspruch, man könne nicht zweimal

zunichte gehen.7 In diesem Sinne zielt

dingten, führt nicht umsonst auch zu

in denselben Fluss steigen, rückt das

die Verwendungsweise noch nicht auf

einem Diskurs über die „Ordnung der

Zeitliche damit nicht aus dem geistigen

einen von raumzeitlichen Entitäten und

Zeit“: Ist es doch gerade der Ursprung

Blickfeld, gehört nicht minder zur phi-

Prozessen (als ‚Zeitgeschichte’ oder als

selbst, das nach Anaximander Grenzen-

losophischen Wahrheit. Vielmehr zeigt

die zeitlichen Zyklen z. B. von Tag und

lose/Unendliche, welches die entstande-

sich auch und gerade in der unaufhörli-

Nacht etc.) distinkten Begriff, wie wir

nen Dinge – deren zeitliche Existenz von

chen Veränderung der Dinge von einem

ihn heute kennen und den genannten

jenem bedingt ist – wieder zum Unter-

höheren Standpunkt aus ein Konstituti-

Bedeutungen zugrunde legen können,

gang, zum Tode ‚verdammt’.

onsprinzip des seienden Einen:

sondern ist immer schon qualitativ be-

Die darin zugrunde gelegte Unterschei-

stimmt.

dung zwischen den mannigfaltigen Objekten, die unseren Sinnen unmittelbar

Erst die griechische Philosophie entwickelt einen abstrakten Begriff von Zeit, der es ermöglicht, einerseits zwischen Z. und dem, was sich in ihr ereignet, und andererseits zwischen Zeit und Ewigkeit zu unterscheiden. Dadurch verliert die Zeit ihre qualitative Bestimmung (als Heils- oder Leidens-, Arbeits- oder Ruhezeit) sowie den Aspekt ihrer Erneuerungs- und Inganghaltungs-, Beschleunigungsund Aufhaltungsbedürftigkeit. Das gilt aber nur für den philosophischen Begriff der Z.; in der kulturellen Konstruktion von Zeit bleiben die konkreten und qualifizierten Z.-Begriffe

zugänglich sind, und einem dem allen

lebendig.

Weltprinzip zugleich: Im Gegensatz zur

8

Im vielzitierten Fragment des Anaximander, der einen Beginn der Philosophie markiert – als Zugang zu einem „Wissen, das Anspruch auf Begründung erhebt“ – wird das mythisch geprägte, 9

jeden

Erfahrungsraum

beherrschen-

de Bewusstsein einer Zeitlichkeit aller Dinge gleichwohl immer noch fühlbar: „Woher die Dinge ihre Entstehung haben, dahin müssen sie auch zugrunde gehen, nach der Notwendigkeit; denn sie müssen Buße zahlen und für ihre Ungerechtigkeit gerichtet werden, gemäß der Ordnung der Zeit.“10 7  Vgl. Aristoteles’ Rekurs auf den allgemeinen Sprachgebrauch im IV. Buch der Physik, 222b. 8  Assmann, J.: Zeit, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, hrsg. von Joachim Ritter, Karlfried Gründer, Gottfried Gabriel, Bd. 12, Darmstadt 2004, S. 1189. 9  Ebd. , S. 1194. 10  Zit. nach der Übers. v. Friedrich Nietzsche:

gemeinsamen – nur im Denken zu erschließenden – ‚Urgrund’ kündet bereits von einer Philosophie, die der Erfahrungswirklichkeit nicht mehr im Rückgriff auf die überlieferten Mythen ‚auf den Grund’ zu gehen sucht, sondern auf dem Wege der Reflexion. Heraklit, der um 500 v. Chr. – um einiges schärfer noch als später Platon – die Macht der Dichter und ihrer Göttermythen auf die allgemeine Vorstellungswelt kritisiert, etabliert erstmalig den Begriff des ‚Logos’ als Erkenntnis- und mannigfaltigen Vielheit der Einzelphänomene ist der Logos unveränderlich; er gilt immer und überall – nichts kann jenseits des Vernunftprinzips gedacht werden. Mit dieser am Beginn der klassischen Periode der griechischen Kultur sich herausbildenden Etablierung des Logos als Einheitsprinzip und damit philosophisches Prinzip zum Maßstab jeder möglichen Erkennbarkeit der Welt vollzieht sich so ein entscheidender Schritt zu einer neuen Form von Wissenschaft, die sich in bewusster Abgrenzung vom ‚vorphilosophischen’ Leben entwickelt.11 In Heraklits Dialektik von Einheit, dem aus dem 50. Fragment bekannten Leitsatz, alles sei eins, und Werden, dem Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen (1873), in: KSA 1, S. 818. 11  Vgl. Held, K.: Heraklit, Parmenides und der Anfang von Philosophie u. Wissenschaft, Berlin 1980, S. 127–210.

HERAKLIT betrachtet Zeit von einem Standpunkt aus, der sich von dem Anaximanders insbesondere dadurch unterscheidet, daß von ihm aus gesehen die Kluft zwischen Ursprung und Entsprungenem verschwindet. Der Dialektiker hebt das Entsprungene in den Ursprung auf.12

Bestimmt der Logos – als der Seele und der Welt innewohnendes Vernunftprinzip – die Einheit allen Seins, so ist darin die fortwährende Dynamik des Seienden immer schon inhärent. Dem Umstand, dass im diskursiv organisierten Denken und Sprechen über die Welt – den menschlichen Urteilen über sie in begrifflich bestimmten Unterscheidungen – immer nur Aspekte des Einen gefunden werden können, verdankt sich daher wohl auch die von Heraklit bewusst gewählte Strategie der Vermittlung: die Niederlegung seiner Gedanken in prägnanten, gnomischen Sätzen, die gerade nicht den Anspruch einer in sich geschlossenen, begrifflich aufbauenden Lehre erheben, sondern immer von mehreren Gesichtspunkten aus interpretationsfähig und auch -bedürftig sind. Insbesondere etwa im ebenso faszinierenden wie rätselhaften Fragment B 52: „Die Zeit ist ein Knabe, der spielt, hin und her die Brettsteine setzt [. . .].“13 Die griechische Bezeichnung Aion bezieht sich hier nicht auf 12  Assmann, J.: Zeit, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Darmstadt 2004 (wie Anm. 8), S. 1194. 13  Diels, H.: Die Fragmente der Vorsokratiker. Griechisch und Deutsch, 1. Band, Berlin 1922, S. 87.

3


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eine in unserem Sinne neutrale, bloß

3. Sein und Werden – von Parmeni-

keit: „Sein“ als das allem zugrunde lie-

vergehende Zeit, die eher dem Ausdruck

des zu Platon

gende Prinzip ist ungeworden, d. h. es

Chronos entspräche,14 sondern ist als

Nachdem bereits die Dichter – so wie

kennt weder Entstehen noch Vergehen

„Leben, Lebenszeit, Lebenskraft“ immer

Hesiod in seiner „Theogonie“ – den Grie-

– denn weder kann etwas schlechthin

schon mit Inhalt verbunden, einer in

chen ihre Götter, den Anfang und die

aus Nicht-Sein entstehen noch darin

der Welt wirkenden, lebendigen Schaf-

‚Grundpfeiler’ ihrer Welt lehrten, als die

vergehen. Das Seiende selbst ist ohne

fenskraft. Insbesondere am Beispiel

ersten ‚Theologen’ und damit in gewis-

Anfang und ohne Ende. Den zeitlichen

dieses Fragments wird deutlich, dass es

sem Sinne die ersten Philosophen Grie-

Kontexten der natürlichen einzelnen

Heraklit – wie etwa in seiner berühm-

chenlands17, entwickelt Parmenides um

Dinge (ihrem steten Wandel als ‚nicht-

ten Reflexion über die Weltordnung als

500 v. Chr. als erster denjenigen philoso-

mehr’ und ‚noch-nicht’) vollständig ent-

„ewig lebendiges Feuer“ im 30. Fragment

phischen Begriff, der die nachfolgende

hoben, wird „Sein“ im strengen Sinne

– weniger um bloß naturphilosophische/

geistige Epoche, vornehmlich im pla-

von Parmenides bestimmt als Einheit,

kosmologische Spekulationen geht. Dies

tonischen Denken, maßgeblich prägen

Unbewegtheit und Vollendetheit. Dem-

allein würde seine Bedeutung als eigen-

wird: einen fundamentalen Begriff von

nach ist es in allem gleich und somit

ständigen Denker bis heute auch kaum

Sein.

vollkommen, insofern es ihm an nichts

erklären. Aus der Einsicht, dass „der

Die Zielrichtung der Philosophie über

mangelt. Denn außer Seiendem gibt es

Grund von Einheit selbst nicht diskur-

die sinnlich erfassbaren Einzeldinge hi-

nur noch Nicht-Seiendes, dem es sozu-

siv fassbar“ ist, erklärt sich vielmehr

naus, von denen es – wie Aristoteles in

sagen an allem ‚mangelt’, und worüber

die Vorliebe Heraklits für einen Sprach-

seiner „Metaphysik“ später anmerken

selbst keine sinnvollen Aussagen mehr

gebrauch, der ihm schon in der Antike

wird – aufgrund ihrer raumzeitlichen

möglich sind, da es das Sein weder be-

den Beinamen „der Dunkle“ zugebracht

Bedingtheit auch „weder Definition

rührt noch ihm etwas hinzufügen könn-

hat und stets nur in seiner besonderen

noch Beweis“ gibt, hin zum unverän-

te. Zum ersten Mal – durch die im ge-

Literarizität fassbar wird – d. h. sich den

derlichen Wesen der Welt führt Parme-

suchten Begriff gefundene Verbindung,

begrifflichen Gewohnheiten zwar ent-

nides in seinem Lehrgedicht zu einem

gemeinsame Struktur, ja letztendlich

zieht, aber gleichzeitig zu neuen inter-

Seinsbegriff, der dem Kriterium der

Identität von Denken und Sein – betreibt

pretativen Zugängen reizt.

Erkennbarkeit vollständig genügen soll.

damit Parmenides in dieser Form Onto-

Wie das „ewig lebendige Feuer“ von kei-

Der „wohlgerundeten Wahrheit un-

logie. Wenn aber die Wissenschaft vom

nem Begriff vollständig sprachlich er-

erschütterliches Herz“ und nicht „der

Sein nicht von dem handeln kann, was

füllt, definitorisch quasi ‚zum Stillstand’

Sterblichen Wahngedanken, denen ver-

war oder sein wird, sondern nur noch

gebracht werden kann und doch nichts

19

läßliche Wahrheit nicht innewohnt“

von dem, was „im Jetzt vorhanden ist als

weniger ist als „Weltordnung“, ebenso

zufolge – lehrt ihm die Göttin, die eine

Ganzes, Einheitliches“20, dann gehören

wohnt dem „Knabenregiment“ der Zeit

religiöse

elementare

auch die Bedingungen der Zeit selbst

eine eigentümliche Dialektik inne: von

‚Seinserfahrung’ vermittelt – gibt es

offenbar nicht mehr zu jener unhinter-

Spiel und Ernst, von Ordnung und Kon-

in vier Hinsichten eine Unwandelbar-

gehbaren Realität, nach der Parmenides

15

18

Erfahrung

als

gesucht hat.

tingenz, die wechselseitig aufeinander bezogen sind – und deren unerschöpflicher Gesetzmäßigkeit auch der denkende Mensch am besten spielend begegnet.16 14  Sie stimmt allerdings auch mit der frühgriech. Chronos-Auffassung nur im eingeschränkten Sinne überein: Die damalige Zeitvorstellung besitzt „eine Intention auf präsubjektive Realität“, ist gekennzeichnet durch einen „Verzicht darauf, Zeit von dem in ihr Befindlichen zu trennen“, schließlich „ihr Verständnis als geschichtlicher“ (Assmann, J.: Zeit, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Darmstadt 2004 [wie Anm. 8], S. 1190.). 15  Aichele, A.: Philosophie als Spiel. Platon, Kant, Nietzsche, Berlin 2000, S. 18. 16  Zum Spielbegriff bei Heraklit u. seine

4

philosophische Bedeutung für das Verhältnis Sprache, Welt, Erkenntnis vgl. ebd. , S. 15–36. 17  Zum ambivalenten (Konkurrenz-)Verhältnis von Dichtung/Mythos und Philosophie sh. z. B. Albert, K.: Platonismus. Weg und Wesen abendländischen Philosophierens, Darmstadt 2008, S. 13. 18  Schon durch die Allgemeinstruktur von Begriffen auch in einfachsten Aussagen kann es von individuellen Dingen/Erscheinungen in Raum und Zeit selbst keine Definition – daher auch keine Wissenschaft – geben. „Wie etwa jemand, der dich definieren wollte, dich ein mageres oder weißes Lebewesen nennen wird oder sonst etwas davon Verschiedenes, das auch einem anderen zukommen wird.“ (Aristoteles: Metaphysik, 1039b–1040a). 19  Diels, H.: Die Fragmente der Vorsokratiker. Griech. u. Deutsch, Berlin 1922 (wie Anm. 13), S. 149.

Zwar enthält diese Stelle, die die Ewigkeitsspekulation PLOTINS und BOETHIUS’ beeinflusste, keinen expliziten Hinweis auf die Zeit. Doch handelt sie offensichtlich von ihr. [. . .] Wenn es keine distinkten Geschehnisse gibt, gibt es auch keine zeitlichen Abschnitte. Also gibt es keine Zeit.21 20  Ebd. , S. 154. 21  Bächli, A./Graeser, A. (wie Anm. 6), S. 231./ vgl. dagegen Jan Assmann (wie Anm. 8), S. 1195: „Indem der Eleatismus über eine Negation von Werden und Vergehen nicht hinausgeht, läßt er Zeit gerade stehen, nämlich als unbegrenzte Dauer.“ – Parmenides’ Ontologie, die (von allen Gegenständen der Erfah-


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Die Philosophie als Lehre vom Sein –

Denken, Sprache und Wirklichkeit.

nische Dialog Sein im ersten wahrhafti-

dem Unveränderlichen – steht in der da-

Während Parmenides’ radikaler Seins-

gen Sinn als das unbewegt Eine – doch

mit eingeleiteten Tradition einer Lehre

begriff als unbewegte, vollkommene,

gewinnt er dabei im Rahmen einer Na-

vom Werden – den sinnlich erfassbaren

zeitlose Einheit – d. h. als ein nur noch

turphilosophie zugleich einen soweit als

Dingen – gegenüber. Kann es also eine

intelligibles Wesen der Dinge – darauf

möglich objektivierten Begriff über das

Philosophie der Zeit schon ihrem Wesen

hinausläuft, den Bereich der sinnlich

Wesen der Zeit: nämlich als „ein beweg-

nach gar nicht geben? Doch ausgerech-

wahrnehmbaren Phänomene als bloßes

liches Bild der Unvergänglichkeit“26.

net bei Platon, dessen Grundgedanke

„Scheinwesen“

aus der wahren Philo-

Anknüpfend an den bereits vor ihm er-

sich einer traditionsreichen Deutungsli-

sophie zu verbannen, geht es Timaios im

hobenen Anspruch – und ihn weiterfüh-

nie nach (mit Bezug allerdings auf eine

gleichnamigen Platon-Dialog vielmehr

rend – den einen Logos zum primären

rekonstruierte „agrapha dogmata“, die

gerade um einen Zusammenhang: Wie

Maßstab der Gegenstände des Denkens

ungeschriebene Lehre) fundamental auf

also kann das ewige Eine konkrete Ein-

zu erheben, entwickelt Platon auf diese

„die unmittelbar schauende Erkenntnis

zeldinge in Raum und Zeit ermöglichen,

Weise eine Konzeption der Zeit vor dem

des Einen und des Seins, des seienden

die mit ihm in irgendeiner Weise zusam-

Hintergrund eines erstmals expliziten

Einen“22 richtet, finden wir erstmals

menstimmen? Der Ansatz im „Timaios“

Begriffs von Ewigkeit. Da nämlich die

auch eine explizite Theorie der Zeit.

bewegt sich demnach weniger in einer

Unbewegtheit des ungewordenen (und

Im Dialog „Timaios“ aus dem Spätwerk

Ontologie von Sein und ‚Schein’, die den

daher unvergänglichen) Seienden selbst

(ca. 360 v. Chr.), in dem durch die Titel-

Bereich der Naturphänomene dem letzt-

nicht sinnlich erfahren, sondern nur im

figur ein Mythos zur Weltentstehung

lich Unerkennbaren/Unwissenschaftli-

Denken erfasst werden kann, wird Zeit

– also eine bestimmte Kosmologie – ent-

chen zuordnet, sondern weist auf eine

als ein bewegliches Abbild nicht zuletzt

wickelt wird, geht es dabei nicht zuletzt

metaphysische

zu einer elementaren Bedingung von Er-

um eine für Platon zentrale Schwierig-

Verhältnis zwischen evident, d. h. not-

fahrung überhaupt.

keit: das Problem von Einheit und Viel-

wendig wahr Seiendem und kontingen-

„Artikuliert wird diese Behauptung be-

heit, das Verhältnis von Denken/Begriff

ten bzw. in ihrem Sein bloß möglichen

merkenswerterweise im Kontext eines

und Wirklichkeit.

Einzeldingen – dem auf einer logischen

poetisch-kosmogonischen Entwurfs“27,

Die schon im Schlagwort der Platoni-

Ebene das Verhältnis zwischen Wahr-

der – im Spannungsfeld von Mythos/

schen „Ideen“ sich abzeichnende Frage

heit/Wissen und Glauben/Meinung ent-

Dichtung und Wissenschaft/Philoso-

des Einen und Vielen, nach der Referenz

spricht – gemäß, rehabilitiert Timaios

phie – selbst ein Bild der Schöpfung von

zwischen logischen Entitäten (Begrif-

hier die Natur der sinnlich wahrnehm-

der leibhaften Natur aus dem unbewegt

fen) und konkreten Dingen in Zeit und

baren Welt selbst als entstandenes, von

Einen entwickelt. Dass Timaios’ Kosmo-

Raum, ist durchaus kein bloß ‚akademi-

einem Urheber (Gott) erzeugtes Abbild

gonie daher auch und gerade in der ihr

sches’ Problem, sondern – wie Sokrates

des Unvergänglichen, nur „durch Nach-

eigenen Poetizität verstanden werden

im „Philebos“-Dialog anmerkt – ein phi-

denken und Vernunft zu Erfassenden“25.

sollte, erhellt schon daraus, dass der da-

losophisches Rätsel, das gewissermaßen

Platons Aufnahme der von Parmeni-

rin beschriebene ‚Schöpfungsakt’ selbst

„allen Menschen zu schaffen macht mit

des und Heraklit geprägten Begriffe

nicht (wie dies ein wörtliches Verständ-

ihrem Willen und auch wider ihren Wil-

des Seins und der Einheit in die eigene

nis vielleicht nahelegen könnte) als ver-

len manchen und manchmal“23.

Philosophie differenziert den eleati-

gangenes, also zeitliches Ereignis inter-

Es betrifft letztlich die grundlegende

schen Monismus, nach dem das Werden

pretiert werden kann. Denn – so geht aus

Fragestellung nach einer Erkennbarkeit

als Nicht-Sein zum Trügerischen, bloß

dem Text ebenso deutlich hervor – „das

der Welt – dem Verhältnis zwischen

Scheinhaften gehört, zur Auffassung

WAR und WIRD SEIN sind gewordene

einer ontologischen Priorität, wie sie an

Formen der Zeit, die wir, uns selbst un-

Timaios’ Kosmologie-Entwurf im Be-

bewusst, unrichtig auf das unvergängli-

griffspaar ‚Urbild/Vorbild’ und ‚Abbild’/

che Sein übertragen“28, d. h. auf dasjeni-

Schöpfung zum Ausdruck kommt.

ge, das die metaphysische Bedingung für

Zwar identifiziert damit auch der Plato-

Zeit ja erst liefert.

24  Diels, H.: Die Fragmente der Vorsokratiker, Berlin 1922 (wie Anm. 13), S. 149. 25  Platon: Timaios: in: Sämtliche Werke, neu hrsg. v. Ursula Wolf, Bd. 4, Reinbek bei Hamburg 1994, 29a.

26  Ebd. , 37d. 27  Assmann, J.: Zeit, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Darmstadt 2004 (wie Anm. 8), S. 1196. 28  Platon: Timaios (wie Anm. 25), 37e.

rung ‚gereinigt’) nur noch im Denken fassbar wird, scheint mir allerdings eher auf ein tatsächlich überzeitliches Sein hinauszulaufen – zumal ohne Kriterien für Vergangenes und Zukünftiges („Es war nie und wird nicht sein“, ebd.) auch der Begriff Zeit für den genannten Kontext von „Sein“ jede Bestimmung verliert. 22  Albert, K.: Platonismus, Darmstadt 2008 (wie Anm. 17), S. 8. 23  Platon: Philebos, in: Sämtliche Werke, neu hrsg. v. Ursula Wolf, Bd. 3, Reinbek bei Hamburg 1994, 14c.

24

Abhängigkeit:

Dem

5


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Warum Platon für seine Weltentste-

werden können, „gewinnt auch Platons

Denken begriffen und in der Naturbe-

hungslehre – als planvollen Gestaltungs-

Rede von Zeit als Abbild der Ewigkeit

trachtung anschaulich wird.

prozess – insofern selbst ein poetisch

ihren besonderen Sinn, sowie die Vor-

Die „strukturelle Abhängigkeit der Zeit

geformtes Abbild der göttlichen Urhe-

stellung, dass der Kosmos selber Abbild

von der Ewigkeit, ohne deren Urbild-

berschaft entwirft, dürfte indes nach der

und Gleichnis eines idealen Gehaltes

funktion die Zeit gar nicht konstituiert

genannten Auffassung gerade mit dem

sei“ : nämlich als ein dem Grunde nach

werden könnte“33, bleibt in der kosmi-

Thema des Dialogs zusammenhängen:

ästhetisches Verhältnis insofern, als das

schen Betrachtung dem parmenidisch

Richtet sich dessen Gegenstandsbereich

Seiende unter den Bedingungen des Ge-

geprägten intelligiblen Seinsbegriff in-

doch notwendigerweise sowohl auf die

wordenen zum Ausdruck kommt.

sofern weiter verpflichtet.

ewige (nur durch Vernunftgebrauch er-

Ausgehend vom eigentlichen Zielpunkt

Erstmalig bei Aristoteles finden wir da-

fassbare) Einheit als auch auf die kon-

einer philosophischen Erkenntnis für

gegen eine eigenständige Theorie der

kretisierten (nur durch unmittelbar

Platon zu der einem Sachverhalt zugrun-

Natur, die im Kontext einer Forschung

sinnliche Anschauung erfassbaren) Din-

deliegenden, selbst nicht mehr ableitba-

ohne jede Transzendenz – der Suche

ge, deren ontologische Entsprechung

ren Wahrheit ist dasjenige, dem wir den

nach Begriffen von Substanz jenseits

der eigenen Konzeption zufolge ja wie-

Namen Zeit beigelegt haben, demnach

konkreter Wirklichkeit – steht und den

derum nur als ein Abbildungsverhältnis

zwar keine metaphysisch unabhängige

klassischen Zeitdiskurs maßgeblich prä-

verstanden und erkannt werden kann.

Entität – wird aber als die kontinuierlich

gen wird: am Seienden als Bewegtheit.

Auf diesen Zusammenhang deutet auch

fortwährende und in dieser Hinsicht un-

Timaios selbst, der eine dem Gegen-

endliche Prozessualität, die alle natürli-

4. Aristoteles: Seiendes als Bewegt-

stand seines Vortrags angemessene und

chen Dinge umfasst, in der spezifischen

heit. Zeit – Wahrnehmung – Seele

würdige Sprache geltend macht, die sich

Ausdrucksbeziehung zwischen Sein und

Die aristotelische Physik als „Wissen-

vom Wahrheitsanspruch theoretischer

Werden bestimmbar: zum „unvergängli-

schaft von der Natur“34 bezieht sich auf

Aussagen über das, was (der Vernunft

chen Bilde der in dem Einen verharren-

einen Begriff von Realität als dasjeni-

nach) ist, unterscheiden wird. Bestim-

31

den Unendlichkeit“ .

ge, was unabhängig von menschlicher

mungen über die göttliche Erschaffung

Dem sogenannten Referenzproblem –

Wahrnehmung oder Vorstellung in

der Natur lassen sich demnach nur hin-

der Frage nach dem Verhältnis zwischen

Wirklichkeit ist. Mit der Erforschung

reichend aufstellen, „wenn wir sie so

Logizität und Wirklichkeit – begegnet

des von Natur aus Seienden (nicht alles

wahrscheinlich wie irgendein anderer

Timaios im Konzept der ‚Nachahmung’,

dessen also, was gemeinhin als „seiend“

geben, wohl eingedenk, dass mir dem

also indem die Natur auf ein gedanklich

bezeichnet wird) richtet sich sein In-

Aussagenden, und euch, meinen Rich-

zu erschließendes Sein gewissermaßen

teresse allerdings gerade auf das, was

tern, eine menschliche Natur zuteil

verweist, d. h. unter den Bedingungen

offenbar dynamisch, d. h. in Bewegung

30

ward“ , die selbst zum Gewordenen ge-

der Erfahrung eine vollendete Wesen-

ist, und grenzt sich damit vom Erkennt-

hört und – anders als die göttliche Weis-

heit repräsentiert, die selbst kein Ge-

nisanspruch der eleatischen Philosophie

heit – an die sinnlichen Vorstellungen

genstand der Erfahrung mehr ist: „Als

von vornherein ab. Denn: „Die Untersu-

gebunden bleibt.

die immerwährende Veränderung des

chung, ob das Seiende eines und unwan-

Obwohl eine Philosophie der Natur (und

Kosmos bleibt die nur in diesem Sin-

delbar ist, ist keine Untersuchung im Be-

daher auch von der Zeit) Timaios zufolge

ne ewige Zeit von der zeitlos stagnie-

reich der Naturforschung.“35

nur in diesem bedingten Rahmen denk-

renden Ewigkeit des Urbilds streng zu

Dass die Methode der aristotelischen

bar wird, gibt seine „wahrscheinliche

unterscheiden.“32

Naturwissenschaft sich als Forschungs-

Rede“ gerade in der von ihm gewählten

Trotz der offenkundigen Literarizität

projekt versteht und an den Phänome-

Form – als eine poetisch-erzählende

des Timaios-Mythos – der seinem Ge-

nen selber messen lassen muss – daher

Nachbildung – dem Leser doch bereits

genstande würdigen Bildlichkeit – zeigt

auch kein abgeschlossenes System vor-

eine essentielle Intuition zum Wesen der

sich auch hier der prägend platonische

aussetzt –, verdeutlichen bereits die Be-

Schöpfung selbst.

Grundzug am Aufdecken einer dem We-

sonderheiten seiner Terminologie, von

Denn im analogen Sinne, in dem durch

sen nach logischen Weltordnung, die im

der aus gesehen ein neuer Zeitdiskurs

30  Bächli, A./Graeser, A.: Nachahmung, in: Grundbegriffe der antiken Philosophie, Stuttgart 2000, S. 148. 31  Platon: Timaios (wie Anm. 25), 37d. 32  Assmann, J.: Zeit (wie Anm. 8), S. 1197.

33  Ebd. , S. 1197. 34  Aristoteles: Physik. Vorlesung über Natur, übers. u. hrsg. von Hans Günter Zekl, Hamburg 1987, 184a. 35  Ebd. , 184b–185a.

29

den geformten Mythos wesentliche Momente des Logos vermittelt – d. h. zur sinnlichen Anschauung gebracht – 29  Ebd. , 29c–d.

6


CRITICA–ZPK I/ 2014

möglich wird: Seine Fachausdrücke sind vielfach Fragen entnommen [. . .]; bei den Prinzipien der Bewegung spricht er vom Woraus, Was, Woher und Worumwillen. Jedenfalls sucht Aristoteles keine philosophische Kunstsprache, wohl aber die Präzisierung und Differenzierung, gelegentlich auch Fortbildung der aus der Umgangssprache vertrauten Ausdrücke. Auf diese Weise gewinnt er eine bewegliche, durch und durch unscholastische Diktion.36

Die aristotelische Kritik am monistischen Seinsbegriff der Eleaten betrifft insofern aber auch die Frage nach dessen heuristischem Erkenntniswert überhaupt, etwa in Bezug auf Probleme der Kosmologie – über von Natur aus seiende Einzeldinge – und damit verbundene Probleme, z. B. der Bewegung/Entstehung in Raum und Zeit: „Es gibt nämlich gar keinen Anfang mehr, wenn nur eins und in diesem Sinne eines da ist. Denn ‚Anfang’ ist immer Anfang ‚von etwas’, einem oder mehrerem.“37 Nach diesen Gesichtspunkten kann im Übrigen auch die aristotelische „Metaphysik“ als durchaus modern gelten: Der Anspruch einer Erforschung der ersten Ursachen und Prinzipien des Seienden hat hier nicht auch Transzendenz zur Folge, sondern richtet sich immer bereits auf reale Dinge – und ist mit einer ‚Naturwissenschaft’ prinzipiell vereinbar, deren Grundannahme lautet: „Die natürlichen Gegenstände unterliegen entweder alle oder zum Teil dem Wechsel.“38 Damit ist ein wesentlicher Ausgangspunkt gewonnen, nach dem sich auch die Zeit auf etwas beziehen kann, was wirklich – und in vollem Sinne – ist. Denn wie wir bereits gesehen haben, steht das Problem mit der Veränderung selbst in einem engen Zusammenhang: Gerade angesichts der schon durch Parmenides gewonnenen Erkenntnis, dass 36  Höffe, O.: Aristoteles, 3. überarb. Auflage, München 2006, S. 25. 37  Aristoteles: Physik I 2 (wie Anm. 34), 185a. 38  Ebd. , 185a.

es nämlich ohne Werden/Bewegung

Die Zeit ist also in irgendeiner Weise

offenbar auch keinen für das Seiende

verbunden mit Veränderung und Be-

relevanten Begriff der Zeit geben kann,

wegung, weil sie stets daran gemessen

stellt sich allerdings – nunmehr im po-

wird, aber offensichtlich ist sie nicht

sitiven Sinne – die Frage, „was denn ihr

gleich Bewegung. Als Gegenstand einer

wirkliches Wesen ist“ .

„Physik“, die – ohne jede Mathematik als

Ist die Zeit möglicherweise selbst eine

Hilfswissenschaft – bei grundlegenden

Art der Veränderung? Oder kann sie

Schwierigkeiten stets auch „an die Ar-

vielleicht eher bestimmt werden als ein

beit geht mit Hilfe logisch-semantischer

zugrunde liegendes „Naturprinzip und

Analysen“43, wird das Phänomen Zeit als

damit Ursache von Veränderung“40? Für

ein eigenständiges Problem rasch er-

das Urteil, dass die Zeit nicht als eine

kennbar. In welchem Verhältnis steht es

Form von Bewegung verstanden werden

aber zum Seienden als Bewegtheit?

kann, führt Aristoteles zwei klare Argu-

Denn „andrerseits, ohne Veränderung

mente an:

(ist sie) auch nicht“44.

Alle Arten von Veränderung (Entstehen/

Da wir nämlich – so der entscheidende

Vergehen, Ortsbewegung, Zu-/Abnah-

Gedankengang – die Zeit selbst allein

me, qualitativer Wandel) stehen immer

aus der Bewegung ableiten können, ist

bereits in Relation zu den Dingen bzw.

ihr Begriff bereits unmittelbar daran

Körpern – sind mithin also selbst schon

gebunden. Aus dieser dem eigentlichen

substanziell bzw. räumlich erfahrbar.

Wesen sich fortschreitend annähern-

„Die verändernde Bewegung eines jeden

den Explikation wird abermals deutlich,

Gegenstandes findet statt an dem Sich-

dass „Parmenides mit der Verbindung

Verändernden allein oder dort, wo das

von Veränderung und Zeit einen intuitiv

in ablaufender Veränderung Befindliche

wichtigen Punkt markiert hatte“45.

selbst gerade ist; die Zeit dagegen ist in

Ausgehend von der zugrundeliegenden

gleicher Weise sowohl überall als auch

Annahme, dass alles, was von Natur

bei allen (Dingen).“

aus ist, den Bedingungen der Verände-

39

41

Des Weiteren – so lautet das zweite

rung unterliegt, gelingt Aristoteles auf

Argument – können Veränderungen

diesem Wege aber zugleich bereits eine

schneller oder langsamer ablaufen. Sie

vorläufige begriffliche Bestimmung. In-

werden also nicht nur substanziell-

teressanterweise bringt er dabei (über

räumlich, sondern auch schon zeitlich

die Frage der Wahrnehmung nämlich)

bestimmt – und sind damit ein struktu-

auch schon den Bereich Bewusstsein ins

rell anderes Phänomen.

Spiel, ohne die Zeit indes rein vom Bewusstsein abzuleiten:

„Langsam“ und „schnell“ werden ja gerade mit Hilfe der Zeit bestimmt: „schnell“ – das in geringer (Zeit) weit Fortschreitende; „langsam“ – das in langer (Zeit) wenig (Fort-schreitende). Die Zeit dagegen ist nicht durch Zeit bestimmt [. . .]. Daß sie also nicht mit Bewegung gleichzusetzen ist, ist offenkundig; – dabei soll für uns im Augenblick kein Unterschied bestehen zwischen den Ausdrücken „Bewegung“ oder „Wandel“.42 39  Ebd. IV 10, 217b. 40  Assmann, J.: Zeit (wie Anm. 8), S. 1199. 41  Aristoteles: Physik IV 10, 218b. 42  Ebd.

Wir müssen also, da wir ja danach fragen, was die Zeit ist, von dem Punkt anfangen, daß wir die Frage aufnehmen, was an dem Bewegungsverlauf sie denn ist. Wir nehmen Bewegung und Zeit ja zugleich wahr. Ja auch, wenn Dunkelheit herrscht und wir über unseren Körper nichts erfahren, wenn jedoch in unserem Bewußt43  Zekl, H. G.: Einleitung, in: Aristoteles. Physik. Vorlesung über Natur, Hamburg 1987, S. XX. 44  Aristoteles: Physik IV 11, 218b. 45  Bächli, A./Graeser, A.: Zeit (wie Anm. 6), S. 231.

7


CRITICA–ZPK I/ 2014

sein irgendein Vorgang abläuft, dann scheint alsbald auch zugleich ein Stück Zeit vergangen zu sein. [. . .] Also: Entweder ist die Zeit gleich Bewegung, oder sie ist etwas an dem Bewegungsverlauf. Da sie nun aber gleich Bewegung eben nicht war, so muß sie etwas an dem Bewegungsverlauf sein.46

änderung und Bewegung, aber sie ist

Zeit als eine Bestimmung mit Zahl de-

auch nicht identisch mit Veränderung.

finiert, wurde seine Lösung oft „als zir-

Sie kennzeichnet vielmehr ein Messen

kulär kritisiert“54. Entscheidend ist aller-

durch Wahrnehmung – indem sie durch

dings, dass er sich damit eben nicht auf

„Jetzt“-Punkte Grenzen in Bewegungs-

Zeit als selbstständige Größe bezieht,

verläufen setzt: „Was nämlich begrenzt

die gemessen wird, sondern auf das Ge-

ist durch ein Jetzt, das ist offenbar Zeit.“51

zählte/Zählbare selbst: die quantitativen

Darin ist bereits ein wesentlicher Aspekt

Bewegungsabschnitte.

