04.03.2012 Daniel Fachinger
Herder verstehen Eine Lineare Herangehensweise an die „Abhandlung über den Ursprung der Sprache“
„Keine Leserei erfordert eine so strenge Diät, als das Lesen abgerissener, hingestreuter Gedanken.“ Johann Gottfried Herder
Argumentationsschritte in Herders „Abhandlung über den Ursprung der Sprache“ Sprache durch die natürlichen Fähigkeiten des Menschen entstanden
Argumente/Stellungnahme Herders
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Tiere wie auch Menschen nutzen Töne und Geschrei, um ihre Gefühle und Empfindungen auszudrücken (keine Steuerung, unwillkürlich). „Sprache der Empfindung“ (Z. 33) jedoch bloß ein „unmittelbares Naturgesetz“; 34f.) Korrespondenz zur „empfindsamen Maschine“ (Z. 317) Undeutlich durch Laute wie „Ach“ oder „O“, die mehrere Bedeutungen haben können (keine menschliche
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1ff.
Herder Verstehen – Eine lineare Herangehensweise an die „Abhandlung zum Ursprung der Sprache“
Condillacs Theorie
Rousseaus Theorie
Süßmilchs Theorie I
Herders Ansatz I (Unterscheidung von Mensch
Sprachbildung). - „so sehe ich nicht, wie nach dem vorigen Naturgesetz je menschliche, willkürliche Sprache werde?“ (Z. 82ff.) Menschliche Sprache könne durch Willkür und bewusste Kommunikation von der tierischen unterschieden werden letztlich müsse mehr als die bloße Tiersprache den Menschen zur Sprache geführt haben - „Kinder sprechen Schälle der Empfindung wie die Tiere; ist aber die Sprache, die sie von den Menschen lernen, nicht eine ganz andere?“ (Z. 83ff.) Bezug zum Textbeginn „Schon als Tier hat der Mensch Sprache“ (Z. 1), denn im Falle von Kindern unterscheide sich die menschliche Sprache noch nicht von der der Tiere. Mit der menschlichen Sprache lerne ein Kind jedoch eine komplett andere Form von Sprache, die mehr beinhalte als die bloße Wiedergabe von Lauten als Signale bestimmter Zustände und Empfindungen - „zwei Kinder, in eine Wüste, ehe sie den Gebrauch irgend eines Zeichens kennen“ (Z.92ff.) Hypothese stelle in der Natur nicht gegebene Umstände dar (Menschen waren nie als Kinder isoliert von anderen Menschen in der Wüste) Daher könne es kein wissenschaftliches Szenario zum Sprachursprung sein - Außerdem bezweifelt Herder, dass zwei Kinder, ohne jedwede Sprachkenntnis , Kontakt aufbauen oder eine Sprache aus dem Nichts entwickeln könnten „Es entstanden Worte, weil Worte da waren, ehe sie da waren“ (Z. 134f.) Sprache muss entwickelt haben Tier werde zum Menschen gemacht - Rousseau davon aus, dass die menschliche Sprache dem tierischen Geschrei entwachsen sein müsse Herder glaubt nicht, dass die menschliche Sprache den natürlichen Klängen der Tiere entwachsen sei (Wiederaufgreifen und Fortführung der Einleitung zur Tiersprach als Naturgesetz) - Rousseau kommt zu keinem eindeutigen Ergebnis und „[leugnet] sogleich alle menschliche Möglichkeit der Sprachfindung“ (Z. 143ff.) Mensch wird zum Tier gemacht - „Hat auch er den Ursprung der Sprache nicht genug von diesen tierischen Lauten abgesondert“ (Z. 165ff.) - „Menschen für uns die einzigen Sprachgeschöpfe sind […] und sich eben durch Sprache von allen Tieren unterscheiden“ (Z. 160ff.) Menschliche Sprache kann nicht vom Tier abstammen, da Tiere sonst auch Sprachgeschöpfe wären - „Dessen nicht kleinster Verdienst Treue und Genauigkeit“ (Z. 164f.) Lob der wissenschaftlichen Genauigkeit, trotz inhaltlicher Schwäche - „Mensch [steht] den Tieren an Stärke und Sicherheit des Instinkts weit [nach]“ (Z. 190f.) und besitzt keine „angeborne Kunstfähigkeiten und Kunsttriebe“ (Z. 192) im Gegensatz zu vielen Tieren
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188f. 156ff.
