Renaissance der Ekphrasis – Ekphrasis der Renaissance

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Jesús Muñoz Morcillo

Renaissance der Ekphrasis Ekphrasis der Renaissance

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Jesús Muñoz Morcillo

Die Entstehung der Ekphrasis als ästhetische Kategorie der Renaissance steht unter dem Einfluss der antiken Schulrhetorik und der literarischen Tradition, von der homerischen Epik bis zur byzantinischen Popularisierung ekphrastischer Untergattungen. Das Buch nähert sich dem humanistischen Verständnis der Ekphrasis, wodurch bisher kaum beachtete Phä­nomene beleuchtet werden, wie die schulrhetorische Faktur von Giorgio Vasaris Viten oder die Spuren naturphilosophischer und technischer Beschreibungen in der visuellen Kultur der Renaissance, von Emblembüchern und wissenschaftlichen Traktaten bis hin zu Sottobosco-Gemälden und Experimentaldichtung des Frühbarock am Beispiel von Luis de Góngora.

Renaissance der Ekphrasis Ekphrasis der Renaissance

03.11.2023 18:08:26


Ekphrasis – Kunst – Rhetorik Neue Perspektiven Herausgegeben von Jesús Muñoz Morcillo und Oliver Jehle

Band 1 Beiratsmitglieder: Barbara Baert, Horst Bredekamp, José Antonio Fernández Delgado, Yannis Hadjinicolaou, Jesús Hernández Lobato, Martin Papenbrock, Francisca Pordomingo Pardo, Óscar Prieto Domínguez, Courtney Ann Roby, Valeska von Rosen


Jesús Muñoz Morcillo

Renaissance der Ekphrasis – Ekphrasis der Renaissance Transformationen einer einflussreichen ästhetischen Kategorie in Kunst, Literatur und Wissenschaft


Gefördert von der VolkswagenStiftung

ISBN 978‑3‑11‑079080‑1 e-ISBN (PDF) 978-3-11-139557-9 ISSN 2941-4644 Library of Congress Control Number: 2023944744 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2024 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Einbandabbildung: Franz de Hamilton, Disteln am Waldrand mit Tieren und Insekten, 1702/03, Öl auf Kupfer, 54,8 × 43,5 cm. Staatliche Kunsthalle Karlsruhe, Inv. 355 Schlusslektorat: Christine Wölfle Satz: LVD GmbH, Berlin Druck und Bindung: Beltz Grafische Betriebe GmbH, Bad Langensalza www.degruyter.com


Inhaltsverzeichnis

Vorwort 9 Danksagung 9 Zum Gegenstand dieses Buches 10 1.

Ekphrasis – von den literarischen Kanons zur ästhetischen Kategorie 17 Einleitende Anmerkungen 17 Die Kanons der Ekphrasis. Zwischen Literatur- und Schultradition 19 Enárgeia: Die literaturkritische und philosophische Tradition der Ekphrasis 22 Ursprung des literarischen Kanons und seiner sich wandelnden Natur 27 Unterschiede zwischen den überlieferten Progymnásmata-Handbüchern 28 Herausforderungen an den Kanon. Moderne Einflüsse 29 Herausforderungen an den Kanon. Subjektivität und historische Kontingenz 31 Herausforderungen an den Kanon. Multiplizität 32 Kriterien für die Ausdefinierung ekphrastischer Kanons 33 Die Ekphrasis im Einsatz: Kanonische und nicht-kanonische Vorkommen 34 Der Ibis von Herodot: Ein kanonischer Text über ein vielschichtiges Tier 35 Die Verleumdung des Apelles: Vormoderne Ästhetik der Phantasie 39 Die ekphrastische Trunkenheit des Silenus: kurz, aber üppig 42 Fazit: Zwischen Repräsentativität, Vielfalt und Autonomie 46

2. Geheimtipp unter Gelehrten: Johannes Tzetzes’ Wiederbelebung der Ekphrasis und sein Einfluss auf die Renaissance 49 Byzanz und die Ekphrasis 49 Ein sinnlich-haptischer Seidenschal. Über anagogische Höhen und rationalen Pragmatismus 51 Tzetzes’ Ekphrasen und Schriften zur Ekphrasis 57 Maler und Bildhauer – ein beliebtes Thema 57 Beschreibung der Kairós-Skulptur als Chronos 59