Eine Definition der Zeit kann es dem-

angedeutet, der für eine oft unterschätz-

Damit aber ist ein Verhältnis aufgezeigt,

nach also nur in ihrer Abhängigkeit von

te Entdeckung in der aristotelischen

das den zu ermittelnden Phänomenbe-

Veränderung geben: Sie ist immer schon

„Physik“ noch entscheidend sein wird:

reich nicht mehr aus dem – unabhängig

etwas an der Bewegung. „Damit setzt die

die Struktur des Kontinuums. Offenbar

vom Denken – von Natur aus Seienden

Existenz der Zeit bereits die Existenz der

ist nämlich die Zeit – wie auch die Be-

allein ableiten kann. Vielmehr setzt es

Veränderung als notwendige Bedingung

wegung – etwas Zusammenhängendes.

ein Bewusstsein, die Seele als Bestim-

voraus.“47

Die jeweils angelegten Begrenzungen

mungs- und Zählvermögen, schon vo-

Der Bereich von Wahrnehmung und in-

als ein „Jetzt“ durch Wahrnehmung, die

raus: also dasjenige womit „wir (Verän-

sofern auch der Seele ist für Aristoteles

auch das davor und danach im Bewe-

derung) wahrnehmen und abgrenzend

aber vor allem deshalb entscheidend,

gungsverlauf setzen, sind also keine

bestimmen und dann sagen, es sei Zeit

weil hier das wesentliche Kriterium ge-

Teile der Zeit, sondern eben nur Gren-

vergangen“55.

funden wird, von dem aus die Zeit als

zen – d. h. festgelegte Punkte, die selbst

Auch insofern wird deutlich, dass es sich

‚etwas an der Veränderung’ bestimmt

keine Ausdehnung besitzen. Wenn wir

beim Kontinuum als unbegrenzte Teil-

werden kann: Im Erfassen eines „ ‚davor’

nämlich nur von einem einzigen einzel-

barkeit nicht etwa um irgendeine Eigen-

und ‚danach’ bei der Bewegung“ nämlich

nen „Jetzt“ ausgehen, dann würde noch

schaft von Ort, Bewegung und Zeit han-

entdeckt er einen wesentlichen Aspekt,

keine Zeit vergangen sein, „weil ja auch

delt, sondern um einen Struktur- bzw.

den die Zeit mit der Veränderung an-

keine Bewegung (ablief). Wenn dagegen

Relationsbegriff: Er kennzeichnet ein

scheinend immer gemeinsam hat – „al-

ein ‚davor’ und ‚danach’ (wahrgenom-

Verhältnis zwischen seinen Elementen,

lerdings dem begrifflichen Sein nach ist

men wird), dann nennen wir es Zeit.

das sich nur als kontinuierlicher Zusam-

es unterschieden davon und nicht gleich

Denn eben das ist Zeit: Die Meßzahl von

menhang begreifen lässt, d. h. ein Kon-

Bewegung.“48

Bewegung hinsichtlich des ‚davor’ und

nex, der nicht aus kleinsten Einheiten

Nach der bemerkenswert sprachana-

‚danach’“ .

besteht – auch nicht aus Punkten, die als

lytischen Beobachtung, dass davor und

Die aristotelische Prinzipienforschung

ausdehnungslose, im Denken gesetzte

danach eigentlich der Ortsbestimmung

auf dem Weg entdeckender Phänomen-

Grenzen bloße Operationen sind.

entnommen sind, findet diese auch hier

analyse charakterisiert demnach Zeit als

Aristoteles’ Kontinuitätslehre, die „wie

Anwendung. Denn „auch die Zeit erfas-

spezifische Form von Bestimmung an

kaum ein anderes Stück seiner Philoso-

sen wir, indem wir Bewegungsabläufe

der Kinesis durch Zahl (also Quantität):

phie inhaltlich so unveraltet ist“56, weist

abgrenzen, und dies tun wir mittels des

Sie drückt sich aus als gemessene Anzahl

damit nicht zuletzt auf eine besondere

‚davor’ und ‚danach’“49.

der Abschnitte einer Bewegung im Hin-

Funktion, welche die Seele als Bestim-

Hier wird noch einmal deutlich, inwie-

blick auf ein Verhältnis von ‚davor’ und

mungsvermögen einnimmt. Indem sich

fern die aristotelische Auffassung des

‚danach’.

nämlich Zeit bzw. Veränderung nur ge-

Seienden als – unabhängig vom erfas-

Durch den Umstand, dass Aristoteles

danklich in einzelne Abschnitte teilen

52

53

senden Geist und den begrifflichen Festlegungen – reine, (von sich aus) unbestimmte Bewegtheit grundlegend ist. Die Zeit gibt es also nicht ohne Ver50

46  Aristoteles: Physik IV 11, 219a. 47  Assmann, A.: Zeit (wie Anm. 8), S. 1199. 48  Aristoteles: Physik IV 11, 219a. 49  Ebd. , 219a. 50  Zu den hier nur kurz anskizzierten metaphysischen Voraussetzungen für den aristotelischen Naturbegriff vgl. die eingehende

8

und somit in ein Verhältnis setzen lasUntersuchung von Alexander Aichele: Ontologie des Nicht-Seienden. Aristoteles’ Metaphysik der Bewegung, Göttingen 2009. 51  Aristoteles: Physik IV 11, 219a. 52  Dass die Bestimmung des Kontinuierlichen als der Möglichkeit nach unendlich teilbaren Zusammenhang angesichts ihres eigentlich wegweisenden Gehalts kaum ausreichend gewürdigt wurde, zeigt Wieland, W.: Die aristotelische Physik, 3. Auflage, Göttingen 1992, S. 278f. 53  Aristoteles: Physik IV 11, 219a–b.

sen, wird die Bewegung in wesentlicher Hinsicht – nach dem Quantum – überhaupt erst erkennbar: „Das ‚mehr’ und ‚weniger’ entscheiden wir mittels der Zahl, mehr oder weniger Bewegung mit54  Assmann, J.: Zeit (wie Anm. 8), S. 1199. 55  Aristoteles: Physik IV 11, 218b. 56  Wieland, W.: Die aristotelische Physik (wie Anm. 52), S. 278.


CRITICA–ZPK I/ 2014

tels der Zeit.“57

notwendige Bedingung voraus: Ohne

ne immer noch von einer größeren um-

Das „Jetzt“ (nicht zu verwechseln mit ei-

Seele gäbe es nämlich keine Zeit, son-

fasst werden kann (oder eine noch klei-

nem schon als Größe zu denkenden Be-

dern allenfalls die Veränderung, d. i. das

nere enthalten), zeichnet für Aristoteles

griff von ‚Gegenwart’) ist hier selbst kein

Substrat der Zeit“ .

ja gerade die zeitlich bestimmbare Rea-

Teil der Zeit, sondern ein dimensionslo-

Das Seiende als Bewegtheit existiert

lität jeder nur denkbaren Bewegung aus.

ser Punkt, der ein Verhältnis von ‚davor’

demnach real – d. h. unabhängig vom

Und insofern ist jede Veränderung – da

und ‚danach’ zu bestimmen imstande ist.

Denken. Doch ohne ein wahrnehmen-

sie von einem Bewusstsein ‚gezählt’ wer-

Indem durch die Wahrnehmung gesetz-

des Bewusstsein können Bewegungsab-

den kann – auch ‚in der Zeit’.

te Grenzen in einem Kontinuum sich

schnitte nicht gezählt, nicht als dynami-

dabei weder berühren noch benach-

sche Prozesse quantitativ erfasst wer-

5. Fazit

bart sein können – entweder sind sie

den. Eben dieser Vorgang kennzeichnet

Mit Blick auf die genannten Bezüge ist

identisch oder bestimmen bereits eine

den in bedingtem Sinne idealen Aspekt

nach Aristoteles also die Zeit sowohl

Größe – ist die Zeit „also auf Grund des

von Zeit als Bewusstseinsakt. Unabhän-

real als auch ideal. Grundlegend für die-

Jetzt sowohl zusammenhängend, wie sie

gig von einem Verstandesvermögen also

se Auffassung aber ist nicht zuletzt die

(andrerseits) auch mittels des Jetzt durch

„ist es unmöglich, daß es Zeit gibt, wenn

Entdeckung der Kontinuität als eine we-

61

Schnitte eingeteilt wird“ . Eine Zeit gibt

es Bewußtsein (davon) nicht gibt, außer

sentliche Strukturbedingung von Bewe-

es demnach allein in den zwischen den

etwa als das, was als Seiendes der Zeit

gung überhaupt.

Jetzt-Punkten kontinuierlich zusam-

zugrundeliegt, etwa wenn es möglich ist,

Wie das ‚woraus’ und ‚worein’ die Art

menhängenden Ausdehnungen, die –

daß es Veränderungsvorgänge ohne Be-

einer Bewegung (nach Ort, Qualität,

wie Teile einer Geraden – nur gedanklich

wußtsein (davon) gibt“ .

Quantität oder Substanz) zu bestimmen

begrenzt werden und einen gemeinsam-

Die Zeit als Bestimmtheit mit Blick

vermag, indem es kategoriale Eigen-

einheitlichen Nexus bilden.

auf ein ‚früher’ und ‚später’ ergibt sich

schaften erfasst, die selbst nicht Bewe-

Die Zeit – als das „Maß der Bewegung

demnach erst aus einem Zählen der Be-

gung sind, so leistet ein ‚davor’ und ‚da-

und ihres Ablaufs“ – kennzeichnet in-

wegungsabschnitte, ist damit aber zu-

nach’ durch punktuelle Grenzen in der

sofern ein spezifisches Verhältnis zwi-

gleich angewiesen auf (reale) Bezüge,

Bewegung ihre formale Bestimmung als

schen Veränderung und Bewusstsein,

also Bewegung. Dem dabei natürlich

Dauer, also Zeit.

das sich weder rein ‚idealistisch’ noch

naheliegenden Einwand, dass Verände-

Dass auch die zeitliche Erfassung nicht

rein ‚realistisch’ auflösen lässt.

rungsprozesse ohne Zeit nur schwer-

mit der Bewegung selbst identisch sein

Unabhängig von der Seele – Wahrneh-

lich vorstellbar sind, sei entgegnet, dass

kann, zeigt schon ihre Angewiesenheit

mung und Denken – kann Zeit offen-

gerade hier eine entscheidende ‚Pointe’

auf die Konstruktion von Zeitpunkten

sichtlich nicht gezählt, ein kontinuierli-

im aristotelischen Zeit-Denken liegt:

als Zustände, die eine an sich kontinu-

cher Bewegungsprozess in quantitativen

Als elementare Erfahrungsbedingung,

ierliche Veränderung gedanklich sozu-

Verhältnissen dargestellt werden; „eine

die mit der Bestimmung von Bewegung

sagen ‚unterbrechen’. Die bestimmbare

58

59

62

Art Zahl ist also die Zeit.“ Ihre objek-

immer schon unmittelbar verbunden

Bewegung zwischen zwei „Jetzt-Punk-

tive Seite zeigt sich aber, insoweit meh-

ist, zeigt nämlich Zeit in Bezug auf dy-

ten“ ist somit selbst Resultat einer ge-

rere wahrnehmbare Veränderungen – ob

namisches Sein wie der Ort in Bezug auf

dachten Teilung des Kontinuums, und

Ortsbewegung, qualitativ, quantitativ

das körperliche nicht bloß irgendeine

weist als insofern bloß theoretischer

oder substanziell (Entstehen/Vergehen)

beliebige Eigenschaft, sondern gehört

Gegenstand bereits auf die immanen-

– nicht etwa auch auf mehrere Zeiten

selbst bereits zu den unhintergehbaren

ten Bedingungen von Logizität, nach der

hindeuten, sondern Bewegung im Allge-

„Grundvoraussetzungen von Naturer-

Dinge erfasst und (räumlich wie zeitlich)

meinen durch Zahl als Einheit (z. B. Se-

fahrung, während das Unbegrenzte und

begrenzt werden können.64

kunden) bestimmt werden kann. Nichts-

das Kontinuum notwendig sind, um die

Im Kontext einer Prozessontologie, die

destotrotz setzt also „die Zeit – neben

beiden Voraussetzungen zu begreifen.“63

sich vom parmenideischen Seinsver-

der Veränderung – auch die Existenz der

Als konkrete Zeit ist sie zählbar, als all-

ständnis grundlegend emanzipiert hat,

Seele in ihrer Funktion qua Zählvermö-

gemeine Strukturbedingung noch unbe-

gen als eine nicht hinreichende, aber

stimmt.

60

57  Aristoteles: Physik IV 11, 219b. 58  Ebd. , 220a. 59  Ebd. IV 12, S. 231. 60  Ebd. IV 11, 219b.

Dass nämlich jede bestimmte Zeitspan61  Assmann, J.: Zeit (wie Anm. 8), S. 1199. 62  Aristoteles: Physik IV 14, 223a. 63  Höffe, O.: Aristoteles (wie Anm. 36), S. 120.

64  Zur aristotelischen Definition von Bewegung nicht als einzelne, jeweils konkrete, sondern als ein allgemein metaphysisches Grundprinzip der Natur vgl. Aichele, A.: Ontologie des Nicht-Seienden (wie Anm. 50), S. 191ff.

9


CRITICA–ZPK I/ 2014

finden wir damit erstmals eine klassische Theorie der Zeit, die das Phänomen (in den Erfahrungs- und Denkbedingungen von Bewegung) als eigenständiges Sachproblem einer ‚Naturwissenschaft’ behandelt. Noch vor Augustinus und all seinen modernisierenden Lesarten kann also schon für die Philosophie der Antike ein reger Diskurs zu metaphysischen Grundbedingungen aufgezeigt werden, die mit den Problemen der Zeit unmittelbar zusammenhängen, und – mit Aristoteles als Höhepunkt – in der entscheidenden Frage kulminieren: „nämlich ob sie zum Seienden gehört oder zum Nichtseienden.“65

Literatur Aristoteles: Metaphysik. Schriften zur Ersten Philosophie, übers. und hrsg. von Franz F. Schwarz, Stuttgart 2000. Aristoteles: Physik. Vorlesung über Natur, übers. und hrsg. von Hans Günter Zekl, Hamburg 1987. Diels, Hermann: Die Fragmente der Vorsokratiker. Griechisch und Deutsch, Bd. 1, Berlin 1922. Nietzsche, Friedrich: Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen (1873), in: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden, Hrsg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, Bd. 1, München/ Berlin/New York 1988, S. 799–872. Platon: Sämtliche Werke, neu hrsg. von Ursula Wolf, Bd. 3/ Bd. 4, Reinbek bei Hamburg 1994. Quine, Willard v. O.: Was es gibt (On what there is, 1948), in: W. O. Quine: “Von einem logischen Standpunkt”. Neun logisch-philosophische Essays, übers. von Peter Bosch, Frankfurt a. M./Berlin/Wien 1979, S. 9–25. Sekundär: Aichele, Alexander: Ontologie des NichtSeienden. Aristoteles’ Metaphysik der Bewegung, Göttingen 2009. Aichele, Alexander: Philosophie als Spiel. Platon, Kant, Nietzsche, Berlin 2000. Albert, Karl: Platonismus. Weg und Wesen abendländischen Philosophierens, Darmstadt 2008. Assmann, Jan: Zeit, in: Historisches Wör65  Aristoteles: Physik IV 10, 217b30.

10

terbuch der Philosophie, hrsg. von Joachim Ritter, Karlfried Gründer, Gottfried Gabriel, Bd. 12, Darmstadt 2004, S. 1186–1262. Bächli, Andreas/Graeser, Andreas: Grundbegriffe der antiken Philosophie. Ein Lexikon, Stuttgart 2000. Flasch, Kurt: Was ist Zeit? Augustinus von Hippo. Das XI. Buch der Confessiones. Text – Übersetzung – Kommentar, Frankfurt a. M. 2004. Held, Klaus: Heraklit, Parmenides und der Anfang von Philosophie und Wissenschaft. Eine phänomenologische Besinnung, Berlin/New York 1980. Höffe, Otfried: Aristoteles, 3. überarb. Auflage, München 2006. Wieland, Wolfgang: Die aristotelische Physik, 3. Auflage, Göttingen 1992. Zekl, Hans Günter: Einleitung, in: Aristoteles. Physik, Hamburg 1987, S. XVII–LI.


interview


CRITICA–ZPK I/ 2014

Acht Fragen zum Thema zeit Interview. Prof. Dr. Thorsten Streubel vom Institut für Philosophie der Freien

Universität Berlin erläutert das Wesen und die Rolle der Zeit aus philosophischer Perspektive. CRITICA–ZPK:

In Ihrem Buch „Das Wesen der Zeit – Zeit und

Streubel: Ich würde

es zunächst so formulieren: Im Grunde

Bewusstsein bei Augustinus, Kant und Husserl“ beschäftigen

finden sich fast alle Probleme, die wir theoretisch mit der Zeit

Sie sich ausführlich mit dem Begriff und dem Wesen der Zeit

auch heute noch haben, mehr oder weniger klar ausformuliert

aus philosophischer Perspektive. Sie widmen sich damit einem

bereits in der Antike: Gibt es die Zeit überhaupt und wenn ja,

höchst abstrakten, viel umschriebenen Thema. Mich würde

welche Seinsweise kommt ihr dann zu? Ist sie Substanz oder

zunächst interessieren, wie Sie die Rolle oder die Relevanz der

Akzidenz? Und wenn keines von beiden, was ist sie dann? Gibt

Zeit als Thema innerhalb der Geschichte der Philosophie be-

es Zeit nur, weil es Bewegung und Veränderung gibt, oder ist es

werten?

umgekehrt? Inwieweit ist die Zeit von der Seele des Menschen abhängig? Etc. Auch wenn die Zeitproblematik nicht immer als

Den Hauptunterschied würde ich vielleicht darin sehen, dass

philosophisches Kardinalproblem aufgefasst wurde, so ge-

der radikale Gedanke einer absoluten Subjektivität der Zeit

hört sie nichtsdestotrotz zu den Evergreens unter den philo-

(sieht man einmal von Augustinus ab) erst bei Kant (in seiner

sophischen Problemtiteln. Es gibt kaum einen bedeutsamen

Lehre von der transzendentalen Idealität von Raum und Zeit)

philosophischen Autor, der sich keine Gedanken über die Zeit

zu finden ist.

Streubel:

gemacht hat. Und es ist sicher keine Übertreibung, wenn ich Die Gretchenfrage der Zeitphilosophie scheint

sage, dass es gerade in den letzten Jahrzehnten einen regel-

CRITICA–ZPK:

rechten Boom hinsichtlich des Nachdenkens über die Zeit ge-

mir gerade auch in Anbetracht des immer größer werdenden

geben hat. Als die klassische Moderne der Zeitphilosophie und

Einflusses der Naturwissenschaften um die Problematik zu

Zeittheorie würde ich jedoch die zweite Hälfte des 19. (Dilthey,

kreisen, ob die Zeit erst im menschlichen Bewusstsein erschaf-

Brentano, Meinong, Stern, James) und die erste Hälfte des 20.

fen wird oder unabhängig davon sozusagen objektiv existiert.

Jahrhunderts (Bergson, Husserl, Heidegger) bezeichnen: Ei-

Insbesondere die moderne Naturwissenschaft scheint dabei

nerseits wurde hier die bei Augustinus und Kant vorgedachte

die erste Möglichkeit, also eine subjektivistische Sichtweise

Subjektivierung der Zeit weitergeführt, vertieft und spezi-

auf die Zeit abzulehnen. Wie stehen Sie zu dieser Problema-

fiziert, andererseits kamen aber auch neue Impulse aus der

tik?

modernen Physik (etwa durch Einsteins spezielle Relativitätstheorie). Mir scheint, dass wir das, was in dieser Zeit (nicht

Streubel: Der

nur über die Zeit) gedacht wurde, noch nicht wirklich geistig

plementär: einer zeitlosen Welt, ist der modernen Physik tat-

Gedanke der Subjektivität der Zeit und kom-

verdaut haben.

sächlich nicht völlig fremd. Ich bin allerdings der Auffassung, dass Philosophie und Einzelwissenschaften keine konkurrieErste systematische Überlegungen zum The-

renden Unternehmen darstellen, die das gleiche Erkenntnis-

ma Zeit finden wir bereits in der Antike etwa bei Platon oder

ziel mit unterschiedlichen Mitteln zu erreichen versuchen.

Aristoteles, auf den Sie in Ihrem Buch auch eingehen. Gibt es

Denn es ist ein großer Unterschied, ob man eine ontologische

grundlegende Unterschiede in der Auffassung von Zeit zwi-

Bestimmung der Zeit (also eine Antwort auf die philosophi-

schen diesen antiken philosophischen Erklärungsansätzen

sche Was-Frage) zu geben versucht, oder ob man die Zeit als

und späteren, insbesondere modernen oder zeitgenössischen

Messgröße und als abhängige Variable in einer physikalischen

Überlegungen zum Thema Zeit?

Gleichung betrachtet. Die Welt zu berechnen, heißt nicht, sie

CRITICA–ZPK:

zu verstehen (Lotze). Vor einer naiven Ontologisierung natur-

12


CRITICA–ZPK I/ 2014

wissenschaftlicher Theorien sollte man sich daher nicht nur

Zeit in der Transzendentalen Ästhetik der Kritik der reinen Vernunft

als Philosoph hüten. Das Problem ist doch: Was ist das, was wir

sowie Husserls berühmte Zeitanalysen), in denen Zeit und Be-

messen, wenn wir sagen, wir messen die Zeit? Das kann uns

wusstsein zusammengedacht wurden, näher ansah und syste-

letztlich keine Messung und auch kein Naturwissenschaftler

matisch fruchtbar zu machen versuchte. Diese Autoren fragen

sagen. Das Erfolgsrezept der modernen Naturwissenschaften

allerdings in den einschlägigen Texten nicht zuerst: Was ist

bestand ja gerade darin, die Wesensfrage zu suspendieren und

Bewusstsein?, sondern: Was ist das, die Zeit? – und kommen

stattdessen die gegenseitige funktionale Abhängigkeit von

zu dem Ergebnis: Zeit gibt es nicht an sich, sondern sie kons-

messbaren Größen in mathematischen Gleichungen zu be-

tituiert sich ‚im‘ Bewusstsein, welches jedoch selbst paradoxer

stimmen.

Weise durch und durch zeitlich ist. Indem sie nachforschen,

Das eigentliche ontologische Grundproblem mit der Zeit

was denn die Zeit sei, stoßen sie auf das ursprüngliche Zeit-

(welches ein, vielleicht sogar das Hauptmotiv ihrer späteren

phänomen, das untrennbar vom Phänomen des Bewusstseins

Subjektivierung darstellt) hat Aristoteles als Paradox so for-

(im Sinne von Erleben oder erlebnismäßiger Präsenz) ist:

muliert: Existiert die Zeit überhaupt, wo doch ihr einer Teil,

nämlich auf die unhintergehbare Ur- und Selbstpräsenz des

das Vergangene, nicht mehr, und ihr anderer, das Zukünftige,

Bewusstseins. Augustinus ist zwar der erste, der diese Urge-

noch nicht ist, und somit das Jetzt als unausgedehnte Grenze

genwart des Bewusstseins (bzw. des Geistes) entdeckt hat, es

zwischen zwei Nichtseienden eigentlich auch nichts sein kann

bleibt jedoch Kant und dann vor allem Husserl vorbehalten,

(denn der Gedanke einer Grenze zwischen zwei Nichtseienden

dieses Phänomen, in dem Zeit und Bewusstsein gewisserma-

ist ein widersinniger Gedanke)? Andererseits scheinen wir je-

ßen zusammenfallen, in seinem ontologischen Status und sei-

doch beständig Zeit wahrzunehmen. Die Antwort auf dieses

ner inneren Struktur aufzuhellen. Zeit ist danach die grund-

Grundparadox kann aus meiner Sicht nur darin bestehen, dass

legende Art und Weise, wie uns etwas zur Gegebenheit kommt.

man anerkennt, dass es Vergangenheit und Zukunft nicht an

Allerdings ist dieses ursprüngliche Phänomen der Zeit, dass

sich gibt, sondern nur als vergegenwärtigte Vergangenheit und

ich mit der Zeit selbst in einem ontologischen Sinne identifi-

Zukunft in Erinnerung und Erwartung. Und bereits die un-

zieren würde, keine einfältige Sache (etwa reine Sukzession),

mittelbare Gegenwart erlangt ihre Ausdehnung nur durch

sondern ein kompliziertes und dynamisches Strukturgan-

primäre Erinnerung (Retention) und Erwartung (Protention),

zes, das von seinen Inhalten untrennbar ist. Was den letzten

also durch das Noch-Präsentsein des eben Gewesenen und das

Punkt betrifft, so hat Kant hier Pionierarbeit geleistet, indem

Schon-Präsentsein des gerade Kommenden. Retention und

er einsichtig dafür argumentiert, dass man sich das Verhältnis

Protention, Erinnerung und Erwartung sind aber subjektive

von Zeit (als Anschauungsform) und Gegenstand als das von

Leistungen, die dem ein Sein verleihen, was dieses Sein be-

Form und Inhalt vorstellen muss. Zeit ist hiernach eine grund-

reits verloren bzw. noch gar nicht gewonnen hat, nämlich dem

legende Gegebenheitsweise alles Gegebenen (Erlebten), eben

Nicht-mehr- und dem Noch-nicht-Seienden.

Präsenz von Präsentem oder Intentionalität. Dies führt auch gleich zur nächsten Frage.

CRITICA–ZPK: Sie konzentrieren sich in Ihrem Buch besonders

auf Augustinus, Kant und Husserl. Wieso haben Sie gerade

CRITICA–ZPK: Kant spricht im Rahmen seiner transzendenta-

diese Autoren für eine systematische Rekonstruktion des phi-

len Ästhetik von der Identität von Zeit und Bewusstsein, was

losophischen Zeitbegriffs gewählt? Bei diesen Autoren spielt

genau ist darunter zu verstehen?

das Bewusstsein eine besondere Rolle für eine Theorie der Zeit. Was genau ist „Bewusstsein“ eigentlich? Daran schließt sich

Streubel: Kant hat zu zeigen versucht, dass wir uns das Ver-

für mich auch die weitere Frage an, was der Zusammenhang

hältnis von Wahrnehmung und Wahrgenommenem nicht als

von Zeit und Bewusstsein bzw. Intentionalität ist, sofern ich

die Relation zweier selbständiger Entitäten verständlich ma-

Sie richtig verstehe, kommt es Ihnen im Rahmen Ihrer Aus-

chen können: Denn dann stellt sich sofort die Frage, wie die-

führungen ja besonders auf die intentionale Verfasstheit des

se beiden Entitäten zusammenkommen können. Das ist aber

Bewusstseins an?

eine falsch gestellte Frage, da Wahrnehmung immer Wahrnehmung von etwas ist. Stattdessen versucht Kant zu beweisen,

Streubel: Ich

begann die Arbeit mit der Intuition, dass Zeit

dass Raum und Zeit weder Dinge an sich noch Eigenschaften

und Bewusstsein keine verschiedenen Phänomene darstellen.

von Dingen an sich, noch nachträgliche, durch den Verstand

Da bot es sich an, diese Intuition theoretisch zu explizieren, in-

gestiftete, Relationen zwischen den Dingen sind, sondern An-

dem ich mir diese drei prominenten Theorien (also Augustins

schauungsformen des wahrnehmenden Subjekts – also For-

Überlegungen zur Zeit in den Confessiones, Kants Theorie der

men des Bewusstseins. Und dies ist als ontologische Aussage

13


CRITICA–ZPK I/ 2014

zu verstehen, die auf die Frage nach dem Wesen der Zeit (und des Raums) antwortet. Der Plot ist nun, dass diese subjektiven Anschauungsformen zugleich Gegenstandsformen sind. Das heißt, die Formen, in denen uns die Gegenstände der Wahrnehmung erscheinen, sind zugleich Formen dieser Erscheinungen selbst (So ist beispielsweise die auf ein je neues Jetzt orientierte Dauer eines Tones gewissermaßen das Bewusstsein dieses Tones). Ohne diese Formen gäbe es keine Wahrnehmung und damit auch nichts Wahrgenommenes. Da also die Zeit eine Anschauungsform ist, kann man bereits bei Kant von einer Identität von Zeit und Bewusstsein sprechen. Und weil sie zugleich eine Gegenstandsform ist, wird verständlich, was es heißt, dass Bewusstsein Bewusstsein von etwas und damit intentional verfasst ist (Zeit = Bewusstsein = Anschauungsform = Gegenstandsform). CRITICA–ZPK: Wie definieren Sie Zeit? Streubel:

Eine Definition kann naturgemäß immer erst am

Ende einer Analyse erfolgen, in der auch die definierenden Begriffe geklärt wurden, weshalb sie für den, der die Analyse nicht kennt, nichtssagend erscheinen muss. Aber wenn ich Zeit (und damit Bewusstsein) definieren soll, dann würde ich das auf die folgende Formel bringen: Bewusstsein (als Erleben) oder Zeit als Anschauungsform ist die bleibende Gegenwart vergehender Gegenwarten von Vergehendem. Das heißt: Erleben (oder Zeit) besteht aus drei Strukturmomenten: 1. der Erlebnispräsenz oder Urgegenwart (ich erlebe immer jetzt), in der 2. zugleich die eben gewesenen Erlebnispräsenzen (ich habe ja schon ‚die ganze Zeit‘ erlebt) in ihrem Vergehen erlebt werden, und 3. den vergehenden Inhalten dieser Präsenzen, etwa einer Tonfolge (ich erlebe immer etwas und nicht nichts). Man könnte auch sagen: Zeit ist sowohl bleibend als auch vergehend – es gibt die vergehende Zeit nur unter der Voraussetzung der bleibenden Urgegenwart, in der sich Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft sowie die Früher-später-Struktur der Erlebnisinhalte konstituieren.

Die Fragen wurden gestellt von Dr. Julia-Constance Dissel

14


CRITICA–ZPK I/ 2014

Schelling und die (Zeit-) Schichten des Geistes von Ana Carrasco-Conde

Historie und Geschichte. Nach Koselleck kann die Geschichte als torisches Lexicon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland) die Grundbegriff über eine hypostasierte Weltgeschichte hinaus Bedeutung dar, die Schelling und Hegel im Begriff der Gebezeichnet werden, d. h. die Geschichte als ein eigenes Sub- schichte und der Historie und auch in der Geschichtsphilosojekt, das sich selbst vorantreibt. Aber man muss sich darüber phie innehaben. Er zitiert einen Abschnitt aus dem System des im Klaren sein, dass Geschichte als ein eigener Begriff in die transcendentalen Idealismus: „Wie Schelling sagt: Die Geschichte Geschichte eingegangen ist; das gilt aber nicht für die Historie: als Ganze ist eine fortgehende, allmählich sich enthüllende Geschichte lässt sich als Erzählung bzw. Narrativität gebrau- Offenbarung des Absoluten” (SW I/3, 603)3. chen1. In diesem Sinne ist bekannt, dass Reinhart Koselleck In diesem Beitrag würde ich gern die Metapher von Reinhart Historie und Geschichte unterscheidet2. Die Geschichte ist und Koselleck, „Zeitschichten”, benutzen, um die Beziehung zwibleibt eine Erfahrungswissenschaft für Koselleck, die in kei- schen Zeit und Geschichte und Bewusstsein und Subjekt in der nerlei Beziehung zur Historie, also den Berichten über Hand- „Odyssee des Geistes“ bei Schelling zu analysieren, ebenso um lungen, steht. Dennoch unterschied F.W.J. Schelling schon ex- die Konsequenzen und Folgerungen aus der schellingschen plizit in der Einleitung in die Philosophie der Mythologie (1856) diese Fragenstellung für die Bildung (oder Gestalt) der Subjektivität beiden Konzepte; immer aber hatte Schelling im Vorhinein zu ziehen. Der vorliegende Beitrag ist in drei Teile gegliedert: den Zusammenhang zwischen Geschichte, Geschehen und Er- I. Geschichte/Historie; II. Die Schichten des Geistes: Bewusstfahrung vor Augen und zwar so, dass die Geschichte für Schel- sein und Subjekt; III. Rest und Grund unter dem Bewusstsein. ling die Erfahrung des Bewusstseins ist oder, wie er bereits 1800 im (System des transcendentalen Idealismus) zum Ausdruck I. Geschichte/ Historie bringt, kann sie als „die Odyssee des Geistes“ verstanden wer- Es gibt verschiedene Geschichtsbilder und jedes bringt einen den. Bei der Geschichte (des Absoluten) handelt es sich um kei- bestimmten Zeitbegriff mit sich. Manche gehen von einer Line äußerliche Erzählung (also Historie), sondern um den in- nearität der Zeit aus, so dass Vergangenheit, Gegenwart und nerlichen Erzählvorgang (d. h. die wirklichen Begebenheiten, Zukunft aufeinanderfolgende Momente eines zeitlichen Abdas reale Geschehen, durch das das Subjekt sich seiner eige- laufs bilden. Die Zeit wird durch diese Linearität sozusagen nen Geschichte bewusst wird. Auch bei Schelling bezieht sich in drei Phasen gegliedert, was war, was ist und was sein wird. die Historie auf einen Bericht der Begebenheiten, aber nicht „Was war” ist immer ein Punkt auf dieser Linie; ein Punkt, der auf die Begebenheiten selbst. Bei Schelling ist die Geschichte hinter uns zurückgelassen werden kann. Dieser Zeitpunkt also Konstruktion, Werden, Bewegung, Leben und die Historie kann auch vor uns liegen („was sein wird”). Was in der Geist Beschreibung, Versteinerung, etwas Abgestorbenes, kann genwart geschieht, wird Teil der Geschichte sein, ebenso wie demnach als Historiographie verstanden werden. Koselleck das, was am Horizont der Zukunft erscheint, wenn es in der hat den schellingschen Unterschied im Hinterkopf und stellt Gegenwart verwirklicht wird, zu der Geschichte dazugehören z. B. in „Geschichte, Historie” (in: Geschichtliche Grundbegriffe. His- wird. Auf diese Weise könnte die Gegenwart etwa ein Erker, ein 1 Vgl. Hee Jik, N.: Geschichte und Narrativität, in: http://kgg.german. or.kr/kr/kzg/kzgtxt/kzgtxt106/106-06.pdf. 2  Koselleck, R. / Meiner, C./Engels, O./Günther, H.: Geschichte, Historie, in: Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexicon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, hrsg. v. Otto Brunner/ Werner Coze/R. Koselleck, Bd. 2, Stuttgart 1975, S. 593-717, sowie Koselleck, R.: Historia Magistra Vitae. Über die Auflösung des Topos im Horizont neuzeitlich bewegter Geschichte (1967), in: Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, 2. Aufl. , Frankfurt a.M. 1992, S. 38-66.

Aussichtspunkt der Geschichte sein, denn von der Gegenwart aus, ist es möglich, die Vergangenheit zu deuten und auch, aufgrund der Möglichkeiten, die sich für die Gegenwart eröffnen, die Zukunft zu erahnen oder sichtbar zu machen. Ausgehend von der Gegenwart liegt „das Geschehen” vor uns, in der Gegenwart. Es ist das, „was geschieht” und ist die Geschichte 3  Ibid.

15


CRITICA–ZPK I/ 2014

selbst dessen, was passiert und was geschehen wird, wenn es

Die Taten ihrerseits müssen als Konkretisierung eines Tuns

geschehen ist und später geschah. Es ist somit, etwas, was in

(des Subjektes) verstanden werden, (als Tatsachen) und nicht

die Geschichte eingefügt ist.

als etwas äußerlich Gegebenes. Wenn also die Geschichte ein Prozess ist, der sich nach und nach das Gewicht seines Tuns

Anderen Geschichtsbildern zufolge ist die Zeit zyklisch, wieder-

auf den Buckel lädt, und es sich bei den Taten nicht um etwas

kehrend, kreisförmig dadurch, dass die gleiche Struktur als

Äußerliches oder etwas von außen Gegebenes handelt, dann

Wiederholung in der Geschichte gegeben ist, aber der Kreis

sind die Tatsachen Produkte oder Wirkungen des Handelns

ist immer noch eine Linie, die sich auf sich selbst zurückbiegt.

des Subjektes der Geschichte bzw. des Handelns (oder des

Auf diese Art lässt sich auch eine Abfolge von Punkten finden,

Tuns) des Subjektes, das, wenn es sich selbst gestaltet, gleich-

die drei verschiedene Zeitarten besitzt, der Punkt, der ist, der

zeitig auch die Geschichte gestaltet. Das ist der zweite Beitrag des

Punkt, der war, und der Punkt, der sein wird, d. h. Gegenwart,

deutschen Idealismus: der Prozess ist der Prozess eines Subjektes, das

Vergangenheit und Zukunft. Der entscheidende Unterschied

eine vollendete Verwirklichung durch die verschiedenen Pha-

zwischen diesen Geschichtsbildern ist, dass das zyklische oder

sen seiner Entwicklung erreicht. Auf diese Weise verwirklicht

kreisförmige Geschichtsbild eine Geschichte mit sich bringt,

sich das Subjekt, es formt sich gleichzeitig selbst, bestimmt

die nicht nur auf die Vergangenheit bezogen ist, sondern auf

sich selbst und erschafft dabei die Geschichte. Mit Fichte kön-

eine Geschichte, in der die ganze Bewegung der Zeit selbst ein-

nen wir sagen, dass dieser Prozess die Tätigkeit des Ichs ist,

bezogen ist (eine Bewegung in einem in sich selbst geschlos-

mit der sich das Ich durch seine eigenen Taten bestimmt. Auf

senen Kreis). Das bedeutet aber keinen Fortschritt, sondern

diese Weise ist die Geschichte in keinen Verlauf logisch ein-

lediglich Bewegung. Es gibt nur ein Wiederkehren des ewig

gebunden, sondern sie ist ein lebendiger Prozess (immanent)

Gleichen und eine fortwährende Erneuerung der Zeit. Am

durch die Handlungen, die Tatsachen, die Entscheidungen

Ausgangpunkt, nach dem Durchlaufen des ganzen Kreises,

und das Erleben des Subjektes gegliedert. Oder, wie Wilhelm

gibt es keine Spur von Vergangenheit oder Zukunft – es ist nur

v. Humboldt sagte, ist die Geschichte ein Wirkungszusammen-

eine Gegenwart vorhanden, die keinen Grund oder Hinter-

hang5. Infolgedessen muss die Geschichte, die vor dem Idealis-

grund besitzt, die noch keine neuen Inhalte in sich trägt, weil

mus als Berichte über Handlungen, historische Erzählungen,

sie in ihrer lauteren Oberflächlichkeit transparent, durchsich-

als Historie, verstanden wurde, als Idealismus, als Handlun-

tig bleibt.

gen und Ereignisse, als Schlachtfeld des Subjektes begriffen, und damit als Geschichte verstanden werden. Schelling stellt

Auch das lineare Geschichtsbild kann ein Schließen enthalten.

in der Einleitung in die Philosophie der Mythologie – und damit

In diesem Fall handelt es sich dabei aber um kein Schließen der

vor Koselleck – die Behauptung auf, „[m]an kann Geschichte

Zeit, sondern um ein Schließen des Subjektes der Geschichte

und Historie unterscheiden, jene ist die Folge der Ereignisse

(Ende der Geschichte), ein Subjekt, das lebt und erfährt, das

und Begebenheiten selbst, diese die Kunde derselben. Hieraus

sich verändert und sich entwickelt. Hier kann man von einem

folgt, dass der Begriff der Geschichte weiter ist, als der Begriff

Fortschritt sprechen, von einem Ziel, das zu erreichen ist, von

der Historie”6.