188 162ff.
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Herder Verstehen – Eine lineare Herangehensweise an die „Abhandlung zum Ursprung der Sprache“ und Tier Tier)
Herders Ansatz II (Unterscheidung von Mensch
Mensch ist daher dem Tier eigentlich unterlegen Jedoch besitze der Mensch die Besonnenheit (Verstand) und Sprache (siehe Herders Ansatz II) - Jedes Tier besitzt im Gegensatz zum Menschen jedoch eine „Sphäre der Tiere“ (Z. 206), „in [die] es von Geburt an gehört, gleich eintritt, in dem es lebenslang bleibet und stirbt“ (Z. 207ff.) Sphäre wird durch die Fähigkeiten der Tiere bedingt, sowie durch ihr Zusammenleben mit den eigenen Artgenossen - „Je schärfer die Sinne und je wunderbarer ihre Kunstwerke sind, desto kleiner ist ihr Kreis: desto einzigartiger ist ihr Kunstwerk“ (Z. 209ff.) Jedes Tier hat bestimmte angeborene Fähigkeiten/Instinkte, die es zum Überleben in seinem natürlichen Umfeld benötigt (Spinnennetze, Nesseln der Quallen, , etc.) Diese Fähigkeiten und Instinkte verursachen, dass die Tiere nur in dem Umfeld überleben können, auf das sie spezialisiert sind; gleichzeitig haben sie einen ganz bestimmten Sinn, weshalb sie existieren - „je größer und vielfältiger ihre Sphäre ist; desto mehr sehen wir ihre Sinnlichkeit sich verteilen und schwächen“ (Z. 227) Es gibt Tiere, die keine speziellen Fähigkeiten besitzen, sondern allgemein einsetzbare Fähigkeiten/Instinkte besitzen, mit denen sie sich Wenn die Fähigkeiten der Tiere so beschaffen sind, ist der Sinn ihres Daseins nicht direkt ersichtlich - „Nach aller Wahrscheinlichkeit und Analogie1 lassen sich also alle Kunsttriebe und Kunstfähigkeiten aus den Vorstellungskräften der Tiere erklären, ohne daß man blinde Determinationen2 annehmen darf“ (Z. 235ff.) Alles, wozu die Natur die Tiere befähigt, können diese erreichen dies bedingt, dass die Tiere letztlich Instinkte aus ihren Trieben und Fähigkeiten entwickeln, die sie ihren vorgesehen Platz in ihrer Tiersphäre einnehmen lassen „Die Empfindsamkeiten, Fähigkeiten und Kunsttriebe der Tiere nehmen an Stärke und Intensität zu, im umgekehrten Verhältnisse und Mannichfältigkeit ihres Würkungskreises“ (Z. 251ff.) Je größer die Möglichkeiten eines Tiers sind, desto geringer sei ihre Möglichkeit, Einfluss auf ihre Umwelt zu nehmen Dies ist ein wesentlicher Gegensatz zum Menschen - „Der Mensch hat keine […] Sphäre, wo nur Eine Arbeit auf ihn warte“ (256f.) Verweise auf Menschliche Freiheit
256ff.