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Inhaltsverzeichnis

Eine Original-Ekphrasis von Tzetzes: Der Schild der Penthesilea 65 Auf den Effekt kommt es an – Beschreibung von K ­ riegs­maschinerie als Vermittlungskunst 67 Geographische Beschreibungen – Klarheit vor Anschaulichkeit 70 Ekphrastische Allegorien auf dem Schild des Achilles 71 Selbstdarstellung als moderne Kategorie 73 Zwischen Progymnásmata, literarischer Tradition und Innovation 75 Tzetzes’ Schreiben im Unterschied zu jenem seiner Zeit 76 Tzetzes und die italienische Renaissance 77 3. Die progymnasmatische Ekphrasis und Giorgio Vasaris „Erinnerungsbilder“ 79 Giorgio Vasaris Lateinlehrer in Arezzo 81 Progymnasmatische Tradition im Mittelalter 82 Die Tradition der Ekphrasis im frühneuzeitlichen Bildungssystem 83 Der „Lehrplan“ für Latein und Griechisch in Arezzo 88 Progymnásmata in Italien 92 Progymnásmata und progymnasmatische Ekphrasis in Vasaris Lebensbeschreibungen 94 Progymnásmata in Vasaris Lebensbeschreibungen – von der Anekdote zur Erzählung 94 Ekphrasis jenseits der Beschreibung von Kunstwerken 97 Ungesehenes beschreiben – die Macht der Topoi 102 Beschreibungen von Maschinen – zwischen Präzision und Unterhaltung 105 Conclusio: Kunstgeschichte als Progymnasmatik? 106 4. Die Kunst der Beschreibung und die Ursprünge visueller Ökologien 109 Der Canterbury-Meteorit 109 Autoptische Evidenz als Maßgabe der Naturbeschreibung 111 Ekphrasis und Emblematik 114 Ekphrasis und visuelle Ökologien 117 Lokale Ökologien: Das Sexualverhalten der Schlangen 118 Ökologien des (anatomischen) Mesokosmos – Vesalius’ Q 123 Kosmische Ökologien. Die Urwirbel nach Hans Holbein dem Jüngeren 128 Ökologien der Singularitäten. Monster, Fabelwesen und Waldbrände 132 Moralische Ökologien und symbolische Tiere: Sünden und Tugenden des Chamäleons 136 Meta-Ökologien: Die Spiraltendenz der Natur 144


Inhaltsverzeichnis

Ekphrastische Tableaus visueller Ökosysteme: Von Gherardo Cibos botanischen Bildern zur Sottobosco-Malerei 148 Conclusio mit Ouroboros: Ekphrasis als kreatives Ökosystem 154 5. Ekphrasen als analytische Interpretationen und „Erinnerungsbilder“ in der Barockliteratur. Luis de Góngoras Soledades mit Ikarus-Sturz 157 Die Soledades als „flämische Leinwand“? 157 Zum ekphrastischen Aufgebot der Soledades 161 Zur rhetorisch-literarischen Tradition des 16. und 17. Jahrhunderts 162 Ekphrasis als intellektuell-ästhetische Kategorie 165 Dichtung und Wissenschaft: Kompass-Beschreibung und magnetische Deklination 167 Serpens caput, Serpens cauda. Sternbilder und die moderne Schifffahrt 175 Die philippinischen Inseln als Verkörperung der Diana. Der tödliche Anblick des Göttlichen 178 Conclusionis modo: Erhabener Pessimismus und intellektuelle Bildkraft 181 6. Epilog: Licht am Nachthimmel der Ekphrasis und neue Bild­ver­flech­tungen 183 Bibliographie 191 Siglen- und Abkürzungsverzeichnis 191 Editionen und Übersetzungen 196 Nachschlagewerke 202 Forschungsliteratur 202 Bildnachweise 219 Farbtafeln 223

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Vorwort

Danksagung Diese Publikation hat von zwei Forschungsprojekten stark profitiert: „Genealogie der Populärwissenschaft. Von der antiken Ékphrasis zur Virtuellen Realität“, gefördert von der KIT-Stiftung und der Schleicher-Stiftung (2018–2019), und „Ecphrastic Ecol­ ogy in Renaissance Visual Culture“, gefördert von der VolkswagenStiftung (2019– 2021) und dem Getty Research Institute (GRI), Los Angeles. Während eines Forschungsaufenthalts am GRI von September 2019 bis Juni 2020 organisierte ich das interdisziplinäre Colloquium „Languages of Ecology. Ancient and Early Modern Approaches to Nature“, an dem die klassischen Philologinnen Prof. Dr. Courtney Ann Roby (Cornell University) und Prof. Dr. Alex C. Purves (University of California, Los Angeles) sowie die Kunsthistorikerin Prof. Dr. Browen Wilson (University of California, Los Angeles) mit einschlägigen Beiträgen teilnahmen.1 Für zahlreiche Gespräche und tatkräftige Unterstützung bin ich sowohl den Vor­ tragenden als auch Dr. Alexa Sekyra (Leiterin des Getty Scholars Program), Ann Harezlak, Prof. Dr. Alan C. Braddock und Prof. Dr. Mónica Domínguez Torres zu Dankbarkeit verpflichtet. Für die Erforschung ekphrastischer Rezeptionsprozesse in der Renaissance war ein kritischer Blick auf die vielfältige ekphrastische Tradition der Antike unabdingbar, insofern diese auf das Schulsystem des Mittelalters und der Renaissance nachhaltig eingewirkt hat. Für diesen Forschungsschwerpunkt konnten Prof. Dr. José Antonio Fernández Delgado und Prof. Dr. Fran­cisca Pordomingo Pardo vom Institut für klassische Philologie der Universidad de Salamanca, durch ihre bahnbrechenden Beiträge zum Einfluss der Schulrhetorik auf die Literatur der Antike international bekannt, für eine Kooperation gewonnen werden. Durch diese Zusammenarbeit, für die ich an dieser Stelle danke, sind nicht nur Kontakte zu Expertinnen und Experten

1 Das Colloquium fand am 18. Mai 2020 statt. Das Veranstaltungsprogramm kann hier eingesehen werden: https://classicalstudies.org/scs-news/languages-ecology-ancient-and-earlymod­ern-approaches-nature [22. 10. 2023].


