Dokumentation
Graffiti Das höchste Graffito der Welt an einem SAGA-Hochhaus in Lohbrügge und andere Projekte
Auf diesen Moment hatte sich Stefan* schon lange gefreut. Sobald es dunkel war, zog der 16jährige mit seinen Freunden los und sprühte sein "tag", seinen Schriftzug, wie eine Visitenkarte auf einen S-Bahnzug. "Das war so aufregend, daß ich richtig zitterte", schilderte der Schüler das erste Mal. Der Reiz des Verbotenen ließ ihn die Angst vergessen. "Wer sprüht, will nicht in der Masse untergehen", sagt er. Und er will noch mehr: dazugehören - zur Hip-Hop-Szene. "Wir haben alle eines gemeinsam: Wir sind
kreativ!" Der Gesetzgeber sieht das anders. Für ihn ist das, was Stefan und seine Freunde machen, nicht Kunst oder jugendlicher Übermut, sondern Sachbeschädigung - eine Straftat. Was für Stefan als nächtliches Großstadtabenteuer begann, endete auf der Polizeiwache. Das Ergebnis: ein Strafverfahren und ein Zivil verfahren. Die Strafverfahren werden häufig aus Mangel an Beweisen oder wegen Geringfugigkeit eingestellt. Das heißt aber nichts. Denn im anschließenden Zivilprozeß werden die Jugendlichen oft zu ZahDie Vielfalt der FarbeIl ist es, die Graffiti als KlIllstjorm prägell. Elltsprechelld hoch IIl1d teuer ist allch der Verbrauch bei deli Sprühdosell, das "Halldwerk"ellg" der Sprayer. Für das Otto-Sc/Illmallll-Graffito wurdell 1000 DoseIl eilIgesetzt.
• Nnrne von der Redaktion geändert
2
Noch /lackt, kaM ul/d trist wartet das SA GA -Hochhaus alll Otto-Sclllllllal/I/ Weg il/ Lohbriigge-BergedOlf auf die erste Garde der Spriihkiil/stler.
)
" Wilde Schmierereien" machen Eigentiimem von Häusem zunehmend mehr Ä·rger. Die Beseitigung dieser nicht gewollten Ausdrucksform kostet der SAGA im Jahr Beträge, die an die Millionen gehen.
lungen von mehreren tausend Mark verurteilt. Geld, das dann von den Eltern aufgebracht werden muß. Die Wiege dieser Bewegung stand in den Vereinigten Staaten. Anfang der siebziger Jahre, heißt es, seien in New York die ersten Kunstwerke gesprüht worden. Anfang der Achtziger schwappte dann die Graffiti-Welle nach Deutschland über. Das Beschmieren von frisch gestrichenen Hauswänden, Telefonzellen oder S-Bahnwagen hat die Graffiti-Szene allerdings arg in Verruf gebracht. Mit Recht, hat das doch mit Kunst wenig zu tun. Wenn die Jugendlichen auf diese Weise ihrem Frust freien Lauf lassen, können sie bei ihren Mitmenschen nicht auf Verständnis hoffen. Echte Graffiti-Kunst, wie sie von zahlreichen jungen Sprayern hervorragend beherrscht wird, nötigt uns hingegen Respekt ab. Wegen ihres Improvisationsvermögens möchte man sie mit Jazz-Musikern vergleichen, ihr Umgang mit den leuchtenden Farben erinnert an einst ebenso verpönte Kunstrichtungen vom Anfang des Jahrhunderts. Klare Gestaltung machen Graffiti ebenso aus, wie omamentjörmige, ineinander verschi1mgene Schriftzeichen. Imm er aber steIlen leuchtende Farben und aufgesetzte Glanzlichter fiir die Graffiti-Kunst.
Rechtliche Aspekte von Graffiti-Aktionen
Des einen Lust, des anderen Frust Der Erfahrungssatz, daß des Täters Freud' auch des Opfers Leid ist, gilt auch beim Sprayen sogenannter "Graffiti": Der Lust des Sprayers steht der Frust des Hauseigentümers beim Betrachten seiner beschmierten Hausfassade gegenüber. Nimmt sich der Jurist mit der gebotenen emotionalen Distanz des Themas an, so stellt er zwei rechtliche Aspekte fest: 1. Zivilrechtlich hat gemäß § 903 BGB der Eigentümer einer Sache das alleinige Verfügungsrecht über diese und kann "andere von jeder Einwirkung ausschließen". Er braucht sich also keine "wilden Graffiti" gefallen zu lassen und kann Unterlassung und Schadenersatz fordern. 2. Strafrechtlich liegt eine Sachbeschädigung gemäß § 303 StGB vor. Eine solche ist nicht nur bei Beschädigung der Substanz einer Sache gegeben, sondern auch bei Verletzung des äußeren Erscheinungsbildes, zum Beispiel durch Plakatieren. Der Täter kann sich demgegenüber auch nicht auf höhere Rechte, wie Entfaltung seiner künstlerischen Persönlichkeit, berufen.