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Analogie: Vergleichbarkeit Determination: Bestimmung durch nähere Eingrenzung anhand von Differenzen (z.B. eine Substanz – eine belebte Substanz – eine beseelte belebte Substanz – eine vernunftbegabte beseelte belebte Substanz) 2
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Menschliche Sprachschöpfung
Mensch sei grundsätzlich anders beschaffen als das Tier - „er [der Mensch] hat […] kein Kunsttrieb, keine Kunstfertigkeit – und […] keine Tiersprache“ (Z. 260ff.) Mensch verfüge über keine spezifischen Fähigkeiten, sondern über allgemeine Sinne, die er nach seinem Belieben nutzen kann Anspruch, die menschliche Sprache sei keine Tiersprache knüpft direkt an den Beginn des Textes an Scheinwiederspruch zur ersten Aussage „Schon als Tier hat der Mensch Sprache“, die jedoch darauf zurückzuführen ist, dass diese Hypothese teils widerlegt wird, da die menschliche Sprache als etwas anderes als jegliche Tiersprache entlarvt wird ( Scheinwiderspruch!) der Mensch kann zwar wie das Tier in einfachen Lauten seine Empfindungen artikulieren (bereits als Kind); jedoch stellt dies nicht seine gesamten sprachlichen Fähigkeiten dar - „je kleiner also die Sphäre der Tiere ist: desto weniger haben sie die Sprache nötig. […] Tiere vom engsten Bezirke [kleinste Sphäre] sind sogar gehörlos; […] sie haben also wenig oder keine Sprache“ (Z. 273ff.) Tiersprache wird grundsätzlich als etwas erklärt, was nur für diejenigen Tiere vonnöten sei, die auf Kommunikation mit ihren Artgenossen angewiesen sind, da ihre Fähigkeiten zum alleinigen Überleben nicht ausreichten (je kleiner die Sphäre, desto größer die Fähigkeiten und Instinkte des Tieres) Ausführliche Erklärung, was die Tiersprache von der menschlichen unterscheidet, denn „mit dem Menschen ändert sich die Szene ganz“ (Z. 286f.) - „Welche Sprache […] hat der Mensch so instinktmäßig [wie] jede Tiergattung die ihrige in und nach ihrer Sphäre? […] keine!“ Mensch besitze nicht nur keine Tiersprache; die menschliche Sprache sei darüber hinaus keine Tiersprache Häufige Wiederholung dieser These verdeutlicht ihre Bedeutung für Herders Theorie; sie ist die Basis aller weiteren Überlegungen Folgender Absatz (Z. 308-334) ist eine detaillierte Ausführung, die diese These noch einmal aufgreift und die menschliche Sprache als nichts instinktiv erworbenes erklärt - „zu einem so großen Kreise [gemeint ist derselbe Kreis wie die Tiersphäre] bestimmt“ (Z. 328) Mensch ist bei seiner Geburt ohne Instinkte oder besondere Fähigkeiten, wodurch er eine größere Freiheit besitzt als jedes Tier - „Lücken und Mängel können doch nicht der Charakter seiner Gattung sein“ (Z. 340f.) Anknüpfpunkt an die Schwäche des Menschen, der ohne jeglichen speziellen Fähigkeiten, Instinkte oder Triebe als Kind jedem Tier unterlegen wäre Natur statte kein Geschöpf mit Schwächen, sondern mit Stärken zum Überlebenskampf aus; daher wäre der Umstand, dass sie gerade dem Menschen nur Mängel gibt, unlogisch - „Bei dem Menschen ist alles in dem größten Mißverhältnisse – […] Es muss also ein gewisses Mittelglied
335ff.
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fehlen, die so abstehende Glieder der Verhältnis zu berechnen“ (Z. 347ff.) Menschliche Eigenschaften, die zum Ursprung der Sprache geführt hätten, werden von Herder als Prozess wahrgenommen, da der Mensch nach der bisherigen Definition nicht zur Sprachschöpfung fähig wäre Ansätze erster Evolutionsgedanken „Ja fänden wir eben in diesem Charakter die Ursache jener Mängel; und eben in der Mitte dieser Mängel […] den Keim zum Ersatze: so wäre diese Einstimmung ein genetischer Beweis, […] daß die Menschengattung über den Tieren nicht an Stufen des Mehr oder Weniger stehe, sondern an Art.