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Vorwort

der progymnasmatischen Studien wie Prof. Dr. Laura Miguélez Cavero (vormals Oxford University, jetzt Universidad Complutense de Madrid), Prof. Dr. Jesús Ureña Bracero (Universidad de Extremadura), Prof. Dr. Antonio Stramaglia (Università degli Studi di Bari) oder Prof. Dr. Manfred Kraus (Eberhard Karls Universität Tübingen), sondern auch eine zweite Doktorarbeit zur Ekphrasis-Tradition in der Antike zustande gekommen, welche 2021 unter dem Titel La Ékphrasis Griega, de la Anti­ güedad a Bizancio bei Peter Lang erschienen ist. Sie bildet gewissermaßen als Vorarbeit die Grundlage für das vorliegende Buch, das in ihrer Fortsetzung untersucht, wie sich die ekphrastische Praxis im Mittelalter weiterentwickelte und wo sich Wiederbelebungsmomente sowohl im Byzanz des 12. Jahrhunderts als auch in der europäischen Renaissance mit nachweislichen Auswirkungen auf neue Bildprogrammatiken nördlich und südlich der Alpen ausfindig machen lassen. Ebenso wenig wäre dieses Buch möglich gewesen ohne die Unterstützung von Prof. Dr. Oliver Jehle, der mit der Neugierde eines wahren Studioso den vorliegenden Text mit zahlreichen Anmerkungen bereichert hat. Unsere Gespräche über ekphrastische Rezeptionsfälle waren mir immer ein großes und ertragreiches Vergnügen. Oliver Jehle hat überhaupt die Arbeitsbedingungen dafür geschaffen, dass diese Art interdisziplinärer Forschung am KIT durchgeführt wird. Für anregende Anmerkungen und wertvolles Feedback danke ich, neben Professor Jehle, allen Mitgliedern der Habilitationskommission – Prof. Andreas Wagner (KIT-Prodekan Forschung, Vorsitz), Prof. Dr. Martin Papenbrock – und den externen Gutachtenden Prof. Dr. Mónica Domínguez Torres und Prof. Dr. Manfred Kraus. Ganz besonders möchte ich mich auch bei Helga Lechner bedanken, die als Sekretärin und unermüdliche Beraterin der Kunstgeschichte am KIT mit mir auf allen Verwaltungsebenen durch dick und dünn gegangen ist. Ferner gebührt auch Emanuel Haberstumpf und Natalia Stirner vom Finanzmanagement (FIMA) am KIT mein herzlicher Dank, die sich in zahlreichen bürokratischen Angelegenheiten in Verbindung mit meinem Stipendium der VolkswagenStiftung und dem Getty Fellowship stark eingesetzt haben. Für die Aufbereitung des Manuskripts konnte ich auf die Unterstützung von Stephanie Rothe, Denise Ganz und, vor allem, Dora Tanswell und Christine Wölfle zurückgreifen, die mit untrüglichem Auge den finalen Text Korrektur lasen. Auch ihnen sei herzlichst gedankt. Ebenso danke ich Dr. Katja Richter, Clara Rainer, Dr. Imke Wartenberg, und Kerstin Protz von De Gruyter für die stets sorgsame, angenehme und konstruktive Zusammenarbeit. Die Großzügigkeit und das Fachwissen aller haben diese Studie in vielerlei Hinsicht verbessert und mich vor unbeabsichtigten Fehlern bewahrt; für die, die unvermeidlich blieben, bin ich selbst verantwortlich. Die vorliegende Publikation wurde durch die VolkswagenStiftung finanziert. An dieser Stelle möchte mich für die großzügige Förderung und die stets unkomplizierte Zusammenarbeit herzlich bedanken.


