Kunst, Konflikt, Kollaboration

Page 1



I N H A LT

Die entlastende Moderne

1

Hildebrand Gurlitt und der Nachkriegsmythos vom inneren Widerstand

Nikola Doll / Uwe Fleckner / Gesa Jeuthe Vietzen

Exponent der Moderne Hildebrand Gurlitts Moderne

21

Anfänge im Kontext der Weimarer Demokratie

Olaf Peters Das Kabinett des Dr. Gurlitt Wie ein Hamburger Kunstvereinsdirektor im »Dritten Reich« zum Kunsthändler wurde

Uwe Fleckner

45


VI _ Inhalt

Dokumentation I

77

Positionierungen 1930–1938

Stratege der Verwertung Verfolgte und Verführte

95

Die Aktion »Entartete Kunst« als propagandistisches Kapital

Gesa Jeuthe Vietzen Eine Frage der Gewinnverteilung

123

Rechtshistorische Überlegungen zum Umgang mit »entarteter« Kunst

Benjamin Lahusen »Die Angelegenheit ›Verfallskunsttausch‹«

141

Deutsche Museen und die Kompensationsleistungen für als »entartet« beschlagnahmte Werke

Maike Brüggen »Keines dieser Bilder ist so, dass die Gefahr einer Beanstandung wegen ›Entartung‹ bestände«

169

Hildebrand Gurlitt und die Impressionisten des Wallraf-Richartz-Museums

Britta Olényi von Husen / Marcus Leifeld Dokumentation II

193

Vermittlungen 1937–1941

Profiteur der Geschichte Das Narrativ der Rettung

207

Von der nationalen Avantgarde zur Klassischen Moderne

Nikola Doll Lukrative Geschäfte Hildebrand Gurlitt, Ferdinand Möller und der Handel mit »entarteter« Kunst nach 1945

Maike Steinkamp

237


Inhalt _ VII

»Wie weit darf man im Kompromiss gehen …«

261

Hildebrand Gurlitt im Kunstbetrieb der Bundesrepublik

Isgard Kracht Dokumentation III

285

Rehabilitierung 1945–1950

Anatomie des Legats Cornelius Gurlitt Ausradiert, abgeschabt, überklebt

301

Materielle Spuren und manipulierte Merkmale auf Werken des Legats Cornelius Gurlitt

Silja Meyer / Katharina Otterbach / Dorothea Spitza Das Konvolut »Entartete Kunst« quantitativ betrachtet

323

Eine statistische Auswertung

Maike Brüggen Abbildungen

331

Katalog der Werke im Legat Cornelius Gurlitt mit Bezug zur Beschlagnahmeaktion »Entartete Kunst« Katalog der Einzelwerke

397

Katalog der Künstlermappen und Sammelwerke

423

abbildungsnachweis

435

register

437



Die entlastende Moderne Hildebrand Gurlitt und der Nachkriegsmythos vom inneren Widerstand Nikola Doll / Uwe Fleckner / Gesa Jeuthe Vietzen

Als das Nachrichtenmagazin focus am 3. November 2013 öffentlich machte, dass ein Jahr zuvor Kunstwerke aus dem Besitz von Cornelius Gurlitt (1932–2014) eingezogen worden waren, wurde dessen Vater Hildebrand Gurlitt (1895–1956) schlagartig zur Symbolfigur des nationalsozialistischen Kunstraubs (Abb. 1–2). Die durch den reißerischen Aufmacher der nazi-schatz angestoßene Rezeption prägte den weiteren Umgang mit Hildebrand Gurlitt und seinem Erbe: Das Magazin zeigte in einer äußerst suggestiven Montage die Halbfigur Hitlers in besitzergreifender Pose vor Franz Marcs überdimensioniert abgebildetem Aquarell pferde in landschaft von 1911 (seit 2021 im Besitz des Berner Kunstmuseums) (Abb. 76) und stellte so unsachkundig wie sensationsgierig Mutmaßungen über den Wert der Werke an: »Über eine Milliarde Euro?«1 Seitdem galt Hildebrand Gurlitt in ungezählten Presseberichten und Publikationen wahlweise als »Hitlers Kunsthändler« oder »Hitlers Kunsträuber«, die nachgelassenen Gemälde, Zeichnungen und Grafiken wurden als »Gurlitts Schatz« oder auch als »Hitlers letzte Geiseln« charakterisiert.2 Der damit geäußerte Verdacht, es müsse sich bei diesen Werken um NS-Raubkunst handeln, wirkte dementsprechend richtungsweisend für die seit 2013 durchgeführten Forschungsprojekte zu den Kunstwerken aus dem ehemaligen Besitz von Cornelius Gurlitt.3


2 _ Nikola Doll / Uwe Fleckner / Gesa Jeuthe Vietzen

1 der nazi-schatz. sensations-fund nach 70 jahren, Aufmacher der Zeitschrift focus 45/2013, Titelblatt

Bis zum »Fund« des Münchner Konvoluts war Hildebrand Gurlitt der kunsthistorischen Forschung zwar keineswegs unbekannt, nur hatte sich diese weitgehend auf seine Rolle als Händler von »entarteter« Kunst beschränkt. Der ehemalige Museumsdirektor und Kunstvereinsleiter und spätere Kunsthändler figurierte jahrzehntelang vor allem als zweifaches Opfer nationalsozialistischer Agitation sowie als klandestiner Gegner des Regimes. Schon 1930 hatte Gurlitt die Leitung des König-Albert-Museums in Zwickau aufgrund polemischer Angriffe aus dem rechtsradikalen Lager aufgeben müssen. Nach seinem dortigen Amtsantritt im April 1925 hatte er die Sammlung neu geordnet, um sie moderner auszurichten.4 Angesichts finanzieller Engpässe entschied er sich auch dazu, Werke aus den Beständen des Museums zu verkaufen, und erwarb mit den erwirtschafteten Mitteln solche Kunst, die seinem Verständnis einer zeitgemäßen Sammlungspolitik besser entsprachen. Dieses Vorgehen hatte Gurlitt beständig Kritik eingebracht. Der Ortsverband Zwickau des im Januar 1928 unter der Leitung von Alfred Rosenberg (1893–1946) gegründeten Kampfbundes für deutsche Kultur forderte ab 1929 sogar vehement seine Entlassung, die dann zum 1. April 1930 von den städtischen Behörden voll-


