Ars et Scientia
Schriften zur Kunstwissenschaft
Band 27
Herausgegeben von Bénédicte Savoy, Michael Thimann und Gregor Wedekind
Konrad KrčalDas französische Thesenblatt im 17. Jahrhundert
Drei Studien zur allegorischen Gattungsgenese
De Gruyter
Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften und der Österreichischen Forschungsgemeinschaft.
ISBN 978-3-11-110062-3
e-ISBN (PDF) 978-3-11-110141-5
ISSN 2199-4161
Library of Congress Control Number: 2024933223
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Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.
© 2024 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston
Einbandabbildung: Detail Claude Mellan, Thesenblatt des Antoine Talon, Kupferstich von 6 Kupferplatten und Textgravur, ca. 1280:820 mm, 1648. Paris, BnF, Inv.: Ed 32b, p. 96 und 101.
Einbandgestaltung: Kerstin Protz, De Gruyter
Satz: SatzBild GbR, Sabine Taube, Kieve
Druck und Bindung: Beltz Grafische Betrieb GmbH, Bad Langensalza
www.degruyter.com
Inhalt
Vorwort 9
Einleitung 11
Gattungstheorie 29
Gattung und Zitat 29
Gattung und Figur: Der Herrscher 39
Gattungsallegorese im Emblem 45
Wappen und Imprese 50
Die Entfaltung des allegorischen Porträts 57
Ein Thesenblatt zwischen Gattungen 61
Der König und sein Triumphwagen 63
Die Grafik als via triumphalis und Bühne 65
Flächenprojektion im Paradigma des Triumphtors 68
Eine dritte Lesart im Kontext 71
Ikonografische Zwischenbilanz 73
Die Genese eines Entwurfs 82
Klassische Vorbilder 86
Entwurfsgenese und Allegorese 91
Offenheit auf die Zukunft 94
Repräsentation und Kontextualisierung 96
Ludwig XIII. und Ludwig XIV. im Triumph 101
Die Entstehung der Figur 105
Aktualisierung und Dramatisierung 105
Typenbildung und allegorischer Eifer 113
1659: Allegorie des Pyrenäenfriedens 116
Almanach und Thesenblatt 119
Zwei Bildkulturen 124
Discorde 127
Das Thesenblatt Nicolas François Brûlarts 131
Der allegorische Mechanismus 131
Raumschichten 131
Von der Widmung zu den drei Auftritten Richelieus 137
Fortuna stabilis 140
Bild/Text 143
Die Iconologia in der Panegyrik 158
Fortune pénitente 162
Suspendierung der Mythologie 169
Widmung und Ekphrasis 174
Die Putti am Übergang in die Allegorie 174
Das Wort in der Illustration 177
Der Text des Carmen exegeticum 183
Der Diskurs des Carmen exegeticum 186
Deixis und Repräsentation 188
Das Theater der soutenance solennelle 190
Druckgrafik, Trompe-l’œil und Allegorie 197
Bilderschrift 197
Claude Mellans Sainte Face 201
Das Trompe-l’œil in der Druckgrafik 206
Druckgrafik zwischen Bild und Repräsentation 212
Die Thesenblätter Claude Mellans 216
Signieren 216
Das Thesenblatt Guillaume de Longueils 218
Gradus ad Parnassum 227
Die Gesichter des Widmungsträgers 231
Das Thesenblatt des Michel Sublet de Romilly 233
Allegorien der Künste 237
Schatten, Schrift und Beweis 245
Schattenriss, Kalligramm und Bildnis 246
Die Objektivierung des Künstlers 255
Konklusion 261
Anhang A 265
Widmung des Thesenblatts Nicolas François Brûlarts 265
Übersetzung von Margit Kamptner 266
Anhang B 267
Carmen exegeticum 267
Übersetzung von Margit Kamptner 269
Literatur 273
Primärliteratur 273
Sekundärliteratur 275
Abbildungsnachweise 287
Vorwort
Die vorliegende Publikation basiert auf meiner im Dezember 2020 an der Universität Göttingen unter demselben Titel eingereichten Dissertationsschrift. Seither erfolgte Überarbeitungen beschränken sich im Wesentlichen auf Kürzungen, Präzisierungen und Aktualisierungen des Forschungsstands, soweit ich diesen noch überblicke. Insofern möchte ich, auch ganz im Sinne der hier vorgelegten gattungstheoretischen Überlegungen, meine Danksagungen von damals zitieren und leicht variieren.