Zwecken, die ausgeführt werden. Durch die Entwicklung ist die Zeit mit wirklichen Inhalten und Bedeutungen gefüllt. Man

Das Subjekt ist Tätigkeit. Das Ich ist Tätigkeit und es ist freies

spricht also nicht von einer „Erneuerung der Zeit”, sondern

Handeln. Diese Idee stellt den dritten Beitrag und den Schlussstein des

von einer „vollendeten Zeit”, in der das Subjekt der Geschichte

deutschen Idealismus dar - die Freiheit ist der Kern und der Motor des

zur eigenen Vollendung oder eigenen Verwirklichung gelangt.

Systems. Ohne das Vorhandensein der Freiheit, kann es nichts

In diesem Sinne besteht der große Beitrag des deutschen Idealismus

geben. Ohne das Vorhandensein der Freiheit, kann man nicht

darin, das Verständnis der Geschichte als Prozess zu entfalten, eine

über das Ich oder über das Bewusstsein sprechen. Wenn es kei-

Idee, deren Ursprung sich bei Kant findet4. Die Geschichte ist

ne Freiheit gibt, gibt es keinen Prozess, keine Tätigkeit, keine

gemacht und als solche, besteht sie aus aktiven Handlungen.

Handlungen und keine Tatsachen. Wenn die Geschichte aus diesen Tatsachen besteht, lässt sich über Geschichte nur in ih-

4  Vgl. Kant, I.: Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Hinsicht (1784). Ak, VIII, 8 und 9. Vgl. Schelling: SW I/2, 603. Schellings Texte werden zitiert nach den Sämtlichen Werken, hrsg. v. K. F. A. Schelling, Stuttgart und Augsburg 1856 ff. Zitiert mit Reihen-, Band-, und Seitenangabe. Beispiel: SW I/7, 356. Die Weltalter werden zitiert nach: Schröter, M (Hg.): Friedrich Wilhelm Joseph von Schelling: Die Weltalter. Fragmente. In den Urfassungen von 1811 und 1813 (Schelling Werke, Münchener Jubiläumsdruck, Nachlassband), München 1946 (=WA).

16

rer Beziehung zur Freiheit sprechen. Die Geschichte ist immer eine aktive Geschichte des Handelns eines Subjekts und deswegen ist es auch möglich, über eine Zeitlichkeit im Zusammenhang mit einer Geschichte zu sprechen, weil die Geschich5  Humboldt, W.v.: Aufgabe des Geschichtsschreibers (1821), AA, Band. 4, 1905, S. 41. 6  SW II/1, 235.


CRITICA–ZPK I/ 2014

te durch die Entwicklung eines Wesens, das im Werden ist,

fort vorbei sein werden. In diesem Fall, meint Schelling in den

entsteht. Wie Dilthey meinte, „[g]eschichtlich ist das Leben,

Weltaltern (1810-1813), gibt es weder eine Vergangenheit noch

sofern es in seinem Fortrücken in der Zeit und dem so entste-

eine Zukunft: „Wäre die Welt, wie einige sogenannten Wei-

henden Wirkungszusammenhang aufgefasst wird” . Für das

sen gemeint haben, eine rück- und vorwärts ins Endlose aus-

Verständnis des Zusammenhangs zwischen Zeit-Geschichte-

laufende Kette von Ursachen und Wirkungen; so gäbe es im

Subjekt und Leben, hat Schellings Philosophie eine besonde-

eigentlichen Verstande weder eine Vergangenheit noch eine

re Bedeutsamkeit, mit der wir in die „Schichten des Geistes”

Zukunft. Aber dieser ungereimte Gedanke sollte billig dem

eindringen können. Ein Titel, „Schichten des Geistes“, der mit

mechanischen System, welchem allein er angehört, zugleich

dem Vortrag von Reinhart Koselleck, „Zeitschichten” (1994), in

verschwunden sein”10. Auch die Geschichte ist nicht kreisför-

Beziehung steht .

mig oder zyklisch. Obwohl der implizite Inhalt des Anfangs

7

8

am Ende expliziert wird (d.h. das Subjekt der Geschichte), beII. Die Schichten des Geistes – Bewusstsein und Subjekt

deutet seine Vollendung keine Rückkehr zum Ausgangpunkt,

Im Zuge seines Vortrags erklärt Koselleck die Wahl seines

kein „Wieder-anfangen”. Ist die Zeit erst einmal durch die Tä-

Titels: „Mein Thema lautet »Zeitschichten«. Und ich darf vo-

tigkeit des Subjektes, das bereits verwirklicht ist und das die

rausschicken, dass ich als Historiker keine physikalisch oder

Zeit mit seinem Handeln ausfüllen wird, vollendet, schließt

biologisch begründeten Aussagen zu machen fähig bin. Eher

sich der Prozess und das Subjekt biegt sich auf sich selbst zu-

bewege ich mich im Bereich der Metaphern: »Zeitschichten«

rück, es beschreibt eine reflexive Bewegung (curvus in se). Auf

verweisen auf geologische Formationen, die verschieden weit

diese Weise kann es sich selbst als transparent erkennen und

und verschieden tief zurückreichen und die sich im Laufe der

kann sich seiner selbst bewusst werden. Mit der gleichen Be-

sogenannten Erdgeschichte mit verschiedenen Geschwindig-

wegung aber, und dank der Durchsichtigkeit, kann es etwas

keiten verändert und voneinander abgehoben haben”. Kosel-

sehen, das nicht im Bewusstsein aufgehoben wird, etwas, das

leck meint weiter: „Die Rückübertragung in die Strukturge-

fremd für es selbst ist, das aber gleichzeitig aus seinem Grund

schichte erlaubt es, verschiedene zeitliche Ebenen analytisch

und seiner Basis besteht. Das Subjekt erhebt sich über sich, ist

zu trennen, auf denen sich die Personen bewegen, Ereignisse

aber Zusammenziehen und Verschweigen, es befindet sich im

abwickeln oder deren länger währende Voraussetzungen er-

Subjekt, aber in einer Schattenzone seiner selbst. Das Subjekt,

fragt werden” . „Schicht” hat eine unsichere Verwandtschaft mit

das als Selbstbewusstsein schon durchsichtig, transparent ist,

dem Begriff Ge-schicht-e, einem Begriff, dessen Bedeutung die

setzt sich auf diese Weise mit der Dunkelheit und der Opazi-

Idee von geschehen in sich birgt. Wir benutzen diese Metapher

tät seines Grundes auseinander. Ein Grund, der für sich selbst

in einem ähnlichen Sinn: „Schichten des Geistes” werden als

unergründlich ist, und der nicht aufgehoben werden kann -

9

verschiede Ebene oder Stufen verstanden, in denen die Hand-

wenn der Grund aufgehoben würde, würde ebenfalls ein Teil

lungen eines freien Subjekts in verschiedenen zeitlichen Tiefen

des Subjekts aufgehoben und das Subjekt würde keine Grund-

angeordnet werden; Handlungen, die sich in ihren Tatsachen

lage mehr besitzen. Eine Grundlage, die das Subjekt braucht,

kristallisieren, d. h. sie sind „passiert” und sie gehören der Ver-

um sich selbst zu erheben und um sich selbst in der Geschichte

gangenheit an, gleichwohl besitzen sie aber eine Wirklichkeit

zu verwirklichen. Die Opazität ist der nie aufgehende Rest: „Die-

in der Gegenwart. Auf diese Weise erklärt sich für mich der

ses ist an den Dingen die unergreifliche Basis der Realität, der

Sinn einer Wirklichkeit der Vergangenheit, einer Wirklichkeit, die

nie aufgehende Rest, das, was sich mit der größten Anstren-

nur durch eine Tat verstanden werden kann, die immer Wir-

gung nicht in Verstand auflösen läßt, sondern ewig im Grunde

kungen bewirkt und die immer Wirkungen bewirken wird.

bleibt. Aus diesem Verstandslosen ist im eigentlichen Sinne der Verstand geboren. Ohne dies vorausgehende Dunkel gibt

Für Schelling stellt sich die Geschichte nicht linear dar. Sie

es keine Realität der Kreatur”11.

ist auch nicht kreisförmig oder zyklisch. Die Geschichte ist nicht linear, wenn man davon ausgeht, dass sie auf einer li-

Der Rest ist etwas, das nach der Vollendung des Subjektes

nearen Reihe von „Taten” und „Jetzt-Punkten” beruht, die so-

bleibt, etwas, das nicht aufgehoben werden kann, und nicht einmal von diesem selbst von der Vernunft oder vom Verstand

7  Dilthey, W: Der Aufbau der Geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften, in: Gesammelte Schriften, Band VII, Göttingen 1992. S. 261. Auch “Das wirkliche Leben, von dem wir wissen, ist in der Zeit”. S. 319. 8  Koselleck, R.: Zeitschichten, 1. Ausgabe, in: Zeit und Wahrheit. Europäisches Forum Alpbach 1994 (Heinrich Pfusterschmid-Haertenstein [comp.]), Wien 1995, S. 95-100. 9  Ibid, S. 19

berührt werden kann. Dieser Rest ist jedoch keineswegs irrational. Es ist nur so, dass die Vernunft dem Rest nicht Herr wird - er bleibt also lauter, in seinem reinen Zurückziehen. Der Rest 10  WA I 20. 21, S. 10-11. Vgl. WA II 19.20, 119. 11  SW I/7, 360.

17


CRITICA–ZPK I/ 2014

ist kein Rückstand, der von der Vernunft ausgemistet oder aus-

diese Weise ist der Vergangenheit ein ontologischer und we-

geschlossen wurde; er ist vielmehr die Basis, die die ganze Be-

sentlicher Sinn inne. Sie ist immer da, sie ist die ewige potentia:

wegung des Bewusstseins (und die Geschichte) ermöglicht. Der

tò tì ên eînai (quod quid erat esse). In den Weltaltern schreibt Schel-

Rest ist somit der unverdauliche Rest . Diese Basis wird 1809

ling: „Alles, was uns umgibt, weisst auf eine unglaublich hohe

bei Schelling als Grund des ganzen Entwicklungsprozesses des

Vergangenheit zurück [. . .] Wir sehen eine Reihe von Zeiten,

Systems bezeichnet. Er braucht seinerseits keinen Grund, des-

von denen je eine der andern folgte und immer die folgende die

halb spricht Schelling über einen Un-grund. In den Weltaltern

vorhergehende zudeckte; nirgends zeigt sich etwas Ursprüng-

(1811) wird der Urgrund als zusammenziehende Kraft der Ver-

liches, eine Menge nach und nach angelegter Schichten, die Ar-

gangenheit, als absolute Vergangenheit13 bezeichnet. In diesem

beit von Jahrtausenden muss hinweggenommen werden, um

Sinne stellt Schelling 1811 die Behauptung auf: „Ein jeder er-

endlich auf den Grund zu kommen”18. Durch sie wissen wir,

kennt an, daß die Kraft der Zusammenziehung der eigentlich

dass sie durch ihre Wirkungen existiert. Oder wie Schelling

wirkende Anfang jedes Dings ist“ . Auf diese Weise erscheint

sagt: „Wo Wirklichkeit ist [. . .] da ist zusammenziehende Kraft,

diese Ekstase der Zeit nicht als etwas, das vom Subjekt hinter

da ist Tiefe und Verschlossenheit”19. Es gibt Welt, es gibt Dinge,

sich gelassen wird, als eine verfestigte Tatsache des Handelns,

es gibt Leben und Tod, es gibt Dinge, die leben und Dinge, die

die aufgehoben ist. Die Vergangenheit erscheint im Gegenteil

sterben, es gibt Änderung, Veränderlichkeit, Bewegung, Wer-

vielmehr als einsehbare, ungreifbare und aufgehende Grund-

den. Dabei ist die Wirklichkeit das Gegenteil der Möglichkeit;

lage der Realität, außerhalb des Bewusstseins, die aber die ge-

und die Gegenwart - die Zeit der Wirklichkeit, der Entfaltung,

genwärtigen und zukünftigen Taten des Bewusstseins ermög-

der Tätigkeit und der Bewegung - ist das Gegenteil der Vergan-

licht. Das bedeutet, die Vergangenheit ist die Grundlage für die

genheit, Zeit des Zusammenziehens, der aktiven Ruhe und der

Verwirklichung des Subjektes. Als Basis ist die Vergangenheit

Latenz. Auf diese Weise erzeugt die Zeit sich durch Gegensatz

auch Ursprung des Prozesses, deswegen haben Un-grund und

und Widerstand20: Keinen Widerstand (und kein Gegensetzen), kei-

12

14

Ur-grund bei Schelling auch eine synonyme Bedeutung : Der

ne Zeit, wie Schelling selbst beteuert. Nur durch die Zeit erhält

Ungrund ist der verursachende Grund, der die ganze Möglich-

jedes Ding seine Eigenheit, seine Besonderheit und seine Per-

keit der Wirklichkeit in sich trägt. So äußert Schelling 1811,

sönlichkeit21. Auch Fichte stimmt dem zu: „Alles etwas sein ist

dass „dieses Vergangene noch immer im Grunde verborgen

nur möglich durch Gegensetzen”22.

15

liegt” und er ergänzt 1813, dass „dieses Vergangene es ist, was 16

die gegenwärtige Schöpfung trägt und noch immer im Grunde

Die Handlungsweise ist hier der Idee des Gegensetzens von

verborgen ist” .

Fichte ähnlich, zumindest in der Wissenschaftslehre nova me-

17

thodo (1798), wenn das Ich begreift, dass ein Ruhestand vor der Aber was bedeutet, dass die Vergangenheit „noch immer im

Tätigkeit (eine Tätigkeit, die das Ich selbst ist) gegeben sein

Grunde verborgen liegt”? Wurde keine versteinerte Vergan-

muss. Obwohl es sich um einen großen Widerspruch handelt,

genheit zurückgelassen? Hat sie sich etwa nicht ereignet? Es

beide Prozesse (bei Fichte und Schelling) zu verstehen, gibt

ist eine Vergangenheit, aber eine lebendige Vergangenheit,

es in diesem Aspekt einen wichtigen Unterschied zwischen

die kein Produkt der wirklichen Handlungen ist, sondern eine

beiden Philosophen; dieser führt zu zwei unterschiedlichen

ermöglichende Vergangenheit. Schelling bricht mit dem line-

Begriffen von Zeit und Geschichte. Bei Fichte geschieht alles

aren Geschichtsbild, um den Begriff einer Vergangenheit zu

auf einmal, aber um den Prozess zu verstehen, lassen sich ver-

entwickeln, die nie aufhört zu sein. Die Vergangenheit war nie-

schiedene Phasen als eine Reihe von Handlungen unterschie-

mals wirkliche Gegenwart - nur durch diese ferne Vergangen-

den. Bei Fichte ist das Ich „eine in sich selbst zurückgehende

heit ist „was war”, „was ist” und „was sein wird” möglich. Auf

Tätigkeit”23. Das Handeln des Ich ist vom Denken gesteuert.

12  Vgl. Carrasco-Conde, A.: La Limpidez del mal. El mal y la historia o la otra odisea de la conciencia en la filosofía de F.W.J. Schelling, Madrid, Plaza y Valdés 2013. 13  Vgl. Pareyson, L.: Ontologia della libertà. Il male e la sofferenza, Turín, Einaudi 1995. 14  Vgl. Schelling: Die Weltalter. Fragmente. In der Urfassung von 1811 und 1813 (=W), S. 50. 15  Vgl. SW I/7, 406. Vgl. Carrasco-Conde, A.: Die Struktur des Werdens bei Schelling, in: Asmuth, C./Rogge, W. (Hrsg.): Paradoxien im Denken des Selbst – in der klassischen deutschen Philosophie und in der Gegenwart (Kultur-System-Geschichte: 7), Verlag Königshausen & Neumannn, Würzburg 2013. 16  WA I 24. 25, 13. 17  W II 27.28, 121.

18

Das Ich reflektiere über sich, um die einzelnen Momente seiner selbst zu verstehen. Der Entfaltung liegt immer dieselbe Struktur zugrunde, die Struktur einer zurückgehenden Tätigkeit, die immer eine Reihe von Reflexionen über vorigen Reflexionen des Ich mit sich bringt. Es versteht und erkennt 18  WA I 20.21,11. 19  WA I 79. 80, 44. 20  WA II 28.29, 122. 21  WA I 22.23, 12. 22  FW IV/3, 360. 23  FW IV/3, 336.


CRITICA–ZPK I/ 2014

die verschiedenen Elemente des Sich-selbst. Im Laufe seiner

das Ich einem Zweckbegriff unterliegt30 (was es machen soll –

Überlegungen wird das Ich sich seiner selbst bewusst. Wenn

oder will), denn das Ich handelt, um einen Zweck zu erfüllen

die Tätigkeit Bewegung ist, kann zuvor keine Bewegung vor-

sowie ferner die Elemente, die es hinter sich lässt. Zukunft-

handen sein. Es muss also etwas geben, das sich der Bewegung

Gegenwart-Vergangenheit. Doch bei Schelling liegt die Fra-

entgegensetzt - die Ruhe. Wir müssen also von der Behaup-

gestellung völlig anders. In diesem Fall setzt das Ich keine

tung ausgehen, „daß man Thätigkeit nicht sezen könne, ohne

Voraussetzung als Möglichkeit des Handelns und die Mög-

ihr Ruhe entgegenzusetzen”24. Aber die Ruhe ist bei Fichte eine

lichkeiten werden nicht für das ich deduziert. Der Gegensatz

bloße Voraussetzung (eine Hypothese, aber keine reale), weil es

entsteht nicht durch etwas Passives oder Untätiges, sondern

nur de facto Tätigkeit gibt: keine Tätigkeit, kein Ich - kein Ich,

dadurch, dass der Gegensatz des Ichs ein aktives Nicht-Ich

keine Tätigkeit. Das Ich überlegt in Ruhe, um zu begreifen,

ist. Es liegt eine reale Spannung, eine Latenz, vor, die gegen

dass die Ruhe etwas ist, dass das Ich nicht ist, also Nicht-

die bewusste Tätigkeit des Ich gerichtet ist. Auch bei Schelling

Ich ; aber auch die Ruhe kann als ein Vermögen verstanden

bedeutet Vergangenheit nicht eine Aneinanderreihung des

werden26, ein Vermögen zu handeln. Wenn das Ich handelt,

Handlungsproduktes bzw. eine Aufhäufung. Die Vergangen-

bedeutet das, dass es die Möglichkeit hatte, nicht zu handeln.

heit ermöglicht die Gegenwart; sie ist seine reale Basis, von der

„Nicht zu handeln” erscheint als Ruhe, und die Ruhe erscheint

sich die Gegenwart erheben kann. Schelling überlegt die Mög-

als Vermögen. Ist aber das Ich Tätigkeit, ist die Ruhe und das

lichkeit von der Wirklichkeit, aber für ihn ist die Möglichkeit

Vermögen Nicht-Ich (eine Voraussetzung, die unterhalb der

keine Voraussetzung, sondern ein reale[r] Grund des Handelns.

Tätigkeit bleibt). Das Ich handelt gerade – führt Fichte an – aber

Das Mögliche ist der Grund des Wirklichen. Die Vergangenheit

(Hypothese) es konnte nicht handeln, und diese Voraussetzung

begründet die Gegenwart. Die Zeit wird durch die Spannung

des Handelns, die für das Ich besteht, eröffnet die Möglichkeit

zwischen zwei Polen geboren und sie kann nur durch die Ne-

a posteriori im Lauf der Überlegung. Vor der Tätigkeit existie-

gativität des Anfanges bestehen bleiben: „Wäre das Nein nicht,

ren somit vielfältige Möglichkeiten und eine Entscheidung.

so wäre das Ja ohne Kraft. Kein Ich ohne Nicht-Ich, und inso-

Die Entscheidung des Ichs wird zu einer wirklichen Möglich-

fern ist das Nicht-Ich vor dem Ich”31. Aus dieser Spannung und

keit. Das Ich kann frei wählen, was es machen möchte. Wenn

dieser Polarität ergibt sich demnach die Gegenwart. Somit ist

es sich also entscheidet, bedeutet das, dass die Tätigkeit des

die Gegenwart der Kampf zwischen zwei Epochen, die Folge

Ich in einer Handlung konkret zum Ausdruck kommt. Bei der

eines unauslöslichen Gegensatzes, der zeitliche Ereignisse

Handlung haben wir es demnach mit einer Wahl zu tun. Das

erzeugt. Die Gegenwart ist keine „Masse” der Zeit, sondern

Bestehen einer Wahlmöglichkeit bedeutet, dass andere Mög-

der Weg der Bewusstseinsbildung von der Nacht der Vergan-

lichkeiten vorhanden waren, die sich nicht verwirklicht haben,

genheit in die Zukunft der absoluten Bewusstheit, die Zeit

und daher verbleiben sie in der Ruhe (weil sie nicht Tätigkeit

der Dialektik. Auf diese Weise ist die Gegenwart die Zeit der

sind). In diesem Sinne sind die Möglichkeiten in der Ruhe – die

Erwartung. Die Vergangenheit liegt noch im Grunde: „Darum

Voraussetzung des Handelns – eine Ruhe, die als Vermögen

hat alles Bewußtseyn das Bewußtlose zum Grund, und eben im

erscheint. Das bedeutet, die Möglichkeiten des Handelns sind

Bewußtwerden selbst wird es von dem, das sich bewußt wird,

im Vermögen angelegt, aber das Vermögen tritt nur a posteriori,

als Vergangenheit gesetzt“32.

25

nach der Tätigkeit in Erscheinung. Das Ich kann auf diese Weise andere Möglichkeiten deduzieren, die nicht Ich sind. Das

Die Vergangenheit ist nicht etwas „Passiertes” und Versteiner-

Ich ist bestimmte27 und wirkliche Handlung28. Deshalb wird

tes. Sie besitzt eine aktive Kraft und einen Einfluss auf die Ge-

alles von der Tätigkeit erzeugt und deduziert. Das Ich handelt

genwart. Sie stellt die Grundlage für die Gegenwart als Schich-

(Gegenwart), geht weiter (Zukunft) und lässt verschiedene Ele-

ten des Bewusstsein des Subjektes dar: „Der Mensch, der nicht

mente (Vergangenheit) hinter sich. Auf diese Weise besteht bei

fähig ist, sich seiner Vergangenheit entgegenzusetzen, hat kei-

Fichte eine Linie des Handelns29.

ne, oder vielmehr er kommt nie aus ihr heraus, lebt beständig

III. Der Rest und Grund unter dem Bewusstsein

30  Vgl. FW IV/3, 365; 370. 31  SW I/8, 227. 32  SW I/8, 262. Vgl. SW I/7, 359-360: „Nach der ewigen That der Selbstoffenbarung ist nämlich in der Welt, wie wir sie jetzt erblicken, alles Regel, Ordnung und Form; aber immer liegt noch im Grunde das Regellose, als könnte es einmal wieder durchbrechen, und nirgends scheint es, als wären Ordnung und Form das Ursprüngliche, sondern als wäre ein anfänglich Regelloses zur Ordnung gebracht worden. Dieses ist an den Dingen die unergreifliche Basis der Realität, der nie aufge- hende Rest, das, was sich mit der größten Anstrengung nicht in Verstand auflösen läßt, sondern ewig im Grunde bleibt”.

Die Fragestellung enthält einen linearen Zeitbegriff, in dem 24  FW IV/ 3, 353. Kursive Hervorhebung von der Autorin. 25  FW IV/3, 352. 26  FW IV/3, 353: „Vermögen, Ruhe, Bestimmbarkeit sind eins”. 27 Vgl. FW IV/3, 360. 28  Vgl. FW IV/3, 354; 364. 29  FW IV/3, 369.

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CRITICA–ZPK I/ 2014

in ihr”33. Schelling geht von der Gegenwart aus und er legt die Gegenwart über die Vergangenheit. Die Vergangenheit ist aber keine vorgegebene Voraussetzung für das Ich (wie bei Fichte), sondern etwas, das sich das Ich selbst ermöglicht und das eine Basis für das Bewusstsein schafft. Auf diese Weise lässt sich mit den Schichten des Geistes die Struktur des Subjektes verstehen. Unter Schichten des Geistes müssen die verschiedenen und graduellen Ebenen, von der Unbewusstheit bis zur absoluten Bewusstheit, verstanden werden, in die die Psyche des Subjektes gegliedert ist. Wie bei Freud ist eine unbewusste Ebene vorhanden, die immer die Grundlage bildet (das Es), eine bewusste Ebene (das Ich), und eine dritte Ebene, das Moralische, durch die die Existenz und Entfaltung des Subjektes bestimmt werden (das Über-Ich). Der Rest liegt also als etwas nie Aufgehendes, ewig Verborgenes unter dem Bewusstsein-unterbewusst. Wir konnten einen neuen, von Schelling nicht vorgenommenen Unterschied zwischen der Geschichte des idealistischen Subjekts der Geschichte und der Geschichte des individuellen und einzelnen Subjekts, des Individuums ausmachen; eine eigene Geschichte, die jedes Ich vornimmt. Das einzelne Subjekt macht nicht Geschichte als solche und geht vielleicht nicht einmal in die Geschichte ein, aber in Analogie zum absoluten Subjekt der Geschichte (über das Schelling spricht), erschafft es durch sein Handeln und seine Entscheidungen seine eigene, wichtige Lebensgeschichte. In diesem Sinne ist die menschliche Vergangenheit keine versteinerte und leblose Tat, das Produkt eines Handelns, das bereits vergangen ist. Was wir im Laufe der Zeit beobachten – in der Zeit, die für uns voller Erfahrungen ist – sind wirkliche Taten, die ihre Wirkung in unserem Leben hinterlassen. Und wenn die Tatsachen Wirkungen besitzen, sind sie wirklich und wenn sie wirklich sind, sind sie auch Gegenwart. Der Mensch besitzt also keine absolute Vergangenheit, sondern eine Gegenwart – die Wirklichkeit unseres Lebens – die auf alle Handlungen (unsichtbare oder sichtbare, unbewusste oder bewusste) wirkt. Die Vergangenheit setzt sich aus den aktiven und einflussreichen Schichten unserer Gegenwart zusammen.

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20

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CRITICA–ZPK I/ 2014

Vergessen im Netz der Narrativität von Anita Galuschek und Dominic Lütjohann

Handeln und der damit einhergehende Austausch von Infor- wir nach unseren individuellen Bedürfnissen einstellen: Das mationen kann als eine menschliche Disposition angesehen Gedächtnis wird immer mehr entlastet und wir können uns werden. „Unser Körper hört, ruft und erinnert sich. [. . .] [K]ein mit anderen, vermeintlich wichtigeren, Dingen beschäftigen. Organismus kann ohne Austausch von Energien überleben, Es braucht keinen Ortswechsel mehr und keine langwierige aber auch nicht ohne Austausch von Informationen“ (Serres manuelle Suche, wenn stattdessen nach Stichworten in Do2007, 76). Informationen sind Kommunikationspartikel. Auf

kumenten und Web-Seiten gesucht werden kann. Durch un-

biologischer Ebene treten Organe und Nerven miteinander in sere mnemotechnische Auslagerung verbinden wir physische Kommunikation, indem sie Informationen austauschen. Die Räume und Orte des Wissens (Bibliotheken, Museen, Universoziale und kulturelle Ebene folgt den gleichen Regeln. Akte sitäten) auf virtueller Ebene. Ein Klick reicht aus, um auf das der Kommunikation sind Handlungen, die in Interaktion mit Wissen der Welt zuzugreifen: „Netze ersetzen Konzentration der Umwelt durchgeführt werden (vgl. Habermas 1987, 190). durch Distribution“ (Serres 2007, 80). Deswegen brauchen wir Der Austausch von Informationen und deren Verarbeitung uns nicht mehr daran zu erinnern, wo wir eine bestimmte Inschafft die Grundlage für den von uns initiierten Fortschritt formation abgelegt haben. Es reicht aus zu wissen, dass eine und Innovation.

mögliche Information existiert. Das allein ist die notwendi-

Unserem Wesen nach homo faber, sind wir Macher und Hand- ge Information, um etwas zu finden und es kreativ in einem werker (Irrgang 2010). Dies bedeutet, dass wir mit „Natur [. . .], Schaffensakt zu verarbeiten. Damit wird eine Dynamisierung Technik und anderen Menschen“ umgehen können (Irrgang des Wissensvorrats postuliert, indem Wissen vernetzt wird. 2010, 13). Durch Evolution konnten wir uns die Hände zum „Wir speichern nicht mehr Dinge, sondern Relationen“ (Serres Werkzeug machen und mit diesen praktisch und kreativ arbei- 2007: 80; Herv. d. A.). Somit vollzieht sich eine Hinwendung ten. Dies ermöglichte, mit der Schrift einen kulturell-histori- zu einer digitalisierten Gesellschaft des Vergessens. Damit geht eine schen Schatz zu fundieren, indem nicht mehr Traditionen aus- Enthistorisierung unseres Selbst einher. Wenn wir jedoch gewendig gelernt werden mussten, um diese zu analysieren und rade durch Geschichte, Vergangenheit und Erinnerung unzu interpretieren, sondern dieses Wissen mnemotechnisch seren „Lebenszusammenhang” als unsere „Lebensgeschichte“ ausgelagert wurde. Der Kopf wurde somit vom Behalten be- erleben (Ricœur 2005, 174), verliert sich dann unser Selbst in freit, und konnte sich interpretatorischer Arbeit widmen. Mit der digitalisierten Gegenwart? Hier schwingt die Frage nach der Erfindung des Buchdrucks wurde dieser kulturelle Schatz, einem „maßvoll-gerechten Gedächtnis (juste mémoire)“ mit und die Art und Weise mit ihm zu arbeiten, der breiten Öffent- (Ricœur 2004, 15). Von dieser Frage geleitet, werden in diesem lichkeit zugänglich. Als ein dritter solcher Meilenstein kann Essay die Formen von Gedächtnis, Erinnerung, Vergessen und die „technologische Hypermoderne“ betrachtet werden (Irr- die Wahrnehmung von Geschichte im Kontext der digitalen gang 2010, 208). Ihre technischen Errungenschaften dienen Entwicklung aus der Perspektive der narrativen Identität darals Katalysator für gesellschaftliche Prozesse. Diese wirken gestellt. nicht nur auf unsere Umwelt, indem wir mobiler (Automobi- Nach einer kurzen Betrachtung der aktuellen Gedächtnisthele), erreichbarer (Mobilfunk) und informierter (Internet) wer- orien (Assmann, Welzer) und Ricœurs Ansatz der narrativen den, sondern ebenso auf unsere kognitiven Prozesse und un- Identität vor dem Hintergerund eines autobiographischen Geser Selbstverständnis. So müssen wir uns zum Beispiel nicht schichtsverständnisses (1.), wird in einem nächsten Schritt auf mehr an Einkaufslisten oder Termine erinnern: wir werfen die Nutzung des Internet im Alltag und damit auf unsere Exiseinen Blick auf unser Handy und sind informiert. Erinnerungs- tenz im Netz eingegangen. Denn Handlungen im World Wide funktionen, Newsletter, Push-Benachrichtigungen etc. können Web als digitales Informationsnetzwerk unterscheiden sich

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CRITICA–ZPK I/ 2014

formal wenig von Handlung in der analogen Welt, jedoch bein-

‚kommunikative Gedächtnis‘ ist im Vergleich zum kulturellen

halten sie Besonderheiten im Umgang mit Informationen und

so etwas wie das Kurzzeitgedächtnis der Gesellschaft“ (Welzer

Wissen (2.). Schließlich wird aufzeigt, welche – neuen – For-

2002, 14).

men von Gedächtnis, Erinnerung und Vergessen in einer Welt

Verfestigt sich der Inhalt des kommunikativen Gedächtnisses,

aufkommen können, deren ausgezeichnete Grundkonstituti-

dann geht er in das kollektive oder kulturelle Gedächtnis über.

on nicht darauf ausgerichtet ist, überhaupt zu vergessen (3.).

Denn „[j]ede Kultur bildet etwas aus, das man ihre konnektive Struktur nennen könnte“ (Assmann 2007, 16). Diese konnekti-

1. Im Netz der Geschichte

ve Struktur entspricht einem kulturellen Wissenspool, aus dem

Gedächtnis und Geschichte existieren durch die Erinnerung

alle Mitglieder einer bestimmten kulturellen Gruppe schöpfen

an Ereignisse, welche durch Narrative gebildet werden. Als ge-

können. Damit bindet das kulturelle Gedächtnis „das Gestern

schichtliche Wesen befinden wir uns in einem „Streben des Ge-

ans Heute“, indem in einem „fortschreitenden Gegenwarts-

dächtnisses nach Treue gegenüber dem Vergangenen“ (Ricœur

horizont“ Ereignisse, Erinnerungen und Erfahrungen geformt

2004, 22). Zum einen lassen wir durch unser Gedenken der

werden (Assmann 2007, 16). Es „speist Tradition und Kom-

Vergangenheit Gerechtigkeit widerfahren, zum anderen ver-

munikation, aber es geht nicht darin auf. Nur so erklären sich

sprechen wir uns durch unsere Erinnerung der Geschichte

Brüche, Konflikte, Innovationen und Revolutionen“ (Assmann

eine andere Zukunft (vgl. Liebsch 2010, 13). Diese Zukunft ist

2007, 23). Das dynamische Verständnis von Zeit und das Ver-

eine bessere Zukunft, die die Geister der Vergangenheit ver-

stehen des eigenen Selbst korrelieren also miteinander.

treibt, sie versöhnt und vergibt (Ricœur 2004, 443), um so der

Denn Zeit und Erzählung beruhen auf einer Vermittlung,

Geschichte zu einem „happy end“ zu verhelfen (Ricœur 2004,

die Ricœur (1988, 87) im mimesis-Begriff in Aristoteles’ Poetik

444).

findet. Indem er zwischen drei Momenten der mimesis unter-

Ausgehend von einer conditio historica des Menschen verhin-

scheidet, fügt er der menschlichen Zeit den „Modus des Nar-

dert das Vergessen, den Anspruch der Geschichte zu erfüllen

rativen“ hinzu: mimesis I (Präfiguration), mimesis II (Konfigura-

(Ricœur 2004, 442), Zeuge unserer eigenen Zeit zu sein und damit

tion) und mimesis III (Refiguration) (vgl. Ricœur 1988, 88). Jedes

uns selbst in der „Zuversicht” unseres eigenen Handelns bezeu-

dieser drei Vermittlungsmomente korrespondiert mit einem

gen zu können (Ricœur 2005, 34). Unsere eigene Geschichte zu

Modus der Zeit.

bezeugen, bedeutet, uns selbst als Handelnde innerhalb dieser

Mit mimesis I wird ein gewisses Vorverständnis der Geschich-

Geschichte zu begreifen. Jedoch nimmt da, wo Erinnerung an

te als Zeit und Erzählung beschrieben. Dieses Vorwissen kann

Erlebnisse und Erfahrungen stattfinden kann, auch das Ver-

als ruhendes Wissen verstanden werden, das einen Platz in der

gessen Raum ein.

Geschichte als Erzählung einnimmt. Geschichte hat damit

Als Handelnde stehen wir in einer permanenten Interakti-

eine symbolische Struktur, die im Anschluss an Clifford Ge-

on mit unserer Umwelt. Auf diese Weise kommunizieren wir

ertz (1973) als „Symbolnetz der Kultur“ bezeichnet werden

Erlebnisse und Erfahrungen als Informationen mit anderen

kann (Ricœur 1988, 95). Als „das Reich des Als ob“ ist mimesis

und vice versa. So wird eine Dynamik im Denken der Genera-

II das Reich der Fiktion (Ricœur 1988, 104). Damit nimmt sie

tionen garantiert (Welzer 2002, 10). Hieraus resultieren zwei

eine vermittelnde Funktion zwischen der mimesis I als Präfigu-

Gedächtniskonzepte: das kommunikative Gedächtnis und das kol-

ration und mimesis III als Refiguration ein (Ricœur 1988, 114).

lektive oder kulturelle Gedächtnis (Assmann 2007).

Sie ist in ihrem Konfigurationsvorgang dynamisch, da sie das

Das kommunikative Gedächtnis ist ein Lebensgedächtnis: Es er-

Ereignis der Handlung in den Verlauf der Geschichte einfügt.

innert nur das, was wir während unseres Lebens erlebt haben.