Die entlastende Moderne _ 3

2 Chargesheimer (Karl-Heinz Hargesheimer): porträt hildebrand gurlitt, um 1950–1956, Fotografie, Koblenz, Bundesarchiv, Nachlass Cornelius Gurlitt

zogen wurde. Erst ein Jahr später sollte es Gurlitt wieder gelingen, als Direktor des Kunstvereins in Hamburg eine Anstellung zu finden. Der Regierungsantritt der Nationalsozialisten Ende Januar 1933 und die nur wenige Wochen später erfolgende Reichstagswahl waren geprägt von politisch motivierten Übergriffen: Es fanden sowohl Verhaftungen und Entlassungen von politischen Gegnern und Juden als auch erste Boykottmaßnahmen gegen jüdische Geschäfte statt. Daneben wurde auch Druck auf kulturelle Veranstaltungen ausgeübt. So wurde die Jahresausstellung der Hamburgischen Sezession auf Befehl des örtlichen Polizeipräsidenten Ende März 1933 geschlossen (Abb. 3).5 Nur zwei Wochen zuvor war das Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda gegründet worden, das bald für die »Gleichschaltung« kultureller Einrichtungen sorgen würde und die künftigen Zuständigkeiten regeln sollte. Doch vorerst verlangte wiederum der Kampfbund für deutsche Kultur eine solche »Gleichschaltung«


4 _ Nikola Doll / Uwe Fleckner / Gesa Jeuthe Vietzen

3 12. ausstellung der hamburgischen secession, Umschlag des Ausstellungskatalogs gestaltet von Fritz Kronenberg, Kunstverein in Hamburg 1933

der Kunstvereine, und der gesamte Vorstand des Hamburger Kunstvereins sowie Hildebrand Gurlitt als Direktor mussten schon im Juli 1933 ihre Ämter niederlegen.6 Von diesem Zeitpunkt an etablierte sich Gurlitt nach und nach im Kunsthandel, den er auch nach 1945 – wenn auch in eingeschränktem Maße – bis zu seinem Tod fortführte.7 Ab November 1938, fünf Jahre nachdem er sein Gewerbe als Kunsthändler in Hamburg angemeldet hatte, beteiligte sich Gurlitt an der im Auftrag des Reichsministeriums für Volksaufklärung und Propaganda betriebenen »Verwertung« der 1937 im Rahmen der Aktion »Entartete Kunst« beschlagnahmten Kunstwerke.8 Bisherige Studien, die sich mit Gurlitt als Kunsthändler auseinandersetzten, konzentrierten sich überwiegend auf eben jene An- und Verkäufe der ehemaligen Museumsbestände, verzichteten aber auf eine Analyse des Kunstkabinetts Dr. H. Gurlitt und seiner Geschäfte während des Zweiten Weltkrieges. Gurlitt reiste ab 1941 durch die besetzten Länder Westeuropas und erwarb dort für deutsche Museen und private Sammler sowie zwischen 1943 und August 1944 für den »Sonderauftrag Linz« ungezählte Kunstwerke.9 Die Aktivitäten, die Gurlitt bei der »Verwertung« der beschlagnahmten Werke entfaltete, wurden in der Forschungsliteratur als eine mehr oder weniger unmittelbare Folge seiner zweifachen Entlassung in Zwickau


Die entlastende Moderne _ 5

und Hamburg bewertet, als persönliche Schutzmaßnahme des »jüdischen Mischlings 2. Grades« sowie als Beitrag zur Rettung der diffamierten avantgardistischen Kunst.10 Gurlitt wie auch seine Kollegen Bernhard A. Böhmer (1892–1945), Karl Buchholz (1901–1992) und Ferdinand Möller (1882–1956) traten solchen Auffassungen zufolge als »Retter«, »Verfechter« oder uneigennützige »Förderer« der Moderne in Opposition zur nationalsozialistischen Kunstpolitik oder unterliefen sie durch subversives Handeln.11

die »entlastungskartelle« des modernen kunstbetriebs Mit Bekanntwerden des sogenannten Schwabinger Kunstfundes wurde offensichtlich, wie einseitig eine solche Auseinandersetzung mit dem »Verwerter« der »entarteten« Kunst war. Die materielle Manifestation des von Gurlitt hinterlassenen Kunstbesitzes ließ die in der Kunstgeschichte mit der Publikation Kunstdiktatur im Dritten Reich von Paul Ortwin Rave 1949 etablierte und in den folgenden Jahrzehnten weiter ausgebreitete Sichtweise, die Verfolgung der Avantgarden habe im Zentrum nationalsozialistischer Kunstpolitik gestanden, in sich zusammenbrechen.12 Diese in der jungen Bundesrepublik begründete Perspektivierung verdrängte wissentlich die systemischen Zusammenhänge zwischen der nationalsozialistischen Verfolgungspolitik und den ästhetischen Doktrinen des »Dritten Reiches«, die zu eben jener restriktiven Kunstpolitik geführt hatten. Rave zeichnete dabei ein Bild der Akteure des NS-Kunstbetriebs, denen unter dem Joch der Diktatur gleichsam die Hände gebunden waren, wie es auch die Titelgestaltung seiner Publikation mit Lovis Corinths Ecce Homo (1925) ihren Lesern suggestiv vor Augen führt (Abb. 4). Bezeichnend für diesen Zusammenhang ist beispielsweise die rhetorische Frage, die Rave hinsichtlich der Motivation von Rolf Hetsch (1903–1946) formulierte, dem für die Abwicklung der Aktion »Entartete Kunst« verantwortlichen Mitarbeiter des Propagandaministeriums: »Wollte er etwa mit den Wölfen heulen, um das Lamm vor dem Zerreißen zu retten?«13 Doch Kunsthändler wie Ferdinand Möller, so führte Rave weiter aus, hätten »zum Glück für die Kunst« keine »Berührungsängste« gehabt, sich mit den Machthabern auf geschäftlicher Basis einzulassen.14 Auf diese Weise vermied Paul Ortwin Rave jeden Konflikt mit den vermeintlichen »Rettern der Moderne«, die innerhalb des ab 1933 sukzessive »arisierten« Kunstbetriebs auftraten, eines Kunstbetriebs, dessen personelle Zusammensetzung und erprobten Wertschöpfungsprozesse bis weit in die westdeutsche Nachkriegszeit hinein bestehen blieben. Das NS-Regime hatte nicht nur die Vielfalt der Kultur der Weimarer Republik zerschlagen, es kontrollierte insbesondere auch, wer am Kunst- und Wirtschaftsleben Deutschlands teilnehmen durfte. Institutionelle Gleich-