Das Geriist ist angebracht lind die ersten Konturen des sp채teren Kunstwerkes sind unter der d체nllen Gaze zu erkellllen.
5
Höchstes Graffito der Welt mit Hilfe der SAGA
Das Otto-Schußlann-Graffito in BergedorflLohbrügge Die SAGA rief und die weltweit besten Graffiti-Künstler kamen. "Loomit" aus New York, "Darco" aus Paris, "Daim" und "Hesh" aus Hamburg und die zwei Bergedorfer Lokalgrößen "Vaine" und "ohne". In Zusammenarbeit mit den Straßensozialarbeitern aus Lohbrügge konnte so das höchste Graffito-Kunstwerk der Welt entstehen. Auf 300 Quadratmetern wurde am Otto-Schumann-Weg das 28 Meter hohe Graffito "Zeichen der Zeit" geschaffen. In nur zehn Tagen sprühten die "Writer" bei eisiger Kälte und scharfem Wind, was die
Dosen hielten. Doch sie hatten nicht nur die Witterungsverhältnisse gegen sich. Einige ältere Anwohner hatten zunächst überhaupt kein Verständnis für die "Schmierereien". Doch nur einige Tage später - die ersten Konturen und Ausführungen waren zu erkennen - änderte sich die Meinung der Mieter. Fortan gab es heiße Getränke und auch schon mal ein Stück Kuchen für die frierenden Künstler. Dann war es endlich soweit: Am 14. Dezember 1995 enthüllte die Senatorin für Arbeit, Geslmdheit und Soziales, Helgrit
Sechs der bestell Graffiti-Kül/stler kOlllltell gelVOl/llelllVerdell,
6
11111
das ergeizige Projekt ill BergedOlfZII realisieren.
Nichts wird vorgezeichnet, alles komlllt direkt alls der Dose. A ls Vorlage diellt eil! kleiner Z ettel, auf dem die grobe Idee skizziert wurde.
7
Selbstirollie: Eille S-Ballll wird auf die Walld gesprüht ulld diese wird wiederum mit " wildelt Graffities" gestaltet.
Fischer-Menzel, gemeinsam mit der Bergedorfer Bezirksamtsleiterin Christine Steinert das Werk vor über hundert, meist jugendlichen Zuschauern. Der von der SAGA gewollte Effekt stellte sich sehr schnell ein: Schon wenige Tage nach der Einweihung meldeten sich Geschäftsleute, die weitere Flächen fiir Graffiti zur Verfügung stellen wollen, aber auch "Writer", die bisher illegal gearbeitet haben, mit dem Versprechen: "Wenn die SAGA uns Flächen zur Verfügung stellt, werden wir dafiir sorgen, daß nicht mehr an allen Hauswänden ,wild' gesprüht wird."
Im Duden nachgeschlagen: Graffito (Mehrzahl: Graffiti; italienisch) In eine Wand eingekratzte Inschrift; Wandkritzelei; auf Mauern, Fassaden o. ä. gesprühte oder gemalte Parole. Heute unterscheidet man drei Grundformen der Graffitikunst: Symbole und Zeichen, Schrift, Bilder. In jüngster Zeit scheint sich in beiden Lagern, bei den Sprayern und Hauseigentümern, mehr und mehr die Erkenntnis durchzusetzen, daß allein Konfrontation die Kluft noch vertieft. Das ist auch der Ansatz der SAGA: Wir wollen die Sprayer nicht kriminalisieren, sondern mit ihnen ins Gespräch kommen. Die Kosten für das Entfernen" wilder Schmierereien" auf den Haus- und Garagenwänden im SAGA-Bestand belaufen sich auf fast eine Million Mark im Jahr. Dazu kommt noch die "visuelle Umweltverschmutzung", die den Mietern zugemutet wird. Also ist es besser, ihnen Flächen und auch Farben zur Verfügung zu stellen. Die Gegenleistung: In den stark hierarchiebezogenen Sprayer-Gruppen wird durchgesetzt, daß die Hauswände der SAGA tabu sind. Legal besprühte Flächen mit künstlerischem Anspruch werden von den einzelnen Sprayern geachtet und nicht weiter übersprüht. Das sichert dauerhaft ein abgestimmtes und genehmigtes Erscheinungsbild an ausgesuchten Projekten.
Schwieriges ArbeiteIl bei Millustemperaturell auf eillem Gerüst ohlle viel Bewegullgsfreiheit.