Durch mimesis II wird unsere Existenz zeitlich erfasst und die

Damit ist es ein Gedächtnis „interaktiver Praxis im Span-

Möglichkeit erschlossen, sie innerhalb der Zeitlichkeit zu mo-

nungsfeld der Vergegenwärtigung von Vergangenem“ (Welzer

difizieren. Diese letzte Modifikation als Refiguration vollzieht

2002, 14). Als das Alltagsgedächtnis ist es die personalisierte

sich in der mimesis III, in der die nachahmende Handlung be-

Erinnerung an die Ereignisse, Erlebnisse und Erfahrungen in

reits vollzogen ist. Damit sind die drei Momente der mimesis

Interaktion mit anderen. Dadurch lösen Handlungen Reakti-

„das Gegenteil der Kopie einer vorbestehenden Wirklichkeit”

onen in der Umwelt aus. Diese Feedbacks haben die Funktion,

(Ricœur 1988, 77). Sie konfigurieren in einer „schöpferischen

aus bestimmten Situationen zu lernen. Handlung und Reakti-

Nachahmung” ein Original (Ricœur 1988, 77), weil sie einen

on vollziehen sich in einem „zirkulären oder rückgekoppelten

innovativen Charakter besitzen. Damit geht innerhalb von mi-

Zusammenspiel von Innen und Außen“ (Assmann 2007, 20).

mesis III die nachgeahmte Handlung wieder in die Präfigurati-

Denn ohne das kommunikative Gedächtnis wären wir nicht

on über und wird zu mimesis I.

fähig, Codes zur Kommunikation mit anderen zu lernen. „Das

Diese Struktur der Zeitdynamik überträgt Ricœur auf die Kon-

22


CRITICA–ZPK I/ 2014

stitution unserer narrativen Identität. Dadurch befinden wir

34). Damit kontextualisieren wir unsere Erfahrungen und Er-

uns in einer zeitlich relationalen Dialektik. Zum einen besitzt

lebnisse innerhalb eines „Lebenszusammenhangs“ (Ricœur 2005,

das narrativierte Selbst eine Beständigkeit in der Zeit als Sel-

174). So befinden wir uns seit je her schon in Narrativen. Die-

bigkeit (idem, lat. gleich), zum anderen die dynamische Selbst-

se Narrative werden nicht erfunden, sondern ergeben sich im

heit (ipse, lat. selbst) (Ricœur 2005, 11). Diese Dialektik der nar-

Sinne der Zeitmomente der mimesis wiederum aus Kontexten.

rativen Identität löst sich zum einen in der Beständigkeit des

Durch ein Netz von Geschichten füllen wir unser Sein zu ei-

Charakters auf. Der Charakter ist „die Gesamtheit der Unter-

nem Selbstsein auf. Deswegen können durch das Vergessen

scheidungsmerkmale, die es ermöglichen, ein menschliches

keine leeren Stellen in unserer Vergangenheit entstehen, viel-

Individuum als dasselbe zu reidentifizieren“ (Ricœur 2005,

mehr werden sie durch Kontextsetzungen aufgefüllt. Unser

148). Durch seine Grundständigkeit in der narrativen Identi-

Gedächtnis funktioniert auf diese Weise relational, und nicht

tätsentwicklung stellt der Charakter eine Kontinuität in der

als ein bloßes Speichermedium von Lebensfakten.

Existenz dar. Er spiegelt eine gewisse persönliche Haltung wieder, die sich in einem individuellen Habitus manifestiert. Ha-

2. Die Poetik des Netzes

bitus als Gewohnheit „verleiht dem Charakter eine Geschichte

Als homo faber schaffen wir Objekte, Gegenstände und Medien,

[…], bei der die Sedimentierung dazu neigt, die vorangehende

welche uns bei der Bewältigung unseres alltäglichen Lebens

Innovation zu überdecken und sie im Grenzfall aufzuheben“

unterstützen. Im Sinne Aristoteles’ sind dies poietische Akte,

(Ricœur 2005, 150). Zum andern spiegelt sich im Versprechen

die eine bestimmte Kunstfertigkeit (technê) erfordern (Met.

ein dynamisches Moment wieder. Ein Versprechen zu halten

VII 7 1032a12ff). Solche „Hervorbringungen“ entstammen der

bedeutet die Verantwortung für dieses Versprechen zu über-

Kunstfertigkeit oder dem Denken (Met. VII 7 1032a25ff). Aus

nehmen. Durch das Halten des Versprechens tritt in der eige-

dieser Perspektive kann auch der Schaffensakt des Internet

nen Identität eine Beständigkeit in der Zeit zutage. Denn es

betrachtet werden: In seinen Ursprüngen ein akademisches

wird gegeben, um in einem zukünftigen Moment eingelöst zu

Forschungsprojekt, wurde es ins Leben gerufen, um auf Rech-

werden. In diesem Sinne befindet sich die personale Identität

nerressourcen an anderen Standorten zuzugreifen und so eine

nach Ricœur (2005, 141) inmitten von Narrativen, welche als

wissenschaftliche Zusammenarbeit auf digitaler Ebene zu er-

abstrakte, nie einzufangende Gegenwart die Vergangenheit

möglichen. Zu Beginn waren die Entwickler selbst die Nutzer

mit der Zukunft verbinden. Dabei verkörpern wir die Protago-

und vice versa. Der generierte und frei zugängliche Quellcode

nisten, also die Figuren unserer eigenen Lebensgeschichte.

(open source) diente hauptsächlich der Fortentwicklung dieser

Damit tritt eine Spannung in die Dialektik von idem und ipse.

Infrastruktur: „[O]pen source was a structural feature in the

Denn „[d]ie Erzählung konstituiert die Identität der Figur, [. . .]

development of the Internet […], since all its key technical

indem sie die Identität der Geschichte konstituiert. Es ist die

developments were communicated to universities, and then

Identität der Geschichte, die die Identität der Figur bewirkt“

shared over the Net“ (Castells 2001, 42). Zunächst bediente

(Ricœur 2005, 182). Der Begriff der narrativen Identität ver-

sich nur diese kleine akademische Randgruppe dieses neuen

mag es also, sowohl die Beständigkeit, wie auch die Dynamik

Mediums, die sogenannten „Techno-elites“ (Castells 2001, 39).

der personalen Identität in ihrer Lebensgeschichte zu fassen.

Diese leben in der Überzeugung des „inherent good of scienti-

Mit Jean Greisch (2009, 139) ist festzustellen, dass ein rein

fic and technological development”, und dass wir uns mit Hilfe

Geschichten erzählendes Selbst ein Idealbild ist. Ein nur er-

dieses Fortschritts weiterentwickeln können (Castells 2001,

zählendes Selbst würde bedeuten, dass jede Erzählung erzählt

39).

werden kann, und damit alles kommuniziert werden kann.

Entstanden im Spannungsfeld der Wissenschaft, der militä-

Vielmehr sind die Prozesse, die durch narrative Selbstrefle-

rischen Forschung sowie dem freien und kreativen Geist der

xion und Dynamisierung des eigenen Lebens aufgebrochen

sogenannten Hacker-Szene, entwickelte sich das Internet stetig

wurden, Auswege aus einer „drohende[n] Sprachlosigkeit“, die

weiter (vgl. Castells 2001, 17). „[T]he Internet […] then became

sich aus einer „innerlichen Passivität“ gegenüber des eigenen

the basis for its own technological upgrading through the in-

Selbst ergibt (Greisch 2009, 139). Reflexions- und Dynamisie-

put provided by the hacker culture, interacting on the Inter-

rungsprozesse machen Erzählungen erst möglich.

net“ (Castells 2001, 42). Auf dieser Grundlage wurden Dienste

Wir sind unserer Disposition nach als ein ens narrans der condi-

entwickelt, um uns über Raum und Zeit hinweg zu verbinden,

tio historica unterlegen; wir sind Erzähler, die „eine Geschichte

beispielsweise via E-Mail und World Wide Web mit Hypertext-

haben, [. . .] ihre eigene Geschichte sind“ (Ricœur 2005, 141).

Seiten. Diese benutzerfreundlichen Komponenten ließ das

Indem wir reflexiv über uns als Mich der Vergangenheit erzählen,

Internet zu einem Massenphänomen werden; dies wiederum

sind wir das direkte Objekt unserer Geschichte (Ricœur 2005,

legte den Grundstein für ein schnelleres und einfacheres Kon-

23


CRITICA–ZPK I/ 2014

figurieren neuer Ideen und Inhalte.

Raum“ (Serres 2007, 81). Denn auf der digitalen Ebene kann

Wegen der zunehmenden Kommerzialisierungsprozesse sind

Vergangenes per Mausklick abgerufen und so immer und über-

Open Access und Open Source Projekte in der heutigen Zeit zum

all vergegenwärtigt werden. Die Zeit ist zu einer immanenten,

letzten Garanten für die Persistenz von Daten und der Nutzung

digitalen Gegenwart geworden. Die mnemotechnische Ausla-

des digitalen Netzes geworden. Das Internet wird dadurch

gerung des Gedächtnisses lässt sich das erzählende Selbst in

zu einem unendlichen, jederzeit und jederorts verfügbaren

einer digitalen, ortlosen Welt ohne eigene Vergangenheit be-

Speicher und damit zu einem Weltgedächtnis (Glaser 2011). Auf

wegen.

Grund dessen schafft sich das Konzept Internet immer wieder

Die Persistenz von Daten im Internet und die technische Un-

selbst von neuem: „users became producers of the technology,

möglichkeit des Löschens derselben schließen das Vergessen

and shapers of the whole network“ (Castells 2001, 27).

aus dem digitalen Raum praktisch aus. Doch wie groß kann der

Das Internet als vernetztes digitales Medium stellt nun einen

Wunsch nach Vergessen innerhalb unseres Schaffensdrangs

schnellen und nahezu unmittelbaren Zugang zu Informatio-

und unserer Neugierde als homo faber wirklich sein? Impliziert

nen bereit. In einem Augenblick konsumiert, können sie im

ist hierbei unser Wunsch, vergessen zu können, jedoch gleich-

nächsten bereits verarbeitet werden und so neue Inhalte er-

zeitig einen immanenten Gedächtnisapparat zu besitzen, wie

zeugen: Bestehende Informationen werden auf diese Weise

der historische Prozess der mnemotechnischen Auslagerung

konfiguriert und refiguriert. Eine solche Form des Umgangs

gezeigt hat. So entfernen wir uns an dieser Stelle von Ricœurs

mit Informationen und der Konfiguration von neuen Infor-

(2004) These des Vergessens als Bedrohung, hin zu einer „Ökono-

mationen hat zur Folge, dass in einer unheimlichen Geschwin-

mie des Vergessens“ (Serres 2007): Wir entlasten uns von Er-

digkeit Informationen verarbeitet und kreiert werden, ohne

innerungen. Jedoch vergessen wir diese nicht um des Verges-

dass bereits Bestehendes gelöscht wird. „Dies führt zu einer

sens willen, sondern um in unserem Schaffensdrang nicht den

Welt, die auf das Erinnern ausgerichtet ist, und wenig Anrei-

Umweg der manuell-kognitiven Erinnerung zu gehen. Wir er-

ze kennt, Dinge zu vergessen“ (Mayer-Schönberger 2010, 111).

innern uns relational aus einem fremden Gedächtnisspeicher

Das Netz kann nicht vergessen.

heraus, um die freigewordenen Energien in Denken und kre-

In Ricœurs Sinne ist diese neue Art des Vergessens als „eine be-

ative Schaffensakte zu investieren. So „bleibt uns nichts anderes

unruhigende Bedrohung” zu verstehen, die sich gegen die conditio

übrig, als intelligent zu werden“ (Serres 2007, 84).

historica richtet und ihre „Verletzlichkeit“ herausstellt (Ricœur

Auf diese Weise vollzieht sich eine Aussöhnung mit dem be-

2004, 633). Denn das Vergessen arbeitet auf eine historische

unruhigend drohenden narrativen Leid des Vergessens von der

Entwurzelung zu, und entzieht uns jegliche Möglichkeit der

Abhängigkeit von Mnemotechniken hin zur poietischen Frei-

Versöhnung mit der Vergangenheit. Dies eröffnet einen Raum

heit des vergessen-Könnens. Wir haben auf diese Weise un-

der radikal persönlichen Erfahrung als Negation von Erinne-

sere eigene Schwäche überlistet und uns zu Nutze gemacht.

rungen und damit einer radikalen Historizitätslosigkeit, die

Anstatt gegen das Vergessen anzukämpfen, profitieren wir

den „Horizont eines zu Ruhe gekommenen Gedächtnisses, ja eines

davon, indem wir unsere kognitiven Fähigkeiten danach aus-

glücklichen Vergessens” unmöglich macht (Ricœur 2004, 633).

richten. Damit vollzieht sich eine Veränderung unseres Selbst-

Eine solche Konklusion paradoxiert jedoch die conditio histori-

verständnisses. Wir sind nicht mehr im Netz der Geschichte

ca. Denn als Geschichten erzählende Wesen (Ricœur 1988, 118)

verfangen, sondern können uns auf die Gegenwart unseres

beziehen wir seit je her Aspekte der Vergangenheit in unsere

Denkens konzentrieren. Falls wir Informationen für unsere

narrative Identitätskonstitution ein.

Denkprozesse benötigen, können wir uns diese aus unserem externen Speicher herunterladen.

3. Vergessen im Netz der Narrativität

Das Bild des Vergessens als eine „beunruhigende Bedrohung“

Gedächtnis als die Erinnerung an die Vergangenheit vollzieht

(Ricœur 2004, 633) gewinnt als ein „Abgrund“ der Vergan-

sich in Raum und Zeit. Auf sprachlicher Ebene wird Zeit in

genheit (Askani 2010, 104) durch „die Dimension der Tiefe,

Raum- bzw. Bewegungsmetaphern dargestellt und so räum-

in die die Erinnerung hinabreicht. Ein Brunnen, der zu tief

lich als Zeitfluss gemessen, wie zum Beispiel „time flows on/

ist, um ausgeschöpft zu werden, und der doch [. . .] nicht nur

by“, „The deadline is approaching“ (Evans 2005, 61). Es ist

entzieht, was erinnerbar wäre, sondern es zugleich bewahrt

deswegen nicht verwunderlich, dass die Zeit in ihrem Fluss

und gewährt“ (Askani 2010, 104). Die Metapher des Brunnens

als Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft keine Rolle mehr

nivelliert das Phänomen des Vergessens zu einer bloßen Vari-

spielt, wenn wir uns in unserer virtuellen Wahrnehmung von

ante des Erinnerns. Damit haben wir auf der analogen Ebene

physischen Orten entfernen. „Wir haben uns von den ein-

der realen Welt unsere Erinnerungen zwar vergessen, denn sie

zelnen Orten gelöst und befinden uns nur noch im globalen

sind nicht mehr in unserem Kopf vorhanden, trotzdem sind sie

24


CRITICA–ZPK I/ 2014

nicht verschwunden. Sie befinden sich in der Tiefe des Brun-

einem Dativ, der Meine eigene Vergangenheit in ein Besitztum

nens und warten darauf, in neue Relationen gesetzt zu werden.

externalisiert, indem wir nicht mehr direktes Objekt unse-

Es

rer Geschichte sind, sondern durch den Umweg des digitalen Speichers nur noch indirektes Objekt einer Geschichte sind, „zeigt sich hier, [. . .] als ein Verhältnis zur Zeit, und zwar als eines, das nicht durch uns hergestellt wird, das vielmehr uns selber in seine ‚Herstellung‘, in sein Geschehen miteinbezieht; eine Zeit, eine Zeitigung, die nicht nur das Vergessen hervorbringt (zeitigt), sondern als Vergessen Zeit ist, sich zeitigt, sich als Zeit gewährt. Das Vergessen als eine paradoxe Form der Gegenwärtigung, der Zeiti-

die von uns erzählt.

gung der Zeit“ (Askani 2010, 104f).

lichkeit des Vergessens erlangen Erinnern und Vergangenheit

Die bisherigen Begriffe von Vergessen, Erinnern, Geschichte und Vergangenheit reichen auf einer solchen abstrakten, metaphysischen Ebene nicht mehr aus, um die Erinnerungskultur, die sich durch den Gebrauch des Internet als Mnemotechnik etabliert hat, zu beschreiben. Denn durch die Unmögeinen neuen Stellenwert. Erinnern ist immer und überall

Als „Zeitigung der Zeitlichkeit“ ist der Brunnen damit eine „ge-

möglich. Damit wird die Vergangenheit als ein Resultat der

wesend-gegenwärtigende Zukunft“ (Heidegger 2001, 350).

Erinnerung omnipräsent. Dies nivelliert die Geschichte in

Auf der Ebene des Lebens umfasst die Zeitlichkeit also unsere

unserem Bewusstsein zu einer ewigen Gegenwart. Die Kon-

Existenz. Wir dynamisieren die Geschichte als unsere Vergan-

zepte des kommunikativen und kulturellen oder kollektiven

genheit in unserem Leben als die Erzählung unseres Selbst.

Gedächtnisses müssen an dieser Stelle ebenso infrage gestellt

Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft fallen auf einer abs-

werden. Schnell und überall können wir kultur- und kollektiv-

trakten Ebene zusammen. Innerhalb der Brunnen-Metapher

übergreifend mit anderen auf der ganzen Welt kommunizie-

nimmt der Brunnen selbst den Platz des Internet ein, während

ren und auf diese Weise ein Gedächtnis generieren. Dieses be-

Seil und Eimer den Computer bilden, der die Informationen

schränkt sich nicht nur auf die eigenen sozialen Kulturen und

aus dem Internet schöpft.

Kollektive, verstanden als Gruppen, die bestimmte Formen

Dem Vergessen kommt damit eine eigentümliche Rolle zu. Es

des Wissens, der Haltung und der Kommunikation teilen (Ass-

ist ein Phänomen, das es eigentlich nicht gibt. In seiner zeitli-

mann 2007). Auf einer globalen Ebene ist es ein Gedächtnis der

chen Existenz ist es im Brunnen als einem Nicht-Ort der Er-

Welt. Deswegen braucht es den Terminus des Weltgedächtnisses

innerungen nicht präsent, weil die Erinnerungen als eigene

(Glaser 2011), welcher den abstrakten Wissenspool des Internet

Vergangenheit den Brunnen auffüllen. Der Brunnen ist ein

fassen kann. Das Weltgedächtnis erfuhr ein Wiederaufleben

Nicht-Ort im doppelten Sinne: Zum einen ist er der Nicht-Ort1

in der Renaissance, in der der Mensch „sich im Besitz göttli-

des Vergessens, indem er mit Erinnerungen angefüllt ist. Zum

cher Kräfte [glaubte]“ (Yates 2012, 159). Er hatte damit Teil an

anderen kann dieser Brunnen als ein Nicht-Ort2 der Erinne-

einem „göttlichen Makrokosmos, [der sich] im Mikrokosmos

rung betrachtet werden. Denn wie mit Serres (2007) zu Beginn

seines göttlichen mens wiederspiegelte“ (Yates 2012, 159). Als

gezeigt wurde, kann Wissen, das im Internet kursiert, nicht

ein externalisierter relationaler globaler Speicher gedacht, ist

lokalisiert werden. Zwar gibt es Web-Adressen und Homepages,

das Internet ein solches Weltgedächtnis, das über Wissen und

jedoch sind diese Orte Metaphern für physische Orte, die im

Erinnerung des Einzelnen hinausgeht und einen göttlichen

abstrakten Raum des Internet nicht gegeben sind. Somit ist die

Makrokosmos konstituiert.

Erinnerung als Vergangenheit im Internet als Nicht-Ort2 gespeichert.

4. Fazit

Raum und Zeit erfahren auf diese Weise eine neue Dynamik,

Es konnte gezeigt werden, dass unter den aktuellen hypermo-

die die phänomenologische Hermeneutik der Erzählung auf

dernen Bedingungen das bisherige Begriffsinstrumentarium

eine ortlose und zeitlose Ebene erhebt. Die Ebene des Textes

nicht ausreicht. Es stellt sich damit die Frage, ob die etablierten

oder der Autobiographie des Selbst als Ort der Erzählung wird

und definierten Begriffe des Gedächtnisses, und damit auch

zugunsten einer abstrakten Ebene der Zeit verlassen, in der

des Vergessens, mit diesen einschneidenden Veränderungen

Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft scheinbar zusam-

in unserem Handeln und Denken Schritt halten können, oder

menfallen und nicht mehr voneinander zu unterscheiden sind.

ob mit der Schwierigkeit der Anwendbarkeit des bisherigen

Wir sehen uns in unserer narrativen Identität als Geschichten

Instrumentariums ein Ruf nach neuen Ansätzen, neuen Er-

erzählende Wesen somit vor eine neue Herausforderung ge-

fassungsmethoden und damit nach neuen Terminologien laut

stellt. Wir verlassen die Ebene des Sich selbst Erzählens, hin zu

wird.

der Ebene des Von sich Selbst Erzählens. Der Akkusativ des Mich,

Einerseits führen die hypermodernen Entwicklungen der Di-

wie ihn Ricœur (2005, 34) verwendet, wird auf diese Weise zu

gitalisierung die Externalisierung von Erinnerungen ins Ex-

25


CRITICA–ZPK I/ 2014

treme, indem die eigene Autobiographie extern gespeichert wird. Wir werden damit zum medialen Objekt unserer Selbst, weil wir uns über ein Medium daran erinnern müssen, wer wir sind. Andererseits ist der Computer als unser Schaffenswerk zu einer Art Mnemotechnik geworden, die die conditio historica auf radikale Weise vollendet, indem Vergessen unmöglich gemacht wird. Wenn Ricœur (2004, 112) für einen maßvollen Gebrauch des Erinnerns und des Vergessens plädiert, aber unser Schaffensdrang in dieser Hinsicht berücksichtigt werden soll, stellt sich die Frage, wie sich ein maßvolles Erinnern und ein maßvolles Vergessen in einem Zeitalter der Hypermoderne darstellt. Denn es steht uns auf noch nie dagewesene Weise frei, uns zu erinnern und zu vergessen. Wir befinden uns gerade am Anfang dieser Entwicklung, deswegen kann weder gesagt werden noch ist absehbar, wohin sie tatsächlich führen. Es konnte jedoch aufgezeigt werden, wie Vergessen und Erinnern in einer neuen Dynamik unser Denken und unsere Wahrnehmung beeinflusst und auf diese Weise ein neues Menschenbild schaffen können, das sowohl Mnemotechnik wie auch Kognition auf innovative Weise konfiguriert und refiguriert.

Literatur Askani, Hans-Christoph: Zwielicht und Vergessen, in: Bezeugte Vergangenheit oder Versöhnendes Vergessen, hrsg. v. Burkhard Liebsch, Berlin 2010, S. 91-110. Aristoteles: Poetik, Stuttgart 2010. Aristoteles: Metaphysik. Zweiter Halbband: Bücher VII (Z) – XIV (N), Hamburg 1980. Assmann, Jan: Das Kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, München 2007. Castells, Manuel: The Internet Galaxy. Reflections on the Internet, Business, and Society, Oxford 2001. Evans, Vyvyan: The Structure of Time. Language, Meaning and Temporal Cognition, Amsterdam 2005. Geertz, Clifford: The Interpretation of Cultures. Selected Essays, New York 1973. Greisch, Jean: Fehlbarkeit und Fähigkeit. Die philosophische Anthropologie Paul Ricœurs, Berlin 2009. Glaser, Peter: Die Megalomanische Merkmaschine. Das Internet als Weltgedächtnis – Licht und Schatten einer Utopie. Verfügbar unter: http://www.nzz.ch/aktuell/feuilleton/uebersicht/die-megalomanische-merkmaschine-1.10640028. Veröffentlicht am: 20.05.2011 (aufgerufen am: 12.04.2014) Habermas, Jürgen: Theorie des kommunikativen Handelns. Bd. 2. Zur Kritik der funktionalistischen Vernunft, Frankfurt a. M. 1987. Heidegger, Martin: Sein und Zeit, Tübingen 2001. Irrgang, Bernhard: Homo Faber. Arbeit, technische Lebensform und menschlicher Leib, Würzburg 2010. Liebsch, Burkhard: Vorwort, in: Bezeugte Vergangenheit oder Versöhnendes Vergessen, hrsg. v. Burkhard Liebsch, Berlin 2010, S. 7-22.

26

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interview


CRITICA–ZPK I/ 2014

acht fragen zum thema zeit interview. Dr. Hannelore Paflik-Huber, Autorin des Buches Kunst und Zeit stellt sich

den Fragen der Redaktion und gibt kunstwissenschaftliche Einblicke zum Thema.

Zu einem Ihrer Forschungsschwerpunkte zählt

Bild von Marcel Duchamp Ein Akt die Treppe herabsteigend von

die Analyse von Zeitaspekten in der Gegenwartskunst. Soweit

1912. Die Bewegung und der zeitliche Ablauf wird in einem

ich sehe, hat man sich in der Kunst immer schon mit der Prä-

Bild malerisch dargestellt. Die Treppe als räumliche Setzung

sentation von Zeit und Zeitlichkeit auseinandergesetzt. Bei-

deutet sich noch an. Zeitgleich mit der Relativitätstheorie

spielsweise finden wir sequentielle Bilderzählungen als Insze-

von Albert Einstein setzt Duchamp das Phänomen Zeit in den

nierungen von ‚historia‘ in der antiken, mittelalterlichen und

Mittelpunkt künstlerischer Überlegungen. Und damit ändert

in der modernen Kunst. Ich würde gerne wissen, wie Sie aus

sich alles. Es gibt im 20.Jahrhundert und besonders nach 1945

heutiger Perspektive die Zeit als Thema innerhalb der Kunst-

zahlreiche Künstlerinnen und Künstler, die explizit formulie-

geschichte bewerten? Ist sie ein durchweg zentrales Anliegen

ren ihr Thema sei Zeit: Hanne Darboven, On Kawara, Walter

der Kunst gewesen oder eher ein Randthema, das, sofern es

de Maria, Roman Opalka, Darren Almond, Philippe Parreno,

sich bei ihr wie auch beim Raum um eine Grundkategorie han-

Kris Martin, Roman Signer etc. Dies ist nie einem Trend unter-

delt, eher als Mittel zum Zweck bearbeitet werden musste und

worfen, sondern als Parallelität zu den Forschungen anderer

erst später – ich denke dabei v.a. an das 20. Jahrhundert – als ei-

Disziplinen, wie der Physik, der Philosophie, der kognitiven

genständiges Thema in das Bewusstsein der Menschen rückte?

Neurowissenschaft und der Psychologie auszumachen.

critica–zpk:

Weshalb sollte die Kunst also außen vor bleiben, zumal sie mit paflik-huber: Die

Präsentation von Zeit in der Kunst ist ei-

den neuen Medien nochmals andere Möglichkeiten hat, Zeit

nes der großen Themen der Kunst, egal in welcher Epoche wir

zu manifestieren. Die Künstlerinnen und Künstler, die heute

uns bewegen. Nur haben Kunsthistoriker oder Archäologen oft

Zeit thematisieren, wählen nicht nur die neuen Medien, son-

nicht den Fokus auf diese Thematik gerichtet. Die von Ihnen

dern nach wie vor alle Medien. Die Malerei, wie das Gesamt-

angesprochene visuelle Lösung, Zeit als Sequenz darzustellen,

werk von Roman Opalka zeigt, der von 1965 bis zu seinem Tode

ist eine von vielen. Ein weiteres Beispiel ist Tizians Allegorie der

aufeinanderfolgende Zahlen auf die Leinwand geschrieben

drei Lebensalter des Menschen um 1565, auch als Allegorie der Zeit

hat, von 1 bis 5 607 249, versteht sich als Manifestation von

betitelt. Der Jüngling, rechts dargestellt, schaut in die Zukunft,

Lebenszeit, eine Biografie an der was abzulesen ist. Insofern

der Greis in die Vergangenheit und Tizian selbst, mittig ge-

beantworte ich die Frage, ob das Thema Zeit ein Randthema in

malt, schaut in die Gegenwart. Keiner der Drei sucht den Blick

der Kunst ist, mit einem eindeutigen Nein. Nur unser Blick hat

des Betrachters. Die Wolkenbilder von John Constable müßten

sie nicht immer in den Mittelpunkt gerückt.

noch unter den Zeitaspekten analysiert werden, um nur ein Zeit zu definieren ist nicht einfach, auch die

weiteres Beispiel zu nennen. Eine der großen Fragen inner-

critica–zpk:

halb der Diskussion zum Thema Zeit ist in der Tat folgende:

Philosophie tut sich mit ihrer Definition bisweilen schwer,

Wie lässt sich Zeit im Verhältnis zum Raum denken? Bis ins

schließlich lässt sie sich auf nichts zurückführen. Ausgehend

20. Jahrhundert hat man Zeit als vierte Dimension bezeichnet,

von einem Common Sense Verständnis wird Zeit meist als

als letzte Instanz in einer Reihe. Erst als die Philosophie, vor

ein Gefüge von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft defi-

allem Edmund Husserl und Henri Bergson und auch zeitgleich

niert, was die Kunst durch den Bezug auf den Raum und die

die Kunst der vierten Dimension mehr Beachtung geschenkt

Bewegung versucht (hat) einzufangen. Ihr Hauptproblem,

haben und deren Abhängigkeit zum Raum hinten angestellt

zumindest in klassischen Positionen wie Malerei und Plas-

hatten, kann man von einer ernstzunehmenden Diskussi-

tik, war dabei immer der statische Darstellungscharakter, was

on sprechen. Ein Beispiel aus der Kunst ist das revolutionäre

zur Folge hatte, dass man Zeit eigentlich nur mittelbar über die

28


CRITICA–ZPK I/ 2014

Aneinanderreihung von Augenblicken einfangen konnte. An-

ander ab. Sie repräsentieren ihre individuelle Zeit. Die eine

fang und Mitte des 20. Jahrhunderts beginnt man sich in der

bleibt möglicherweise vor der anderen stehen. Somit verwan-

Kunst neuen Wegen und medialen Möglichkeiten zu widmen.

delt der Künstler diese öffentlichen, neutralen Geräte für die

Was bedeuteten gerade diese neuen Ausdrucksformen für die

Messung der Zeit in eine persönliche und poetische Medita-

Darstellung von Zeit? Welche verschiedenen Strategien bilde-

tion über menschliche Beziehungen und ihre Vergänglichkeit.

ten sich heraus, mit denen Zeit praktisch umgesetzt werden

Der Zeitmesser wird zur emotionalen Erfahrung. Eine weitere

sollte? Vielleicht könnten Sie auch hier ein Paar Beispiele an-

Arbeit ist bspw. 100 Jahre von 2001. 101 fotografische Portraits

bringen?

hat Hans Peter Feldmann in seinem eigenen Verwandten- und Bekanntenkreis für seine Arbeit aufgenommen. Die Jüngste Wie sehr das Gefüge Vergangenheit, Gegen-

Portraitierte, Felina, ist acht Wochen, die Älteste, Maria Victo-

wart und Zukunft auf einem rein westlichen Denken beruht,

ria, zählt hundert Jahre. Die Chronologie des Lebens ist streng,

zeigen die Untersuchungen der Zeitsysteme von z.B. India-

Rahmen an Rahmen, auf einer Augenhöhe gehängt. In der

nervolksstämmen. Der amerikanische Sprachwissenschaftler

Mitte des Raumes steht immer ein frisch gepflückter Blumen-

Daniel Leonard Everett lebte sieben Jahre bei den Pirahã-In-

strauss in einer Vase auf einem Sockel als eine Metapher für

dianern am Amazonas in Brasilien und bezeichnet sie in sei-

Vergänglichkeit. Egal wo die Arbeit gezeigt wird, es ist so, dass

nem Buchtitel als „Das Glücklichste Volk“. Sie sprechen immer

jeder instinktiv erstmal seinen Jetztpunkt sucht, sein eigenes

nur über die Gegenwart, nie über die Vergangenheit oder gar

Alterego. Im Gegensatz zu Tizians Allegorie der drei Lebensalter

die Zukunft. Sie haben im Vergleich zu unserer Zeitwahrneh-

des Menschen dokumentiert Feldmann nicht ein einziges Leben,

mung ein völlig anderes Zeitgefühl. Für die Pirahã verläuft Zeit

sondern verknüpft hier anschaulich individuelles mit kollekti-

nicht wie für uns linear und auch nicht zyklisch wie etwa für

vem Erinnern in einem Werk.

die Aymara-Indianer, bei denen Vergangenheit und Zukunft

Die israelische Künstlerin Yael Bartana wählt für das subjekti-

identisch sind. Zeit ist für die Pirahã der gegenwärtige Mo-

ve Zeiterlebnis einer vorgegebenen Zeitspanne, nämlich eine

ment. Everett fasziniert die ungewöhnliche Heiterkeit dieses

vom Staate Israel gesetzten Gedenkminute, das Medium Video.

Volkes und die Frage, inwiefern die permanent gute Laune auf

Das Medium mit dem alles möglich war, was die Zeit betrifft:

einem Zeitbewußtsein beruht, das sich ganz auf ein Hier und

Closed Circuit Installationen, bei denen sich Künstler und Be-

Jetzt bezieht. Oder nehmen wir das Zeitbewußtsein der Ayma-

trachter im geschalteten Kreislauf von Kamera/ Aufnahmege-

ra Indianer, ein Volk in den Anden Boliviens, Perus und Chiles,

rät und Monitor selbst wahrnehmen konnten. Man konnte die

deren Zeitwahrnehmung erst seit zehn Jahren erforscht wird.

Zeit langsam ablaufen lassen, zeitverzögert etc. Die Einkanal-

Wenn sie von der Zukunft sprechen, deuten sie hinter sich,

Videoinstallation Trembling Time (2001) von Bartana ist in Far-

wenn sie von Vergangenem erzählen, zeigen sie nach vorne.

be, 6:20 Minuten lang, mit einem Soundtrack des Musikper-

Für uns ist die räumliche Zuordnung der linearen Zeit eindeu-

formers Tao G. Vrohovec Sambolec. Sie zeigt einen Moment,

tig. Vergangenes und Erlebtes liegen hinter uns, Zukünftiges

in welchem die gesamte Bevölkerung Israels Einheit durch

vor uns. Anders verhält es sich bei den Aymaras. Sie platzieren

eine kollektive Schweigeminute demonstriert, in Gedenken

die Vergangenheit vor dem Ich und die Zukunft dahinter.

an die gefallenen Soldaten der israelischen Kriege und Opfer

Die Kunst hat gar keine Schwierigkeiten, zumindest nicht

des Terrorismus. Bartana geht es um eine Allgemeingültigkeit,

mehr, mit der Thematik Zeit umzugehen. Tizian zeigt die drei

um eine trembling time. Wir sehen, wie ein kontinuierlich flie-

Zeitformen als logische lineare Abfolge. Wir denken in Bildern

ßender Verkehrsstrom sich verlangsamt und schließlich zum

und so ist z.B. die Arbeit Perfect Lovers von dem kubanischen

Erliegen kommt. Die Menschen steigen aus ihren Fahrzeugen

Künstler Felix Gonzales Torres, die er zwischen 1987 und 1991

und halten ohne sichtbaren Anlaß unvermittelt an, mitten auf

erstellte, einfach in den Mitteln und gleichzeitig überzeugend.

einer mehrspurigen Strasse, betrachtet von einer Brücke.