Zum Gegenstand dieses Buches

Zum Gegenstand dieses Buches Die antike ἔκφρασις (ékphrasis, Ekphrasis) ist die rhetorische Kunst der anschaulichen Beschreibung, wie sie in den Rhetorik-Handbüchern mit Vorübungen, den sogenannten Progymnásmata (προγυμνάσματα) seit der römischen Kaiserzeit gelehrt wird. Nur vier dieser Handbücher haben sich erhalten. Sie wurden zwischen dem 1. und dem 5. Jahrhundert verfasst und den Rhetoren der sogenannten Zweiten Sophistik zugeschrieben – Ailios Theon, Pseudo-Hermogenes, Aphthonius und Nikolaos von Myra. Pseudo-Hermogenes’ Handbuch, das kürzeste der vier Progymnásmata-Handbücher, die das Wissen über die Ekphrasis enthalten, wurde im 6. Jahrhundert von dem byzantinischen Grammatiker Priscian ins Lateinische übersetzt. Dieses Handbuch ergänzte vermutlich das lateinische Curriculum im westlichen Mittelalter, wenn auch relativ wenig Kopien davon in Westeuropa nachgewiesen sind. In der Renaissance war die Ausgabe von Aphthonius, welche pro vorgestelltem Progýmnasma eine Modellübung enthielt, das populärste und einflussreichste Progymnásmata-Handbuch. Es wurde 1478 von Rudolf Agricola ins Lateinische übersetzt, allerdings erst 1532 von Alardus von Amsterdam gedruckt. Eine weitere Übersetzung von Giovanni Maria Cattaneo erschien bereits 1507 in Bologna. Die am häufigsten nachgedruckte Version war jedoch eine Kombination aus beiden Übersetzungen (partim Agricola partim Cattaneo), herausgegeben vom Professor für Rhetorik an der Universität Marburg Reinhard Lorich (1510–1564). Diese von Lorich zusammengestellte Ausgabe enthielt viele Musterübungen und wurde mindestens bis 1718 nachgedruckt (Kraus 2008: 64). Soweit wir wissen, war es der Grammatiker Ailios Theon, der die Progymnásmata im 1. Jahrhundert in einem Handbuch erstmals erläuterte. Aphthonius, Pseudo-Hermogenes und Nikolaos von Myra nahmen geringere, teils aber ebenfalls bedeutende Änderungen und Ergänzungen vor. Der literarische Einfluss der Progymnásmata reicht bis in die klassische und hellenistische Zeit zurück, wie literarische Analysen und archäologische Funde – wie etwa Ostraka und Papyri mit derartigen Schulübungen – beweisen (vgl. Fernández Delgado 2007; Fernández Delgado/Pordomingo Pardo 2010, 2017). Die Rhetorik der Zweiten Sophistik definierte die Ekphrasis in Übereinstimmung mit Ailios Theon als „eine beschreibende Rede, die den behandelten Gegenstand anschaulich vor Augen führt“2 – „ἔκφρασις ἔστι λόγος περιηγηματικός ἐναργῶς ὕπ’ ὄψιν ἄγων τὸν δηλούμενον“ (Th. Prog. 118, 1.7 Patillon/Bolognesi).3 Ekphrasis ist somit sowohl die Kunst der Beschrei2 Sofern nicht anders angegeben, handelt es sich bei übersetzten Passagen um Übersetzungen meinerseits. 3 Zu einigen Unterschieden in der antiken Definition von Ekphrasis siehe Webb 2009: 39–59. Für eine Einführung in die literarische Praxis der Ekphrasis und die Existenz von ΕkphrasenKanons in der Antike und in Byzanz vgl. Muñoz Morcillo 2019. Für weitere allgemeine Literatur zur antiken Ekphrasis vgl. Squire/Brassat 2017; Bartsch/Elsner 2007; Elsner 2002; Becker

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Vorwort

bung als auch ihr Produkt, gebunden an die verbale Fähigkeit, mentale Bilder mit psychologischer Überzeugungskraft zu produzieren. Die nähere Bestimmung dieses Vorgangs übernimmt das hier als „anschaulich“ übersetzte Adverb „ἐναργῶς“ (enargōs), das auf das Hauptmerkmal der Ekphrasis führt: die Lebendigkeit (enárgeia). Zu den möglichen Beschreibungsgegenständen der Ekphrasis gehören Charaktere (von Personen oder Tieren), Ereignisse, Orte, Zeiten, Herstellungsverfahren und vieles mehr. Aphthonius fügte im 4. Jahrhundert Pflanzen und Tiere dem potentiellen Themenspektrum explizit hinzu. Erst im 5. Jahrhundert erweiterte Nikolaos von Myra diese Liste um das, was mit der Ekphrasis heute in erster Linie assoziiert wird: um Skulpturen (αγάλματα, agálmata) und Bilder (εικόνες, eikónes). Der Grammatikunterricht sah die Ekphrasis, zumindest ab dem Handbuch des Pseudo-Hermogenes, als eine der fortgeschrittensten rhetorischen Übungen vor. Oft findet sie Einsatz im Zusammenspiel mit anderen Progymnásmata wie der Erzählung (διήγημα, diégēma) oder der Lobrede (ἐνκώμιον, enkōmion). Aufgrund des übergreifenden Charakters der Ekphrasis sind derartige Texte in jeder literarischen Gattung präsent. Die ekphrastische Praxis erfuhr außerdem im Laufe der Zeit unterschiedliche Anwendung: So verfassten in der Spätantike einige entsprechend Gebildete, wie Ruth Webb (2007: 464) herausgearbeitet hat, Ekphrasen als „memory images“ („Erinnerungsbilder“). Diese Texte waren nicht dazu gedacht, mit einem breiten Publikum spontan zu kommunizieren, anders als dies zumindest bis zur hellenistischen Zeit der Fall gewesen war. So sind sie meist auch entsprechend lang, wodurch ihnen häufig die unmittelbar wirkungsvolle Anschaulichkeit fehlt. Im Byzanz des 11. und 12. Jahrhunderts wird jedoch ebendiese psychologische Auffassung der Ekphrasis wiederbelebt und modernisiert, insofern Wortschatz und Metrik an den neuen kulturellen Kontext angepasst wurden. Die Faszination für ekphrastische Texte erreichte auch den italienischen Humanismus. Der italienische Gelehrte Guarino da Verona (1374–1460) übersetzte Lukians Rede Calumniae non temere credendum (bekannter als Calumnia, Verleumdung) vom Griechischen ins Lateinische und lieferte damit den Ausgangspunkt für eine westliche Ekphrasis-Tradition. Seine Übersetzung inspirierte zahlreiche Autorinnen und Autoren zur Produktion neuer ekphrastischer Texte (z. B. enkomiastischer Reden anlässlich von Kirchenweihen) wie auch Kunstschaffende zur Produktion von Zeichnungen, Radierungen, Gemälden und unterschiedlichsten Artefakten. Entlang dieser Bewegungen beschäftigt sich das vorliegende Buch mit der Entstehung visueller Kulturen aus dem Geiste der antiken Ekphrasis. Dazu gehört eine Einführung in die rhetorisch-literarischen und epistemologischen Ursprünge der Ekphrasis sowie der Nachvollzug der Tradierung und Transformation der antiken Ekphrasis in eine ästhetische Kategorie erster Ordnung im Italien der Renaissance