8
Die Senatm·i" für Arbeit, Gesundheit und Soziales, Helgrit Fischer-Mellzel eIlthüllt gemeillsam mit der Bergedmfer Bezirksamtsleiterill Christille Steinert das Werk.
9
Grußwort des Präses der Behörde für Arbeit, Gesundheit und Soziales, Frau Senatorin Helgrit Fischer-Menzel, anläßlich der Enthüllung des Otto-Schumann-Graffito am 14. Dezember 1995
Renaissancezeit bis hin zum jugendlichen Sprayer unserer Neuzeit. Einzelne "styles" - kunstvolle Schriftzüge und Motive der "Writer" - vervollständigen das Kunstwerk. Die Graffiti-Szene ist ein schwieriges Feld. Zum einen handeln die Sprayer häufig illegal, indem sie ihre Bilder und Motive auf Mauern, Fassaden, U- und S-Bahnen oder Eisenbahnwaggons malen und damit fremdes Eigentum beschädigen. Zum anderen empfinden viele Menschen die "tags" oder "pieces" als ärgerliche Schmiererei. Unbemerkt - über Nacht entstanden - sind sie plötzlich da; springen uns förmlich ins Gesicht und fordern uns heraus. Abstrakt und für die meisten unverständlich erscheinen sie als Zeichen einer fremden und damit oft bedrohlich wirkenden Welt. Dabei ist die Botschaft, die hinter den Werken der Sprayer steht, eigentlich recht einfach. Sie wollen uns sagen: "Schaut her, es gibt mich, hier bin ich, das kann ich! " So bauen die Jugendlichen ihren Alltagsfrust ab und verbreiten Informationen unter Insidern. Indem sie über Nacht grauen Beton in eine bunte
"Hamburg ist seit heute mittag um eine Attraktion reicher: Sechs Graffiti-Künstler haben in der ersten Dezember-Woche in einer gemeinsamen Aktion mit der Straßensozialarbeit Lohbrügge, der SAGA, einer Bergedorfer Gerüstbaufirma, der St. -Christopherus-Kirchengemeinde Lohbrügge, der Körber-Stiftung und der STATT-Partei unserer Stadt das mit 28 Metern Höhe wohl höchste Graffito der Welt geschenkt. Die Weltspitze der sogenannten "Writer" - "Loomit" aus New York bzw. München, "Darco" aus Paris sowie "Daim" und "Hesh" aus Hamburg - haben gemeinsam mit ihren zwei Bergedorfer Kollegen "Vaine" und "ohne" hier in Lohbrügge das 300 Quadratmeter große Graffito "Zeichen der Zeit" geschaffen. Dieses eindrucksvolle "piece" zeigt eine S-Bahn, die sich unter einer großen Uhr von Altona aus durch die City, entlang der Hamburger Skyline nach Bergedorf windet. Daneben dokumentieren drei Motive die Entwicklung der Wandmalerei: von der Höhlenzeichnung über die Darstellung eines Michelangelo-Freskos aus der
10
Symbolik ill For", eiller überdimensiollalen Uhr: Zeichell der Zeit lIellnen die Spraye,' ihr Werk ill Bergedorf.
Der bekallllte Künstler DAIM gestaltet während des SA GA-Streetball-Cups ein Fahrzeug mit Graffiti, llas später für einen guten Z weck versteigert werdelI soll.
11
Wand verwandeln, versuchen sie oft, sich von ihren Sorgen abzulenken. Am anderen Morgen wird das "Kunstwerk" entdeckt, bewundert oder verteufelt. Das gibt ihnen den richtigen "Kick". In den USA und Frankreich werden illegale Sprayer gnadenlos verfolgt und sehr hart bestraft. Im Szene-Magazin "Beastie Boys" habe ich gelesen, daß "Daim" und "Hesh" eineinhalb Tage in New York im Knast gesessen haben. Auch hier in Deutschland können wir keine Straftaten dulden. Wir können nicht einfach hinnehmen, daß fremdes Eigentum durch Sprayer beschädigt oder zerstört wird. Wird ein "Writer" überfiihrt, drohen ihm Geldstraten, nicht selten in fünfstelliger Höhe. Ebenso stürzen hohe Schadenersatzansprüche die jungen Menschen in langfristige, unüberschaubare finanzielle und wirtschaftliche Belastungen. In vielen Fällen werden Lebensperspektiven zerstört, zumal die Erfahrungen zeigen, daß insbesondere junge Leute aus sozial benachteiligten und wirtschaftlich äußerst beengten Lebensverhältnissen betroffen sind.