Es sind zwei identische Wanduhren. Die eine Uhr steht für sei-

Die Schweigeminute wird in einer aufwendigen Postproduk-

nen 1991 an Aids verstorbenen Lebenspartner Ross Laycock.

tion am Computer zu fast 7 Minuten ausgedehnt. Bartana ver-

Die andere für ihn selbst (er starb 1996 an Aids). Die Wanduh-

zögert also den Moment des Anhaltens mittels Zeitlupe und

ren sind aus der industriellen Massenproduktion. Sie werden

Überblendungen und verstärkt das kollektive Erinnerungsri-

so aufgehängt, dass sie sich berühren. Zu jedem Ausstellungs-

tual. Ihre Version einer Schweigeminute ist ein Zeitvakuum,

beginn werden sie auf die gleiche Uhrzeit gestellt, weichen

ein Stillstand.

aber, wie Gonzales-Torres wusste, im Laufe der Zeit vonein-

Als weiteres Bespiel sei The Clock des amerikanischen Künst-

paflik-huber:

1

lers und Komponisten Christian Marclay genannt. Der Film 1 Daniel Everett: Das glücklichste Volk. Sieben Jahre bei den PirahãIndianern am Amazonas, München 2008.

von 2010 ist eine beeindruckende, 24 Stunden umspannende

29


CRITICA–ZPK I/ 2014

Montage mit Ausschnitten aus Tausenden von Kinofilmen. Er

critica–zpk:

Neben der Strategie wählt ein Künstler ja auch

hat den Goldenen Löwen bei der vorletzten Biennale in Vene-

immer eine bestimmte Zeit-Kategorie auf die er sich bezieht, so

dig erhalten. Zwei Jahre lang hat Marclay mit Hilfe von sechs

wie eben beispielsweise die Bewegungs-Raum-Zeit. Mit wel-

Assistenten die Jahrzehnte der Kinogeschichte nach Filmse-

chen Kategorien von Zeit hantiert die Kunst? Aus philosophi-

quenzen mit Uhren und Ansagen von Uhrzeiten durchforstet.

scher Perspektive gibt es beispielsweise gerade auch die reine

So vereint The Clock unterschiedlichste Genres, von Western,

subjektive Erlebniszeit. Wieviel Impuls bekommt die Kunst

über Musicals, bis hin zu Komödien, deren Szenerien mit Hil-

eigentlich mit Blick auf die Frage der Zeit-Kategorien und ih-

fe einheitlicher Sounds und Musik, komponiert von Marclay

rer theoretischen Untermauerung von Seiten der Philosophie;

selbst, zu einem Ganzen zusammengefügt wurden, so dass die

gibt es Wechselwirkungen?

einzelnen Ausschnitte nicht abgehackt wirken, sondern ineiDie Künstlerinnen und Künstler, die Zeit zu

nander fließen, mit sich teils überlappenden Dialogen. Dabei

paflik-huber:

haben alle ausgewählten Filmsequenzen eines gemeinsam,

einem zentralen Thema ihrer künstlerischen Arbeit machen,

dass in allen eine Uhr gezeigt wird. Altmodische Wecker, di-

kennen die aktuellsten Forschungen und Publikationen zu

gitale Uhren, die goldene Rolex am Arm eines schmierigen

dem Phänomen Zeit. Umgekehrt sehe ich da kaum eine No-

Gangsters, die Taschenuhr, die aufgeklappt wird, Uhren am

tiznahme. Für die genannten Disziplinen spielen in ihren

Bahnhof, in der Kirche, in der Schule oder am Turm von Big

Denkmodellen oder Forschungsschwerpunkten die Kunst-

Ben laufen in Echtzeit ab. Wenn James Bond auf einer rütteln-

werke selten eine Rolle. Besteht daher in unserer Disziplin

den Foltermaschine liegt, ihm eine kühle Dame „noch 15 Mi-

Handlungsbedarf? Haben wir in der Vermittlung vielleicht

nuten, Mr. Bond“ verkündet und der durchgeschüttelte Sean

etwas vernachlässigt? Man glaubt auch heute noch zu wenig

Connery auf die Uhr an der Wand blickt, ist es nicht nur im

an den Erkenntniszuwachs, den die Kunst bietet. Immer noch

Film zehn vor eins, sondern auch in unserer Betrachtungszeit.

beschränken wir zu vieles auf den ästhetischen Mehrwert der

Wenn das Werk gezeigt wird, wie im Moma in New York oder

Kunst. Wenn ich die Liste der Themen meines neuesten Buch-

im Kunsthaus Zürich, stehen Schlangen von Menschen davor.

projektes vor dem Hintergrund Ihrer Frage betrachte, sage ich,

Man ist begeistert, eingefangen in die Marclaysche Kinowelt,

dass keine Kategorie der Zeit ausgespart ist. Vielleicht ist die

die mit dem Gedächtnis eines jeden Zuschauers spielt. Nähert

oben genannte Closed Circuit Installation, die es so nur in der

sich der Film und damit auch die Realzeit der vollen Stunde,

Videokunst gibt, eine visuelle Entsprechung für die subjektive

wird eine Spannung aufgebaut und fünf vor Zwölf ist diese an

Erlebniszeit. Wie so oft in einem Interview, treffen wir mit der

Dramatik kaum zu übertreffen. Wenn keine Uhr zu sehen ist,

Frage genau den Punkt. Wie definieren wir die Differenz der

dann fragen die Menschen im Film nach der Zeit oder sie spre-

Disziplinen und wo sind deren Gemeinsamkeiten?

chen darüber, wie viel Zeit ihnen noch bleibt. Sie vereinbaren Das Thema Zeit wird individualgeschichtlich

Treffen, sie verbringen qualvolle Minuten des Wartens oder

critica–zpk:

sind einfach zu spät dran. Der Film dauert also 24 Stunden

sicherlich immer ein Thema in der Kunst bleiben. Es geht den

und wann immer ein Betrachter den Film sieht, ist die Zeit,

Menschen in seiner Produktion einfach an. Dennoch könnte

die dort im Film gespielt ist, die Jetztzeit. Es wird folglich eine

man meinen, dass die Zeit als zentrales Motiv der Kunst im

hyperreale Übereinstimmung zwischen Filmzeit und Realzeit

Sinne der künstlerisch medialen Ausschöpfung heutzutage

erzeugt. Somit ist der Unterschied zwischen der subjektiven,

eher ein hauptthematisches Auslaufmodell ist. Wie sehen Sie

gefühlten Zeit und der erbarmungslos tickenden chronome-

das?

trischen Zeit eindrücklich dargestellt worden. Hier sind wir einem Minutentakt ausgesetzt, einem Zerhacken der Zeit, wie

paflik-huber: Hier folgt ein eindeutiges Nein. Die Recherche

es sie in der Realzeit nicht gibt. Die Realzeit kennt auch keine

zu meinem neuen Buch Gegenwart oder Unendlichkeit. Visualisie-

Verlangsamung, keine Entschleunigung, kein Verweilen, kein

rung von Zeit zeigt, dass in der Kunst seit der Jahrtausendwende

Auslöschen, keine Dehnung und keine Wiederholung. Die

wieder eine Konzentration auf das Thema Zeit (medienüber-

Kunst kann dies alles mühelos leisten. Hier ist alles möglich.

greifend) festzustellen ist. Ein Grund dafür – und hier schließt

Den Film Psycho von Hitchcock dehnt Douglas Gordon auf die

sich der Kreis zu unserem linearen Zeitbewußtsein – ist, dass

24 Stunden, die er im Film „real“ dauert. James Joyce lässt sei-

die Zukunft heute nicht mehr mit utopischen Modellen be-

nen Leopold Bloom in Ulysses einen Tag lang, den 16. Juni 1904

stückt ist, wie dies noch um 1984 der Fall war. Heute wendet

in Dublin, eine mythische Welt durchstreifen, einen Tag wie

sich der Blick zurück. Zurück in die Vergangenheit. Die Ar-

bei Marclay und Gordon, gedehnt auf 1014 Seiten.

chäologie hat enorm an Aufmerksamkeit gewonnen und Cern in der Schweiz will zeitlich immer näher an den Ursprung der

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CRITICA–ZPK I/ 2014

Welt gelangen. Ein anderer Grund sind die aktuellen Forschungen der Neurowissenschaften, die versuchen, die Zeitwahrnehmung und damit verbunden die Abläufe im Gehirn zu erklären. Der französische Künstler Pierre Huyghe kopiert beinahe die ganze Welt als Modell und transportiert Ausschnitte ins Museum ( z.Z. Museum Ludwig, Köln), um dort ein Zeitmodell zu konstruieren, an dem wir leichter als an der Welt selbst ablesen können, wie das System Zeit funktioniert.

Die Fragen stellte Dr. Julia-Constance Dissel

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CRITICA–ZPK I/ 2014

künstlerische (anti-) Ökonomien der zeit von Till Julian Huss

Im Zuge der Globalisierung ist Gleich-

Phänomene ein, die gleichzeitig auftre-

im späten 19. Jahrhundert, einerseits

zeitigkeit zu einem ökonomischen Dik-

ten oder wahrgenommen werden, aber

die Aufnahme eines Bruchteils einer

tum geworden, das die unmittelbare

nicht einem regulierenden Angleichen

Sekunde durch Eadweard Muybridge,

Gegenwart und die Kommunikation in

unterworfen werden.

anderseits das simultane Ablichten ei-

Echtzeit feiert und Verfügbarkeit zur

Gleichzeitigkeit ist Teil des Beschleu-

nes

Maxime erklärt. In der Kunst lassen sich

nigungsparadigmas2 der Moderne. Der

durch Étienne-Jules Marey, stellten der

zahlreiche Strategien ausmachen, die

Geschwindigkeitsdruck der modernen

gewöhnlichen

diesem Diktum Anti-Ökonomien der

Gesellschaft, der durch die technischen

nehmung Verfahren entgegen, die eine

Zeit entgegensetzen und hierdurch der

Entwicklungen und sozialen und kul-

neue, nur technisch mögliche Sichtbar-

Wirtschafts- als auch Kommunikations-

turellen Veränderungsraten enorm ge-

keit erzeugten. Physikalische Zeitmo-

logik entsagen und Reflexionsräume er-

steigert wurde und wird, drängt auf ein

delle der Relativität nach Albert Einstein

öffnen. Künstlerische Simultaneitätsef-

Handeln und Wirken in Echtzeit, das im

und der Raumzeit nach Hermann Min-

fekte, De-Synchronisationen und Ereig-

Phänomen der Gleichzeitigkeit seine

kowski enthoben die Zeit endgültig ihrer

nishaftigkeit bieten Zeitmodelle, die der

strukturelle und epistemologische Form

seit Isaac Newton allgemein zugespro-

Funktionalisierung,

sukzessiven

Bewegungsablaufes

menschlichen

Wahr-

erhalten hat.

chenen Absolutheit. In der Philosophie

Synchronisation und permanenten Ver-

Um ein gegenwärtiges Verständnis die-

nahmen William James, Henri Bergson

fügbarkeit zu entkommen scheinen.

ser Begriffe für die Kunst herauszuar-

und später Martin Heidegger die zeit-

Der Begriff der Gleichzeitigkeit wurde

beiten, ist es wichtig, ihre Grundlagen

theoretischen Überlegungen Gottfried

in der Moderne zum Losungswort, um

in der Moderne zu umreißen und die

W. Leibniz’ und Immanuel Kants auf

einen zentralen Impuls der urbanen Le-

konzeptuellen Verschiebungen der Ter-

und entwarfen Gegenmodelle subjekti-

benswelt, der Bedeutung der neuen in-

mini im Verlauf des 20. Jahrhunderts zu

ver Zeitwahrnehmung, die in den phy-

dustriellen und kommunikativen Tech-

skizzieren.

sikalischen

Gleichschaltung,

niken und der bahnbrechenden Einsich-

Positionen

unterminiert

schienen und das Gewicht vor allem

ten der Zeittheorie in Philosophie und

Gleichzeitigkeit und Simultaneität

auf ein Erleben und Wahrnehmen der

Physik zusammenzufassen. Innerhalb

in der Moderne

Zeit und das Sein richteten. Der urbane

dieses Gleichzeitigkeitsparadigmas der

Die technischen Errungenschaften als

Alltag war durch die reizüberflutende

Moderne setzen sich allerdings Syn-

auch wissenschaftlichen Erkenntnisse

Pluralität von Handlungen, heteroge-

chronisation und Simultaneität als be-

gegen Ende des 19. und Anfang des 20.

nen Lebensentwürfen und geteilten Ar-

sondere und differente Konzepte ab. So

Jahrhunderts führten zu paradigmati-

beitsabläufen geprägt. Diese Situation

beschreibt die Synchronisation einen

schen Veränderungen im Zeitverständ-

zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurde

Modus, der gleichzeitig Auftretendes

nis und waren mit dafür verantwortlich,

in Wirtschaft, Wissenschaft und Kunst

gleichschaltet

und vereinheitlichend

dass das Nachdenken und Veranschauli-

gleichsam zu bewältigen versucht, aber

zusammenzieht, zugunsten einer bes-

chen der Zeit in den Fokus der künstleri-

auf grundlegend unterschiedliche Weise

seren und schnelleren Nutzbarkeit und

schen Avantgarden rückte.

bearbeitet.

Ökonomisierung.

Die Entwicklungen in der Fotografie

Die durch Paul Cézanne und den Im-

1

Simultaneität

hin-

gegen steht für eine Einheit disparater 1  Für eine genauere Ausführung und ideengeschichtliche Herleitung vgl. Hubmann/ Huss 2013.

32

2  Eine tiefgehende Analyse dieses Paradigmas bietet Hartmut Rosa, der alle Temporalstrukturen der Moderne auf die Beschleunigung zurückführt. Vgl. Rosa 2005.

pressionismus angestoßene perzeptionstheoretische Wende bildet neben der subjektivistischen Zeitphilosophie, den


CRITICA–ZPK I/ 2014

neuen physikalischen Zeitmodellen und

Gleichzeitigkeit und Simultaneität

Bedeutung der Gleichzeitigkeit und

der fototechnischen Entwicklung der

in der Nachmoderne

Simultaneität im Verlauf des 20. Jahr-

„Chronophotographie“ von Muybridge

Im Zuge einer Kontrolle und Nutzbar-

hunderts. Neue Medien schaffen in der

und Marey einen entscheidenden Teil

machung des modernen Phänomens der

Gegenwart ganze „Zeitfelder“, die sich an

des historischen und theoretischen Kon-

Gleichzeitigkeit wurden Synchronisati-

der Stelle des Zeitpunktes auf der line-

textes, aus dem heraus die avantgardisti-

onsstrategien und -techniken etabliert.

aren Zeitachse bewegen (vgl. Großklaus,

schen Experimente der Darstellung von

Niklas Luhmann grenzt in seinem Ge-

1995, 24). Die Moderne wird gerade auch

Zeit entstanden. Der Kubismus brach

sellschaftsmodell die Synchronisation

durch die medialen Zeitkonzepte zu ei-

durch die Mehransichtigkeit von Ge-

von der Gleichzeitigkeit ab, indem er

nem Zeitalter der Polychronie, der Plu-

genständen in einer fragmentarischen

ihr die Funktion eines Kontrollmecha-

ralität von Zeitmodellen: Mit den neu-

Aufsplitterung

Wahrnehmungs-

nismus der gleichzeitig auftretenden

en Medien Fotografie und Film tritt die

eindrücke mit der traditionellen Zent-

Phänomene zuschreibt (vgl. Luhmann,

Zeit aus der Unanschaulichkeit heraus.

ralperspektive und bildet den histori-

1990). Zugleich Auftretendes aber Dis-

Anders als die Musik bemächtigen sich

schen Grundstein für die künstlerischen

parates könne durch Synchronisation

die neuen medialen Künste der Zeit, um

Darstellungen von Gleichzeitigkeit zu

vereinheitlicht und Risiko somit abge-

der neuen modernen Erfahrung der Si-

Beginn des 20. Jahrhunderts. Simulta-

baut werden. Dieses Konzept der Syn-

multaneität Ausdruck zu verleihen – um

neität wurde zum Schlagwort des Futu-

chronisation entwirft eine Ökonomie

das Unanschauliche des Zeiterlebens an-

rismus.3 Auf die urbane und moderne

der Gleichzeitigkeit, indem sie Diffe-

schaulich werden zu lassen – und um die

Dynamik und Geschwindigkeit der Le-

renz zugunsten der Nutzbarkeit und

Abwesenheit von Vergangenheit- oder

benswelt reagierend, erklärte Umberto

Verwertbarkeit reduziert. In einer me-

Zukunftszuständen in Anwesenheit zu

Boccioni in seinen futuristischen Mani-

dientheoretischen Begrifflichkeit prä-

überführen (Großklaus, 1995, 30).

festen Simultaneität zur Grundlage der

sentiert Friedrich Kittler das verwand-

künstlerischen Arbeit und Darstellung

te Modell der technisch induzierten

Mit den medialen Neuerungen seit Mitte

der universellen Dynamik (vgl. Boccio-

Gleichschaltung (vgl. Kittler, 1998). Syn-

des 20. Jahrhunderts gingen stets künst-

ni 1914, 159). Ebenso ist in den Collagen

chronisation und Gleichschaltung sind

lerische Aufarbeitungen und Neuinter-

von Hannah Höch und dem Polykino

Teil des Gleichzeitigkeitsparadigmas,

pretationen einher. Die Entwicklungen

von Laszlo Moholy-Nagy am Bauhaus

das den Fokus verstärkt auf die Gegen-

der Videotechnik aufgreifend, arbeiteten

und der subjektivistischen teils parodis-

wart richtet. Kommunikation und Ver-

zahlreiche Künstler wie Nam June Paik,

tischen Aneignung der atomisierten Le-

arbeitung können durch die technischen

Wolf Vostell, Beryl Korot, Friederike

benswelt im Dadaismus eine Auffassung

Entwicklungen des 20. Jahrhunderts

Pezold und viele weitere in den 1970er

von Simultaneität auszumachen, die in

auf vielen Feldern nahezu bis gänzlich

Jahren mit Videoskulpturen und Moni-

ihr einen Gegenbegriff zur Synchroni-

in Echtzeit ablaufen. Einer Notiz von

torwänden, welche die gleichzeitige Prä-

sation formuliert. Die Simultaneität der

Ulrich Schacht folgend, der die Transpa-

sentation unterschiedlicher Aufnahmen

künstlerischen Avantgarden bejaht die

renz als neues Wort für Gleichschaltung

ermöglichen, die oftmals bewusst so

ausufernde und risikohafte Pluralität

sieht, beschreibt Byung-Chul Han unse-

konzipiert wurden, als seien die unter-

der modernen Lebenswelt, indem sie

re heutige „Transparenzgesellschaft“ als

schiedlichen Sequenzen doch zu einer

für eine Einheit einsteht, die Disparates

eine „Hölle des Gleichen“, die unter dem

eigenwilligen Einheit zusammengefügt

nicht angleicht sondern als Verschiede-

modernen Beschleunigungsdruck steht

worden. Gleichzeitigkeit tritt hierbei als

nes nebeneinanderstellt. Über die Ma-

und Kommunikation derart einebnet,

epistemologisches Phänomen der Über-

lerei und Plastik hinaus wurden durch

dass nur noch „das Gleiche auf das Glei-

lagerung von Wahrnehmungsebenen

die futuristischen Performances und

che antwortet“, um die Geschwindigkeit

oder als Simultaneität heterogener, aber

das Polykino am Bauhaus Modelle der

der Abläufe zu erhöhen (Han 2013, 6f.).

einheitlich präsentierter Sinneseindrü-

Gleichzeitigkeit und Ereignishaftigkeit

In den Medien Film und Fernsehen lässt

cke auf. In den vielschichtigen Variatio-

entworfen, die den Grundstein für viele

sich Gleichzeitigkeit noch stärker mit

nen der Überführung der zuvor singulä-

Auseinandersetzungen mit der Darstell-

der Dynamik und Geschwindigkeit der

ren Ausstrahlung in Mehrkanalpräsen-

barkeit von Zeit im Laufe des 20. Jahr-

Lebenswelt verbinden, so Götz Groß-

tationen scheint die Zeit des Bewegtbil-

hunderts lieferten.

klaus. Die neuen Anschauungs- und

des auf den Raum übertragen worden

3  Für eine präzise Darlegung des avantgardistischen Diskurses um den Begriff der Simultaneität vgl. Coen 2009.

auch Konzeptualisierungsmodelle die-

zu sein (vgl. Decker 1989). Hieraus er-

ser Medien steigern zunehmend die

geben sich völlig neue Möglichkeiten

der

33


CRITICA–ZPK I/ 2014

der Wahrnehmung wie beispielsweise

angeleitete Wahrnehmungssituationen

auflöst und einen bewussten reflexiven

die Überführung des einheitlichen per-

zu gestalten, in denen sich medial ver-

Umgang mit ihm erzwingt. So sieht Jörg

spektivischen Feldes der Augen in eine

mittelte ortsbezogene Narration, reine

Heiser in der komplexen Überkreuzung

Multidirektionalität

unterschiedlicher

Fiktion und der reale visuelle Eindruck

von physischen und psychischen Ebe-

Kameraeinstellungen, die dem Betrach-

der Umwelt überlagern. Die Simultane-

nen in den Arbeiten von Cardiff und

ter als scheinbar einheitliches Bild über

ität der verschiedenen Wahrnehmungs-

Miller „die Chance der Kunst, der alltäg-

mehrere Monitore präsentiert wird, wie

ebenen und deren teils verstörendes

lichen Erfahrung der Überlagerung von

es Gary Hill exemplarisch in seiner Ar-

Zusammenwirken machen die Dimen-

physischen und medialen Wirklichkei-

beit Crux von 1983-87 vorführte.

sionen der Beeinflussbarkeit unserer ei-

ten eine reflexive und zugleich konkret

genen Wahrnehmung durch technische

erfahrbare Form zu geben“ (Heiser 2005,

De-Synchronisation

Medien deutlich.

19).

Gegenüber der Heterogenität, die in

Besonders in Alter Bahnhof Videowalk auf

Strategien der De-Synchronisation kon-

den simultaneistischen Verfahren vom

der Documenta 13 von 2012 nutzten sie

frontieren den Rezipienten mit dem

Kubismus bis zur Videokunst zum Aus-

gezielt Formen der De-Synchronisation,

Spannungsverhältnis von Kontrolle und

druck gebracht wurde, setzten sich zahl-

um Wahrnehmungsirritationen zu er-

Kontrollverlust, einerseits durch Irri-

reiche Künstler in den 1960er und 1970er

zeugen. Der Besucher wurde über einen

tationen und grobe Störungen der Ori-

Jahren mit einer zeitlichen Differenz, ei-

Kopfhörer von der Stimme Janet Cardi-

entierung im eigenen realen Wahrneh-

ner Diastase auseinander, die gezielt die

ffs angewiesen, den erhaltenen iPod in

mungsfeld, andererseits als Aufheben

Synchronisation der Medien aufbricht.

der Weise vor sich zu halten, dass sich

der Kontrollfunktionen der Überwa-

Indem die technische Gleichschaltung

das dort laufende Video genau in das

chungstechnik durch Zeitverschiebun-

von Bild und Ton oder von Realität und

eigene Sichtfeld einfügt. So verlangten

gen.

deren Aufnahme durch eine Verschie-

Cardiff und Miller eine rudimentä-

bung beider Ebenen gestört wird, wer-

re Synchronisation von vorhandenem

Kuratorische Ökonomien der

den die technisch-medialen Mechanis-

Material und realer Situation, die sie

Gleichzeitigkeit

men bewusst erfahrbar. Diese neue Er-

dann durch gezielte Störung aufbrechen

Natürlich hält das Gleichzeitigkeitspa-

fahrung kann einen ästhetischen Mehr-

konnten. Der Anweisung Cardiffs fol-

radigma auch verstärkt Einzug in die

wert darstellen. So griff Bruce Nauman

gend, versuchte der Besucher stets, den

kuratorische Praxis, die sich mit der glo-

in die Liveübertragung der Closed-Cir-

Wahrnehmungsraum des Videos in sein

balisierten Kunstwelt auseinandersetzt

cuit-Systeme ein, wie sie in der Überwa-

eigenes Wahrnehmungsfeld einzuglie-

bzw. auseinandersetzen muss. Exem-

chungstechnik benutzt werden, und leg-

dern, um einen einheitlichen, kontinu-

plarisch stehen hierfür die Reaktionen

te durch eine De-Synchronisation von

ierlichen Raum zu erzeugen. Die räum-

der Documenta als Großausstellung der

Aufnahme und Wiedergabe die mediale

liche Kontinuität wird allerdings durch

Gegenwartskunst auf einen Umgang

Bedingtheit unserer durch Videotech-

die Ereignisse auf dem Display und um

mit globalem Raum und globaler Zeit

nik unterstützten Wahrnehmung offen.

den Betrachter herum gestört, da sie

ein. So sprengte Okwui Enwezor mit der

Dan Graham trieb die Differenz der De-

sich nicht über die Grenzen der Wahr-

Documenta 11 im Jahre 2002 den raum-

Synchronisation in seiner Installation

nehmungsfelder fortsetzen. So beginnt

zeitlichen Rahmen, indem er – statt von

Present Continous Past(s) von 1974 bis zum

man, Passanten auszuweichen, die le-

einer Ausstellung über 100 Tage mit be-

Exzess, indem er in den Aufnahmebe-

diglich auf dem Display erscheinen. Die

gleitenden Veranstaltungen – von einem

reich Spiegel einbaute und die zeitlich

scheinbare räumliche Kontinuität macht

Gefüge von fünf „Plattformen“ ausging,

versetzt abgespielten Sequenzen durch

die zeitliche Diskontinuität der Ereig-

die sich über verschiedene Felder (das

die hierdurch entstehende Rückkopp-

nisse zu einer irritierenden Störung der

Politische, das Juristische, das Geogra-

lung bis ins Unendliche laufen ließ.

eigenen Realitätserfahrung. Zeit und

fische und die Ausstellung im globalen

Janet Cardiff und George Bures Mil-

Raum scheinen keine homogene Einheit

Kontext), verschiedene Zeiten (die erste

ler verlagerten ihre Strategie der De-

mehr zu bilden.

Plattform begann bereits im Jahre 2001)

Synchronisation bzw. Simultaneität aus

Die sonst für eine reibungslose und rein

und verschiedene Orte (Wien, Neu Delhi,

dem Ausstellungsraum hinaus in den

funktionale Nutzung entwickelten tech-

Berlin, Santa Lucia, Lagos und Kassel)

Alltag. In ihren bereits 1991 begonnenen

nischen Medien werden in derartigen

erstreckten. Das Hier und Jetzt der Groß-

Audiowalks machten sie sich die mobi-

Werken in eine Form überführt, welche

ausstellung in Kassel wurde im Zuge

le Technik der Walkmans zu nutze, um

die reine Transparenz des Mediums

einer Reaktion auf die Globalisierung

34


CRITICA–ZPK I/ 2014

in seiner räumlichen und zeitlichen Ex-

chronisation und Gleichschaltung eine

unter dem Ausdruck „relational aest-

pansion gesteigert. Dennoch folgen die

wirtschaftliche Entsprechung bekom-

hetics“ (Bourriaud 1998) summierten

Plattformen in ihrer zeitlichen Abfolge

men hatte, äußert sich nicht ausschließ-

Kunst, die in der zwischenmenschlichen

einem linearen Konzept der Zeitlichkeit.

lich in einer als homogen wahrnehmba-

Interaktion die Materialität der Werke

Das Hier und Jetzt bleibt als singuläre Ein-

ren Zeitlichkeit. Der technischen Eineb-

sieht und den Aspekt der leiblichen Ko-

heit bestehen, bewegt sich aber um den

nung von zeitlichen Dissonanzen steht

Präsenz von Akteuren und Zuschauern

Globus.

eine subjektive Wahrnehmung gegen-

auf eine ontologische Ebene verlagert.

Einen entscheidenden Schritt in der

über, der sich Zeitlichkeit immer auch

Gleichzeitigkeit wird in den Werken

Verhandlung neuer Zeitkonzeptionen

als „uneben“ präsentiert, wie Enwezor in

Sehgals zur grundsätzlichen Bedingung

ging schließlich Carolyn Christov-Ba-

seinem Einleitungstext zur Documenta

des Werkstatus’, denn nur in der gleich-

kargiev mit der Documenta 13 im Jahr

11 in Bezug auf die Globalisierung be-

zeitigen Anwesenheit von Interpreten

2012, indem sie sich von der linearen

reits konstatierte:

und Betrachtern kann es sich temporär

Zeitlichkeit der Ausrichtung der Groß-

konstituieren. Sehgals konsequente und

ausstellung zugunsten einer Gleichzei-

„Die meisten Definitionen von Globa-

radikale Verweigerung anderer Formen

tigkeit verabschiedete. Die Ausstellung

lisierung zeichnen sich unter anderem

der „Materialisierung“ unterstreicht die

fand gleichzeitig an vier Orten – Kassel,

dadurch aus, dass sie den Begriff per-

Bedeutung der Flüchtigkeit seiner Ar-

Kabul, Alexandria/Kairo und Banff –

manent in den phänomenologischen

beiten. So sangen die Interpreten von

statt und vervielfachte ihr Hier und Jetzt.

Sphären von Räumlichkeit und Zeit-

This is so contemporary auf der Biennale

Zwar fügt sich dieses Konzept auch in

lichkeit ansiedeln zum Zwecke seiner

in Venedig 2005 auch den Namen des

die Informationslogik einer totalen

Disziplinierung innerhalb der kalten

Künstlers, den Titel der Arbeit und so-

Verfügbarkeit durch die Medien ein, da

Logik mathematischer Analyse von

gar das Copyright der Galerie, um auf

wir jederzeit Ausstellungsansichten der

Kapitalproduktion und -akkumula-

ein Schild mit Angaben als materiellen

verschiedenen Orte abrufen und wahr-

tion und ökonomischer Rationalisie-

Teil des Werkes zu verzichten. Selbst

nehmen konnten, doch zeigt die Wahl

rung [. . .]. Dass die kumulativen Effek-

Kaufverträge werden zwischen ihm und

der entlegenen Orte, dass der mediale

te und Prozesse der Globaliserung als

den Kunden als „oral contract“ (Obrist /

Zugriff nicht mit einem physischen Zu-

Mediatisierung und Repräsentationen

Sehgal 2003, 53) geschlossen. Die Flüch-

gang gleichgesetzt werden kann.

von Räumlichkeit und Zeitlichkeit zu

tigkeit der Werke Sehgals liegt in ihrer

Christov-Bakargiev richtete mit den

verstehen seien, legt auch noch ein

ereignishaften Produktion, die bereits

verschiedenen Ausstellungsorten ein

weiterer Aspekt nahe: Einerseits be-

die „Deproduktion“ (Umathum 2011,

Konzept von Gleichzeitigkeit ein, das

seitige die Globalisierung große Dis-

120) als intrinsische Bedingung enthält.

sich faktisch äußerte, von den Besu-

tanzen, andererseits lasse sich Zeit-

Keine Aufnahmen, Dokumentationen,

chern aber nur medial bzw. abstrakt

lichkeit bestenfalls als uneben erfah-

noch Verträge können diese Deproduk-

nachvollzogen werden konnte. Der nicht

ren“ (Enwezor 2012, 44).

tion relativieren. Die radikale „Demate-

gänzlich risikofreie Besuch der Orte der

rialisierung“ (Lippard / Chandler 1968

Documenta 13 – so das von Unruhen ge-

Ereignishaftigkeit

und Lippard 1973 als Negation des Ob-

zeichnete Kabul in Afghanistan – zeigte

Auf der Docmenta 13 stand ein Beitrag

jekts) des Kunstwerks bei Sehgal, macht

dem Rezipienten die Diskrepanz zwi-

besonders für eine künstlerische Öko-

die Zeit zum zentralen Aspekt seiner

schen medialer Schau und leiblicher

nomisierung der Zeit ein: In einen ab-

Ontologie, seiner Seinsweise. Zudem

Präsenz. Dieser Umstand lässt eine Les-

gedunkelten Raum stellte Tino Sehgal

benutzt Sehgal bewusst nicht den Be-

art zu, nach der die Documenta von 2012

die Interpreten (wie er die Protagonis-

griff „Performance“, um sich von klas-

ein Exempel für die Wahrnehmung und

ten seiner Arbeiten nennt) als anonyme

sischen Konnotationen wie dem Bezug

Wahrnehmbarkeit des globalen Kunst-

und nicht ausmachbare Beteiligte un-

zum Künstlersubjekt in der Body Art zu

geschehens

Zusammengedachtes

ter die Besucher und ließ sie inmitten

vermeiden. Diese Distanzierung ist für

kann nicht immer zusammen präsent

der Menge einen Dialog führen. Sehgal

eine zeittheoretische Diskussion der Ar-

sein, sondern nur in einer medienin-

inszenierte seine Arbeit als temporäre

beiten Sehgals besonders virulent, da sie

duzierten Gleichzeitigkeit zusammen

zwischenmenschliche Interaktion, die

sich bereits durch ihre Wiederaufführ-

repräsentiert werden. Das Gleichzeitig-

genauso abrupt wieder abbrach wie sie

barkeit von der ereignishaften Singu-

keitsparadigma der Moderne, das in der

begann. In derartigen Werken formu-

larität als klassische Selbstbegründung

kommunikativen und logistischen Syn-

liert er den Inbegriff der mittlerweile

der Performance Art wegbewegt (vgl.

ist.

35


CRITICA–ZPK I/ 2014

Umathum 2011, 128-134). Hierbei kann

The Artist is present bot totale temporale

the encroaching ideologies of capital

die radikale Dematerialisierung seiner

Verfügbarkeit bei einer gleichzeitigen

and reproduction, it frequently deva-

Arbeiten allerdings als Bestreben gese-

absoluten kommunikativen Verweige-

lues this strength“ (Phelan 1993, 149).

hen werden, trotz Aufgabe der Singula-

rung.

So entkommt die Performance Kunst

rität an einer jeweiligen Ereignishaftigkeit

Noch vor zwanzig Jahren sah Peggy Phe-

dem wirtschaftlichen System nicht nur,

festzuhalten.

lan in der Ereignishaftigkeit ein wesent-

indem es auf reine Präsenz und Singu-

Die Frage nach der Dokumentierbarkeit

liches Kriterium der Performance:

larität pocht. Phelans Diktum der Nicht-

und deren Bedeutung für die Seinsweise von Performances hat besonders seit den großen Ausstellungen von Marina Abramovic im vergangenen Jahrzehnt an Virulenz gewonnen. Bereits 2005 stellte Abramovic die Frage nach der Singularität von Performances als sie in Seven Easy Pieces im Guggenheim Museum wichtige historische Performances wiederaufführte. Entgegen der üblichen dokumentarischen Aufbereitung versuchte sie, die Performances wiederzuholen und war danach sogar

Wiederholbarkeit mag auf einer grund„Performance’s only life is in the present. Performance cannot be saved, recorded, documented, or otherwise participate in the circulation of representations of representations: once it does so, it becomes something other than performance. To the degree that performance attempts to enter the economy of reproduction it betrays and lessens the promise of its own ontology. Performance’s being, like the ontology of subjectivity proposed here, becomes itself through disappearance“ (Phelan 1993, 146).

legenden Ebene angemessen sein – da kein Ereignis in seiner Wiederholung identisch auftreten kann4 –, doch haben Künstler Strategien entwickelt, sich dem wirtschaftlichen System nicht zu entziehen und dennoch nicht die konventionellen Ökonomien der Dinghaftigkeit und des Umgangs mit Zeit zu übernehmen. So bietet beispielsweise Sehgal seine Kunst zwar als Ware an, fügt sich aber nicht gänzlich den gängigen Methoden des Kunstmarkts, der performative, konzeptuelle oder allgemein dema-

von der Wiederholbarkeit einiger Arbeiten überzeugt: „Ich erkannte, dass man

Es scheint, als würden die Werke von

terialisierte Werke über Verträge oder

Vergangenes wiederaufnehmen kann,

Tino Sehgal und Marina Abramovic die

Zertifikate an konkrete Objekte in Form

dass sich dabei neue Ideen auftun und

Einhaltung dieses Diktums gezielt un-

von Dokumenten bindet. Sehgals Arbei-

dass manche Performances tatsächlich

terwandern. Längst hat sich der nor-

ten existieren dennoch rein ereignishaft

wiederholbar sind“ (Schlenzka 2009,

mative Anspruch Phelans als obsolet

zum Zeitpunkt ihrer jeweiligen Produk-

45). Eine Erkenntnis, die der Einzigar-

erwiesen angesichts des vielschichtigen

tion durch die Interaktion zwischen den

tigkeit von Performances als Ereignis-

Hinterfragens eben dieser reinen Prä-

Interpreten und den Besuchern. Trotz

se in der Zeit gegenübersteht. In ihrer

senz der Performance. Abramovics Ret-

der Marktfähigkeit lässt Sehgal seine Ar-

großen Retrospektive im MoMA 2010

rospektive stellt ihren sehr reflektierten

beiten nicht marktförmig werden.

setzte sie diese Strategie fort und ließ

und differenzierten Umgang mit der

ihre eigenen Performances der letzten

reinen Präsenz unter Beweis, indem sie

Anti-Ökonomien der Zeit

Jahrzehnte von anderen Darstellern auf-

durch ihre ‚objekthafte Anwesenheit’ die

Die angeführten künstlerischen Positio-

führen. Diesen Wiederholungen fügte

Einzigartigkeit des Augenblicks hinter-

nen entziehen sich auf unterschiedliche

sie durch ihre permanente Anwesenheit

fragt: „Die Performance wird mehr wie

Weise den konventionellen Ökonomi-

in The Artist is present einen konzeptuel-

ein Gemälde oder eine Skulptur, sie ist

en der Zeit und den dahinterstehenden

len Gegenpol hinzu: Die ganze Ausstel-

jederzeit für einen da“ (Schlenzka 2009,

Auffassungen von Verfügbarkeit und

lungszeit über saß sie an einem Tisch,

45).

Instrumentalisierbarkeit. Der Begriff

an dem die Besucher auch Platz nehmen

Sehgals und Abramovics kritisches

der Anti-Ökonomie beweist hierbei einen

konnten. Hierdurch war sie präsent und

Verhandeln der Ereignishaftigkeit von

ambivalenten, wenn nicht gar strittigen

nur präsent, denn sie blickte starr ge-

Performances zeigt, dass eine Unter-

und sehr wertenden Charakter. Die be-

radeaus. Der Besucher konnte sich zur

wanderung dieser nicht gleich den Ver-

schriebenen Strategien im Umgang mit

Künstlerin setzen, aber nicht mit ihr in

lust ihrer Autonomie gegenüber den

der Zeit lassen sehr deutlich eine indivi-

Interaktion treten. Abramovic führte

wirtschaftlichen Ökomonien der Zeit

duelle Ökonomisierung der Zeit erken-

die sonst so geschätzte und immer an-

bedeuten muss, wie es Phelan kons-

nen. Erst in der Konfrontation mit den

gekündigte Präsenz des Künstlers zur

tatiert: „Performance‘s independence

wirtschaftlichen und konventionellen

Ausstellung(seröffnung) ad absurdum,

from mass reproduction, technologi-

technisch-medialen Modellen der Zeit-

indem sie der Zeit ihrer Anwesenheit

cally, economically, and linguistically,

jede Exklusivität und Flüchtigkeit nahm.

is its greatest strength. But buffeted by

36

4  Diese Erkenntnis hat bereits eine lange Tradition von Kierkegaard bis Derrida.


CRITICA–ZPK I/ 2014

Ökonomisierung werden sie zu Antipo-

Ästhetischen einer utopisch umrisse-

keit in Abgrenzung zur Mediatisierung

den der „gängigen“ Konzepte.

nen Zukunft zuwandte, scheint er in der

der Performance Kunst setzt. Liveness ist

Je nach Interpretationsfolie bewegen

zweiten Hälfe des 20. Jahrhunderts einer

nicht direkt übersetzbar, da der Begriff

sich die besprochenen künstlerischen

semantischen Verschiebung unterzogen

nicht mit dem deutschen Verständnis

Positionen zwischen ästhetischer Refle-

worden zu sein. Daher gilt es für unse-

von „Live“ und seinen televisionären

xion und ideologischer Subversion. Das

re Zeit besonders eine Bestimmung von

Konnotationen übereinstimmt, sondern

Suffix „Anti“ dient hierbei als Verweis

Simultaneität vorzunehmen, die den

„Live“ in einem retronymen Verständnis

auf den Umstand, dass die künstleri-

Begriff von seinen Konnotationen als

(wie etwa bei „unplugged“) entgegen der

schen Modelle der Ökonomisierung der

modernistisches Reizwort löst und ihn

Mediatisierung auf die ursprüngliche

Zeit stets in Bezug zu den konventionel-

vor dem Hintergrund einer Kunst-, Wis-

Unmittelbarkeit des Ereignisses hin-

len Modellen gesehen werden müssen.

senschafts- und Wirtschaftswelt reflek-

weist.7 Der künstlerische Umgang mit

Das Anti beinhaltet in dieser Gegenüber-

tiert, die sich vom Anspruch einer uni-

und das diskursive Verhandeln von Live-

stellung sowohl ästhetische Differenz,

versalistischen Einheit verabschiedet

ness stellt unter Beweis, dass der Ereig-

künstlerische Aneignung, medienrefle-

hat. Für diese Neubestimmung können

nishaftigkeit in der Performance Kunst

xive Subversion als auch ideologische

die diskutierten künstlerischen Strate-

bereits ein kritisches nachmodernes

Opposition.

gien als Seismographen einstehen. Der

Denken eingeschrieben ist.