“ (Z. 352ff.) Aufgeführte Mängel seien keine Unzulänglichkeiten, keine Fehler, sondern begünstigten den Menschen zum Erfinden der Sprache Gedanke wird später weiterentwickelt zu einem „Genetischen Grund zur Entstehung einer Sprache“ (Z. 362f.) Evolutionäres Gedankengut „Und fänden wir [darin] […] sogar den notwenidgen genetischen Grund zur Entstehung einer Sprache für diese neue Art Geschöpfe, wie wir in den Instinkten der Tiere den unmittelbaren Grund zur Sprache für jede Gattung fanden; so sind wir ganz am Ziele. […] Man sieht, ich entwickle aus keinen willkürlichen oder gesellschaftlichen Kräften, sondern aus der allgemeinen tierischen Ökonomie“ (Z. 361ff.) Abgrenzen von diversen Theorien zum Sprachursprung, wie zum Beispiel Süßmilch, der die willkürliche Kraft Gottes als System hinter der Sprache annahm Naturwissenschaftliche Herangehensweise Herders, die die bisherigen theologisch-anthropologischen Ansätze ablösten, wird von Herder selbst angemerkt „Wenn der Mensch Sinne hat, die […] den Sinnen des Tieres […] nachstehen an Schärfe: so bekommen sie eben dadurch den Vorzug der Freiheit.“ (Z. 371ff.) Herder benennt zum ersten Mal die Freiheit als ausschlaggebenden Unterschied zu den Tieren „Wenn der Mensch Vorstellungskräfte hat, die […] den Kunstfähigkeiten der Tiere in diesem Kreise nachstehen, so bekommen sie [die Vorstellungen] eben ein damit eine weitere Aussicht. Er [der Mensch] hat kein einziges Werk, bei dem er also auch unverbesserlich handle; aber er hat freien Raum, sich an vielem zu üben, mithin sich immer zu verbessern. Jeder Gedanke ist nicht ein unmittelbares Werk der Natur, aber eben damit kanns sein eigen Werk werden“ (Z. 377ff.) Menschliche Freiheit als Resultat der mangelnden Instinkte und natürlichen Begabungen wird ausführlich erklärt und versetze den Menschen in die Lage, sich seine Beschäftigungsfelder selbst auszusuchen Indirekt auch eine Erklärung des Begriffs Kunstfähigkeit, da Tiere keine echten Fähigkeiten erlernen, sondern lediglich ihren, von der Natur vorgegebenen Fähigkeiten trauen; der Mensch hingegen kann echte Fähigkeiten erwerben, die nicht von der Natur vorgegeben werden „Da er [der Mensch] auf keinen Punkt blind fällt und blind liegen bleibt: kann [er] sich eine Sphäre der Seite 5
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Bespiegelung suchen, kann sich bespiegeln. […] [Er] wird zum sich selbst Zweck und Ziel der Bearbeitung.“ (Z. 391ff.) Mensch verfügt über Selbstreflexion, mit der er beginne, sich selbst verbessern zu wollen. Dies hebt ihn ebenfalls von der Natur und den Tieren ab „Es ist die Einzige positive Kraft des Denkens, die mit einer gewissen Organisation des Körpers verbunden bei den Menschen Vernunft heißt, wie sie bei den Tieren Kunstfähigkeit wird; die bei ihm Freiheit heißt, und bei den Tieren Instinkt wird“ (Z. 413ff.) Einführung des Verstandes als ausschlaggebendes Element, das die menschliche Freiheit bedinge Wiederholung vorheriger Thesen „Konnte ein Mensch je eine einzige Handlung tun, bei der er völlig wie ein Tier dachte: so ist er auch durchaus kein Mensch mehr, gar keiner menschlichen Handlung mehr fähig. War er einen einzigen Augenblick ohne Vernunft, so sähe ich nicht, wie er je in seinem Leben mit Vernunft denken könne.“ (Z. 413ff.) Herder macht deutlich, dass die Vernunft den Menschen ausmache; Sie sei mehr als nur eine Eigenschaft oder Besonderheit des Menschen Aufklärerisches Denken, das die Vernunft des Menschen als einzige ihn lenkende Kraft betrachtet (wird durch die Triebhaftigkeit des Menschen später widerlegt werden Freud) „Dies Geschöpf ist der Mensch und diese ganze Disposition3 seiner Natur wollen wir […] „Besonnenheit“ nennen.