6 _ Nikola Doll / Uwe Fleckner / Gesa Jeuthe Vietzen

4 Paul Ortwin Rave: kunstdiktatur im dritten reich, Hamburg 1949, Umschlag mit einer Abbildung von Lovis Corinths Gemälde ecce homo (1925)

schaltung und rassenpolitische »Arisierung« verhinderten oder beendeten Karrieren im Kunsthandel, an Museen sowie an Universitäten und Kunsthochschulen sowie in der Kunstkritik. Im Gegenzug wirkten sich die Kontroll- und Ausschlussmaßnahmen mitunter vorteilhaft auf die berufliche Entwicklung derjenigen aus, die von den nationalsozialistischen Behörden nicht verfolgt wurden. Die Aktion »Entartete Kunst« stand als propagandistischer Akt am Ende der vollzogenen Verdrängung der jüdischen Akteure aus dem Kunstbetrieb, und gleichzeitig mit der Ende 1938 einsetzenden »Verwertung« der »entarteten« Kunst hatte das Regime die »Verwertung« jüdischer Vermögen gesetzlich systematisiert.15 Eine allzu enge Konzentration der kunsthistorischen Forschung auf die ästhetischen Dimensionen der Aktion »Entartete Kunst« verhinderte demnach die kritische Analyse der nationalsozialistischen Kulturpolitik in ihrem Verhältnis zur Verfolgungs- und Vernichtungspolitik. Die in der Nachkriegszeit lange Zeit


Die entlastende Moderne _ 7

fehlende Auseinandersetzung mit den Erkenntnissen der Täter-, Exil- und Holocaustforschung bei der Betrachtung kunstpolitischer Maßnahmen konnte dementsprechend nicht ohne Folgen für die Historiografie der Moderne bleiben.16 Die einseitige Betrachtung der »entarteten« Kunst führte zu einem bereinigten Kanon ästhetisch fortschrittlicher Kunst, der hauptsächlich Werke »arischer« Künstler umfasste, die bereits vor 1933 etabliert waren und nach Kriegsende auch mit Blick auf die zeitgleiche Kunst der westlichen Welt rehabilitiert wurden. So wurden etwa auf der ersten documenta 1955 in Kassel zahlreiche Werke ehemals verfemter Künstler gemeinsam mit beispielsweise amerikanischen oder französischen Künstlern gezeigt, die vergleichbare ästhetische Positionen vertraten (Abb. 5). Durch die in der jungen Bundesrepublik aufgestellte Behauptung, wonach Personen, die moderne Kunst produziert, ausgestellt, vermittelt, veräußert oder erworben hatten, unmöglich dem Nationalsozialismus haben anhängen können, gelang eine oft nicht zutreffende Distanzierung dieser Akteure vom nationalsozialistischen Kunstbetrieb.17 So erhielt, um nur eines von vielen Beispielen zu nennen, Fritz Hippler (1909–2002), Leiter der Filmabteilung des Propagandaministeriums und verantwortlich für Propagandafilme wie der ewige jude (1940), von Emil Nolde (1867–1956) für seine Entnazifizierung einen »Persilschein«, weil Hippler sich zu Beginn der nationalsozialistischen Regierungszeit für den Expressionismus eingesetzt hatte.18 Auch Hildebrand Gurlitt bediente sich wiederholt des Hinweises auf seine Verdienste um die moderne Kunst als Entlastungsstrategie. Mit der Bitte um ein Leumundszeugnis wandte er sich an den im amerikanischen Exil lebenden Kunsthistoriker Alois J. Schardt (1889–1955), an den ebenfalls exilierten Maler Max Beckmann (1884–1950) und den Sammler Josef Haubrich (1889–1961), aber auch an Kunsthistoriker wie Robert Oertel (1907–1981) und Kurt Martin (1899– 1975), die sich während des Krieges auf die Mitarbeit an nationalsozialistischen Erwerbungskampagnen eingelassen hatten.19 Die Dokumente im Nachlass Gurlitts bieten damit deutliche Anhaltspunkte für ganze »Entlastungskartelle«, die sich gegenseitig in ihrer angeblich kompromisslosen Ablehnung des Nationalsozialismus bestärkten. Unterlagen aus der Nachkriegszeit dokumentieren, wie strategisch Gurlitt vorging, um die eigene Opferbiografie aufzubauen. Unmittelbar nach Zusammenbruch des »Dritten Reiches« reklamierte er für sich, zu seiner Tätigkeit als Kunsthändler geradezu gezwungen worden zu sein. In einem Briefwechsel mit Carl Georg Heise, seit 1945 Direktor der Hamburger Kunsthalle, lenkte er von Vorwürfen ab, die in der Hansestadt laut geworden waren, da Gurlitt in den dreißiger Jahren erfolgreich darauf gedrungen hatte, angeblich von Verfemung bedrohte Kunst aus den Beständen des Museums zu erwerben und profitabel weiterzuverkaufen. Mit Hinweis auf seine Entlassungen in Zwickau und Hamburg (»zwei Mal um Amt


8 _ Nikola Doll / Uwe Fleckner / Gesa Jeuthe Vietzen

5 Günther Becker: blick in die rotunde des museums fridericianum (mit werken von wilhelm lehmbruck und oskar schlemmer), 1955, Kassel, Documenta-Archiv

und Brot gebracht«) lehnte er jedes Schuldbekenntnis ab und behauptete: »Ich bin nicht freiwillig Kunsthändler geworden […].«20 Tatsächlich hatte sich Gurlitt erst als Kunsthändler niedergelassen, nachdem er sein Amt als Direktor und Geschäftsführer des Hamburger Kunstvereins aufgegeben hatte. Doch den Umstand, dass auch damit kein Fehlverhalten während seiner händlerischen Tätigkeit gerechtfertigt werden konnte, ließ er hinter der Opferrhetorik seiner Stellungnahme verschwinden. Und mehr noch: Je länger das Kriegsende zurücklag, desto eindeutiger zeichnete Gurlitt von sich das Porträt eines vom NS-Regime verfolgten Verteidigers der Moderne. So schrieb er am 16. November 1946 an den Frankfurter Museumsmann Ernst Holzinger (1901–1972), dass er während der Diktatur – die er als erfolgreicher Kunsthändler weitgehend unbehelligt bestritten hatte – beständig »in Angst und Sorge vor Denunziation, Zwangsarbeit und Mischlingsbataillon« habe leben müssen.21