Mehrere Momente einer Lesbarkeit

Begriff der De-Synchronisation hinge-

dieser Anti-Ökonomien können aus-

gen geht nicht auf ein frühes avantgar-

gemacht werden, die unterschiedlich

distisches Verständnis zurück, sondern

stark an den Gedanken eines autonomen

setzt direkt bei den technischen Gleich-

Umgangs mit Zeit anknüpfen: (1) in der

schaltungen der medialen Synchroni-

Kunst werden alternative Umgänge mit

sationsverfahren an, die beispielsweise

den konventionellen Praktiken der Zeit

durch die Fernseh- und Videotechnik in

erprobt, die durch ihre Differenz die

die Alltagswelt eindrangen. Ereignishaf-

Mechanismen der etablierten Modelle

tigkeit wurde besonders in der Perfor-

bewusstmachen und somit die Mög-

mance Kunst Mitte des 20. Jahrhunderts

lichkeit ihrer Reflexion eröffnen, (2) die

als Differenzkriterium eingesetzt, um

künstlerischen Strategien bieten neue

sich vom Theater abzugrenzen und die

Konzepte des Umgangs mit Zeit, die als

Geltung als eigenständige Kunstform

ästhetische Neuentwürfe neben die kon-

zu behaupten.5 Die „singuläre Darbie-

ventionellen Praktiken treten, (3) die

tung“ (Umathum, 2011, 131) galt als Au-

künstlerischen Modelle sind Subversi-

tonomieanspruch gegenüber der Wie-

onen, welche die etablierten Varianten

deraufführbarkeit von Theaterstücken.

der Zeitökonomisierung unterwandern

Neuere

und im Bereich des Ästhetischen aus-

entgegen den Legitimationsansprüchen

schalten sollen.

der frühen Performance Kunst bewusst

Performances

hinterfragen

die Singularität des Ereignisses als notGeltung und Aktualität der Begriffe

wendiges Kriterium von Performances,

In dem Begriffsnetzwerk Simultaneität-

so sieht Marvin Carlson besonders in

Synchronisation-De-Synchronisation-

der „liveness“ von Performances einen

Ereignishaftigkeit scheinen Dimensi-

Bereich der postmodernen Destabilisie-

onen des modernen Gleichzeitigkeits-

rung.6 Der Begriff der Liveness kann da-

paradigmas auf, die für die Diskussion

hingehend als Zäsur im Diskurs gesehen

künstlerischer Strategien der Ökonomi-

werden, als dass er die Ereignishaftig-

sierung von Zeit besonders virulent sind. Während der Begriff „Simultaneität“ in den Avantgarden für ein modernistisches Denken einstand, das sich durch revolutionäre Neuformulierungen des

5  Vgl. Goldberg 1995, S. 7-9, zum Verhältnis der Performance Art zu theatralen Formen der Avantgarde vgl. Goldberg 1995 und bes. Carlson 2004. 6  Carlson 2004, S. 132, Carlson übernimmt den Begriff „liveness“ von Austerland 1999.

Literatur Austerland, Philip: Liveness, London 1999. Bourriaud, Nicolas: Relational Aesthetics, Dijon 1998. Boccioni, Umberto: Futuristische Malerei und Plastik: (bildernischer Dynamismus), Hrsg. v. Astrit Schmidt-Burkhardt, ital. Org. v. 1914, Dresden 2002. Carlson, Marvin: Performance. A critical Introduction, Org. v. 1996, New York u.a. 2004. Coen, Ester: Simulaneity, Simultaneism, Simultanism, in: Futurism, Hrsg. v. Centre Pompidou, fr. Org. v. 2008, Paris u.a. 2009, S. 52-57. Decker, Edith: Zum Raum wird hier die Zeit – Einige Aspekte der Videoskulptur, in: VideoSkulptur. Retrospektiv und aktuell 1963-1989, Hrsg. v. Wulf Herzogenrath und Edith Decker, Köln 1989, S. 51-55. Enwezor, Okwui: Die Black Box, in: Documenta 11_Plattform 5: Ausstellung. Katalog, Ostfildern-Ruit 2002, S. 42-55. Fischer-Lichte, Erika: Ästhetik des Performativen, Frankfurt am Main 2004. Goldberg, RoseLee: Performance Art. From Futurism to the Present, Org. v. 1979, neue Edition, London 1995. Großklaus, Götz: Medien-Zeit, MedienRaum. Zum Wandel der raumzeitlichen Wahrnehmung in der Moderne, Frankfurt am Main 1995. 7  Vgl. hierzu die erhellenden Ausführungen von Erika Fischer-Lichte 2004, S. 114-126, die Phelan und Austerland in Bezug auf die Differenz zwischen Liveness und medialer Reproduktionen einer kritische Revision unterzieht.

37


Han, Byung-Chul: Transparenzgesellschaft, Berlin 2013. Heiser, Jörg: Imagination: das Making-Of, in: The Sectred Hotel, Janet Cardiff + George Bures Miller, hrsg. v. Eckhard Schneider anlässlich der Ausstellung The Secret Hotel, Janet Cardiff + George Bures Miller, 26.11.2005 bis 15.01.2006 im Kunsthaus Bregenz, Köln 2005, S. 10-21. Hubmann, Philipp und Huss, Till Julian: Das Gleichzeitigkeitsparadigma der Moderne, in: Simultaneität. Modelle der Gleichzeitigkeit in den Wissenschaften und Künsten, hrsg. v. Philipp Hubmann und Till Julian Huss, Bielefeld 2013, S. 9-36. Kittler, Friedrich: Gleichschaltungen. Über Normen und Standards der elektronischen Kommunikation, in: Geschichte der Medien, hrsg. v. Manfred Faßler, Wulf R. Halbach, München 1998, S. 255-268. Lippard, Lucy und Chandler, John: The Dematerialization of the Art, in: Art International 1968. Lippard, Lucy: Six Years. The Dematerialization of the Art Objects from 1966 to 1972, New York u.a. 1973. Luhmann, Niklas: Soziologische Aufklärung 5, Wiesbaden 1990. „Round Table: Live is life“, Jenny Schlenzka im Interview mit Marina Abramovic, Adam Pendleton und RoseLee Goldberg, in: Monopol, 2009 Nr. 11, S. 43-47. Phelan, Peggy: Unmarked. The Politics of Performance, New York u. a. 1993. Rosa, Hartmut: Beschleunigung. Die Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne, Frankfurt am Main, 2005. Umathum, Sandra: Kunst als Aufführungspraxis, Bielefeld 2011. „Hans Ulrich Obrist interviews Tino Sehgal“, in: Kunstpreis der Böttcherstraße in Bremen, hrsg. v. d. Kunsthalle Bremen, Bremen 2003, S. 50-55.


Künstlerpositionen   Zeit  Video    Installation Fotografie Malerei


CRITICA–ZPK I/ 2014

Darren Almond

Darren Almond, der sein Studium in den 1990er Jahren an

halbiert und zu potentiell unendlichen Zahlenreihen kombi-

der Winchester School of Art in England absolvierte, arbei-

niert werden, stehen Zeit und Bewegung maßgeblich im Fokus.

tet mit unterschiedlichen Medien, insbesondere im Bereich

Einerseits im Sinne des linear Sequenziellen wie auch des illu-

Film und Video, Zeichnung, Malerei, Installation, Skulptur

sionistisch Dynamischen, insofern nämlich die Ziffern durch

und Fotografie. In seinen Werken setzt sich der in London

die Halbierung der Sicht des Betrachters stetig zu entgleiten

lebende Künstler immer wieder mit dem Thema Zeit und der

scheinen.

Vermessung von Realität auseinander. Auch die hier gezeigten Arbeiten sollen das Bewusstsein dafür wecken, dass Zahlen, vom Finanzsystem über das menschliche Genom bis zur Konstellation der Sterne, unser Leben in vielerlei Hinsicht oft auch wirr durchdringen und sich diese doch in einem System verbinden lassen, das eine Positionierung des Individuums in der Welt ermöglicht. In der Arbeit Chance Encounter 9062, bestehend aus einzelnen klein-formatigen Leinwänden auf denen Ziffern, reduziert in Schwarz und Weiß, in der Waagerechte

Chance Encounter 9062, 2012 Photo: def image Courtesy: The artist and Galerie Max Hetzler, Berlin | Paris

40

Auch in der Arbeit Perfect Time 184 setzt sich der Künstler mit dem Begriff der Zeit und ihrer Messbarkeit auseinander. Das Werk – eine Agglomeration von digitalen Uhren – enthält Zifferblätter, die automatisch jede Minute umblättern, da aber die Zifferblätter jeweils in der Horizontalen halbiert sind, ist ein konkretes, ein perfektes Funktionieren der Uhren unmöglich. Die Zeit wird als Prozess realisiert, dessen Elemente die Arbeit jedoch als variante Größen bewusst machen will.


CRITICA–ZPK I/ 2014

Almond vertrat Großbritannien 2003 auf der Biennale von Venedig. Er hatte bisher über 50 Einzelausstellungen und zahlreiche Gruppenausstellungen u.a. in der Tate Gallery (London), der Nicola TrussardiStiftung (Mailand), dem Museum Folkwang (Essen), der Albertina (Wien), er war auf der Berlin Biennale (2001), der Moskau Biennale (2007) und auf der Tate Triennale (2009) vertreten.

Perfect Time 184, 2012 Photo: def image Courtesy: The artist and Galerie Max Hetzler, Berlin | Paris

41


Moscow Time, Fotografie, 120 x 150cm, 2012, Courtesy Buchmann Galerie Berlin

Die Arbeiten der deutsch-iranischen Künstlerin Bettina Poust-

alle Uhren mit gleicher Zeit, um so nicht nur ein Bewusstsein

tchi, die in Paris, Köln und an der Kunstakademie in Düssel-

für das Phänomen der Gleichzeitigkeit in einer Welt globaler

dorf studierte, kreisen um unterschiedliche Zeitbegriffe und

Vernetzung und steigender Mobilität zu schärfen, sondern

die Zeitwahrnehmung in den Medien Fotografie und Skulptur.

auch um die Rolle der Fotografie im Hinblick auf die Zeitwahr-

Hier zu sehen sind zwei Arbeiten aus der 24-teiligen Fotoserie

nehmung und die damit verbundene mediale Konstruktion

World Time Clock.

von Geschichte und Erinnerung zu thematisieren.

Seit 2008 fotografiert Bettina Pousttchi in verschiedenen Städ-

Ausstellungen u.a.: Nasher Sculpture Center Dallas; Schirn

ten der Welt öffentliche Uhren. Die Werkgruppe wurde Anfang

Kunsthalle Frankfurt; Kunsthalle Basel; Museum Morsbroich

2014 abgeschlossen, Aufnahmen aus 24 Zeitzonen bilden zu-

Leverkusen; Arp Museum Bahnhof Rolandseck Remagen.

sammen eine „fotografische Weltzeituhr“. Die Künstlerin zeigt


CRITICA–ZPK I/ 2014

bettina pousttchi

Seoul Time, Fotografie, 120 x 150cm, 2012, Courtsey Buchmann Galerie Berlin

43


CRITICA–ZPK I/ 2014

BJÖRN DRENKWITZ

Sein und Zeit, Videostill, 2013; © VG Bild-Kunst, Bonn 2014.

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∞, Fotomontage aus 16 Videostills, 2011; © VG Bild-Kunst, Bonn 2014.

Björn Drenkwitz studierte Medienkunst an der Kunsthoch-

In dem zweiten Video „∞“, das hier als eine Fotomontage aus

schule für Medien in Köln und an der Kunsthochschule Mainz

16 Videostills präsentiert wird, fliegt ein Drache in nur knapp

bei Prof. Dieter Kiessling und Prof. Mischa Kuball bis 2009,

6 Sekunden das Symbol der Unendlichkeit ab, diese Bewegung

Meisterschüler 2010. Thematisch beschäftigt sich der Künstler

wiederholt sich unentwegt. Die Arbeit visualisiert eine Sei-

schwerpunktmäßig u.a. mit dem Thema Zeit, so beispielsweise

te des Paradoxons Zeit: die Unbeschwertheit im Umgang mit

in seinen beiden Videos „Sein und Zeit“ und „∞ „ .

dem, was sich der Mensch kaum vorstellen kann.

Die Arbeit „Sein und Zeit“ nimmt Bezug auf das Hauptwerk

Ausstellungen u.a.: National Gallery of Contemporary Art,

Martin Heideggers, aus dem ein zentraler Teil herausgegriffen

Yaoundé, Kamerun, „5th Cairo Video Festival Selection“,

wurde, der sich damit beschäftigt, wie uns unser Wissen um

Cairo Opera House, Kairo, Ägypten; Videokunstfestival

eine bevorstehende Zukunft zu dem macht, was wir sind. Die

D‘Konschtkëscht“, TUFA, Trier; Basis Frankfurt; Kunst- und

Darstellerin im Video rezitiert Heideggers Text, während sie

Ausstellungshalle der BRD, Bonn; Museum für angewandte

schnell auf dem Laufband eines Fitnessgeräts läuft. Auf diese

Kunst, Frankfurt; Künstlerhaus Mousonturm, Frankfurt.

Weise läuft sie dem Text buchstäblich hinterher und stolpert über Worte. Für den Betrachter ist es schwer den Zusammenhängen zu folgen. Durch den Verlust an Kohärenz öffnet sich der Text jedoch für neue Assoziationen.

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PETRA johanna bARFS

o.T. , Collage mit Originalprintausgabe Filmwelt 1941, 30 x 40 cm, 2013

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o.T. , Collage mit Originalprintausgabe Spiegel 1992, 20 x 30cm, 2013

Petra Johanna Barfs, geboren 1974 in Emden, lebt und arbei-

Arbeiten der „Spiegel“ und die „Filmwelt“. Es sind vor allem

tet in Frankfurt am Main. Sie studierte von 1996-2000 inter-

Themen wie Identität und Erinnerung, die die Künstlerin in-

disziplinäre Kunst an der Akademie Minerva in Groningen,

teressieren, Erinnerungen etwa an Frauenbilder oder Ikonen

Niederlande und absolvierte bis 2002 ein Aufbaustudium

vergangener Zeiten. Ironisch und ernsthaft zugleich erzählen

„Elektronische Medien“ an der Hochschule für Gestaltung

die Bilder ihre Geschichten. Dabei lassen sich Bedeutungen

in Offenbach. Die Künstlerin arbeitet vorwiegend im Medi-

herauslesen, die nicht schon gleich dem Bilderwert des Darge-

um der Collage, einer surrealistischen Collage im Stile Max

stellten entsprechen. Barfs Arbeiten können als freudsche Rät-

Ernsts, in der sie zusammensetzt was nicht unbedingt zusam-

sel verstanden werden, bei deren Betrachtung man sich immer

men gehört. Als Material dienen ihr neben Fotografien, die ihr

wieder mit neuen Fragen konfrontiert sieht und in denen das

von Zeitzeugen zur Verfügung gestellt werden, insbesondere

Thema ‚zeitgeschichtliche Reflexion‘ vor dem Hintergrund je-

alte Zeitungen und Zeitschriften wie in den hier abgebildeten

der weiteren Betrachtung neu beleuchtet wird.

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Melancholische Uhren? Vom stabilisierenden Erinnerungsbild zu Formen einer Konkretion des Zeitvergehens in der Kunst nach 1960I von Lutz Hengst

Fragen nach der Zeitlichkeit von oder

erwähnte, alltagsgängige Schema in ih-

Wenn sich nämlich Vanitas-Symbole in

in Kunst sind gerade eines nur sehr be-

rem Sein wesentlich durch ihr Vergehen

der frühneuzeitlichen Malerei vom pla-

dingt: zeitlos. In dem sehr allgemeinen

mitdefiniert ist, während sie zugleich als

kativen Totenschädel (der freilich wie

Umstand, dass sie durch die Jahrhun-

Gegenwart (und Zukunft) da sein soll.

in den Gesandten Hans Holbeins d. J. als

derte fortwährend erneut aufgeworfen

Jurgeleit schreibt:

komplizierte Anamorphose gewandet

werden, stimmt die künstlerische Problementfaltung mit den Wechselfällen eines philosophischen Fragens nach Zeit überein. Doch auch für eine inhaltlich ausgeprägte Nähe zwischen den Diskursen lassen sich seit alters her Belege finden: In der spätantiken Zeittheorie Augustinus’ etwa, dem – im Anheben von einer empirischen Fundierung – „die Zeit insofern als objektives Faktum [gilt], als sie eine unserer Erfahrung prinzipiell zugängliche Gegebenheit von Welt darstellt“1, kommt es zum Rekurs auf das Bild. Es leistet dabei einen Beitrag zur Überwindung einer nur schwach reflektierten, schlicht alltagspraktischen Aufteilung von gegebener Zeit in die drei Abschnitte Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Augustinus nutzt insbesondere die Vorstellung von einem Bild als Erinnerungsspur – und selektiv diese Funktionsebene bildet hier eine Ausgangsbasis für weitere Überlegungen – mit dem Ansinnen, ein logisches Problem im empirischen Dreiphasenmodell der Zeit zu überwinden. Die Problematik, die Augustinus erst auf das Bild Bezug nehmen lässt, resultiert, wie Roland Jurgeleit anschaulich aufschlüsselt, nicht zuletzt daraus, dass Zeit durch das 1  Jurgeleit, Roland: Der Zeitbegriff und die Kohärenz des Zeitlichen bei Augustinus, in: Revue des Études Augustiniennes 34/1988, S. 209-229, hier S. 211f.

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Indem Augustinus – ausgehend von der Wortbedeutung – die Adjektive «vergangen» und «zukünftig» primär als Negationen der Gegenwart, welche letztere allein prima facie als «seiend» genannt zu werden pflegt, versteht, ist für ihn eine nicht-präsentistische Zeit gleichbedeutend mit einer nichtseienden Zeit.2

Vergangenheit kann folglich nur Teil einer einzig seienden Zeit sein, wenn sie sich (ähnlich wie die Zukunft, aber mit anderen Mitteln) vergegenwärtigen lässt. Just dieses Vergegenwärtigen gewährleistet das in Erinnerung gehaltene Bild von etwas Gewesenem. Erinnerungsbilder bleiben damit im Sinne von Augustinus zugleich an die Zeitlichkeit menschlichen Seins gebunden, während Zeitlosigkeit exklusiv Gott auszeichnet.3 Über die Trennung diesseitiger Zeitgebundenheit von jenseitiger Zeitenthobenheit lässt sich eine Kontinuität christlichen Denkens bis in die Neuzeit hinein behaupten, während der Diskurs im Bild vordergründig eine zweischneidigere Sprache zu sprechen scheint: 2  Ebd. , S. 214. 3  Dass die Abwehr einer Infragestellung Gottes mithilfe der Bezugnahme auf ein Vor-der-Schöpfung Keimzelle Augustinischer Zeitphilosophie ist, setzt ebenfalls Jurgeleit, in genauem Nachvollzug der entsprechenden Passagen der Confessiones (v.a. Kapitel 14), voraus, vgl.: ebd. , S. 214.

sein kann) bis zum kleinen Insekt an einem Blatt in vielen Formen ausdifferenzieren, erinnern diese ikonographisch codierten Formfindungen eine christliche

Rezipientengemeinschaft

angesichts einer nur vermeintlich stabilen Bildwelt an den unweigerlich allumgreifenden Verfall irdischen Seins. Grundwichtig scheint so gerade nicht die konservierende Leistung der Bilder, die Augustinus in der Betonung ihresr Erinnerungs- und Spurfähigkeit herausgestellt hatte. Selbstverständlich firmiert das bildliche Konservierungsvermögen als Erklärung bei Augustinus auf einer anderen, einer wahrnehmungspsychologisch gedachten Ebene des Internalisierungsgeschehens in einem Gedächtnis, während das Vanitas-Symbol sich aus einem moralischen Impetus auf ein Zielpublikum richtet, um die Eitelkeiten der endlichen diesseitigen Welt zu entlarven und dagegen ein Memento mori zu setzen. Um nichts weniger aber zählen damit die gemahnenden Bilder vormoderner Epochen letzthin selbst unter jene, in der Dauer fundamental limitierten und zu Zeitübergriff unfähigen Manifestationen des Irdischen, durch die auf das Überirdische lediglich hingewiesen werden kann (und erscheinen entsprechend oft selbst als Symbol in Vanitas-Stillleben).


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Ein 1891 erstveröffentlichter literari-

und überdies in Abwendung von einem

aus dem Bild heraus anstoßen, indem sie

scher Stoff wiederum wie Oscar Wil-

erstarrten Salon-Akademismus des 19.

Versatzstücke (zumeist flacher) Alltags-

des The Picture of Dorian Gray verarbeitet

Jahrhunderts, bricht die historische

dinge in ihre Werke hineincollagieren.

zwar ebenfalls das Phänomen der Eitel-

Avantgarde mit Traditionsbeständen

Rasch, allen voran mit den ready mades

keit, stellt jedoch unter einem bilddis-

und sucht ein neues bildnerisches Leis-

von Marcel Duchamp, kommt es zu ul-

kursiven Aspekt betrachtet die Leistung

tungsvermögen, das gerade nicht länger

timativ zugespitzten Ausformungen,

besonders von Portraitmalerei heraus,

auf möglichst (perspektiv-)realistischer

durch welche man Distanzen zwischen

einen Zeitschnitt gleichsam festzuhal-

Nachahmung beruht. Solches Aufbre-

Bereichen des greifbar Gegenständ-

ten, also eine dargestellte Person in ei-

chen vor, im und nach dem Impressio-

lichen einerseits und künstlerischen

nem Moment zu zeigen, der angesichts

nismus ebnet einer modernen Kunst im

Entwürfen andererseits zu überwinden

des vergleichsweise langsamen Alterns

frühen 20. Jahrhundert den Weg. Aller-

trachtet; und letzteren gegenüber war

etwa eines nicht zu luftfeucht, zu hell

dings, trotz darüber ganz neu erschlos-

eine breite Rezipientenschicht, unter

oder ähnlich abträglich, sondern ge-

sener künstlerischer Felder, problema-

Absehung von der Eigenkörperlichkeit

schützt deponierten Ölgemäldes sehr

tisieren auch nachfolgende Avantgarde-

der Bildwerke und ausgehend von dem

viel stabilere Verhältnisse (zumindest)

Künstler weiterhin nicht konsequent

darin Dargestellten, geübt, lesend und

suggeriert , als sie die Physis eines Por-

die Stabilität und zeitliche Dauer künst-

imaginierend, also nicht dinggeleitet

traitierten selbst je garantieren könnte.

lerischer Erzeugnisse.5 Zwar reichen

Gehalte zu erschließen. Doch, bei allem

Dass Wilde das Bildvermögen, dauer-

die Neuerungen von Künstlern wie den

Brechen mit solchen Kunstkonventio-

haft zu konservieren, auf den im Roman

Kubisten sehr weit, und es gehört mit

nen und der Disponierung fast all des-

lange Zeit nicht alternden Protagonisten

entsprechender Berechtigung zum com-

sen, was den künstlerischen Werkbe-

überträgt und es selbst an dessen Statt

mon sense kunsthistorischer Progressi-

griff bis dato ausgemacht hatte (insbes.

altern lässt, affirmiert letztlich mithilfe

onserzählungen, dass Braque und Picas-

die mit einer spezifischen Kreativleis-

der Verkehrung um so stärker den Glau-

so so etwas wie die Vergegenständlichung6

tung verbundene originäre Urheber-

ben an die Macht des Mediums.

5  Zwar sind surrealistische Arbeiten aus der Zwischenkriegszeit bekannt, die organisch-verfallsgeneigtes Material verwenden (wie die Sculptures involontaires Brassaïs und Dalís/vgl. dazu etwa: Rübel, Dietmar: Die Fotogenese der Skulptur (molekulare Gemeinschaften), in: Ecker, Bogomir et al. (Hg.): lense-based sculpture. Die Veränderung der Skulptur durch die Fotografie (Katalog zur gleichnamigen Ausstellung) Köln 2014, S. 110-125, hier S. 117); und Siegfried Giedion weist u.a. auf „sogar verwitterte Knochen“ hin, wenn er die umfassende Hinwendung zu Alltagsdingen seitens solcher AvantgardeKünstler wie Picasso und Juan Gris um 1910 beschreibt (vgl.: Giedion, Sigfried: Raum, Zeit, Architektur. Die Entstehung einer neuen Tradition, Basel/Boston/ Berlin 2000 [1976], S. 278.). Doch sind diese Alltagsdinge so bemerkenswert nicht etwa, weil sie verwittern, sondern weil sie (auch in der Argumentation Giedions) für eine neue Hinwendung zur Gegenwart und zur Jetztzeit stehen, anstatt über die Vergänglichkeit des Materials nachdrücklich Instabilität zu Thema zu machen. Obschon also im Kubismus, ebenso im Futurismus, auch im Surrealismus und Dadaismus, verstärkt Protoformen der Prozesskunst entstehen, erweist sich dieser Prozess in der Hauptsache als gegenwartsfixiert. 6  Heinrich Klotz hat die demonstrative Vergegenständlichung bzw. Verdinglichung von Kunstwerken als eine Avantgardetypische Strategie der Entgrenzung von Kunst und Leben in den 1960er Jahren besonders herausgestellt, in: ders.: Kunst im

schaft), weist auch ein metallener Fla-

4

Soweit der Autor also nicht (was Wilde durchaus zuzutrauen wäre) die fotografische Konservierungseuphorie im ausgehenden 19. Jahrhundert als Verblendung kommentieren wollte, hinkt hier das literarische Bildkonzept dem bildkünstlerischen Diskurs im Erstveröffentlichungsjahrzehnt des Dorian Gray hinter her. Nicht zuletzt unter dem Druck der massenhaften Verbreitung fotografischer Reproduktionstechniken 4  Von der besonderen Dauer der Werke aus anzusetzen, erscheint als konsensuale Basis auch ambitionierter Versuche, die Zeitlichkeit von Artefakten zu fassen, bei Georger Kubler etwa heißt es: “Our main interest here is in the shapes and forms of those durations which either are longer than human lives, or which require the time of more than one person as collective durations.“ (Aus: Kubler, George: The Shape of Time: Remarks on the History of Things. New Haven 1970 [1962], S. 99.) Das, was Kubler hier als Zeitspanne vorausdefiniert, um seinen Untersuchungsgegenstand gegen die individuelle Erfahrung von Lebenszeit abzugrenzen, deckt sich mit dem gängigen Verständnis der, gemessen an einer durchschnittlichen Lebensspanne menschlicher Individuen, Überdauer von Kunstwerken.

schentrockner, wie ihn Duchamp 1914 zum Kunstwerk erklärt, weiterhin eine hohe Materialstabilität auf und lässt sich entsprechend dauerhaft lagern. Allein das Konzept vergleichsweise ausgeprägter physischer Zeitenthobenheit von Kunstwerken also überlebt die ansonsten avantgardistisch-radikale Abkehr von tradierten Kunstbegriffen; und es wird noch einige Dekaden dauern, bis auch instabile, organische Materialien der entscheidende Grundstoff für Kunstwerke werden… Dieter Roth gibt, beginnend in den 1960er Jahren, schnell schimmelnden Materialien den Vorzug als Grundstoff von Arbeiten wie Selbstturm (1969ff.). Im Katalog zur Retrospektive Roth-Zeit (Basel, Köln und New York 2003-2004) heißt es dazu: Der etwa acht Meter hohe «Selbstturm» durchstösst die Zimmerdecke 20. Jahrhundert. Moderne, Postmoderne, Zweite Moderne, München 1999 [1994], insbes. S. 40ff.

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und setzt sich im ersten Obergeschoss fort. Der Turm besteht aus in Schokolade gegossenen Büsten der «Selbstportraits als alter Mann», die etagenweise auf Glasböden übereinander gestapelt sind. Diese Büsten stehen alle in eine Richtung schauend, in beinahe militärisch geschlossener Anordnung. Die dichte Aufstellung hat auch statische Gründe. Das enorme Gewicht führt dennoch dazu, dass die einzelnen Abteilungen allmählich in sich zusammen- und dabei seitlich herausgedrückt werden. Auch die unzähligen Insekten, deren Larven sich durch die Schokoladenköpfe nagen, haben ihren Anteil an der permanenten Veränderung.7

Dass diese Art Veränderung von Roth zweifellos selbst angelegt und zeitlebens aktiv begleitet worden ist, unterstreicht Theodora Vischer, wenn sie in der Einleitung zum just zitierten Katalog summiert, dass sich mit jenen, durch den Künstler verfallsoffen ausgebreiteten Dingen aus dem Alltag eines einzelnen Lebens werkkonstitutiv ein „Diskurs über die Prozesse von Wandlung und Vergänglichkeit alles Bestehenden“8 entfalte. Roth gehört mit seinen, durch organisch-fragiles Material ausgezeichneten Werken zu den Pionieren einer nur noch sehr begrenzt (oder unter Zuhilfenahme ganz neuer konservatorischer Mühen) lagerfähigen Kunst. Neben Italienern aus dem Umfeld der Arte Povera sind es von deutscher Seite besonders noch Joseph Beuys und andere, der neo-dadaistischen Fluxusbewegung nahestehende Künstler wie Wolf Vostell, die bisweilen rasch verfallende Kunstwerke schaffen (legendär Vostells Verschickung von Salatköpfen mit der Bundesbahn im Jahr 1971, die ihm ein juristisches Nachspiel über die Versendbarkeit vergammelnder 7  Dobke, Dirk/Walter, Bernadette: Chronologie und Werkkommentare, in: Vischer, Theodora/Walter, Bernadette (Hg.): Roth-Zeit. Eine Dieter Roth Retrospektive. Basel/Baden 2003, S. 18-267, hier S. 258. 8  ebd. , S. 11-15, hier S. 15.

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Waren mit dem damals noch staatlichen

ausgesucht ephemer müssen diese aber

Unternehmen einbrachte). Über eine

nicht sein).

erstmals derart pointierte Thematisie-

Altes Hausgerät, getragene Kleidung,

rung einer eigenen Materialzeit in der

Fallschirmgarn – auf derartige Fund-

Objekt- und Installationskunst hinaus,

stücke unterschiedlichen Zuschnitts,

sticht an Roths Gestaltungen auf eph-

die zum Beispiel an einem Dorfrand, in

emerer Basis der permanente Konnex

verlassenen Behausungen oder auch auf

mit dem Vergehen individueller Lebens-

der Straße gefunden werden können,

zeit heraus. Roth stellt diesen, wie zuvor

richten paradigmatische Spurensiche-

veranschaulicht, beispielsweise darüber

rer wie Nikolaus Lang von Beginn der

her, dass er Kleintorsi aus Schokolade

künstlerischen Tendenz an ihre Blicke.

nach seinen eigenen (karikaturhaft ge-

Für die Kunst der Spurensicherung ty-

fassten) Zügen fertigt.

pische Objekte verweisen dabei, und

Eine andere Form, Materialvergäng-

noch verstärkt, indem sie in das deikti-

lichkeit und das Vergehen individueller

sche Ordnungsgefüge einer Installation

Lebenszeit zu parallelisieren, finden

aus Sammelgut überführt worden sind,

verstärkt seit den 1960er Jahren, vor

von einem gegenständlichen Außen her

allem aber in der 1970ern Künstler, die

auf anthropogene Vergangenheit. Das

man hierzulande, ausgehend von einer

dingliche Von-außen-her schafft einen

Ausstellung im Hamburger Kunstver-

Unterschied zu jener inneren Spurträger-

ein, Spurensicherer zu nennen pflegt. Bis-

schaft eines Bildes im Rahmen der oben

weilen spielt in Werken der Spurensi-

angesprochenen

cherung fast so prominent wie bei Roth

ration bei Augustinus. Gleichwohl be-

die begrenzte Haltbarkeit eine Rolle,

darf es unbenommen dieses Lokalisie-

und weiterhin eröffnen darin einige

rungsunterschieds eines Bewusstseins,

Selbstbildnisse Möglichkeiten (auto-)

das interpretativ auf das retrograde

repräsentativer Bezugnahme.9 In der

Indikationspotential eines Spurensem-

Gesamttendenz jedoch werden bildne-

bles anspricht.10 Doch erst die Hervor-

rische Repräsentationen in der Spuren-

hebung einer Eigenkörperlichkeit der

sicherungskunst durch Vorgefügtes sub-

Spur macht augenfällig, wie eigentüm-

stituiert. Konkret legt diese Kunst einen

lich nah außen und innen, Präsenz und

konstitutiven Akzent darauf, dass Ge-

Transzendenz in deren zutiefst zeitlich

genstände als solche ausgestellt werden,

geprägtem Phänomenkreis beieinander

die solcherart Benutzungs- und Verwen-

liegen. Mit Fokus auf eine gleichsam ne-

dungsspuren aufweisen, welche nicht al-

gative Seite typischer Spurphysiologien,

lesamt schon im Rahmen eines Herstellungsprozesses vorgegeben worden sind (es handelt sich so gewissermaßen um Objekte mit Vulnerabilität – durchweg 9  Allerdings zeigen sich die Selbstrepräsentationen von Künstlern wie Christian Boltanski, die seit der o.g. Ausstellung 1974 der Spurensicherung zugerechnet worden sind, bevorzugt im Medium der Fotografie, das, wenn nicht aufgrund seiner technischen Anlagen, so vor dem Hintergrund seiner Gebrauchs- und Rezeptions-formen traditionell stärker als ein authentischer Zeugnislieferant anerkannt ist, als es die in Roths Schokoladenvarianten fortlebenden künstlerischen Techniken der Selbstabformung je zu erhoffen gehabt hätten.

Erinnerungskonfigu-

10  Von unserem alltäglichen Können des Spurenlesens ausgehend, hat Sybille Krämer u.a. Felder „kognitiver Bedeutsamkeit der Spur“ ausgemacht, in: Krämer, Sybille: Was also ist eine Spur? Und worin besteht ihre epistemologische Rolle? Eine Bestandsaufnahme, in: Krämer, Sybille/Kogge, Werner/Grube, Gernot (Hg.): Spur. Spurenlesen als Orientierungstechnik und Wissenskunst, Frankfurt am Main 2007, S. 11-33, hier S. 21ff. Spurkünstler selbst unterbreiten übrigens mit ihren Installationen nicht allein ein Wahrnehmungsangebot für ein Rezipientenbewusstein, sondern exerzieren in der eigenen, oft im Werk (z.B. vermittels beigefügter Feldforschungstagebücher/ vgl. unten) nach-hallenden Einlassung eine gegebene Gewahrwerdung von Spuren selbst integral vor.


CRITICA–ZPK I/ 2014

namentlich auf die Leerstellen, lässt sich

der Spurobjekte.

historische

dies Beieinander erläutern:

Im Fall der spurensichernden Kunst

lassender und suchender Subjekte im

Eine eigene Affinität zur Leerstelle un-

wiederum resultiert diese jedoch nicht

Ausstellungsjetzt wahrnehmbar wer-

terstreicht der erwähnte, vielleicht profi-

einzig aus dem Nicht-mehr-Dasein eines

den. Die Bezugszeit der Spurkunst ist

lierteste deutsche Spurkünstler Nikolaus

ersten Spurauslösers. Der Wert von typi-

also zunächst ein Rekonstruktionsges-

Lang, indem er nicht nur ein Werk unter

schen Ausstellungsinstallationen dieser

tern, eröffnet darüber aber Blicke auf

den Titel Terra Nullius stellt, sondern eine

Kunst, die regelmäßig im Anschluss an

Orte als überwucherte, deren vormalige

ganze Auswahl in Australien entstande-

Sicherungsinterventionen in einem Feld

anthropologische Qualität individuell

ner Arbeiten 1992 für eine Ausstellung

hervorgebracht werden , gründet nicht

zurückgewonnen, jedenfalls imaginativ

im Kunstverein Ruhr so überschreibt.

mehr ausschließlich auf der primären

aktualisiert werden kann. Die zeitliche

Die lateinische Bezeichnung terra nul-

Spurhaltigkeit

Reliktmaterialien

Perspektive entbirgt in der Spurensiche-

lius verwendeten europäischstämmige

und bezieht sich nicht länger allein auf

rung erst den zuvor übergangenen, nur

Australier um Land zu benennen, für

eine vergangene Ereignisschicht. Doku-

potentiellen Fundplatz als Ort der Wie-

das kein Besitzer festgestellt worden ist.

mente von Phasen der Hebung und des

deridentifizierung.