“ (Z. 432ff.) Da die Vernunft mehr als nur ein Charakterzug des Menschen ist, verwendet Herder als alternativen Begriff „Besonnenheit“, um sich von bisherigen philosophischen Überlegungen abzuheben und abzugrenzen „Besonnenheit“ ist jedoch mehr als lediglich ein Synonym für Vernunft; Herder versteht darunter die weitläufige Bedeutung der Vernunft für den Menschen „Ist nehmlich die Vernunft keine abgeteilte, einzelne Kraft, sondern eine seiner Gattung eigne Richtung aller Kräfte, so muß der Mensch sie im ersten Zustande haben, da er Mensch ist. Im ersten Gedanken des Kindes muß sich diese Besonnenheit zeigen.“ (Z. 447ff.) Vertiefung vorangegangener Thesen zur Verdeutlichung ihrer Ausmaße „Besonnenheit (Reflexion4). […] Diese Besonnenheit ist ihm charakteristisch eigen, und seiner Gattung wesentlich: so auch Sprache und eigene Erfindung der Sprache“ (Z. 454ff.) Herder betont, dass die Besonnenheit den Menschen in die Lage versetze, die Sprache zu erfinden
Disposition: Physische und psychische Verfassung, Anlage, Empfänglichkeit Reflexion: Wiederholtes Nachdenken über etwas
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(Aufklärerisches Denken) „Er beweiset also Reflexion, wenn er nicht bloß alle Eigenschaft lebhaft oder klar erkennen; sondern ein oder mehrere als unterscheidende Eigenschaft bei sich anerkennen kann: […] Es ist das erste Urteil der Seele. […] Wodurch geschahe diese Reflexion? Durch ein Merkmal, was er absondern muss, und was, als Merkmal der Besinnung, deutlich in ihn fiel.“ (Z. 474ff.) Durch Reflexion erlange der Mensch die Möglichkeit, seine Umwelt zu erfassen und zu beurteilen Es festigten sich bestimmte Merkmale in der Umwelt des Menschen, die der Mensch durch den Verstand festzuhalten vermöge „nicht wie jedem andern Tier, dem das Schaf gleichgültig ist, das es also […] vorbeistreichen läßt, weil ihn sein Instinkt auf etwas anders wendet – Nicht so dem Menschen! so bald er in das Bedürfnis kommt, das Schaf kennen zu lernen: so stören ihn kein Instinkt: […] es steht da, ganz wie es sich in seinen Sinnen äußert. Weiß, sanft, wollicht – seine besonnen sich übende Seele sucht ein Merkmal – das Schaf blöcket! […] Dies Blöcken, das ihr am stärksten Eindruck macht, das sich von allen anderen Eigenschaften des Beschauens und Betastens losriß, […] bleibt ihr.“ (Z. 595ff.) Mensch nehme das Schaf mit seinen Sinnen wahr und suche sich durch die Reflexion seiner Beobachtungen ein Merkmal, nämlich das Blöken des Schafes Mensch wird sich anhand des Blökens an das Schaf erinnern „“Ha! du bist das Blöckende!“ fühlt sie innerlich, sie hat es menschlich erkannt, da sies deutlich, das ist mit einem Merkmal erkennet und nennet. […] Der Schall des Blöckens, von einer menschlichen Seele, als Kennzeichen des Schafs, wahrgenommen, ward […] Name des Schafs, und wenn ihn sie eine Zunge zu stammeln versucht hätte. Er erkannt das Schaf am Blöcken, es war gefaßtes Zeichen, bei welchem sich die Seele an eine Idee deutlich besann.“ (Z. 512ff.) Beschreibung des Wiederkennungsprozesses Mensch werde das Schaf anhand des Geräusch, den das Blöken verursacht wiedererkennen, denn aus dem wahrgenommenen Merkmal hat der Mensch ein Kennzeichen für das Schaf gemacht „Was ist das anders als Wort? Und was ist die menschliche Sprache als eine Sammlung solcher Worte? Käme er also auch nie in den Fall, einem andern Geschöpf diese Idee zu geben und also dies Merkmal der Besinnung ihm vorblöcken zu wollen oder zu können, seine Seele hat gleichsam in ihrem Inwendigem geblöckt, da sie diesen Schall zum Erkennungszeichen wählte, und wiedergeblöcket, da sie daran erkannte – die Sprache war geboren!“ (Z. 530ff.) Erinnerung an das Merkmal des Blökens führe dazu, dass der Mensch sich innerlich in der Nachahmung übe und das Geräusch gedanklich festhalte Beschreibung des Vermittlungsprozesses; Mensch vermittele anderen Menschen durch Nachahmen des Seite 7