Die entlastende Moderne _ 9

ästhetische moderne und autoritäre ideologie Erst durch die historischen Debatten der neunziger Jahre, beispielsweise durch die umstrittene Wanderausstellung zur deutschen Wehrmacht des Hamburger Instituts für Sozialforschung (1995–1999, in überarbeiteter Form 2001–2004) oder die Auseinandersetzung um die Verstrickungen Schweizer Banken in den Handel mit NS-Raubgut (Stichwort: »Nazi-Gold«), rückte die genozidale Dimension auch der nationalsozialistischen Kunstpolitik in den Fokus der Geschichtsschreibung.22 Doch zunächst erkannten nur einzelne Wissenschaftler und akademische Forschungsprojekte die Notwendigkeit, die rassistischen, politischen und weltanschaulichen Grundlagen dieser Kunstpolitik aufzuarbeiten und die so gewonnenen Erkenntnisse auf den Kunstbetrieb und seine Akteure auszudehnen.23 Mit der Gründung der Forschungsstelle »Entartete Kunst« an der Freien Universität in Berlin (2003, seit 2004 zusätzlich an der Universität Hamburg) wurde die systematische Analyse nationalsozialistischer Kunst- und Kulturpolitik vor allem im Hinblick auf Verfemung, Beschlagnahme und »Verwertung« moderner Kunst im »Dritten Reich« etabliert, und universitätsübergreifend wurde in Berlin, Bonn, Hamburg und München mit dem Forschungsprojekt geschichte der kunstgeschichte im nationalsozialismus (2004–2006) erstmals ein fach- und institutsgeschichtlicher Ansatz gewählt, der die akademische Kunstgeschichte während des »Dritten Reiches« umfassend kritisch beleuchten sollte. Seitdem wurden durch kontinuierliche Forschungsarbeit sowohl der Anteil der beteiligten Kunsthistoriker am NS-Kunstraub als auch die komplexe Rezeption der Moderne im Nationalsozialismus vertiefend untersucht; darüber hinaus sind die Mechanismen des Kunstbetriebs, der nationale und internationale Handel in den dreißiger und vierziger Jahren, die doktrinären Grundlagen der Verfemung, die Brüche und Kontinuitäten der nationalsozialistischen Kulturpolitik und insbesondere deren eklatanten Widersprüche zu Themen einer mittlerweile kaum noch zu überschauenden Forschungsliteratur geworden.24 Hildebrand Gurlitt vereinte diese Widersprüche in seiner Peron geradezu exemplarisch: Seine Entlassung in Zwickau stilisierte ihn in weiten Kreisen der deutschen Kunstszene schon früh zum »Märtyrer der Moderne«.25 Dass er sich den nationalsozialistischen Machthabern als »Verwerter« einer gemäßigten und zudem als »nordisch« verstandenen Moderne andiente und dabei für sich in Anspruch nahm, moralisch und juristisch tadellos gehandelt zu haben, wurde bereitwillig mit seinem Kunstverständnis erklärt. Gurlitts Hinwendung zur modernen Kunst, insbesondere zum Expressionismus, lässt sich bereits auf den Beginn des 20. Jahrhunderts datieren und sollte in scheinbar ungebrochener Kontinuität vom Kaiserreich bis ins erste Jahrzehnt der Nachkriegsjahre reichen. Nachhaltig beeinflusst wurde er dabei von seinen Erlebnissen im Ersten Weltkrieg. Gurlitt, der sich freiwillig zum Kriegs-


10 _ Nikola Doll / Uwe Fleckner / Gesa Jeuthe Vietzen

6 Paul Fechter: der expressionismus, München 1914, Buchtitel mit einer Grafik von Max Pechstein

dienst gemeldet hatte, kam aufgrund nervlicher Zerrüttung nach Fronteinsätzen in Frankreich und Belgien 1917 in die Militärverwaltung Ober Ost in Wilna (Vilnius/ Litauen). Dort war er Mitglied einer Propagandakompanie und sollte dazu beitragen, der ortsansässigen Bevölkerung »Deutsche Leitkultur« zu vermitteln, um sie auf die geplante deutsche Besiedlung vorzubereiten.26 Prägend wurde damals seine Begegnung mit dem Publizisten Paul Fechter (1880–1958), der 1914 eine umfassende Studie mit dem – hier erstmals verwendeten – Titel der expressionismus vorgelegt hatte (Abb. 6).27 Die emphatische Sicht Fechters auf diese von ihm aus konservativnationaler Perspektive gedeutete Kunstrichtung und sein Eintreten für Deutschlands künstlerische Hegemonie beeindruckten den künftigen Kunsthistoriker. In den letzten Monaten des Krieges glaubte Gurlitt dementsprechend, seine Berufung erkannt zu haben: Das von ihm angestrebte Ziel sollte es zukünftig sein, so schrieb er 1917, die Kunst »als Lock- und Fangmittel zu allem Geistigen« zu nutzen.28 Gurlitts Bestrebungen als Museums- und Kunstvereinsdirektor waren dann von dem durchaus demokratischen Versuch geprägt, Kunst und Volk miteinander auszusöhnen, und vor allem die Veranstaltungen im Hamburger Kunstverein waren nicht von sozialen kunstpolitischen Belangen zu trennen, lautete sein Programm doch »Kunst nicht um ihrer eigenen Herrlichkeit willen, sondern in Beziehung auf