Dass solches Land aber in sehr vielen

Ordnens des historisch vorkonnotierten

Man könnte darüber auf die eingangs

Fällen von Seiten der indigenen Bevölke-

Materials, die Spurkünstler gezielt in

und in Anlehnung an Augustinus’ Zeit-

rung durchaus in angestammter Zuge-

ihre Installationen integrieren, und die

philosophie konturierte These zurück-

hörigkeit gesehen wird, ist dem Künstler

mitunter zudem am Fundobjekt kon-

kommen, dass Spurträger nur in der Ver-

bei seiner Titelwahl bewusst. Die koloni-

kret hinzugekommenen Spuren der He-

gegenwärtigung Teil seiender Zeit sind.

ale Begriffstönung macht über die hier

bungsunternehmungen, sie beide – Do-

Dass nun gerade das Bild in der Erinne-

räuberisch-funktionale

Ausblendung

kumente und Zusatzspuren – verankern

rung nach Augustinus funktional eine

von Vorgeschichte hinaus auf die per-

ebendiese Einwirkungsphase als unter-

Stabilisierungs- und physisch eine (re-

spektivische Verkürzung aufmerksam,

dessen selbst geschichtlich gewordene

lative) Verfestigungstendenz aufweist13,

die eine Wahrnehmung von Leerstellen

Nachfolgeformung palimpsestgleich in

während die außerbildliche Kunst der

kennzeichnen kann: Was von dem, das

den Werken.

Spurensicherung bewusst Instabilitäts-

wir in der ersten Betrachtung als sol-

Das Wann der Spurensicherungskunst

marker an Objekten ausstellt, bereichert

che wahrnehmen, wäre frei von dem

referenziert damit ein mehrfaches Ges-

die Epochen- und Genre-überspannen-

Verweis auf zuvor Anwesendes? Denn

tern, das über Exponate zum Nachvoll-

den Versuche zeitdiskursiver Bezugnah-

Leerstellen erscheinen als chronisch limi-

zug bereitsteht. Der quasi-dokumentari-

me um fruchtbare Paradoxien. Gleich-

nal, insoweit sie innerhalb eines Gefüges

sche Verweisungszusammenhang stellt

sam in nachmodern verfallsoffener

umgrenzt sind. Erst ein Angrenzen an

im Idealfall die spezifische Ort-Zeitlich-

Exposition von Erinnerungen und einer

gefüllten Umraum ermöglicht ihnen das

keit unter dem Eindruck der Spur so zur

Destabilisierung selbst möglicher Vani-

spurgleich-potentielle Verweisen auf

Schau, dass ein hybrides Arrangement12

tas-Symbole, vergegenwärtigen künst-

ein Abwesendes vor einem noch wahrnehmbaren Grund. Ihre Restgebundenheit in einem Rahmen bewirkt zugleich die Konstruktivität der Leerstelle, die so als ein an- und begrenzender Bereich erkennbar wird, der insbesondere Spurformen zu konstituieren vermag. Ohne Abplatzungen, Lücken, ganze Abbrüche erschienen Objekte mit Gebrauchsgeschichte wie unbenutzt. Einer Unvollständigkeit im Raum, für die die Leerstelle innerhalb des Spurensembles einsteht, korrespondiert, und das ist hier der entscheidende Punkt, zeitlich eine Aufspannung zwischen dem Rückverweis auf Abwesendes und dem Dasein

11

der

11  Insbesondere die Installationen Nikolaus Langs bestehen vielfach aus Ansammlungen heterogener Objekte, die der Künstler teils im Laufe mehrjähriger Geländearbeit zusammenträgt, um die Vorgeschichte eines bestimmten Ortes (bspw. verwaiste Grundbauernhöfe in Oberbayern) anschaulich zu machen und Restzeugnisse dieser Vorgeschichte dem Übersehenwerden und Verlorengehen zu entziehen. 12  Dieses ist als verweisende, später entwickelte Installation insgesamt Substitut für den Reliktort, in seinen aus dem Feld mitgebrachten Elementen aber auch Translokat. Von einem repräsentativen „pars pro toto“ hatte der (Haupt-)Kurator der oben angesprochenen, der Tendenz einen Namen gebenden Hamburger Ausstellung, Günter Metken, gesprochen, allerdings mit Blick auf die gesellschaftliche Relevanz und weniger die konkreteren Bezugsverhältnisse; siehe: Metken, Günter: Spurensicherung. Kunst als Anthropologie und Selbsterforschung, Köln

Raumformungen

hinter-

lerische Materialeinsätze der hier beschriebenen Art etwas Zusätzliches: Sie halten nicht allein die Spur von einem Vorgängigen im Gedächtnis wach, son1977, S. 15. 13  Das funktionale Anliegen Augustinus’, Vergangenheit in Gegenwart zu integrieren, ist eingangs angesprochen worden. Dass diese Gegenwartsintegration der Vergangenheit durch die Gedächtnisleistung bei Augustinus mithin als ein nachgerade physischer Verdopplungsakt – späteren engrammatischen Konzeptionen von Erinnerungsspuren verwandt – von großer Ausdehnung vorgestellt wird, arbeitet auch Paul Ricœur heraus (der ferner eine Kontrastierung göttlicher Überzeitlichkeit und irdischer Zeiterfahrung gegenüber einer Abschließungstendenz offen gehalten sieht), in: Ricœur, Paul: Wege der Anerkennung, Frankfurt am Main 2006 [2005], S. 154ff.

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dern strapazieren eines seiner Reservoire, indem sie Trägergrundlagen für Rekonstruktionen zur gleichen Zeit und unter unseren Augen Befragungen sowie zum Teil tatsächlich substanziellen Prüfungen aussetzen. Die so zugespitzte Darstellung von Zeitvergehen durch eine, in dieser Hinsicht melancholische, Kunst nach 1960 stellt Objekte bereit, die wie dystopische Zeitmessanlagen wirken: Unerbittlich wie Uhren geben sie einen Zeitablauf vor, während parallel just die Substanz, die das Zeigeobjekt selbst ausmacht, zusehends schwindet.

Literatur Giedion, Sigfried: Raum, Zeit, Architektur. Die Entstehung einer neuen Tradition, Basel/ Boston/Berlin 2000 [1941 bzw. 76]. Jurgeleit, Roland: Der Zeitbegriff und die Kohärenz des Zeitlichen bei Augustinus, in: Revue des Études Augustiniennes 34/1988, S. 209-229. Krämer, Sybille/Kogge, Werner/Grube, Gernot (Hg.): Spurenlesen als Orientierungstechnik und Wissenskunst, Frankfurt am Main 2007. Kubler, George: The Shape of Time: Remarks on the History of Things, New Haven 1970 [1962]. Metken, Günter: Spurensicherung. Kunst als Anthropologie und Selbsterforschung, Köln 1977. Ricœur, Paul: Wege der Anerkennung, Frankfurt am Main 2006 [2005]. Rübel, Dietmar: Die Fotogenese der Skulptur (molekulare Gemeinschaften), in: Ecker, Bogomir et al. (Hg.): lense-based sculpture. Die Veränderung der Skulptur durch die Fotografie (Katalog zur gleichnamigen Ausstellung), Köln 2014, S. 110-125. Vischer, Theodora/Walter, Bernadette (Hg.): Roth-Zeit. Eine Dieter Roth Retrospektive, Basel/Baden 2003.

1  Zwei ausgewählte Absätze dieses Aufsatzes basieren auf der noch unveröffentlichten Dissertation des Autors unter dem Titel Ich war gestern – Spurensichernde Kunst und Kulturtechniken nach 1960 (Berlin/Gießen 2014).


CRITICA–ZPK I/ 2014

Die Relativität des Zeitraums in der Kunst nach 1950 von Danièle Perrier

Erste Darstellungen des

nach rechts und jenes der alten Frau

Generationenwechsels auf und wird

Zeitraums: Die Entstehung eines

nach links. Der schnelle, entschlossene

dadurch zum Symbol der Evolution.

Begriffs

Gang hat etwas Unaufhaltsames und

Im Gegensatz zu Chronos, der sich

deutet auf eindrückliche Weise auf den

zyklisch selbst regeneriert indem er

Zeit

ist

heraus

aus

unserem

primär

als

Verständnis

Dauer

fassbar,

Fortschritt der Zeit ohne Wiederkehr,

Generation für Generation die eigenen

etwa als Lebensdauer, als histori-

was

wird,

Kinder verschlingt, projiziert Hommage

scher Zeitabschnitt oder Epoche, als

dass keines der Gesichter nach vorne

à New York in der Selbstauflösung seine

Geschichte der Menschheit und jene

schaut. Auffallend ist die Energie, die

Ableger in die Zukunft. Sie führen ein

des Kosmos. Als solche werden immer

die Figur ausstrahlt, das Motorische

eigenständiges Leben, sind aber auch

neue Dimensionen der Zeitmessung

ihrer Gehbewegung. Das Verstreichen

als Ausdehnung der Hommage und

erschlossen,

die

ins

dadurch

unterstrichen

Unermessliche

der Zeit wird somit als aktiver Vorgang

ihrer Erweiterung in die Zeit zu ver-

münden, so, dass der Zeitbegriff sich in

dargestellt. Dies verbindet die Skulptur

stehen. Der Begriff der Zeit bildet hier

ihnen wieder auflöst als eine Ewigkeit.

mit einem berühmten Werk des 20.

kein geschlossenes System, sondern er

Umgekehrt erlauben die modernen

Jahrhunderts, Hommage à New York 1 von

folgt dem Prinzip der Evolution. Neu

Messgeräte

präzisere

Jean Tinguely. Diese Maschine, die sich

bei Tinguely ist der Einsatz der reellen

Zeitmessung und eine Untergliederung

während der Eröffnungszeremonie der

Bewegung. In dieser Hinsicht steht er

in immer kleinere Zeiteinheiten. Wir

Weltausstellung in New York 1959 selbst

in der Tradition jener Werke, die seit

sind bereits bei Nanosekunden an-

zerstörte, erhob durch die Loslösung

der Erfindung der Chronophotographie

gelangt. Ob lang oder kurz die Dauer

von der Figuration die Darstellung der

durch Etienne-Jules Marey und jene des

wird als lineare Entwicklung begriffen,

Vergänglichkeit des Lebens auf eine

Stroboskops den Bewegungsablauf in

die sich aus der Vergangenheit in die

Meta-Ebene. Aus der Allegorie von da-

seiner zeitlichen Entwicklung begreifen.

Zukunft entwickelt, manchmal auch

mals wurde eine moderne Metapher

Diese neuen Techniken ermöglich-

als wiederkehrender Zyklus. Die alten

für den Zeitablauf. Das Memento

ten eine neue Form der Zeitmessung,

Griechen stellten die Zeit in Form von

Mori bezieht sich hier nicht auf das

jene der Zeitspanne. Die Zeitspanne

Chronos, der seine Kinder verschlingt

Leben, sondern auf die Endlichkeit

kann als jene Zeiteinheit definiert wer-

dar und legten somit den Akzent auf

des Kunstwerkes. Bei „Hommage à

den, die notwendig ist, um eine be-

Evolution und Revolution, d.h. auf den

New York“ kommt noch eine zusätz-

stimmte Distanz zurückzulegen oder

Zyklus von Leben und Tod als immer

liche Komponente hinzu: indem es

um einen Bewegungsablauf

wiederkehrender Prozess. Die Neuzeit

sich selbst zerstört, produziert es aus

zuführen. Zeit an Distanz gemessen

hingegen nahm die Lebensdauer des

den Überbleibseln neue Plastiken wie

setzt Bewegung voraus. Diese entwi-

Einzelnen als Maßstab und verstand

Klaxon . Der Vorgang greift die Idee des

ckelt sich von einem Punkt zum an-

eine

immer

die verstreichende Zeit als Prozess des Verfalls, was sich in Darstellungen der drei Zeitalter und in den Memento Mori widerspiegelt. In Andrea Riccios dreiköpfige Hekate aus dem 16. Jahrhundert ist das Gesicht des Kindes nach rückwärts gedreht, jenes der jungen Frau

2

1  Hommage to Jean Tinguely’s Hommage to New York , 1960 - Künstlerfilm von Robert Breer (1926 - 2011), 1960, erwähnt in: Christina Bischofberger: Jean Tinguely, Werkkatalog Skulpturen und Reliefs, Band 1, 1982, S. 111-113. 2  Jean Tinguely, Klaxon, 1960, Museum Tinguely, Basel, Abb. in: Christina Bischofberger: Jean Tinguely, Werkkatalog Skulpturen und Reliefs, Band 1-3, 1982, Nr. 1124.

durch-

deren, linear oder auch nicht. Die Chronophotographien

von

Etienne-

Jules Marey und Eadweard Muybridge stellen beide den Bewegungsablauf dar und implizit die zu ihrer Ausführung notwendige Zeit. Diese Zeitmessung hebt sich von der ersten dadurch ab,

53


CRITICA–ZPK I/ 2014

dass die Dauer nicht mehr mittels der

Auf einer weißen Halbkugel, die wie

Zeit, über deren Auswirkung auf Leben

Allegorie dargestellt, sondern an einem

ein Auge aus einer schwarzen Scheibe

und Tod, auf ihre Malerei, auf die Frage

reellen

gemessen

hervorquillt, ist eine schwarze Spirale

nach der eigenen Präsenz im Werk, der

wird. Die Dauer wird durch einen de-

gezeichnet. Die Halbkugel steht auf ei-

Verkörperung des Ichs im Bild. Damit ist

finierten Anfang und ein ebenso defi-

nem Tripod und ist mit einem Motor

bereits gesagt, dass jeder von ihnen eine

niertes Ende bestimmt. Hinzu kommt

ausgestattet, der sie zum Drehen bringt.

eigene Zeitmessung entwickelt, eigene,

die Relativität der Zeiterfassung. Zeit

Durch die Geschwindigkeit der rotieren-

subjektive Kriterien aufstellt.

als Distanz gemessen, besitzt keinen

den Scheibe nimmt das abstrakte Muster

festen Nenner: die in einer Minute zu-

Form an, eine Form, die Tiefe erzeugt

OPALKA: die gedehnte Zeit

rückgelegte Distanz hängt davon ab,

und damit einen fiktiven optischen

An einem Tag im Jahr 1965 entschied

mit welchen Mitteln man sie zurück-

Raum. Was Duchamp damit intendier-

Opalka, sein Werk auf

legt, ob zu Fuß, mit einem Wagen, dem

te, geht aus dem Sammelbegriff hervor,

ges

Zug, dem Flugzeug oder einer Rakete.

unter dem er diese Werkgruppe zusam-

Zahlenprogression beginnend mit Eins,

Es steht fest, dass mit den aktuellen

menfasste, nämlich Précision optique, was

die er Tag für Tag, sein Leben lang, bis

Fortbewegungsmitteln immer größere

sinngemäß mit „durch die Optik auf den

Unendlich fortführen würde. Seither

Distanzen in kürzeren Zeitspannen zu-

Punkt gebracht“ übersetzt werden kann.

malt er mit dem kleinsten verfügbaren

rückgelegt werden können, was unsere

Duchamp benutzt hier die Bewegung

Pinsel und Titanweißer Ölfarbe Zahlen

Wahrnehmung der Zeit maßgebend be-

ausschließlich um einen „Raum“ zu pro-

auf einer schwarzen, dann grauen und

einflusst.

duzieren, der optisch nur solange wahr-

schließlich

An der Erkenntnis, dass Zeit sich nach

nehmbar ist, wie die Bewegung anhält.

Bilder sind gleichen Formates. Nur die

verschiedenen Kriterien messen lässt,

Nicht die Darstellung des Zeitablaufs ei-

Reisekarten bilden eine Ausnahme im

war auch jene der Subjektivität ihrer

ner bestimmten Bewegung steht hier im

Format und sind auf Papier gemalt. Sie

Wahrnehmung gekoppelt. Der Film ver-

Vordergrund, sondern der Begriff der

zeugen von der Bedeutung für Opalka,

stand es schon früh, die Subjektivität

Zeit an sich als reiner „Zeitraum“, der von

unabhängig vom Ort, wo er sich befindet,

der Zeitempfindung zugunsten der

jeglicher Vorstellung einer Handlung

die Zahlenprogression Tag um Tag fort-

Auslegung einer Situation zu nutzen.

losgelöst, im wahrsten Sinn des Wortes

zusetzen. Damit legt er den Akzent auf

Die Zeit wird gedehnt oder gerafft.

objektiviert ist. Der Zeitraum verquickt

die Kontinuität des Tuns als Ausdruck,

In Douglas Gordons 24 Hours Psycho

sich mit der effektiven Laufzeit des

dass Zeit, unabhängig von den persönli-

zum Beispiel, der Interpretation von

Motors des Objektes und hört auf zu

chen Ereignissen, vergeht.

Hitchcocks Film, wird die Handlung

existieren beim Abstellen des Motors.

Nur das erste Bild trägt das Jahr seiner

wie in Zeitlupe gedehnt, sodass der

Die Objektivierung des Zeitraumes und

Entstehung 1965 / 1∞. Die anderen wer-

Eindruck

Bewegungsablauf

Thema

zu

ein einzi-

beschränken:

weißen

Leinwand.

einer

Alle

entsteht.

seine Loslösung aus dem Kontext der

den durch die erste und letzte Zahl der

Dehnung und Raffung werden einge-

Narration war ohne Zweifel ein not-

Progression bezeichnet, sind aber unda-

setzt, um Beklemmung, Erwartung,

wendiger Schritt, um ihn neu zu defi-

tiert – ein Hinweis dafür, dass es Opalka

Langeweile oder Dynamik, Plötzlichkeit

nieren, zum Beispiel als Raum aus Zeit:

nicht darauf ankommt, in welchem

auszudrücken. Die Zeit erhält eine ei-

Die Zeit ist nun die einzige Materie

Zeitraum sie gemalt wurden, noch wann

gene Dimension. Sie nimmt Volumen

aus welcher der Zeitraum gestaltet ist.

sie entstanden. In seinen Augen sind

an, entwickelt sich in einem Zeitraum.

Wenn also die Raumgestaltung in direk-

alle gleichwertig. Um die Kontinuität

Der Zeitraum ist formbar geworden;

ter Abhängigkeit von der Zeitmessung

zwischen den einzelnen Bildern zu un-

er behält insofern einen narrativen

steht, wie lässt sich Zeit messen?

termauern, hört Opalka nie mit dem

Charakter, als er dazu dient Emotionen

Drei Künstler haben ihr Gesamtwerk

Ende eines Bildes auf zu malen, son-

auszudrücken.

der

bestimmten

dern malt mindestens eine Zahl auf das

Die Objektivierung des Zeitraums wurde

Zeitraumes gewidmet: Roman Opalka,

nächste Bild – außer, wenn eine Reise

nicht im Film, sondern, wie es das Wort

On Kawara und Tatsuo Miyajima. Alle

ansteht, damit er die Progression auf die

Objektivierung suggeriert, tatsächlich in

drei drücken die Zeit anhand von Zahlen

Reisekarte fortsetzen kann. Alles deutet

einem Objekt realisiert: der Demi-Sphère

aus. Sie begreifen ihr gesamtes Werk

darauf hin, dass Opalka nicht zahlreiche

rotative von Marcel Duchamp, um 19203.

als Reflexion über die sie bedingende

Werke malt, sondern an einem einzigen

3  Marcel Duchamp, Demi-Sphère rotative, Paris, 1925, Coll. Raché, Abb. in: Marcel Duchamp, The Box in a Valise de ou par Marcel

Duchamp ou Rrose Sélavy, Inventory of an Edition by Ecke Bonk, Rizzoli New York, 1989, S. 114-115.

Zeitfresko arbeitet, vom Tag an, an wel-

54

des

Stillstandes

Darstellung

eines

chem die Idee geboren wurde bis zu sei-


CRITICA–ZPK I/ 2014

nem letzten Atem, am 6. August 2011.

gelmäßig hin plätschernden Wogen oder

kumentiert zwar einen bestimmten

In einem Interview mit G. Nabakowski

von ziehenden Wolken. Auch der un-

Lebensabschnitt des Künstlers, dennoch

1973 sagte er: „Die Bilder sind Details,

terschiedliche Zeilenabstand, der durch

erfahren wir nichts Konkretes, umso

die einen Anfang und ein absehbares

den persönlichen Schriftduktus be-

weniger als jedes Detail über mehrere

Ende haben. Die Zeit wird in ihnen fest-

dingt ist, unterstreicht diesen Eindruck.

Tage, bzw. Wochen entsteht und von ent-

gehalten. Damit sind sie angefüllt“ . Die

Opalka will nichts Privates über sich mit-

sprechend vielen Selbstportraits beglei-

Tatsache, dass er von den Einzelbildern

teilen, weder seine Träume noch seine

tet wird. Bei jeder Aufnahme schreibt

als Details spricht, zeigt, dass es in seinen

Lebenseinstellung; aber im kontinuierli-

Opalka die letzte Zahl auf, die er vor dem

Augen nur ein malerisches Gesamtwerk

chen Malen von Zahlenprogressionen –

Fotografieren gemalt hat. Diese Zahl

gibt. Nur ein Bild wird anders ausfallen

einer Tätigkeit die größte Konzentration

wird zum Inventar der Fotografien.

als alle anderen: das Letzte, zwangswei-

erfordert und eine mönchische Disziplin

Das Werk von Opalka steht zweifelsoh-

se ein Fragment. Denn das Ende ist si-

– drückt sich die Wahrnehmung der

ne in engem Bezug mit seinem Leben:

cher, nur wann und wie ist ungewiss. Das

äußeren Umstände aus, die sich in

Neben der Handschrift, die das Aussehen

Zeichen ∞ steht für die Ungewissheit der

Stimmungen niederschlagen.

der Bilder maßgeblich prägt und den

Lebensdauer und für die davon abhängi-

Es sind Bilder der Ruhe mit einem

begleitenden

ge Größenordnung der letzten Zahl, da-

wiederkehrenden

Der

Opalka seit 1978 auch Tonaufnahmen der

mit auch der Anzahl der Details. Somit

Rhythmus spielt in den frühen Details

laut in seiner Muttersprache Polnisch

ist der Zeitraum der Malerei von Opalka

eine größere Rolle als in den späten

aufgesagten, gemalten Zahlen. Die ge-

ein beschränkter, mit einem bestimm-

Bildern, denn 1973, als Opalka die Zahl

sprochene Zahl bedingt den Rhythmus

ten Anfang und ein inzwischen auch

von einer Million erreichte, beschloss er

der Malerei, die Tonaufnahmen bilden

bekanntes Ende. In den meisten Fällen

den Hintergrund der Bilder graduell auf-

eine akustische Entsprechung zu den

sieht der Betrachter ein einzelnes Detail,

zuhellen. Als Folge davon verschmilzt

Nuancen im Farbauftrag der Zahlen

gegebenenfalls ein paar, die nicht unbe-

die

zunehmend

und im Spätwerk, wenn die weißen

dingt zeitlich direkt aufeinander folgen.

mit dem Hintergrund, sodass das Auge

Zahlen auf weißem Grund kaum noch

Betrachtet man ein solches Detail, in

in den späten Details die Nuancen der

wahrnehmbar sind, untermauern sie

diesem Fall das erste 1965 / 1∞, Detail

Handschrift kaum noch wahrnehmen

die Verständlichkeit der Progression.

1- 353275, so gibt dieses zunächst nur

kann – als ob mit zunehmendem Alter,

Wenngleich Opalka in seinem Werk

eine Progression aneinander gereih-

die persönlichen Züge an Bedeutung

präsent ist, entzieht er sich diesem als

ter Zahlen zu sehen. Die Zahlen sind

verlieren, sich die Individualität im

Person und verschwindet hinter allge-

eng aneinander gefügt; sie bilden ein

Universellen auflöst, ein Teil des Ganzen

meinen Betrachtungen. Die einzige Art,

dichtes Maschenwerk, das die gesam-

wird.

wie er im einzelnen Detail erscheint, ist

te Leinwand überzieht. Erst nach ein

Opalka

zur

durch die gemalte Zahlenprogression.

paar Ziffern, wenn fast keine Farbe

Entstehungszeit her. Diese wird durch

Oberflächlich betrachtet könnte sie als

mehr haften bleibt, tunkt Opalka den

die Selbstportraits

festgehalten, die

Symbol seines Lebens angesehen wer-

Pinsel wieder in den Farbtopf, sodass

er täglich am Ende seiner Maltätigkeit

den. Dagegen spricht allerdings, dass

der Zahlenfluss an - und abschwillt. Die

von sich selbst macht. Sein Alter, ge-

Opalka nur zählt, wenn er malt. Die

Farbnuancen zwischen den Ziffern, die

meinsam mit dem Helligkeitsgrad des

Progression beschreibt also sein aktives

mit frischer Farbe gemalt sind und den

Details sind die einzigen Anhaltspunkte

Dasein und von diesem auch nur sein

anderen, erwecken den Eindruck von re-

für die Ermittlung der Entstehungszeit.

künstlerisches Tun. Sie dokumentiert

Das Leben des Künstlers selbst gilt als

die Zeit des Arbeitsprozesses. Dem ist

Maßeinheit, oder besser gesagt, sein

hinzuzufügen, dass Opalka alle Pinsel,

Alterungsprozess.

die er verwendet, nummeriert und archi-

4

4  Nabakowski, Gislind: Interview mit Roman Opalka, in: Heute KUNST, internationale Kunstzeitschrift, N° 4-5, Dezember 1973 – Februar, 1974, Mailand-Düsseldorf, S. 7. 5  Roman Opalka, 1965 / 1- ∞ , Détail 1- 35327, Acryl auf Leinwand, 196 x 135 cm, Museum Sztuki w. Lodzi, Lodz, Abb. in: Edition Opalka 1965 / 1 - ∞ Spur der Zeit, in den Museen: Neues Museum Weserburg Bremen, Musée d’Art Moderne de la Ville de Paris, Städtische Galerie im Lenbachhaus, München, Museum des 20. Jahrhunderts, Wien, 1992-1993, Hrsg. Neues Museum Weserburg, Thomas Deecke, 1992.

Rhythmus.

Zahlenprogression

stellt

keinen 6

Jedes

Bezug

Detail

do-

6  Roman Opalka, Détail 1196638, Photographie, 30,5 x 24 cm, Roman Opalka, Bazerac. Abb. in: Edition Opalka 1965/1- ∞ Spur der Zeit, in den Museen: Neues Museum Weserburg Bremen, Musée d’Art Moderne de la Ville de Paris, Städtische Galerie im Lenbachhaus, München, Museum des 20. Jahrhunderts, Wien, 1992-1993, Hrsg. Neues Museum Weserburg, Thomas Deecke, 1992.

Selbstportraits,

macht

viert. Das Werkzeug der Malerei potenziert die Wahrnehmung des Wachstums des Werkes. So gesehen ist Opalkas Werk selbstreferentiell und spricht vom Akt des Malens. Während die Lebensdauer als Messlatte für das Volumen des Gesamtoeuvres

55


CRITICA–ZPK I/ 2014

genommen wird, erfahren wir durch

verdichtender

Zeitraum

dar,

des-

Concept Künstler On Kawara mit sei-

die Zahlenprogression den Zeitraum

sen

der Malerei. Denn Opalka zählt nicht

unendlich

sein

nem Buch-Diptychon One Million Years

könnte, jedoch durch den Tod des

(Past) und One Million Years (Future).8

die Zeit, er sagt Zahlen auf. Zählen ist

Künstlers

Auf

Beide Serien bestehen aus 10 Volumen,

ein Prozess der Bewusstwerdung des

seiner Homepage steht als Leitsatz

in denen Buchseiten gefüllt sind mit

irrreversiblen

Ausdehnung

unterbrochen

wird.

Die

„le fini défini par le non fini“ (das

auf

Progression macht die Zeit sichtbar und

Abgeschlossene durch das Unvollendete

Jahreszahlen. „Past“ beginnt im ersten

ist Ausdruck der steten Dynamik.

definiert).

Volumen mit 998.031 BC und deckt eine

Opalka verdeutlicht dies wie folgt: Als

und

entwickeln

Periode von 100.000 Jahren, sodass die

er anfing Zahlen zu malen, waren die

sich beide linear, allerdings im um-

letzte Zahl des 10. Bandes mit 1969 AD

ersten wiederkehrenden Zahlen 22, 333,

gekehrten Verhältnis: Während die

aufhört, einem Jahr bevor On Kawara

4444 im ersten Teil des ersten Bildes,

Zahlenprogression

nimmt

mit diesem zwischen 1970-71 entstanden

55555 am Ende des zweiten Bildes. Der

die Farbintensität ab sowie das Werk

Werk begann. Jede Seite umfasst einen

Wechsel erfolgte schnell. Bis zur Zahl

wächst, das Leben des Malers hinge-

Zeitraum von 500 Jahren, beginnend

666666 malte Opalka sieben weitere

gen schwindet. Die Lebensdauer ist der

mit dem ersten Jahr eines Jahrhunderts.

Jahre und erst im achten Jahr überschritt

Zeitraum der Malerei, das Werk bleibt

Dementsprechend sind auf der ersten

er die Million. Dies war ein so wichtiger

auch als Gesamtwerk ein Fragment

Seite nur 31 Jahre aufgezeichnet und auf

Schritt, dass Opalka dieses Datum fest-

des potentiell Erreichbaren. Und ge-

der letzten fehlen wieder 31 Jahre. Die

hielt, indem er am 7. September 1973 ein

nau in diesem Bewusstsein, einerseits

10 Volumen sind anders als bei Opalka

Telegramm an den Galeristen Franco

der Dimension des Menschsein und ih-

mit

Paludetti sandte mit der Feststellung: „I

rer Begrenztheit in einer kosmischen

was ihnen den Charakter von nüchter-

crossed the million“. Damals rechnete

Zeitrechnung und ihrer Darstellung ist

nen Archivbüchern verleiht. Sie sind

er aus, dass er noch ca. 30 Jahre malen

die von ihm erwähnte „selbstangetane

„To all those who have lived and died“.

müsste um die Zahl 7777777 zu errei-

Stigmatisierung“ zu verstehen.

Die Menschheitsgeschichte wird hier

Zeitverstreichens.

die

Die

Zahlenprogression

Farbintensität

wächst,

Schreibmaschine

geschriebenen

Schreibmaschine

geschrieben,

summa summarum dargestellt, ohne

chen. Mit anderen Worten, je größer die Progressionen, desto schwerer wird es,

ON KAWARA: Zeitarchive – die

Anspruch auf eine genaue geschichtli-

sie zu erreichen. Die Zahl 88888888 ist

Relativität der Zeiterfassung

che Referenz, außer jener, dass es den

unermesslich und befindet sich außer-

Neben dem expandierenden Zeitbegriff,

Zeitrahmen von einer Million Jahren vor

halb eines menschlichen Lebens7. Als

wie ihn Opalka vertritt, wird Zeit,

der Entstehung des Werkes umfasst. Im

Opalka im Alter von 80 Jahren starb,

als Resultat der Beobachtung un-

Prinzip ließe sich der Zeitausschnitt aus-

schrieb er als letzte Zahl 5607249.

seres Sonnensystems, auch als zy-

dehnen, worauf die unfertige erste Seite

klische

Opalkas

Zeitverständnis

ist

linear

Sekunden,

hindeutet. Im 2. Teil des Diptychons, das

wie das Leben. Kennzeichnend ist die

Minuten, Stunden, Tagen, Monaten,

bis zum Jahr 1980 fertig gestellt wurde,

Tatsache, dass er davon spricht, die

angesehen, die allerdings wieder in eine

beginnt die Zeitrechnung mit 1981 AD

Bilder mit Zeit zu füllen. Je mehr Zeit

Progression münden, wenn es um Jahre

und reicht entsprechend bis 1.001.980

Opalka in seine Details investiert, des-

geht. Der Beginn einer derart erfass-

AD. Sie ist „for the last one“ geschrieben,

to mehr setzt er Energien frei. Das

ten Zeitspanne wird an historischen

also für den Letzten. Die Jahreszahlen

Besondere daran ist, dass jedes Detail

Gegebenheiten gemessen, etwa Christi

bilden auch hier eine Progression, die

eine dichtere Zahlenfolge als das vo-

Geburt, oder jene Mohammeds; sie kann

allerdings

rangehende, das es ergänzt, erreicht.

auch an Ereignissen wie Kriegen oder

te Richtungen expandiert, ausgehend

In seiner Auffassung der Zeit ist jedes

Herrschern festgemacht werden. Und

von einem bestimmten Zeitpunkt. Im

Detail ein Teilaspekt des Ganzen und in

wie oft hört man den Begriff „als ich

Gegensatz zu den Progressionen von

der Vergegenwärtigung des einzelnen

noch Kind war“ oder einfach „früher“.

Opalka, die sich, wie wir gesehen haben

Moments wird der Zeitfluss bewusst

Diese Form der Zeitrechnung richtet

als Anreicherung von Energien und als

wahrgenommen, der Einzelne als Teil

sich auf ein bestimmtes Ereignis und

Raum der schöpferischen Aktivität de-

des Ganzen präsent.

rechnet von diesem nach vorn oder auch

finiert, ist diese Arbeit von On Kawara

Das Gesamtwerk stellt einen sich

zurück. Ausschlaggebend ist das Datum

den

oder auch ihre Folge, der Kalender.

8  http://www.fact.co.uk/newsarticles/2012/03/slow-art.aspx (Aufgerufen am 25.05.2014).

7  Frei zitiert nach dem Interview von G. Nabakoswki, op. cit. S. 8.

56

Einem

Wiederkehr von

solchen

Prinzip

folgt

der

in

zwei

vergangenen

entgegengesetz-

und

zukünftigen


CRITICA–ZPK I/ 2014

Generationen gewidmet. Die Zeit defi-

unser

Fassungsvermögen

auf den kulturellen Sprachraum, in

niert sich hier außerhalb der Präsenz,

sprengt, beschreibt es, im Gegensatz zu

dem sich On Kawara befindet, ohne je-

als unendlich große Zeiträume, in de-

Opalkas Progression, einen von vorn he-

doch eine örtliche Bestimmung zuzu-

nen sich das menschliche Leben unsäg-

rein begrenzten und bedingt bestimmten

lassen. Genauere Auskunft darüber ge-

lich klein einschreibt. Es fällt auf, dass

Zeitraum: begrenzt, weil die Widmung

ben die Zeitungsausschnitte, die jedes

ausgerechnet der Zeitabschnitt von

„for the Last one” die Endlichkeit der

Date Painting begleiten. Diese sind den

1970-80, in dem die Bücher entstan-

Menschheit voraussetzt; bedingt be-

Tageszeitungen des jeweiligen Landes

den, in der Zeitrechnung ausgespart ist.

stimmt, weil der Zeitausschnitt willkür-

entnommen und werden in der spezi-

Die Schaffenszeit wird nur durch ein

lich ist und in beiden Richtungen erwei-

ell zur Verpackung der jeweiligen Date

Vorher und ein Nachher abgegrenzt.

tert werden kann. Darauf weisen die un-

Paintings angefertigten Schachtel auf-

Die Präsenz existiert nicht oder bes-

fertigen Seiten hin. In der Tat lässt sich

bewahrt, als Zeitdokument. Man ver-

ser gesagt, sie lässt sich nur als „in bet-

die Entstehung des Universums heute

mutet einen Zusammenhang zwischen

ween“ wahrnehmen, als ein flüchtiges

um Millionenjahre weiter zurückverfol-

den Themen der Zeitungsausschnitte

Etwas, zwischen dem Gewesenen und

gen als noch vor 50 Jahren und auch die

und der Wahl von Farbe und Format;

dem zu Erwartenden, das im Moment

Zukunftsvision rückt immer weiter in

doch On Kawara verweigert den kausa-

des Bewusstseins seiner Existenz schon

die Ferne.

len Bezug, genauso wie Opalka das ge-

der Vergangenheit angehört. Dies wird

Ein wesentlicher Teil des Oeuvres von

naue Entstehungsdatum seiner Details.

auch durch das Verstreichen der reel-

On Kawara hat einen konkreten Bezug

Die

len Zeit verdeutlicht: konnte man 1980,

zum Jetzt: Die Werkgruppe Today, die

werden nicht unbedingt mit den Date

als die 10 Volumen von One Million Years

sich in seinem Oeuvre zwischen den bei-

Paintings gezeigt. Sie sind stille Zeugen

(Future) erstmals ausgestellt wurden,

den Teilen von One Million Years (Past) und

ihres Entstehungsortes und erzählen

noch den gesamten Inhalt als Projektion

(Future) als Ausdruck der Präsenz ein-

über Ereignisse, die der Presse wert

in die Zukunft betrachten, so gehö-

fügt. Zu diesem, der Präsenz gewidme-

schien, aufgezeichnet zu werden und

ren heute (2014) bereits 32 Jahre von

tem Werkkomplex, gehören verschiede-

an einem bestimmten Tag in einer be-

„Future“ der Vergangenheit an. Die

ne Werkgruppen: die Date Paintings, die

stimmten Gegend relevant waren. Es

Arbeit spricht also über die Relativität

Listen I met, die Postkarten I got up at …

scheint, dass sie im Verhältnis zum

unserer Wahrnehmung von Zeit in

und noch die Telegramme I am still alive.