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Blökens seine Erkenntnis „Der gründlichste, der ausführlichste Verteidiger des göttlichen Ursprungs der Sprache wird eben, weil er durch die Oberfläche drang, die nur die anderen berühren, fast ein Verteidiger des wahren menschlichen Ursprungs. […] Er will bewiesen haben, „daß der Gebrauch der Sprache zum Gebrauch der Vernunft notwendig sei!“ Hätte er das, so wüßte ich nicht, was anders damit beweisen wäre, als daß […] der Gebrauch der Sprache es eben so sein müßte! Zum Unglück aber hat er seinen Satz nicht bewiesen.“ (Z. 543ff.) Theologische Begründer des Sprachursprungs stellen die Behauptung auf, nur durch Sprache sei die Vernunft zu gebrauchen; Herder stellt die These auf, dass dies nicht stimme Erneute Beschäftigung mit Süßmilch aufgrund dessen Beschäftigung mit dem Verstand, was gewisse Parallelen zu Herders Theorie aufweist Rousseau und Condillac sind bereits im Vorfeld entkräftet worden, wohingegen die Kritik an Süßmilch bei dessen erster Erwähnung noch nicht möglich gewesen ist, da Herder zu diesem Zeitpunkt noch nicht auf den Verstand beziehungsweise die Besonnenheit eingegangen war „Er hat bloß mit vieler Mühe dargetan, daß so viel feine, verflochtene Handlungen, als Aufmerksamkeit, Reflexion, Abstraktion usw. nicht füglich5 ohne Zeichen geschehen können[…]; allein dies nicht füglich, nicht leicht, nicht wahrscheinlich, erschöpft noch nichts. Sie wie wir mit wenigen Abstraktionskräften nur wenige Abstraktionen ohne sinnvolle Zeichen denken können: so können andere mehr darohne6 denken; wenigstens folgt daraus noch gar nichts, daß an sich selbst keine Abstraktion ohne sinnliche Zeichen möglich sei.“ (Z. 358ff.) Herder argumentiert zunächst sprachlich, dass etwas, nur weil es nicht füglich sei, noch nicht unmöglich sein müsse Darüber hinaus stellt er fest, dass viele Tiere zu mehr Abstraktion und Aufmerksamkeit fähig seien, ohne zu denken „Ich habe erwiesen, daß der Gebrauch der Vernunft nicht etwa bloß füglich, sondern daß nicht der mindeste Gebrauch der Vernunft […] ohne Merkmal möglich sei: denn der Unterschied von zween läßt sich nur immer durch ein drittes erkennen.“ (Z. 568ff.) Herders bisherige Ausführungen zu Merkmalen und Merkworten wird als Gegenbeweis zu Süßmilchs These verstanden, nach der dieser erste Erkennungsprozess z.B. des Blökens gar nicht möglich gewesen wäre „Ich habe Süßmilchs Schlußart einen ewigen Kreisel genannt: Ohne Sprache hat der Mensch keine Vernunft und ohne Vernunft keine Sprache. Ohne Sprache und Vernunft ist er keines göttlichen Unterrichts fähig: und
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Füglich: Gesetzmäßig, verfassungsgemäß; hier: annehmbar Darohne: ersetzen durch „ohne zu“
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Die Ausbildung der Sprache I
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Die Ausbildung der Sprache II
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ohne göttlichen Unterricht hat er doch keine Vernunft und Sprache – wo kommen wir da je hin?“ (Z. 579ff.) Süßmilchs Theorie wird als unlogisch entlarvt, da in ihrem zirkulierenden Wesen kein Ursprung zu finden ist „Beim ersten Merkmal ward Sprache; aber welches waren die ersten Merkmale zu Elementen der Sprache? […] Die ganze, vieltönige göttliche Natur ist Sprachlehrerin und Muse! Da führet sie alle Geschöpfe herbei: Jedes trägt seinen Namen auf der Zunge, und nennet sich. […] Es liefert ihm sein Merkwort ins Buch seiner Herrschaft […] Der Mensch erfand sich selbst Sprache – aus Tönen lebender Natur! – zu Merkmalen seines herrschenden Verstandes!