Die entlastende Moderne _ 11

die großen treibenden Kräfte des Lebens zu zeigen«.29 Nachdem er sein Amt im Hamburger Kunstverein niedergelegt hatte, trat Gurlitt an verschiedenen Orten mit Vorträgen zur »Kunst der Arier« hervor. Dabei wollte er, wie er im August 1933 festhielt, die »rassischen« Voraussetzungen, aber auch die Überlegenheit der deutschen Kunst demonstrieren: »Ein Versuch, in aller Kürze in das Bewußtsein zu bringen, was die Kunst der Arier an Reichtum und Vielfältigkeit für die Erde bedeutete. Zugleich ein Versuch, das Gemeinsame dieser Kunst abzugrenzen gegen das Kunstwollen anderer Rassen.«30 Dass Gurlitt sich nicht nur in der Wortwahl, sondern auch inhaltlich zumindest ansatzweise den neuen Machthabern anbiederte, wirft rückwirkend ein fahles Licht auf sein Verständnis der modernen Kunst. Allerdings darf nicht vergessen werden, dass die deutsche Expressionismusrezeption schon seit dem Ersten Weltkrieg nicht ohne nationale Untertöne geblieben war.31 Auch Gurlitts Ansichten waren bereits vor 1933 entsprechend gefärbt und deckten sich schließlich zumindest teilweise mit den vielfach unternommenen Versuchen, der nationalsozialistischen Führung den Expressionismus als deutschen »Sonderweg« anzudienen. Der angeblich unvereinbare Gegensatz von ästhetischer Fortschrittlichkeit und autoritärer Ideologie, der in der Nachkriegszeit uneingeschränkt behauptet wurde, lässt sich daher, und das nicht nur bei Gurlitt, als willkommene Entlastungsstrategie entlarven. Um ein zutreffenderes Bild von Hildebrand Gurlitts Karriere vom Kaiserreich über den Nationalsozialismus bis in die junge Bundesrepublik zu zeichnen, muss neben der Museums- und Kunstvereinsarbeit aber auch seine Tätigkeit als Händler betrachtet werden. Denn neben den »rettenden« Handel mit »entarteter« Kunst traten bald seine energisch unternommenen Versuche, die politische Situation auszunutzen und vor allem ungefährdete Werke aus deutschen Museen herauszukaufen.32 Die Übergänge zum erfolgreich betriebenen Handel mit verfolgungsbedingt entzogenen Kunstwerken waren dabei fließend und mündeten schließlich darin, dass Gurlitt seit den frühen vierziger Jahren seinen Geschäftsradius auf die besetzten Gebiete in Westeuropa ausdehnte. Dazu nutzte der Kunsthändler seine seit der Zwickauer Zeit aufgebauten Netzwerke, die er – wie viele andere Akteure auch – problemlos mit dem System des NS-Kunstbetriebs verknüpfte und auf Kontakte zu Vertretern staatlicher Organisationen übertrug. Den Kunsthändler deshalb kategorisch als einen »Nutznießer des Nationalsozialismus« zu bezeichnen, ist hinsichtlich der Tatsache, dass er nach dem Reichsbürgergesetz und dem »Gesetz zum Schutze des deutschen Blutes« als »jüdischer Mischling 2. Grades« eingestuft wurde, allerdings ebenso undifferenziert wie der Versuch, sein Handeln allein als Schutzversuch vor drohender Verfolgung zu erklären.33


12 _ Nikola Doll / Uwe Fleckner / Gesa Jeuthe Vietzen

ein verpflichtendes erbe Das Kunstmuseum Bern hat im November 2014 das Erbe von Cornelius Gurlitt angenommen und damit langfristig Verantwortung für den mit Raubkunstverdacht belasteten Bestand übernommen. Mit Annahme des Erbes folgt das Kunstmuseum Bern der Auslegung der »Washingtoner Prinzipien« (1998), wonach ein Kunstwerk als nationalsozialistisches Raubgut gilt, wenn ein verfolgungsbedingter Entzug vorliegt.34 Die Suche nach solchen Werken im Legat Cornelius Gurlitt und in den eigenen Beständen sowie die historische Sammlungsforschung zählen zu den Aufgaben der 2017 gegründeten Abteilung für Provenienzforschung, der ersten an einem Schweizer Museum überhaupt. Denn nur unabhängige, den Grundsätzen und Maßstäben wissenschaftlichen Arbeitens verpflichtete Provenienzforschung kann die Grundlage dafür sein, den Verpflichtungen der »Washingtoner Prinzipien« und der »Erklärung von Terezín« (2009) nachzukommen. Provenienzforschungen zu einzelnen Kunstwerken erfordern den Blick auf die Details ihrer Herkunftsgeschichte; zugleich entwickeln solche Mikroperspektiven unser Wissen von historischen Gesamtzusammenhängen. Sie bringen Maßstabsveränderungen mit sich, denn die jeweils spezifischen Einzelfälle sind nicht losgelöst von den gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Vorgängen einer Epoche. Gerade weil die Erkenntnisse zu historischen Eigentumsverhältnissen und Besitzwechseln, zu Translokationen und Entzugsvorgängen auch nach umfassenden Recherchen in der Regel lückenhaft oder ungenau bleiben, ist für die angewandte Provenienzforschung die Bedeutung methodisch abgesicherter und mithin überprüfbarer Verfahren und die Berücksichtigung historischen und auch materiellen Wissens essenziell. Es ist daher ein besonderer Glücksfall, wenn ein skandalumwitterter Kunstbestand in Zusammenarbeit mit erfahrenen Kollegen weiter erforscht werden kann. Der vorliegende Band ist trotz der anhängenden Kataloge weder Bestandsaufnahme noch abschließende Bilanz der Forschungen zu Hildebrand Gurlitts Nachlass. Er hat es sich vielmehr zur Aufgabe gemacht, das Verhältnis des Kunstvermittlers und -händlers zur modernen Kunst zu untersuchen, zu jener Kunst also, die den wesentlichen Teil seiner Karriere geprägt hat. Um dieses Ziel erreichen zu können, haben die Hamburger Forschungsstelle »Entartete Kunst«, die Inhaberin der Liebelt-Stiftungsprofessur für Provenienzforschung am Kunstgeschichtlichen Seminar der Universität Hamburg (2017–2020) und die Abteilung Provenienzforschung am Kunstmuseum Bern eng zusammengearbeitet. Materieller Gegenstand der seit 2019 bestehenden Kooperation waren die rund vierhundert Kunstwerke der deutschen und internationalen Moderne, für die kein Bezug zur Raubkunst, sondern vielmehr zur Aktion »Entartete Kunst« vermutet wurde, was aufgrund der gemeinsamen For-


Die entlastende Moderne _ 13

7 Werkrückseite mit Inventar- und Beschlagnahmenummer (EK-Nummer): Max Beckmann: kinder am fenster, 1922, Kaltnadelradierung auf Papier (vélin), Probedruck oder Blatt der Auflage von 100 Exemplaren, 44,8 × 33,9 cm (Blattmaß), Kunstmuseum Bern, Legat Cornelius Gurlitt 2014

schungen größtenteils verifiziert werden konnte (Abb. 7). Von 2019 bis 2022 finanzierte das Kunstmuseum Bern die Stelle einer wissenschaftlichen Mitarbeiterin an der Forschungsstelle »Entartete Kunst«, die zusammen mit den Provenienzforscherinnen in Bern den Nachlassbestand dokumentierte und die Eigentumsgeschichte jedes der betroffenen Werke recherchierte. Die Ergebnisse dieser Forschungen, die für Werke mit bestehenden Provenienzlücken auch zukünftig weiter fortgesetzt werden, sind seit Dezember 2021 in der Datenbank »Der Nachlass Gurlitt« veröffentlicht.35 Ein wichtiges Ziel der Zusammenarbeit zwischen einer spezialisierten Forschungsstelle und einer direkt am Museum angesiedelten Sammlungsforschung war