1993, 1995; Fowler 1991, 1996; Nicolai 2009. Für den Spezialfall der technischen Ekphrasis vgl. Roby 2016.


Zum Gegenstand dieses Buches

wie auch in anderen Teilen Europas. Damit skizziert die vorliegende Arbeit die Wirkmächtigkeit der antiken Ekphrasis im Sinne einer lebendigen Kulturtechnik, die weitreichenden Einfluss auf die Kunst, die Wissenschaft und die Literatur der Frühen Neuzeit ausübte, wobei das Augenmerk überwiegend auf die ästhetische Dimension gerichtet bleibt. Ein besonderer Fokus liegt dabei auf der rhetorischen Bildung und der künstlerischen Praxis der Renaissance. Von zentraler Bedeutung ist das eigenartige Motiv, welches der Humanist Leon Battista Alberti (1404–1472) Mitte des 15. Jahrhunderts für sein persönliches Wappen entwarf: ein geflügeltes Auge, aus dem Nervenfasern sprießen, als ob es alles berührt, was es sieht, und alles sieht, was es berührt. Dieses Bild verkörperte die Idee, das Auge sei der König der Sinne und das ultimative Tor zur Erkenntnis durch sinnesbasierte Evidenz. Mit dieser visuellen Metapher stellte Alberti die bildenden Künste zusammen mit den Wissenschaften an die Spitze der Wissensproduktion. In seinem Buch Über die Malkunst (De pictura) von 1435 empfahl Alberti den Künstlern, ihre visuelle Inspiration in den Dichtern der Antike zu suchen, da diese Experten darin waren, einem Publikum Objekte mit den Mitteln der Beschreibung anschaulich vor Augen zu führen (vgl. Alb. De pict. III 53). Viele dieser Beschreibungen enthalten zudem, auch das wird hier herausgearbeitet, relevante Informationen zum ‚ökologischen‘ Denken der Antike, welches die visuelle und wissenschaftliche Kultur der Renaissance nachhaltig prägte. Die Kenntnis der ekphrastischen Ursprünge visueller Bildkulturen inklusive der Sprache der Kunstgeschichte und des frühen ökologischen Denkens trägt nicht nur zu einem besseren Verständnis der Natur- und Kulturgeschichte als Transformation ästhetischer Ideen bei, sondern in ihr eröffnen sich auch Einblicke in die antike Bildkritik zu den Grenzen der Repräsentation, welche die Humanist/-innen und Künstler/-innen der Renaissance zu überwinden versuchten. Ein gutes Beispiel ist Plinius’ negative Einstellung zur botanischen Zeichnung in seinem Werk Naturalis hi­­ storia (Plin. NH 25, 8; König/Hopp/Glöckner 1996: 22–23). Plinius beklagte, dass Bilder nicht in der Lage seien, die verschiedenen Lebensstadien und vielfältigen Umgebungen von Pflanzen genau wiederzugeben, auch unabhängig vom ohnehin vorprogrammierten Informationsverlust durch unvermeidliche Kopiervorgänge. Der Hobbybotaniker und Künstler Gherardo Cibo (1512–1600) reagierte auf Plinius’ Kritik und fügte der morphologischen Pflanzendarstellung die dazugehörige Umwelt hinzu, zusammen mit menschlichen Figuren zur besseren Erschließung der realen Proportionen. Frühneuzeitliche naturwissenschaftliche Tableaus scheinen dem Geiste dieses bildkritischen Dialogs entsprungen zu sein. Antike Beschreibungen in verschiedenste Medien gewandet trugen ihrerseits zur Formation vormoderner Vorstellungen von Ökologie bei – in wissenschaftlichen Schriften genauso wie in Emblemsammlungen, in Zeichnungen wie in Gemälden. Hier analysiere ich die Persistenz antiker Ideen auf der einen Seite und den kritischen Umgang mit ekphrastischen Theorien auf der anderen Seite. Das Hauptziel ist es, die kulturgeschichtlichen Ursprünge und ökologischen Implikationen spezifischer