Datum eine genauso untergeordnete

Bezug zur Geschichte. Bei genauer

Die Date Paintings sind Ölbilder, auf de-

Rolle spielen, wie jene Menschen, de-

Betrachtung zeigt sich, dass auch der be-

nen ein bestimmtes Datum zu lesen ist,

nen One Million Years gewidmet ist. Die

schriebene Zeitraum der Vergangenheit

also gemalte Zeit. Das erste entstand am

Zeitungsartikel, die On Kawara seit dem

keinen konkreten Bezug zur tatsäch-

4. Januar 1966, nur kurz nachdem Opalka

2. Oktober 1966 sammelt, werden nicht

lichen Menschengeschichte herstellt;

mit der Ausarbeitung seines Zeitfreskos

nur den Date Paintings beigelegt, sondern

er bemisst nur einen potentiellen

begann. Im Gegensatz zu Opalka sind

in Büchern archiviert und unter dem

Zeitraum, dem ein ebenso langer in die

die Date Paintings immer in typographi-

Begriff I read gebunden. Jeder Artikel

Zukunft entspricht. Diese Spiegelung

scher Schrift gemalt, wodurch sie eine

ist gestempelt und mit der Nummer des

von Vergangenheit und Zukunft rela-

möglichst objektive Berichterstattung

zugehörigen Date Paintings versehen. Als

tiviert unser Bewusstsein für die Zeit.

anstreben. Die Daten sind mit wenigen

Ansammlung von Gelesenem zeugen

Die beiden Archivbücher gleichen den

Ausnahmen weiß, meistens auf einem

sie durch die Auswahl der Ausschnitte

Gedenktafeln für unbekannte Soldaten,

dunkelgrauen Hintergrund mit grün,

von den persönlichen Interessen des

was übrigens auch durch die graue Farbe

rot, oder blau unterlegt. Gelegentlich

Künstlers. Durch die Selektion gibt On

der Vorblätter, die an den Granit der

gibt es rote oder blaue Bilder, manchmal

Kawara dem gelebten Tag eine persön-

Grabstelen erinnert, unterstützt wird.

auch weiße. On Kawara verwendet acht

liche Auslegung. In gewisser Weise malt

Der Zeitraum, der hier eine fiktive

unterschiedliche Querformate, von 20,5

er sich jeden Tag ein Bild der Welt, der

Zeitspanne

x 25,5 cm bis 155,5 x 226,5 cm.

seinen Ausdruck in einem noch so neu-

darstellt, enthält als einzige sichere

Für seine Date Paintings benutzt On

tralen Date Painting findet. Hinter dem

Aussage jene ihrer Endlichkeit. Auch

Kawara immer das Datumskürzel, wie

nüchternen Datum verbirgt sich eine

wenn der berücksichtigte Zeitrahmen,

es für die Landessprache des Landes, in-

subjektive Wahrnehmung der Realität

gemessen an der Lebenserwartung des

dem er sich aufhält, üblich ist. Auf die-

durch den Künstler. Sein Kalender ist

Einzelnen, fast unendlich erscheint und

se Weise gibt das Datum einen Hinweis

bis in die freie Wahl, ein Datum festzu-

der

Menschengeschichte

zeitliches

beigelegten

Zeitungsausschnitte

57


CRITICA–ZPK I/ 2014

halten oder es kommentarlos zu übergehen, ein persönlicher Kommentar der Präsenz der Zeit. Im Gegensatz zu Opalka malt On Kawara nicht täglich ein Date Painting. Es kann daher nicht von ununterbroche-

einem bestimmten Plan zu folgen. Man wird an Kalligraphie erinnert, nicht nur weil es sich um Schrift handelt, sondern wegen der frei gesetzten Akzente und dem meditativen Charakter, welchen die Herstellung eines solchen Schriftbildes voraussetzt. 9

Festhalten dieses Zeitpunktes entsteht ein persönlicher Kalender, der ganz anders als die Date Paintings, in direktem Bezug zur Person des Künstlers steht. Auch die Telegramme, mit dem Text I am still alive stellen einen Bezug zur Person des Künstlers her. Henning10 bemerkt

ner Kontinuität wie bei Opalka die Rede sein. Doch eine Regel hält er scheinbar

Die Date Paintings selbst werden in ei-

mit Recht, dass die Feststellung nur zum

ein: Wenn ein Date Painting nicht an dem

nem Journal verzeichnet, das in der

Zeitpunkt des Versands seine Gültigkeit

Tag fertig werden kann, an dem es be-

Landessprache in dem On Kawara das

hatte. Theoretisch könnte es passieren,

gonnen wurde, wird es vernichtet. Der

erste Bild des Jahres malt, verfasst ist.

dass das Telegramm seinen Adressaten

Zeitraum eines Bildes überschreitet

In einem vor Ort gekauften Kalender

erst nach dem Tod des Künstlers er-

jenen eines Tages nicht. Da allerdings

trägt On Kawara ein, wann er ein Date

reicht. Einmal mehr konfrontiert uns On

mehrere Bilder am selben Tag entstehen

Painting gemalt hat, wie groß es ist

Kawara mit der Relativität der zeitlich

können, kann ein Bild nicht automatisch

und welche Farbe es hat. Jedem Date

bedingten Wahrheit. Seine Feststellung

als Darstellung eines Tages angesehen

Painting entspricht ein Untertitel, dass

ist ebenso lakonisch wie jene von Opalka

werden. Das Datum gibt Aufschluss über

den Schlagzeilen aus den jeweiligen

„I crossed the million“ und dennoch

den Zeitpunkt seiner Entstehung, nicht

Zeitungsausschnitten entnommen ist.

trennen Welten die beiden Aussagen.

über die Dauer seiner Fertigung. Was

Alle Informationen dienen nur dem

Denn Opalka hält damit ein ganz be-

das Bild im Einzelnen verweigert, veran-

einen Zweck: der Vergegenwärtigung

stimmtes Ereignis fest, verleiht ihm

schaulicht eine Fotodokumentation des

gelebter Zeit. Die Date Paintings legen

durch die einmalige Meldung einen

Entstehungsprozesses, die von Henning

davon Zeugnis ab, sie sind ein Stück

feierlichen Charakter. On Kawaras I am

Weidemann dargestellt ist:

Erinnerung.

still alive könnte als Lebenszeichen ver-

Es scheint, dass das Bewusstmachen der

standen werden, das man Freunden und

Zeit auch On Kawaras eigenes Leben

Bekannten schickt, die man eine Zeit

prägt. In der Werkgruppe I met (Ich habe

lang nicht mehr gesehen hat. Die ständi-

getroffen), die aus Listen besteht, zählt

ge Wiederholung der Meldung verleiht

On Kawara seit dem 10. Mai 1968 alle

der Nachricht einen anderen, auf sich

Personen auf, die er an einem Tag in einer

selbst bezogenen Charakter. Man kann

bestimmten Ortschaft trifft. Sie verraten

hier die Feststellung von René Denizot

aber nichts über die Art der Beziehungen

zu den Date Paintings wörtlich überneh-

zwischen On Kawara und den Anderen,

men: „Es gibt kein Ende, keinen Anfang,

ob es sich um berufliche, freundschaft-

keinen Fortschritt, keinen Niedergang.

liche oder Zufallsbegegnungen handelt.

[. . .] Das Individuum misst sich in sei-

Über Jahre verschickte On Kawara täg-

ner Praxis an der Universalität von

lich eine Postkarte an einen Bekannten

Bedingungen.“11

oder an eine Postfachadresse mit der

Die letzte Werkgruppe I went (ich bin

stereotypen Meldung I got up at ... . Die

gegangen)

Tatsache, dass er entweder einen Freund

ab. Seit dem 1. Juni 1968 sammelt On

oder eine Postadresse als Adressaten

Kawara Kopien der Stadtpläne, in de-

wählt, zeigt, dass es nicht darum geht,

nen er die Strecken, die er am Tag zu-

ein Lebenszeichen von sich zu geben,

rückgelegt hat, markiert. Damit gibt er

auch nicht darum, ein Verzeichnis der

seinem Kalender feste geographische

Freunde zu erstellen. Das Aufstehen ist

Standorte. Wichtiger als der Standort ist

ein aktives in den Tag treten. Mit dem

vielleicht die Tatsache, dass im Gehen

6 Aug.1992, 12:10 [PM]: ein Tisch, darauf ein Karton, ein paar Pinseln und Farbe, ein Wischtuch, dann die weiße Leinwand bereits aufgezogen. Der Malprozess kann beginnen, wo auch immer. 01:05 die Grundierung in rotbraun ist beendet. Im nächsten Foto ist das Bild bereits schwarz ausgemalt und das Datum sorgfältig vorgezeichnet. Es ist 11:23 [AM]. Interessant ist die Prozedur. On Kawara beschränkt sich auf ein Minimum an Mitteln und setzt Akzente, eines nach dem anderen. Er malt zuerst die 1 und ein Teil der 2 von 1992, dann die erste 9 und ein Teil der zweiten, beendet dann die 2 und die 9 und beginnt mit einem Strich von A. Wenn schließlich das ganze Datum steht, fängt er an daran zu basteln, verdickt den einen Strich, dreht das Bild um, um die Beine genau abzuschließen und, da offensichtlich die Farbe krakeliert, bessert er sie aus bis zur Perfektion. Der Prozess endet laut der Uhr um 10:28 [PM]. Mit den Trocknungsphasen hat die Erstellung dieses Bildes fast einen vollen Tag in Anspruch genommen. Der Malprozess gleicht einem Ritual. On Kawara malt wirklich seine Daten, setzt da ein Akzent, dann dort, scheinbar ohne

58

rundet

das

Gesamtbild

das Verrinnen der Zeit ins Bewusstsein 9  Weidemann, Henning: Der Chronograph, in: On Kawara, Whole and Parts 1964-1995, proposed by On Kawara, Edited by Xavier Douroux & Franck Gauthier, Les Presses du Réel, 1996, Abb. S. 11-46, Text S. 501-509.

10  Weidemann, Henning, op. cit. , S.507. 11  Denizot, René: On Kawara. Schriften zur Sammlung des Museums für Moderne Kunst, Frankfurt am Main 1991, S. 15.


CRITICA–ZPK I/ 2014

Tatsuo Miyajima – Kollektive

Im Unterschied zu Opalka und On

Werkgruppen, die vermeintlich sei-

Zeitwahrnehmung: Ort und

Kawara, die mit ihren Zahlenbildern

ne Aktivitäten aufzeichnen, verharren

Ereignis im Zeitalter des Internets

zwar

dabei so sehr im Allgemeinen, dass al-

Opalka und On Kawara suggerieren bei-

System aufgreifen, damit aber Bilder

les, was einer privaten Mitteilung ent-

de eine objektive Zeitmessung. Genau

produzieren, die insofern einen elitären

sprechen würde, nicht erwähnt wird.

genommen sind sowohl der poetische

Anspruch an den Betrachter stellen, als

Es geht On Kawara ebenso wenig wie

Zeitbegriff von Opalka als auch On

er sich mit Malerei auseinandersetzen

Opalka darum, Privates mitzuteilen.

Kawaras fiktiver Kalender die Frucht

muss, verlässt Tatsuo Miyajima das Feld

Vielmehr dienen die Informationen

einer persönlichen, also subjektiven

der Malerei zugunsten der mit Dioden

zur Vergegenwärtigung der Zeit, des

Zeiterfassung. Mit anderen Worten:

generierten Zahlen. Es sind LEDs, die

Zeitverbrauchs, des Zeitvergehens. Der

Zeit messen und Zeit erfahren ist nicht

der digitalen Sprache entnommen sind

Zeitbegriff On Kawaras entwickelt sich

dasselbe. Wie eingangs erwähnt, er-

und von den meisten Weltbürgern gele-

zwar aus der faktischen Realität, entzieht

lauben die heutigen Messgeräte eine

sen werden können. Außerdem erfüllen

sich ihr zugleich, indem die Aussage auf

präzise Zeitmessung. Dennoch bleibt

sie einen weiteren Zweck. Sie führen die

das alleinige Datum reduziert wird. So

die Erfahrung des Zeitraumes nach

Bewegung des Performers ins plastische

gesehen ist das Datum Ausdruck von

wie vor subjektiv. Es hängt von emo-

Werk, ein wesentliches gestalterisches

gelebtem Leben, von der Einmaligkeit

tionalen Erfahrungen ab, ob die Zeit

Element zum Zeichen des Wandels, der

des einzelnen Tages, die sich in der

schnell oder gar nicht verstreicht. Auf

die Arbeiten von Tatsuo Miyajima in

Wiederholbarkeit

Tagesablaufs

dieser Beobachtung, die im Film zu

die Nähe jener von Tinguely rückt. Jede

wieder aufhebt. Sie sind zugleich, wie

den wichtigen Ausdrucksmitteln ge-

einzelne Ziffer wechselt ständig zwi-

Henning Weidemann sagt „in den Raum

hört und auf die neuerdings Arbeiten

schen 1 und 9, die 0 wird ausgelassen,

überführte Zeit, die während des Malens

wie jene von Gordon Douglas reflektie-

aber nicht ausgespart. Die Ziffern sind

vergangen ist und die selbst unsichtbar

ren – basiert auch das Werk von Tatsuo

einzeln oder in komplexeren Werken

ist, dennoch konstitutiv.“12 Der Prozess

Miyajima, einem japanischen Künstler,

zu Zahlenkombinationen, die manch-

zeigt, dass – wie bei Opalka – auch hier

der in seinen Anfängen Performances

mal aus 20 Ziffern bestehen, grup-

das Malen an sich zum Thema des Bildes

aufführte, die als zentrales Thema die

piert. Tatsuo Miyajima bezeichnet die-

wird. Die Date Paintings von On Kawara

Frage von Ursache und Wirkung hat-

se Einheiten als Gadget, also als kleine

sind nach Heinemann im Einzelnen

ten. Dabei bemerkte er, dass der Stoff

technische Spielerei. Das Prinzip der

eine Ansammlung kleiner Ikonen an die

der Performance zum Großteil aus

Gadgets ist der ständige Zahlenwechsel,

Malerei und in toto ein Archiv von in die

Zeit besteht: Nicht nur die Zeit der

wobei jedes Gadget unterschiedlich

Malerei überführten Leben.

Aufführung ist damit gemeint, son-

schnell programmiert werden kann und

Der Raum der Zeit bei On Kawara wird

dern auch die Tatsache, dass eine nur

daher einen eigenen Rhythmus hat.

vom Lebensraum des Künstlers be-

einmal aufgeführte Performance zum

Keep changing, Connect with everything,

stimmt, von den verschiedenen Kulturen

richtigen Zeitpunkt am richtigen Ort

Continue Forever (Abb.1) ist in sei-

der Welt in denen er sich bewegt. Ein

aufgeführt werden muss und das es

ner Erscheinungsform ein digitales

Datum wird an Fakten festgemacht, auch

ein Zufall ist, ob man sie sieht oder

Tafelbild.

wenn diese nicht für jeden nachvollzieh-

nicht. Ab 1984 gibt er die Performance

Die Trägerfläche des Quadrats ist aus

bar sind. Die unterschiedlichen Daten

auf, weil es ihm nicht mehr reicht, nur

grünem Metall, die LED-Ziffern leuch-

potenzieren sich nicht, sie sind gleich-

ein paar Leute zu erreichen. Er sucht

ten gelb oder rot vor schwarzem Grund.

wertig nebeneinander; manchmal ragt

nach Mitteln, die eine möglichst große

Das strenge orthogonale System, wird

ein Datum hervor. Angesichts der Date

Gruppe von Weltbürgern erreicht, denn

durch die Anordnung der Ziffern und

Paintings, in denen sich die Gegenwart

er ist überzeugt, dass es im Rahmen der

durch die sichtbaren Chips betont, wobei

des eigens gelebten Moments einprägt,

Globalisierung notwendig geworden ist,

die Geometrie der sichtbaren Technik

nimmt die Unbestimmtheit der One

eine überregionale Ausdrucksweise zu

durch die bunte Farbzusammensetzung

Million Years (Past und Future) einen neu-

finden. Mit überregional meint er eine

einen Pop’ artigen Eindruck erhält und

en Sinn, eben als nicht persönlich erfah-

Sprache, die sowohl von der westlichen

das Spiel mit der Technik evident wird.

rene Zeit.

als auch von der östlichen Kultur ver-

Der Titel dieser Arbeit ist Programm für

standen wird. Das ist der Grund, wieso

das Gesamtwerk von Tatsuo Miyajima.

er auf Zahlen zurückgreift.

Der erste Punkt „Keep Changing“ for-

gerufen

wird.

Diese

des

verschiedenen

12  Weidemann, Henning, op. cit. , S. 506

ein

allgemein

verständliches

59


CRITICA–ZPK I/ 2014

zeitlich präsent, als Leerstelle, was in Abb.1. Tatsuo Miyajima, Keep Changing, Connect with Everything, Continue Forever, 1998, L.E.D. rot/grün, IC, Elektrokabel, Aluminum Tafel, Stahl, 32 x 32 x 7,5cm, Courtesy der Künstler und Buchmann Galerie Berlin

den Zahlenprogressionen der Gadgets durch erlöscht bleiben der Zahl dargestellt wird. Während die Null in einer Progression üblicherweise zur davor stehenden Zahl addiert wird, bedeutet die Darstellung durch das Ausbleiben des Lichtsignals einen sichtbaren Moment der Nicht-Existenz. Ein genaues Hinschauen zeigt, dass manche Zahlen mit anderen in Verbindung stehen. Die dritte Zahl der ersten vertikalen Reihe ist mit der untersten der vierten Reihe, die zweite Zahl der dritten vertikalen Reihe mit der vierten derselben Reihe gekoppelt. Das heißt, dass es einen Impulsgebenden Sender und einen Empfänger gibt. Die Systeme sind miteinander verbunden und beeinflussen sich gegenseitig. Auf diese Form der wechselwirksamen Einflussnahme verweist Tatsuo Miyajimas digitales

Frühwerk

Time

Landscape

Acrylzeichnung mit gelber Farbe, über eine chinesische Landschaftsdarstellung der Qing Dynastie aus dem 19. Jh. . komplex. Das Bild, das in der Abbildung

rum? Auf der Suche nach einer Antwort

zu sehen ist, wird sich in dieser

drängt sich das Manifest von Tinguely

Konfiguration kaum wiederholen, denn

Für Statik13 mit seinem widersprüchli-

die Zahlenprogression von 1-9 ist bei

chen Aufruf „seid statisch, seid statisch

den einzelnen Einheiten unterschiedlich

in der Bewegung“ auf, was nichts ande-

eingestellt. Deshalb werden die oberen

res fordert, als im Einklang mit der Zeit

und die unteren acht der ersten hori-

gemeinsam fortzuschreiten. Durch die

zontalen Zeile nicht gleichzeitig die Null

gleich-schnelle Bewegung entsteht der

erreichen, und für die Zeit der nicht ge-

Eindruck der Statik und letzten Endes

zählten Zahl Null unterschiedlich lang

der Ruhe. Das digitale Zahlensystem,

ausgelöscht bleiben. Tatsuo Miyajima

auf das Miyajima seine gesamte Arbeit

spart gezielt die Null als Leuchtdioden

aufbaut, verkörpert dieses Prinzip in be-

aus. Sie wird aber als Auszeit mitgezählt,

sonderem Ausmaß. Aus Modulen beste-

weil Null im Sinne des Buddhismus

hend, kann das System jede Zahl formen,

Symbol des Nichts ist und daher auch

sodass jede Zahl sich in alle anderen

des Todes. Das Nichts kann nichts gene-

verwandeln kann. Die Veränderung fin-

rieren, daher kann es auch nicht leuch-

det ohne räumliche Verschiebung statt.

ten. Die Null lässt sich nicht einfach

Miyajimas System ist allerdings sehr

überspringen, denn sie gehört dazu,

60

Programmpunkt

von 1994. Es handelt sich um eine

dert zur Veränderung auf. Wie und wa-

13  Tinguely, Jean: Flugblatt Für Statik, Düsseldorf, März 1958, Tinguely Museum.

zweiter

„Connect with Everything“. Ein nicht

wie der Tod zum Leben. Deshalb ist sie

Tatsuo Miyajima hat die Form von Digitalzahlen beim Übermalen ausgespart, sodass Teile der Zeichnung in den Zahlen durchscheinen. Somit kommt es zu einer Überlappung von Gestern und Heute, von alten und neuen Ausdrucksmitteln und auch von alten und neuen Zeitrechnungen, war doch die Landschaft in der chinesischen Kunst Ausdruck des Zeitlosen. „Connect with everything“ kann ein gleichzeitiges staffeln von Zeiterlebnissen wie in Time Landscape meinen, es kann auch das Ineinandergreifen von verschiedenen Zeitspuren bedeuten wie in Running Time14. Hier durchkreuzen sich die Leuchtspuren von U-Cars (Uncertainty Cars) in einem Gewirr von farblich differenzierten

Zeitschnüren,

die

den

14 http://www.tatsuomiyajima.com/en/text/ ucar.html (aufgerufen am 25.05.14)


Abb.2 Tatsuo Miyajima, Sea of Time, 1998, L.E.D, IC, Plastic Belag, Elektrokabel, Wasser in FRP Wasserbecken, 486 x 577 x 15 cm, Courtesy Lisson Gallery, London.

CRITICA–ZPK I/ 2014

Richtungen der unterschiedlich schnell

eine Geschwindigkeit für Ihr ei-

Juden, die vom nahe gelegenen

und nach vorn oder rückwärts fahrenden

genes Leben anzugeben und die

Bahnhof aus im Nazi-Deutschland

Autos folgen. Running Time greift nach

Zahlenfolge von 1-9 oder 9-1 zu be-

stattfand. 16

Aussage des Künstlers Einsteins Prinzip

stimmen. Ihre Lichterketten/Zahlen

Für Miyajima entwickelt sich Zeit in

der Relativität von Zeit und Raum

leuchteten in einem Wasserbecken,

Kreisbewegungen oder, wie er selbst

auf, die untrennbar miteinander ver-

ein digitales Bild der Vielfalt ih-

sagt, als Spirale, die sich in beiden

knüpft sind. Es nimmt auch Bezug zu

rer Lebensrhythmen und gleich-

Richtungen ausdehnt. Kreisbewegungen

Heisenbergs Theorie, nach der das

zeitig die Veranschaulichung ihrer

bedingen die Wiederkehr, was auf

Verhältnis von Zeit und Raum nicht

Vernetzung. Die Realität einer Dorf-

die

absolut, sondern flexibel ist. Diese

gemeinschaft fließt hier in die vir-

Wiedergeburt verweist. Optisch gilt

Flexibilität ist bedingt durch die

tuelle Darstellung einer Installation

dies für die ständige Wiederholung des

Menschheit und die unendlich vie-

und greift auf diese Weise den Ge-

Zählens von eins bis neun oder bes-

len persönlichen Lebensrhythmen,

danken der sozialen Plastik von

ser gesagt bis zehn, wenn man die Null

die miteinander vernetzt sind. Denn

Joseph Beuys in vollkommen neu-

mitzählt. Die Spirale bedeutet auch die

„Connect with everything“ ist auch

er Form auf 15 . Ein weiterer wesent-

Ausdehnung ins Unendliche, dies in

als „Connect with everyone“ zu ver-

licher Aspekt in Miyajimas Werk

beide Richtungen, da viele Projekte den

stehen. Im Gegensatz zu Opalka

ist die politische Stellungnahme,

Count down thematisieren. Zeit wird

und On Kawara handelt es sich bei

z.B. in Mega Death, das auf den Tod

in die dritte Dimension projiziert und

Miyajima nicht um ein persönli-

von 167.000.000 Menschen durch

ches Zeitempfinden, sondern um

Gewalt im 20. Jahrhundert ver-

ein kollektives, von unterschied-

weist, oder noch in Time Train to the

lich vielen Menschen gebildet. Das

Holocaust, das er in der Kunsthalle

Projekt Sea of Time (Abb.2) für das

Recklinghausen aufstellte, in An-

Künstlerhaus Kayoda auf der Insel

denken an die Deportation der

16  Zur Frage der Hybridisierung zwischen Realität und Virtualität sowie der gesellschaftlichen Relevanz des Werke von Tatsuo Miyajima verweise ich auf die sehr detaillierte und fundierte Analyse von Spielmann, Yvonne: Hybridkultur, Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft, Erste Auflage 2010, besonders S. 53-56 und 213-216, die mich hier zur Aktualisierung meines Textes im Hinblick auf die historische Stellungnahme seines Werkes und den Bezug zwischen Realität und Virtualität inspiriert hat.

Naoshima in Japan bringt diesbezüglich Aufschluss. Miyajima bat die Dorfbewohner

15  Spielmann, Yvonne: Hybridkultur, Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft, Erste Auflage 2010, S. 214.

Buddhistische

Philosophie

der

61


CRITICA–ZPK I/ 2014

nicht unerheblich, dass Tatsuo Miyajima dieser Arbeit den Titel „Modell“ gibt. Damit suggeriert er, eine noch nicht vorhandene Struktur und projiziert die Darstellung in die Zukunft. Indem Miyajima nicht mehr sich als Maß der Dinge nimmt, sondern die Menschheit und mit ihr die Welt oder sogar den Kosmos, begreift sich sein Zeitsystem in der vierten Dimension des unendlichen Universums. Sein ambitioniertestes Projekt Region 200 Serie 133651 (Abb.4) ist eine der komplexesten und utopischsten Zeitdarstellungen überhaupt. Der Titel „Region“ bringt die Zeit in Bezug zur Geographie. Die Zeit wird dadurch räumlich fixiert und hat eine räumliche Ausdehnung, eine logische Folgerung zu Modell (100) #2. Die Abb. 3 Tatsuo Miyajima, Modell (100) #2, 1992, L.E.D. rot, IC, Elektrokabel, 74x74x39,5cm, Courtesy der Künstler und Buchmann Galerie Berlin

Installation besteht aus roten und grünen LEDs, IC (integrated circuit chips) und Elektrokabeln (4 Alu-Paneele von

nimmt architektonische Formen an.

Zahlen stehen für Individuen. Als solche

je 210 x 210 cm). Die Zahlenfolgen, be-

Dies kommt in Modell 100 #2 (Abb. 3)

wird der unterschiedliche Rhythmus

stehend aus 20 Zahlen sind in Systemen

zum Ausdruck. Der immer neu konfi-

der Progressionen ein Symbol für die

von 10 Zählern gepaart, den Gadgets.

gurierten Bildgestaltung entspricht eine

Subjektivität der Zeiterfassung. Wenn

Jedes Gadget zählt von 1-99 in unter-

visuelle Darstellung. Die Wiederholung

die Zeit verschiedentlich dehnbar ist,

schiedlichen Tempi. Die Zähler sind mit-

der gleichen Bildkonfiguration ist nicht

so ist es verständlich, dass sie sich auch

einander verbunden, sodass zwischen

vorgesehen und in den meist komple-

architektonisch entfalten kann. Das

ihnen eine Sender-Empfänger-Relation

xen Installationen ausgeschlossen. Der

veranschaulicht Miyajima im Modell

besteht. Diese Kommunikation ermög-

Grundsatz „mach immer weiter“ sug-

(100) #2. Was das Gesamtbild zunächst

licht eine Vielzahl von Kombinationen.

geriert eine Progression im Sinne einer

zu erkennen gibt, ist eine chaotische

Die

Expansion, wie bei Opalka. Während

Anordnung der Gadgets, die unter-

Möglichkeiten belaufen sich auf 133651

Opalkas Progression nur solange wächst

schiedlich scharf und in verschiede-

Varianten, eine Zahl die der Serie ihren

wie er künstlerisch tätig ist, was mit sei-

ne Richtungen liegen. Aus der Ferne

Titel gibt. Diese wird allerdings immer

nem Tod endete, werden die digitalen

wirken sie wie die Lichter einer aus der

nur partiell ausgestellt, denn es würde

Zahlen von Tatsuo Miyajima unabhän-

Flugperspektive gesehenen Stadt. In

tausende von Quadratmetern brauchen,

gig von seiner Person auch nach seinem

der Tat sind die Schärfenunterschiede

um alle Konfigurationen zu zeigen.

Ableben weiterzählen. Der zweite we-

auf die Positionierung im Raum zu-

Daher begnügt sich Miyajima mit der

sentliche Unterschied liegt darin, dass

rückzuführen, denn die Dioden gene-

Darstellung von Details, ein Symbol da-

Opalka eine einzige Progression auf-

rierten Gadgets sind auf dünne Stäbe

für, dass auch wir nur Fragmente des ge-

baut, Miyajima hingegen mehrere un-

in der Luft suspendiert. Statt um eine

samten Universums zeitlich wie räum-

gleiche Progressionen in einem Bild ver-

flache Ausdehnung handelt es sich hier

lich erfassen. Bei Opalka stand jedes

eint. Wie das Medium, das er auswählt,

um eine strukturierte Stadtarchitektur.

Detail für einen Lebensabschnitt, wobei

ein Medium der Massenverständigung

Jedes der Gadgets hat zudem eine ei-

es theoretisch möglich wäre, anhand al-

ist, so stellt seiner Ansicht nach „Jeder

gene Orientierung und einen eigenen

ler Details das gesamte Lebensfresko zu

Zähler [. . .] einen anderen Menschen

Rhythmus. Daraus entsteht der Eindruck

betrachten. Bei Miyajima hingegen steht

oder einen anderen Planet”17 dar.

eines pulsierenden Gefüges. Es ist sicher

das Detail für ein, unserer Wahrnehmung

17  Ein persönliches Interview mit T.M. und

der Autorin, 1995.

62

von

Miyajima

ausgerechneten

sich entziehendes, kosmisches Ganzes.


Abb.4 Tatsuo Miyajima, Region, 1991, 49 Einheiten, L.E.D. , IC, Elektrokabel, Aluminium Träger, 131 x 287 cm, Courtesy der Künstler und Buchmann Galerie Berlin (Vorstufe von Region 200 Serie 133651)

CRITICA–ZPK I/ 2014

In gewisser Weise nehmen Opalka und

im Verhältnis zum Kosmos dargestellt.

Miyajima entgegengesetzte Positionen

Opalka geht von einer mönchischen

ein: Bei Opalka ist die Zeitrechnung

und auratischen Ausgangsposition aus,

ein physischer Akt, welcher von der

wobei der Künstler als Individuum sich

Befindlichkeit des Malers abhängt und

am Ende seines Lebens im universellen

sich mit zunehmenden Alter entschleu-

Licht auflöst; On Kawara nimmt eine

nigt. Im Zeitalter des Internets und der

vom Existenzialismus geprägte Stellung

digitalen Kultur greift Tatsuo Miyajima

ein, indem ein wesentlicher Teil seines

auf eben diese, hochtechnisierten Mittel

Werkes sich mit der alltäglichen Präsenz

zurück und entwickelt ein kollektives

befasst. Diese wirkt allerdings durch sein

Zeitverständnis. Manchmal knüpft er

Monumentalwerk One Million Years (Past)

an prägende, oft mit Massensterben ver-

und One Million Years (Future) verschwin-

bundene Ereignisse an, oder er projiziert

dend wie bei Opalka. Schließlich verlässt

die Zeitrechnung visionär in die vierte

Miyajima die Perspektive des Ichs, um

Dimension. In neueren Arbeiten wie Sea

im Zeitalter des Internets, auf eine ver-

of Time wird der Rhythmus nicht mehr

netzte Gesellschaft hinzuweisen, die die

durch ihn selbst bestimmt, sondern

individuelle und die universelle Zeit zu

durch andere, an der Installation betei-

einer sozialen Plastik entwickelt.

Sammlung des Museums für Moderne Kunst, Frankfurt am Main 1991. Douroux X. & Gauthier F. (Hrsg.): On Kawara, Whole and Parts 1964-1995, proposed by On Kawara, Les Presses du Réel, 1996. Duchamp, Marcel: The Box in a Valise de ou par Marcel Duchamp ou Rrose Sélavy, Inventory of an Edition by Ecke Bonk, Rizzoli New York, 1989. Edition Opalka 1965 / 1 - ∞ Spur der Zeit, in den Museen: Neues Museum Weserburg Bremen, Musée d’Art Moderne de la Ville de Paris, Städtische Galerie im Lenbachhaus, München, Museum des 20. Jahrhunderts, Wien, 1992-1993. Heute KUNST, internationale Kunstzeitschrift, N° 4-5, Dezember 1973 – Februar, 1974 Mailand-Düsseldorf. Spielmann, Yvonne: Hybridkultur, Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft, Erste Auflage 2010.

ligte Menschen. Damit bringt er erneut seine Erfahrung der Performance in die Installation ein. Opalka, On Kawara und Tatsuo Miyajima haben alle drei die menschliche Existenz bemessen und sie jeder auf seine Art

Literatur Bischofberger, Christina: Jean Tinguely, Werkkatalog Skulpturen und Reliefs, Band 1-3, 1982. Denizot, René: On Kawara, Schriften zur

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CRITICA–ZPK I/ 2014

bücher kunst philosophie

Bild und Zeit. Temporalität in Kunst und Kunsttheorie seit 1800 -Hrsg.: Thomas Kisser

Ausgehend vom Epochenwandel um 1800 bis zu den neuen Formen der Kunst des 20. Jahrhunderts in Fotografie und Kino, stellen sich die Beiträge des Bandes der Frage nach der Zeit im Bild. Im Gespräch von Kunstgeschichte, Literaturwissenschaft und Philosophie entsteht so ein Bild der Zeit. Temporalisierung ist eine der Grunddynamiken der Moderne. Kann aber Zeit überhaupt ins Bild gesetzt werden? Kann ein Bild der Zeit gegeben werden? Was steuert die polyfokal, reflexiv und sentimentalisch werdende Kunst um 1800 zu diesen Fragen bei?

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Arnold Gehlen Gesamtausgabe Band 9: Zeit-Bilder und andere kunstsoziologische Schriften -Hrsg.: Karl-Siegbert Rehberg und Matthes Blank

Mit Beiträgen von: Oskar Bätschmann, Werner Busch, László F. Földényi, u.a.

In der 1960 erstmals erschienenen Monografie beschreibt der Autor die moderne Malerei, insbesondere die von ihm bewunderte Revolutionierung der Künste durch den Kubismus und Maler wie Klee, Kandinsky oder Mondrian, und analysiert sie als „peinture conceptuelle“ historisch, gestaltpsychologisch und soziologisch. Auch entwickelt Gehlen hier die berühmt gewordene These von der „Kommentarbedürftigkeit“ der modernen Kunst und zeigt erstmals die Ähnlichkeit materialer Experimente in den Künsten und in der Industrieproduktion auf. Die Monografie wird ergänzt durch dreiundzwanzig weitere thematisch ganz eigenständige Abhandlungen in drei thematischen Abteilungen: „Anthropologische und kulturgeschichtliche Voraussetzungen der Künste“, „Kunstsoziologische Studien“ und „Einzelstudien zur Kunst“.

Wilhelm Fink Verlag • 500 Seiten • EUR 66 ISBN 978-3-7705-4806-4

Vittorio Klostermann Verlag • 800 Seiten EUR 99 • ISBN 978-3-465-03687-6


CRITICA–ZPK I/ 2014

Georg W. Bertram : Kunst als menschliche Praxis Eine Ästhetik

Rauchwolken und Luftschlösser. Temporäre Räume

In der Theorie und Philosophie der Kunst wird gemeinhin die Differenz der Kunst zu anderen menschlichen Praktiken betont. Dies führt dazu, dass weder die Pluralität der Künste noch die Relevanz der Kunst im Rahmen der menschlichen Lebensform hinreichend verständlich werden. Georg W. Bertram plädiert aus diesem Grund für einen Neuansatz in der Bestimmung von Kunst und verteidigt die These, dass in der Auseinandersetzung mit Kunstwerken unterschiedliche Bestimmungen der menschlichen Praxis neu ausgehandelt werden. In diesem Sinne ist Kunst eine hochproduktive reflexive Praxis im Rahmen des menschlichen Weltverhältnisses. Mehr noch: Kunst ist eine Praxis der Freiheit.

Vulkanausbrüche, Großbrände und Atomkatastrophen sind die Produzenten großer, auch medial dahintreibender Wolkengebilde aus Rauchpartikeln. Luftschlösser können hingegen als Produkte des Wunsches und der Einbildungskraft gelten. Räume sind Rauchwolken und Luftschlösser nur, insofern sie durch die Anwesenheit von Dingen, von Menschen und Umgebungskonstellationen tangiert werden. Doch Spuren können oftmals nicht auf Dauer hinterlassen werden. Zumeist sind nur kurzfristige „Prägungen“ – temporäre Räume – möglich. Beide Ballungsformen werden hier als markante Positionen eines Prozesses verstanden, in dem Medien, Technik, Politik, Kultur und Literatur Räume vermessen und somit markieren. Es lassen sich Überkreuzungen und Überlagerungen des „Aktualen“ und des „Imaginären“ feststellen.

suhrkamp taschenbuch wissenschaft • 225 Seiten EUR 17 • ISBN 978-3-518-29686-8

–Hrsg.: Dennis Paul und Andrea Sick

Publiziert in der Reihe des Instituts für Kunst- und Musikwissenschaften der Hochschule für Künste Bremen. Textem Verlag • 288 Seiten • EUR 24 • ISBN 978-386485-054-7

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IMPRESSUM H ERA U S G EB ERI N Dr. Julia-Constance Dissel C H EF REDA K T I O N Ferdinand Schwieger Julia-Constance Dissel REDA K T I O N Maria Rudolf Sandra Mann Claudia Gaida AU T O REN/A U T O RI NNEN Ana Carrasco-Conde Anita Galuschek Benedikt Franke Danièle Perrier Domonic Lütjohann Lutz Hengst Till Julian Huss KÜNSTLER/KÜNSTLERINNEN Bettina Pousttchi Björn Drenkwitz Darren Allmond Petra Johanna Barfs COVERBILD Fotolia gestaltung Basislayout European School of Design, Frankfurt Ferdinand Schwieger VERKAUF Direktvertrieb Printausgabe: 8€ (DE)/ 10SFR (CH) E-Book (open-access): critica-zpk.net bestellung@critica-zpk.net REDAKTIONS- & VERWALTUNGSSITZ CRITICA–ZPK Frankfurter Str. 6 63500 Seligenstadt COPYRIGHT CRITICA–ZPK © 2014, die Autoren und Künstler, wenn nicht anders im Inhalt angegeben Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie ISSN 2192-3213 critica-zpk.net



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