14 _ Nikola Doll / Uwe Fleckner / Gesa Jeuthe Vietzen

die methodische Schärfung der Provenienzrecherche durch eine gezielte Synthese von werkbezogenem Wissen und kunsthistorischen Erkenntnissen. Dafür wurden sämtliche einschlägige Quellen aus dem schriftlichen Nachlass Gurlitts, den das Kunstmuseum Bern der Bundesrepublik Deutschland überlassen hat, ausgewertet und mit Quellen aus Museums-, Stadt- und Staatsarchiven abgeglichen. Vor allem anderen aber waren es die im Legat Gurlitt erhaltenen Kunstwerke, deren Autopsie die gemeinsame Forschung entscheidend bestimmt hat. Bei etwa achtzig Prozent der vierhundert Kunstwerke des sogenannten Konvoluts »Entartete Kunst« finden sich Beschriftungen und sonstige Markierungen, die Hinweise auf ehemalige Besitzverhältnisse geben und damit auf den unmittelbaren Entziehungskontext.36 Die Zusammenschau von werkimmanenten und archivalischen Spuren führte dabei nicht nur zu gesicherten Sachverhalten hinsichtlich der Provenienz, sie bildete auch eine solide Grundlage für die Autorinnen und Autoren dieses Bandes; eine Grundlage, die es überhaupt erst möglich machte, aus unterschiedlichen Perspektiven eine Annäherung an Hildebrand Gurlitts wechselhafte Auseinandersetzung mit der modernen Kunst zu versuchen und diese in all ihrer manifesten Widersprüchlichkeit darzustellen.


Die entlastende Moderne _ 15

1

Der Nazi-Schatz. Sensations-Fund nach 70 Jahren, in: Focus 45/2013, Titelblatt.

2

Vgl. Susan Ronald: Hitler’s Art Thief. Hildebrand Gurlitt, the Nazis, and the Looting of Europe’s Treasures, London 2015; Meike Hoffmann u. Nicola Kuhn: Hitlers Kunsthändler. Hildebrand Gurlitt 1895–1956, München 2016; Catherine Hickley: Gurlitts Schatz. Hitlers Kunsthändler und sein geheimes Erbe, Wien 2015; Mary M. Lane: Hitlers Last Hostages. Looted Art and the Soul of the Third Reich, New York 2019.

3

Vgl. Chronologie des Kunstfundes Gurlitt, in: Bestandsaufnahme Gurlitt, Ausstellungskatalog, Kunstmuseum Bern/Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland, Bonn 2017, S. 329; Der Kunstfund Gurlitt https://gurlitt.kunstmuseumbern. ch/de/static/background/ (letzter Zugriff: 21. Juli 2022); https://www.kulturgutverluste.de/Webs/DE/ ProjektGurlitt/Provenienzrecherche-Gurlitt/Index. html (letzter Zugriff: 21. Juli 2022).

4

Zur Neuordnung vgl. Vanessa-Maria Voigt: Kunsthändler und Sammler der Moderne im Nationalsozialismus. Die Sammlung Sprengel 1934 bis 1945, Berlin 2007, S. 134 ff.

5

Vgl. Uwe Fleckner: Der gefährliche Kampf der Konsequenz. Hildebrand Gurlitt und die Geschichte des Kunstvereins in Hamburg 1930–1945, in: id. u. Uwe M. Schneede (Hrsg.): Bürgerliche Avantgarde. 200 Jahre Kunstverein in Hamburg, Berlin 2017, S. 144–181, S. 157.

6

Vgl. ibid., S. 157 f. Gurlitt bot die Auflösung seines Beschäftigungsverhältnisses »unter Zahlung der Bezüge, die ihm für ein Jahr aus seinem 3jährigen Vertrag« zustanden an. Protokoll der Vorstandssitzung vom 14. Juli 1933, zit. nach ibid., S. 158 und Anm. 40. Dem Vorschlag wurde zugestimmt und Gurlitt legte sein Amt zum 15. August 1933 nieder; vgl. Protokoll der Vorstandssitzung vom 28. Juli 1933, ibid., Anm. 40.

7

8

Vgl. Hildebrand Gurlitts Meldebogen auf Grundlage des Gesetzes zur Befreiung vom Nationalsozialismus und Militarismus vom 5. März 1946, 21. April 1946, Staatsarchiv Coburg, Spk BA Land, 251-002, Bl. 1. Mitgliedschaften Gurlitts in der NSDAP oder anderen NS-Organisationen sind nicht bekannt. Vgl. Gewerbeanmeldeschein für Hildebrand Gurlitt, Polizeibehörde Hamburg, Nr. 16915/1933, 14. November 1933, Staatsarchiv Hamburg, 231-7 A I, Nr. 40884. Im Mai 1937 erwirkte Gurlitt eine Eintragung ins Handelsregister der Stadt Hamburg; am 8. Juli 1937 übertrug er das Unternehmen an seine Frau Helene Gurlitt; vgl. Eintrag ins Handelsregister,

13. Mai 1937 u. 8. Juli 1937, Amtsgericht Hamburg, Handels- und Genossenschaftsregister, Staatsarchiv Hamburg, A 1, Bd. 182, Nr. 40884. Seine Kontaktaufnahme mit dem Propagandaministerium zwecks »Verwertung« der »entarteten« Kunst lässt sich auf Oktober 1938 datieren; vgl. Brief von Hildebrand Gurlitt an Rolf Hetsch, Propagandaministerium, 14. Oktober 1938, Berlin, Bundesarchiv, R 55/21015, Bl. 147. 9

Vgl. Birgit Schwarz: Hitlers Museum. Die Fotoalben Gemäldegalerie Linz. Dokumente zum »Führermuseum«, Wien, Köln u. Weimar 2004, S. 53; Kathrin Iselt: »Sonderbeauftragter des Führers« – der Kunsthistoriker und Museumsmann Hermann Voss (1884–1969), Wien, Köln u. Weimar 2010; Birgit Schwarz: Hildebrand Gurlitt und der »Sonderauftrag Linz«, in: Bestandsaufnahme Gurlitt 2017, S. 48–55, S. 52.

10

Vgl. Meike Hoffmann: Von Kunsthandel bis Propaganda. Hildebrand Gurlitt und das Deutsche Institut in Paris, in: Meike Hoffmann u. Dieter Scholz (Hrsg.): Unbewältigt? Ästhetische Moderne und Nationalsozialismus. Kunst, Kunsthandel, Ausstellungspraxis, Berlin 2020, S. 158–177, S. 165. Das Inkrafttreten der sogenannten Nürnberger Rassegesetze am 15. September 1935 definierte Gurlitts Großmutter väterlicherseits als »Jüdin«, ihn selbst somit als »Mischling 2. Grades«, womit kein Rechtsverlust einherging, jedoch sicherlich die Sorge vor neuen, schärferen Verordnungen; vgl. Reichsgesetzblatt Teil 1, 1935, S. 1146 f.