Diese Sanktionen können jedoch die Lust am Sprayen kaum mindern. Für viele ist es wie ein Rausch, dem sie sich nicht entziehen können. Es lockt der Reiz nach Erfahrungen im Grenzbereich zwischen sozial erwünschtem Verhalten und die Umgebung provozierenden und störenden Handlungsmustern. Dabei bringen sich die jungen Menschen durch ihre Sprühaktionen oft selbst in Lebensgefahr: In Teilen der Graffiti-Szene herrscht ein außerordentlich aggressiver Konkurrenzkampf um legale wie auch illegale Sprühflächen, der zunehmend auch unter Einsatz von Waffen wie Messern, Baseballschlägern oder Gasrevolvern ausgetragen wird. Vor diesem Hintergrund beglüße ich ausdrücklich Projekte wie dieses hier in Lohbrügge. Seit fünf Jahren vermittelt die Straßen ozialarbeit den Jugendlichen Wände und Flächen zum legalen Sprayen. AnHinger können von Fortgeschrittenen lernen. In Spray-Wettbewerben stellen sie ihr Können unter Beweis. Gelegentliche Auftragsarbeiten bieten arbeitslosen Sprayern die Chance, zwischenzeitlich selbst ein wenig Geld zu verdienen. Pro-
12
" Hambllrg ist seit heute Mittag UII/. eille A ttraktioll reicher", sagt die S ellatorill Helgrit Fisclter-Mellzel ill ihrer Allsprache a1ll14. Dezember 1995.
Schlüssel für eine Zukunft, die den jungen Menschen die Chance auf ein selbstbestimmtes, von staatlichen Hilfen unabhängiges Leben bietet. Das Otto-SchumaJill-Graffito ist ein Beispiel für den künstlerischen Ausdruck einer weltweit verbreiteten Jugendsubkultur, die in ihrer alltäglichen Erscheinungsform gemeinhin als "Schmiererei" verurteilt wird. Auch dieses Werk wird sicher nicht allen gefallen. Aber statt über Geschmack zu streiten, sollten wir vielmehr die sozial- undj ugendpolitischen Chancen von ' Graffiti-Projekten in unserer Stadt nutzen, so wie die skeptischen Damen aus dem Wohnblock am Otto-Schumarm-Weg 4d: Zunächst lehnten sie die Aktion energisch ab. Das dafür verwendete Geld solle besser in die Renovierurng des Hauses gesteckt werden. Als sie aber sahen, was dort tatsächlich entsteht, waren sie so begeistert, daß sie die Künstler, die in Eiseskälte arbeiteten, täglich mehrmals mit heißen Getränken und warmen Mahlzeiten versorgten. In diesem Sinne danke ich allen Beteiligten, die an diesem großartigen Kunstwerk - dem Otto-Schumann-Graffito - mitgewirkt haben: Sie haben der Stadt nicht nur ein eindrucksvolles, sondern vor allem auch wegweisendes Geschenk gemacht."
jekte wie dieses sollen den Jugendlichen legale Alternativen zum kulturellen Ausdruck ihres Lebensgefühls bieten. Ich freue mich, daß die SAGA hier am Otto-Schumann-Weg in Lohbrügge ein Signal gesetzt und eine 28 mal elf Meter große Giebelwand für ein Graffiti-Kunstwerk zu Verfügung gestellt hat. Damit können wir weithin sichtbar demonstrieren, welche Potentiale in den jugendlichen Sprayern stecken. Diesen müssen wir den notwendigen Raum bieten, ihre - wenn auch umstrittenen kulturellen Ausdrucksformen zu verwirklichen. Schließlich liegt es in unserer Verantwortung, ob wir die jungen Menschen ausgrenzen und damit in die soziale Isolation oder gar Kriminalität treiben oder ob wir ihnen in einer Gesellschaft, die immer größere Anfordenmgen an sie richtet, ihnen aber gleichzeitig immer weniger Perspektiven zu bieten scheint, die Möglichkeit zu Kreativität und freier Entfaltung eröffnen. Wenn wir auf sie zugehen, wächst ihre Bereitschaft zum Gespräch, öffnen sich die Jugendlichen für Beratungsangebote und können zum Beispiel gezielt in der Ausbildung oder Arbeitsplatzsuche unterstützt werden. Die Flächen, die wir den Jugendlichen zum Sprayen von Graffiti bereitstellen, sind also der mögliche
4
Ăœbel' 300 Quadratmeter LebelIsfreude: Das hĂśchste Graffito der Welt ist eill B eispielfiir das Miteillallderulld der K01111111111 ikatiolls/ii h igkeit verschiedell er /11 teressellgruppell.
15
SAGA
SAGA Siedlungs-Aktiengesellschaft Hamburg GroĂ&#x;e Bergstr. 154, 22767 Hamburg