“ (Z. 609ff.) Menschliche Sprache entstehe laut Herder aus anfänglicher Nachahmung von tierischen Lauten Der Mensch mache sich diese, wie das Blöken beim Schaf, zu Merkworten und nenne die Tiere vorerst bei diesen Merkworten Wichtig ist auch, dass Herder hervorhebt, dass der Mensch die Sprache selbst geschaffen habe „Wie aus Tönen, zu Merkworten […], Worte wurden, war sehr begreiflich; aber nicht alle Gegenstände tönen, woher nur: für diese Merkworte, bei denen die Seele sie nenne?“ Herder erkennt, dass es Dinge gibt, die nicht von selbst aus Töne erzeugen In den folgenden Zeilen lehnt er die theologische Erklärung ab, dass es Gottes Wille sei, dass „grün grün und nicht blau heißt“ (Z. 638) „Wie hängen Gesicht und Gehör, Farbe und Wort, Duft und Ton zusammen? […] Sie sind bloß sinnliche Empfindungen in uns, und als solche fließen sie nicht alle in eins? Wir sind ein denkendes sensorium commune7, nur von verschiedenen Seiten berührt. […] Die meisten sichtbaren Dinge bewegen sich; viele tönen in der Bewegung; wo nicht, so liegen sie dem Auge in seinem ersten Zustande gleichsam näher, unmittelbar auf ihm und lassen sich also fühlen. Das Gefühl liegt dem Gehör so nahe; seine Bezeichnungen z:E. hart, rauh, weich, wolligt, sammet, haarigt, starr, schlicht, borstig usw. die doch alle nur Oberflächen betreffen, und nicht einmal tief würken, tönen alle, als ob mans fühlte“ (Z. 542ff.) Viele Töne entstünden allein dadurch, dass sich etwas (in der Luft) bewege. Der über die Luft ans menschliche Ohr getragenen Schall könne genauso gut verstanden und benannt werden vom Menschen wie tierische Laute Nicht-tönende Eigenschaften werden so benannt, dass ihr Name an das Gefühl der Berührung erinnert. Die Sprache versucht also, die Eigenschaften durch Laute nachzuahmen „Ich bilde mir ein, das Könne der Erfindung menschlicher Sprache sei dem, was ich gesagt habe […] so bewiesen, daß wer dem Menschen nicht Vernunft abspricht […]: wer sich ferner je um die Elemente der Sprache philosophisch bekümmert; wer dazu die Beschaffenheit und Geschichte der Sprachen auf dem
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542ff.
Sensorium commune: Totalorgan sinnlicher Empfänglichkeit
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Herder Verstehen – Eine lineare Herangehensweise an die „Abhandlung zum Ursprung der Sprache“
Erdboden mit Auge des Beobachters in Rücksicht genommen; der kann nicht einen Augenblick zweifeln“ (Z. 663ff.) Abschluss von Herders Theorie führt noch einmal seine Herangehensweise vor und bemerkt, dass sie sehr stark auf den menschlichen Verstand setzt Eingeflossene Bemerkungen zur Geschichte der Sprachen lassen erahnen, dass Herder damit erklärt, warum bestimmte Wörter wie die der Farben nicht mehr direkt auf Gefühle zurückzuführen sind „der menschliche zeigt Gott im größten Lichte: sein Werk, eine menschliche Seele, durch sich selbst, eine Sprache schaffend und fortschaffend, weil sein Werk, eine menschliche Seele ist.“ (Z. 680ff.) Durch die Verneinung des göttlichen Sprachursprungs wird Gott nicht infrage gestellt oder sein Werk gemildert, sondern es wird im Gegenteil sogar höher gestellt Die göttliche Schöpferkraft hat das menschliche Wesen hervorgebracht, das aus sich heraus mit seiner Seele die Sprache erschuf, welche den Menschen in die Lage versetzt, Gott in seinem Glanz zu zeigen „Er hat eben deswegen das Gebot der Akademie übertreten und keine Hypothese geliefert: denn was wär’s, wenn eine Hypothese die andere auf- oder gleich wäre?“ (Z. 692ff.) Herder hat seine Thesen philosophisch belegt und ist somit einen Schritt weiter gegangen als die anderen Philosophen, die sich mit dem Sprachursprung beschäftigt haben; das wissenschaftliche Vorgehen Herders wird damit alle folgenden sprachphilosophischen Richtungen beeinflussen
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