11

Siehe den Beitrag von Nikola Doll im vorliegenden Band, S. 207–235, S. 217 ff.

12

Vgl. Paul Ortwin Rave: Kunstdiktatur im Dritten Reich, Hamburg 1949.

13

Ibid., S. 63.

14

Ibid., S. 66.

15

Siehe die Beiträge von Gesa Jeuthe Vietzen und Benjamin Lahusen im vorliegenden Band, S. 95–122 u. S. 123–139.

16

Vgl. Eva Atlan, Raphael Gross u. Julia Voss (Hrsg.): 1938. Kunst, Künstler, Politik, Ausstellungskatalog, Jüdisches Museum Frankfurt am Main 2013.

17

Vgl. Christian Fuhrmeister: Statt eines Nachworts: Zwei Thesen zu deutschen Museen nach 1945, in: Julia Friedrich u. Andreas Prinzing (Hrsg.): »So fing man einfach an, ohne viele Worte«. Ausstellungswesen und Sammlungspolitik in den ersten Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg, Köln 2013, S. 234– 239.


16 _ Nikola Doll / Uwe Fleckner / Gesa Jeuthe Vietzen

18

Vgl. Bernhard Fulda: Das Schweigen der Quellen, in: Hoffmann u. Scholz 2020, S. 256–267, S. 265. Emil Noldes Gemälde Adam und Eva, auch bekannt unter dem Titel Verlorenes Paradies (1921), diente in dem Film Der ewige Jude als Beispiel für die vermeintlich verderbende Wirkung »jüdischer Kunst«; vgl. Stig Hornshøj-Møller: »Der ewige Jude«. Quellenkritische Analyse eines antisemitischen Propagandafilms, Göttingen 1995.

19

Vgl. Josef Haubrich: Notariell beglaubigtes Leumundszeugnis für Hildebrand Gurlitt, 18. Februar 1947, Koblenz, Bundesarchiv, Nachlass Cornelius Gurlitt, N 1826/60, Bl. 37–40: »Er […] ist jüdischer Mischling und […] war stets ein Gegner des Faschismus in jeder Form. […] Sein Eintreten für moderne westeuropäisch eingestellte Kunst und Künstler hat dazu geführt, daß er schon vor 1933 nationalistischen, reaktionären Gegnern (als Museumsdirektor in Zwickau) hat weichen müssen. Das gleiche Schicksal hatte er als Geschäftsführer des Hamburger Kunstvereins nach 1933. […] Nur so kam er zum Kunsthandel und mußte dann natürlich finanzielle Erfolge haben, da er besonders tüchtig ist und hervorragend ausgebildet. Gerade die Tatsache, daß er Gegner der Nazis war, nutzte ihm in mancher Beziehung. So konnte er Kunstwerke erwerben und verkaufen, welche die Nazi beschlagnahmt hatten und vernichten wollten. Ich selbst habe von Dr. Gurlitt zahlreiche Kunstwerke erworben, die sonst der Vernichtung durch die Nazi anheim gefallen wären, und die jetzt mit anderen durch meine Stiftung an die Stadt Köln gelangt sind. […] Auch aus den Kriegsjahren weiss ich, daß Dr. Gurlitt ein überzeugter Feind der Nazis war und der alles tat, um ihnen Widerstand zu leisten, nicht nur durch völliges Fernbleiben aus der Partei und ihren Gliederungen, sondern auch durch Unterstützung von Juden und Nazigegnern. Dr. Gurlitt mußte ständig in Sorge sein, selbst auf das schwerste verfolgt zu werden, und war in höchster Gefahr.«

20

Brief von Hildebrand Gurlitt an Carl Georg Heise, 29. Dezember 1945, Koblenz, Bundesarchiv, Nachlass Cornelius Gurlitt, N 1826/178, Bl. 183–184; siehe die Beiträge von Uwe Fleckner und Nikola Doll im vorliegenden Band, S. 45–75, S. 63 ff. u. S. 207– 235, S. 223 ff.

21

Brief von Hildebrand Gurlitt an Ernst Holzinger, 16. November 1946, Frankfurt am Main, Städel Museum, Archiv, Akte Gurlitt. Ein Durchschlag dieses Briefes befindet sich im schriftlichen Nachlass, Koblenz, Bundesarchiv, Nachlass Cornelius Gurlitt, N 1826/178, Bl. 257–258.

22

Vgl. Jonathan Petropoulos: Art as Politics in the Third Reich, Chapel Hill 1996; Anja Heuss: Kunst und Kulturgutraub. Eine vergleichende Studie zur Besatzungspolitik der Nationalsozialisten in Frank-

reich und der Sowjetunion, Heidelberg 2000; Comité de surveillance du secteur bancaire et financier: Rapport à Monsieur le Président de la Mission d’étude sur la spoliation des Juifs en France, Paris 2000; Jan Philipp Reemtsma: Zwei Ausstellungen, in: Mittelweg 36 3/2004, S. 53–72; Hans-Ulrich Thamer: Eine Ausstellung und ihre Folgen. Impulse der »Wehrmachtsausstellung« für die historische Forschung, in: Ulrich Bielefeld, Heinz Bude u. Bernd Greimer (Hrsg.): Gesellschaft – Gewalt – Vertrauen. Jan Philipp Reemtsma zum 60. Geburtstag, Hamburg 2012, S. 489–503. 23

Ausnahmen sind zum Beispiel Magdalena Bushart, Agnieszka Gasior u. Alena Janatková (Hrsg.): Kunstgeschichte in den besetzten Gebieten 1939–1945, Köln, Weimar u. Wien 2016; Sabine Arendt: Studien zur deutschen kunsthistorischen »Ostforschung« im Nationalsozialismus. Die kunsthistorischen Institute an den (Reichs-)Universitäten Breslau und Posen und ihre Protagonisten im Spannungsfeld von Wissenschaft und Politik, Berlin 2009 (Online-Ausgabe https://edoc. hu-berlin.de/bitstream/handle/18452/16871/arend. pdf?sequence=1&isAllowed=y) (letzter Zugriff: 23. August 2022); Ruth Heftrig, Olaf Peters u. Barbara Schellewald (Hrsg.): Kunstgeschichte im »Dritten Reich«. Theorien, Methoden, Praktiken, Berlin 2008; Nikola Doll u. Christian Fuhrmeister (Hrsg.): Kunstgeschichte im Nationalsozialismus. Beiträge zur Geschichte einer Wissenschaft in Nationalsozialismus zwischen 1930 und 1950, Weimar 2005.