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Vorwort

visueller Kulturen zu verstehen, die schließlich zu modernen, ihren ideologischen Voraussetzungen gegenüber aber oft blinden Begriffen von Kunst, Literatur und Natur geführt haben. Dass der unlängst aufgekommene ökologische Diskurs sich in Anbetracht der aktuellen ökologischen Krisen konstituiert, sollte nicht darüber hinwegtäuschen, dass, insbesondere innerhalb der Philosophie des Neuen Materialismus, Autoren wie Epikur, Lukrez und Spinoza als Archegeten dieser modernen Denkrichtung genannt werden (vgl. Bennett 2009). Jane Bennetts Buch Vibrant Matter. A Political Ecology of Things (2009) wird oft als eine der Gründungsschriften des Neuen Materialismus angesehen, wahrscheinlich auch deshalb, weil Bennett darin Verbindung zu einer jahrhundertealten Tradition herstellt in dem Anliegen, ethisches und politisches Urteilsvermögen zu aktivieren. Die praktische Einheit des Wissens, um die es dem Neuen Materialismus geht, mag vielleicht auch deshalb so neuartig erscheinen, weil sie seit Langem nicht mehr erlebbar war. Mit der philosophischen Tradition, in der Epikur, Lukrez und Spinoza stehen, arbeitet der Neue Materialismus daran, in der Besinnung auf die materielle Welt die abgenutzten und fraglich gewordenen Binaritäten von Subjekt/Objekt und Mensch/Nicht-Mensch zu überwinden oder sie zumindest anders zu denken. Über den epistemisch-rhetorischen Begriff der ἐνάργεια (enárgeia), dem ich als Hauptmerkmal der Ekphrasis nachgehe, knüpft meine ekphrastisch motivierte Untersuchung ökologischer Bilder der Frühen Neuzeit an jene alte materialistische Tradition an, die im Kern des heutigen Ökologiediskurses fortbesteht. Abgeschlossen wird dieses Buch mit einem Kapitel zur neuen Komplexität der literarischen, interkünstlerischen Ekphrasis des Barocks am Beispiel eines Werkes des spanischen Dichters Luis de Góngora (1561–1627) – den Soledades (Einsamkei­ ten) von 1613. Die intellektuelle Bildkraft Góngoras führt noch nie gesehene kulturelle, politische und wissenschaftliche Verschränkungen vor Augen, an denen die Vorwegnahme eines neuen Zeitalters der Bild-Text-Relationen in einem einzigartigen, nicht vollständig erhaltenen poetischen Körper bemerkbar wird. So treffen in diesem Buch zwei große Themenbereiche meiner bisherigen Forschung zusammen: die Genealogie polymedialer Wissenspopularisierung und die rhetorische Tradition anschaulicher Beschreibungen von der Antike bis zur (früh‑) neuzeitlichen Rezeption als Versuchsanordnung für die Untersuchung visueller Kulturen in Kunst, Literatur und Wissenschaft. Beide Forschungsbereiche erweisen sich als miteinander eng verbunden, insofern eine visuelle, die Sinne ansprechende Sprache sowohl die Entwicklung als auch die Popularisierung von Wissen maßgeblich vorantreibt. So zeigen sich in der Analyse visueller Kulturen ekphrastisch motivierte Bildprogrammatiken in nahezu allen Bereichen der Wissensproduktion, von der Astronomie über die Zoologie bis hin zur Kunstgeschichte. Vor diesem Hintergrund berührt und eröffnet das vorliegende Buch auch Fragen der Materialienikonologie, Fragen der Virtualisierung von Kunstwerken und weitere kulturelle Verflechtungen, in denen sich übergreifende Erscheinungen herausbilden, die z. B. die gegenwärtigen Vorstellungen von Authentizität mitbestimmen.


Zum Gegenstand dieses Buches

Hinsichtlich der Methodologie derartiger Verflechtungsanalysen wird in diesem Buch aufgezeigt, wie ertragreich es sich sowohl für frühere Artefakte als auch für zeitgenössische Kunstwerke erweist, deren Konstitutions- und Rezeptionsprozesse als Kulturtechniken zu beleuchten. So ist bspw. die Ekphrasis als eine frühe Kulturtechnik der Virtualisierung anzusehen, welche u. a. ermöglicht hat, Bildprogrammatik und Raumgestaltung legendärer Bauten wie der Hagia Sophia gründlich zu erschließen. Progymnasmatisch geprägt führen ekphrastische Studien, und so auch meine, fast unausweichlich auf epistemologische Fragen und Fragen der Repräsentation. Ihr Gegenstand lässt sich seinem Wesen gemäß nur kontextualisierend und interdisziplinär erschließen. In diesem Sinne stellt das vorliegende Buch kein abgeschlossenes Terrain dar, sondern es ist ein erster Beitrag von vielen zur Rolle der progymnasmatischen Ekphrasis in der Entstehung neuer visueller Kulturen.