24

Allein in der Reihe »Schriften der Forschungsstelle ›Entartete Kunst‹« sind von 2007 bis 2022 vierzehn Bände erschienen.

25

Ludwig Justi, damaliger Direktor der Nationalgalerie, verfasste einen entsprechenden Aufsatz mit der Überschrift Der Zwickauer Skandal, in dem er zusammenfasste, die Pflege der lebendigen Kunst habe Gurlitt die Stellung gekostet; vgl. Kurt Winkler: Museum und Avantgarde. Ludwig Justis Zeitschrift »Museum der Gegenwart« und die Musealisierung des Expressionismus, Opladen 2002 (Berliner Schriften zur Museumskunde, Bd. 17), S. 326. Heise schrieb 1931 an Gurlitt: »Sie sind der erste gewesen, der für seine Gesinnung mit dem Verlust seines Amtes hat zahlen müssen – das vergessen wir Ihnen nicht« (Brief von Carl Georg Heise an Hildebrand Gurlitt, 4. März 1931, zitiert nach Voigt 2007, S. 136).

26

Meike Hoffmann: Die langen Schatten der Vergangenheit – eine kritische Betrachtung von Hildebrand Gurlitts Lebensweg, in: Bestandsaufnahme Gurlitt 2017, S. 16–27, S. 17.

27

Vgl. Paul Fechter: Der Expressionismus, 1914, in: Uwe Fleckner u. Maike Steinkamp (Hrsg.): Gaukler-


Die entlastende Moderne _ 17

fest unterm Galgen. Expressionismus zwischen »nordischer« Moderne und »entarteter« Kunst (Schriften der Forschungsstelle »Entartete Kunst«, Bd. 9), Berlin 2015, S. 86–101 (Kommentar: Andreas Zeising). 28

29

Brief von Hildebrand Gurlitt an Wilibald Gurlitt, 16. Oktober 1917, zitiert nach Hoffmann 2017, S. 19, Anm. 11. Anonym (Hildebrand Gurlitt): Das Winter-Programm des Kunstvereins. Neue Wege der Kunstausstellung, in: Hamburger Echo, 11. September 1931, zitiert nach Isgard Kracht: Im Einsatz für die deutsche Kunst. Hildebrand Gurlitt und Ernst Barlach, in: Meike Steinkamp u. Ute Haug (Hrsg.): Werke und Werte. Über das Handeln und Sammeln von Kunst im Nationalsozialismus (Schriften der Forschungsstelle »Entartete Kunst«, Bd. 5), Berlin 2010, S. 41–59, S. 49.

30

Brief von Hildebrand Gurlitt an Oscar Hermann Gehrig, Rostocker Kunstverein, 12. August 1933, zitiert nach ibid., S. 52.

31

Zur Rezeption des Expressionismus als nationaler Kunstform vgl. Christian Saehrendt: »Die Brücke« zwischen Staatskunst und Verfemung. Expressionistische Kunst als Politikum in der Weimarer Republik, im »Dritten Reich« und im Kalten Krieg, Stuttgart 2005 (Pallas Athene. Beiträge zur Universitäts- und

Wissenschaftsgeschichte, Bd. 13); Fleckner u. Steinkamp 2015, passim. 32

Siehe den Beitrag von Uwe Fleckner im vorliegenden Band, S. 45–75, S. 64 ff.

33

Vgl. James F. Tent: Im Schatten des Holocaust. Schicksale deutsch-jüdischer »Mischlinge« im Dritten Reich, Köln 2007, S. 85 f.; vgl. auch die Quellensammlung von Katja Happe, Michael Mayer u. Maja Peers: West- und Nordeuropa 1940 – Juni 1942, München 2012 (Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden durch das nationalsozialistische Deutschland 1933–1945, Bd. 5), S. 369, Dokument VJ 5/130.

34

Vgl. Handreichung zur Umsetzung der »Erklärung der Bundesregierung, der Länder und der kommunalen Spitzenverbände zur Auffindung und zur Rückgabe NS-verfolgungsbedingt entzogenen Kulturgutes, insbesondere aus jüdischem Besitz« vom Dezember 1999, Neufassung 2019.

35

Vgl. https://www.kunstmuseumbern.ch/de/forschen/ der-nachlass-gurlitt/datenbank-gurlitt-2587.html (letzter Zugriff: 14. Juli 2022).

36

Siehe den Beitrag von Silja Meyer, Katharina Otterbach und Dorothea Spitza im vorliegenden Band, S. 301–322.



Exponent der Moderne



Hildebrand Gurlitts Moderne Anfänge im Kontext der Weimarer Demokratie

Olaf Peters

Mitte der zwanziger Jahre stabilisierte sich die zuvor krisengeschüttelte Weimarer Republik und es begann ein kulturell reiches Jahrzehnt, das Jahrzehnt der Neuen Sachlichkeit, das wir heute mit so unterschiedlichen Phänomenen und Personen wie dem Bauhaus und dem »Neuen Sehen«, mit Otto Dix (1891–1969) und Fritz Lang (1890–1976), mit Bertolt Brecht (1898–1956) und Marlene Dietrich (1901–1992) verbinden. Im Zuge dieser Erholung hatte der Rat der Stadt Zwickau unmittelbar vor dem Jahreswechsel 1924/1925 eine Stellenanzeige lanciert, in der er die Absicht mitteilte, die Stelle eines Museumsdirektors zu schaffen und diese zum 1. April 1925 zu besetzen. Zuständig sei man in dieser Funktion für vier Abteilungen: eine Gemäldesammlung, eine Altertumssammlung sowie eine mineralogische und eine geologische Sammlung.1 Der dreißigjährige Kunsthistoriker Hildebrand Gurlitt sollte schließlich die Leitung dieses »Gemischtwarenladens« übernehmen und diese Funktion bis zu seiner Entlassung im Zusammenhang mit dem sogenannten Zwickauer Museumsskandal zu Beginn des Jahres 1930 ausfüllen. Dieser Beitrag will die Voraussetzungen von Gurlitts Tätigkeit skizzieren und seine ersten Jahre in Zwickau beleuchten. Konturiert werden sollen damit sowohl sein Museums- als auch sein Moderneverständnis vor dem Hintergrund der innovativen Entwicklung der dezentralen deutschen Kunstszene und der Neupositionie-


Turn static files into dynamic content formats.

Create a flipbook
Issuu converts static files into: digital portfolios, online yearbooks, online catalogs, digital photo albums and more. Sign up and create your flipbook.