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1. Ekphrasis – von den literarischen Kanons zur ästhetischen Kategorie

Einleitende Anmerkungen Die Ekphrasis war eine der Vorübungen der antiken Schulrhetorik.1 Die rhetorischen Vorübungen – bekannt als Progymnásmata – wurden im 1. Jahrhundert in Handbüchern für die Lehre der Grammatik systematisiert. Derartige Handbücher versammelten bis zu 14 Übungen an der Zahl und wurden für den Griechisch- sowie für den Lateinunterricht jahrhundertelang verwendet. Es besteht darüber hinaus eine rhetorisch-literarische ekphrastische Tradition seit den Dichtungen Homers und Hesiods. Diese Tradition ist relevant, um die progymnasmatische Ekphrasis als literarische und ästhetische Kategorie in die visuelle Kultur Europas einzuordnen. Die Ekphrasis gehört den Bereichen des Visuellen, des Kulturellen und des Textuellen gleichermaßen an, geht es hier doch um ein weit verbreitetes rhetorisches Mittel mit dem Potential, neue Bildwelten zu inspirieren. Aus heutiger Perspektive ließe sich von einem genuinen ‚Hybrid‘, im Sinne von Bruno Latour (1993), sprechen, da ekphrastische Texte und davon beeinflusste Bilder sowohl mit der Natur als auch mit der Gesellschaft, in der sie entstehen, eng verwoben sind. Ekphrastische Texte entfalten definitionsgemäß nämlich genau dann ihre intendierte Wirksamkeit, wenn sie bestimmte Bilder im Geist der Zuhörenden bzw. Lesenden aktivieren. Die zunehmenden Diskurse über Bild-Text-Relationen der frühen 1990er Jahre, wie etwa Mitchells Bild-Text-Verflechtungen (Mitchell 1994), wandten sich auch der Ekphrasis zu, jedoch unter weitgehender Vernachlässigung ihres Ursprungs in der Literatur und der oralen Bildkultur der Antike, und brachten damit eine modern anmutende Verkürzung in Umlauf, die bis heute vorherrscht. Auch wenn neuere Studien zu den Bildkulturen der Wissenschaft die antike Ekphrasis durchaus berücksichtigen (vgl. Hentschel 2016: 41–60), fällt die Quellenlage etwas lückenhaft aus, denn 1 Dieses Kapitel ist eine überarbeitete Fassung des Aufsatzes „Aproximación a los cánones de la écfrasis, entre tradición literaria e influencia escolar“ (Muñoz Morcillo 2019). In der vorliegenden Version liegt der Fokus vor allem auf der Transformation der Ekphrasis in eine ästhetische Kategorie, wofür einschlägige Beispiele aus der visuellen Kultur der Frühen Neuzeit herangezogen wurden.


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1. Ekphrasis – von den literarischen Kanons zur ästhetischen Kategorie

Bild- und Kulturwissenschaftlerinnen und ‑wissenschaftler haben selten Zugang zur genuinen Rhetorik der Antike. So ist bspw. das einführende Kapitel von Klaus Hentschel zu seinem Buch Visual Cultures in Science and Technology (2016) eine gut dokumentierte Zusammenstellung zeitgenössischer Positionen zu Text-Bild-Verhältnissen und deren Grenzen mit Beispielen aus mehreren Epochen und Orten. Doch wenn es um die antike Ekphrasis und deren Wiederbelebung in der Renaissance geht, kommt man kaum umhin, die Forschungsansätze der klassischen Philologie zur Kenntnis zu nehmen.2 Vor diesem Hintergrund werde ich zuerst die grundlegenden Probleme der ekphrastischen Tradition der Antike skizzieren und dann eine Brücke zur visuellen Kultur der Renaissance schlagen. Zunächst wird die literarische Tradition der Ekphrasis im Vorfeld der Systematisierung der Vorübungen der Rhetorik (progymnásmata) erläutert. In diesem Zuge lässt sich die enárgeia (Lebendigkeit) als Hauptmerkmal der Ekphrasis freilegen und mit einem Blick auf ihren Ursprung als Fachbegriff mit einer langen epistemologischen Tradition begreifen. Papyri und epigraphische Zeugnisse belegen außerdem, wie ebenfalls nachgezeichnet wird, den traditionellen Gebrauch der Progymnásmata in der Schule, lange bevor diese in Handbüchern kompiliert wurden. Im Anschluss daran werden die sich verändernde Natur des literarischen Kanons sowie drei damit verbundene Hauptprobleme behandelt: moderne Inter­ ferenzen, die subjektive Verwendung der progymnasmatischen Definition und historische Kontingenzen. Indem die Systematisierung der Progymnásmata als Wendepunkt und die Perspektive der Rhetorinnen und Rhetoren als wesentliches Kriterium für die Beurteilung progymnasmatischer Merkmale betrachtet werden, wird hier für die Existenz von zumindest zwei Kanons argumentiert. Der erste Kanon könnte aus archaischen, klassischen und hellenistischen Texten bestanden haben, die sowohl in den Progymnásmata-Handbüchern als auch in anderen Texten der Zweiten Sophistik zitiert, kommentiert oder literarisch rezipiert wurden. Der zweite Kanon könnte während der römischen Kaiserzeit entstanden sein, um weitere Texte durch die Produktion der Zweiten Sophistik ergänzt worden sein und eine gewisse Vorbildfunktion jahrhundertelang erfüllt haben. Dem zweiten Kanon können neben beliebten klassischen Texten auch ekphrastische Werke der spätantiken Rhetorik sowie Texte der von ihr beeinflussten Autorinnen und Autoren hinzugezählt werden. Um die Hauptunterschiede zwischen den Kanons auszumachen und ihre Grenzen und Einflusspotentiale zu skizzieren, stütze ich mich auf drei ekphrastische Beispiele mit exemplarischem Charakter: 1. die Beschreibung des Ibis bei Herodot (Hdt. Hist. 2, 76) – ein früher, kanonischer Text, der von der Zweiten Sophistik als solcher definiert wurde; 2. Lukians Verleumdung (Calumnia) (Luc. Cal. 2–5) – ein ein-

2 Für eine ausführliche Darlegung des Forschungsstands zur Ekphrasis der Antike siehe Muñoz Morcillo 2021b: 57–79.


Die Kanons der Ekphrasis. Zwischen Literatur- und Schultradition

flussreicher Text, welcher nach der Erscheinung der ersten Progymnásmata von Lukian von Samosata, einem Vertreter der Zweiten Sophistik, verfasst und in der Renaissance von Künstlern wie Sandro Botticelli (1445–1510) und Andrea Mantegna (1431–1506) zum Bildprogramm verarbeitet wurde; und 3. ein weiterer, ‚nicht-kanonischer‘ Textteil, der 1996 von dem klassischen Philologen Antonio Garzya als gattungsrelevant erkannt und in die Ekphrasis-Forschung einbezogen wurde – nämlich die Beschreibung von Symptomen der Trunkenheit in dem Euripides zugeschriebenen satirischen Drama Kyklops (Eur. Kyk. 164–172). Schließlich werden die Unterschiede zwischen den geschilderten Kanons ausgemacht und der Einfluss ermessen, den der zweite Kanon auf die Humanist/-innen und Künstler/-innen der Renaissance ausübte. Diese verwandelten, wie noch zu zeigen ist, die Ekphrasis als Kunst der Beschreibung in ein ästhetisches Prinzip erster Ordnung, das sowohl für die humanistische Bildung als auch für die Beschreibung und Herstellung von Kunstwerken verbindlich wurde.

Die Kanons der Ekphrasis. Zwischen Literaturund Schultradition In den letzten Jahrzehnten hat die altphilologische Forschung sich intensiv mit der progymnasmatischen ἔκφρασις (ékphrasis) und ihren Unterschieden zum modernen Konzept der Ekphrasis beschäftigt. Der Ursprung dieser Unterschiede, der von der Gräzistin Ruth Webb bislang auf den Einfluss der Avantgarde des beginnenden 20. Jahrhunderts und auf eine Fehlinterpretation von Paul Friedländers Aufsatz „Über die Beschreibung von Kunstwerken in der antiken Literatur“ (1912) zurückgeführt wird, ist jedoch noch nicht ausreichend erforscht (vgl. Webb 2009: 33–36; 1999; Koelb 2006). Wenig Aufmerksamkeit wurde in diesem Zusammenhang bisher der Entstehung der Ekphrasis als ästhetischer Kategorie in der Renaissance unter dem Einfluss der literarischen Produktion der Zweiten Sophistik gewidmet, die nicht zuletzt über Byzanz zahlreiche Ekphrasen von Ideallandschaften, Jagdszenen, Tieren, Pflanzen, alltäglichen Gegenständen, Bauten, Skulpturen sowie realen und imaginären Artefakten lieferte. Seit Paul Friedländers ausführlicher Darstellung der ‚Kunstbeschreibung‘ in der Literatur der Antike, die er seiner Ausgabe der ekphrastischen Gedichte von Johannes von Gaza und Paulus Silentiarius als Einleitung voranstellte, hatte es nie einen gleichwertigen Versuch gegeben, die Ekphrasis progymnasmatischer Prägung vorzustellen, so dass Friedländers Text bis 2021 das einzige ausführliche Referenzwerk zur antiken Ekphrasis geblieben war (vgl. Friedländer 1912; Muñoz Morcillo 2021b). Am folgenreichsten für den Ekphrasis-Begriff ist dann die indirekte Rezeption von Friedländers Werk durch Spezialisten der Komparatistik wie Leo Spitzer, Murray Krieger und James Heffernan, die zur Konstruktion eines Konzepts der Ekphrasis als „the description of an objet d’art by the medium of the word“ (Spitzer 1955: 218) oder

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