Die Arbeit ist das Ergebnis meiner langjährigen Beschäftigung mit französischen Thesenblättern und anderen Bild- und Textquellen der frühen Neuzeit, mit älteren und neueren kunst- und kulturwissenschaftlichen Texten und des Austauschs mit Freund:innen und Kolleg:innen. Diese Beziehungen werden fortleben und sich verändern, wie auch die Gegenstände und Fragen, die diesen langen Weg begleiteten, offen und unabgeschlossen bleiben. In den anstrengenden Wochen des Lektorats konnte ich mich an einigen Souvenirs und Artefakten dieses Prozesses erfreuen und musste sie neuerlicher Beurteilung unterziehen. Ich denke, dass ich heute einen kohärenten Text vorlegen kann, der der Vielstimmigkeit der Geschichte, ihrer Disziplinen und meines Lebens gerecht wird.
Mein erster Dank gilt meinen Betreuern Prof. Michael Thimann und Prof. Robert Felfe, die sich des Projekts in einer schwierigen Phase angenommen haben und die mir stets mit Rat und Motivation zur Seite standen. Prof. Eva Kernbauer hat mir die Teilnahme an ihrem Privatissimum ermöglicht und neuerlichen Ansporn gegeben, wofür ich ihr herzlich danke. Ohne den Rückhalt meiner Familie und Freunde wäre diese Arbeit nicht zustande gekommen und weil ich Familie und Freundschaft weder bloß biologisch noch rein platonisch auffasse, fühlen sich hoffentlich alle richtig angesprochen. Namentlich danke ich aus dem Kreis meiner Liebsten Theresa Binder, Sonia Pérez Arias und ganz besonders Michael Schröder. Meine Schwester Katharina ist mein akademisches und antiakademisches Vorbild, wofür ich ihr spätestens jetzt danken möchte. Steffi Kitzberger, die ihre Klugheit und ihr Leid mit mir geteilt hat und Christian Scherrer, dessen Enthusiasmus für die akademischen Projekte Anderer ansteckend ist, dürfen ebenfalls nicht unerwähnt bleiben. Für zweimalige Hilfe in der Not danke ich Ryan Pepin von ganzem Herzen. Bénédicte Gady, Jennifer Montagu und Louise Rice waren so freundlich, mir Bildmaterial zu Verfügung zu stellen, wofür ich ihnen abschließend danken möchte.
Diese Arbeit wäre nicht ohne ein zweijähriges Doktoratsstipendium der Österreichischen Akademie der Wissenschaften und Reisekostenzuschüsse der Universität Wien und der Graduiertenschule für Geisteswissenschaften der Universität Göttingen zustanden gekommen. 2018 kam ich in den Genuss eines dreimonatigen Forschungsstipendiums des Deutschen Forums für Kunstgeschichte in Paris und eines ebenso langen Stipendiums der Dr. Günther Findel-Stiftung der Herzog August Bibliothek in Wolfenbüttel. Seit der Disputation hatte ich die Freude, für meine Dissertation mit dem Wolfgang-RatjenPreis des Zentralinstituts für Kunstgeschichte ausgezeichnet zu werden, womit ein dreimonatiger Forschungsaufenthalt in München im Herbst 2022 verbunden war. An diese so unterschiedlichen Orte, denen ich durch neu geknüpfte Freundschaften verbunden bleibe, denke ich gerne zurück und ich bin dankbar für die Unterstützung dieser wertvollen Institutionen. Dafür, dass die Arbeit nunmehr einen schönen Platz im gemachten Nest von Ars et Scientia findet, danke ich den Herausgeber:innen und insbesondere meinen überaus hilfsbereiten Betreuerinnen bei De Gruyter Anja Weisenseel und Arielle Thürmel.
Ich widme diese Publikation meiner Oma Auguste Wlczek. Ihre Menschlichkeit und Liebe werden vermisst.
Einleitung
Ich beginne diese Einleitung mit einer kurzen Vorstellung der Gattung, der die vorliegende Dissertation gewidmet ist. Das Repräsentationsproblem, das sich aus dieser Aufgabe zwangsläufig ergibt, soll in einen freundlichen Dialog mit einigen Achsen der Repräsentation treten, die sich in einem illustrierten Thesenblatt kreuzen.
Zunächst lenkt der Begriff Thesenblatt auf die in Thesenform verfassten Geistesblüten des Kandidaten einer feierlichen Defensio, französisch soutenance solennelle. Diese zeremonielle Form regelmäßiger Thesenverteidigungen an den katholischen Kollegien und Universitäten der frühen Neuzeit blieb aufgrund der beträchtlichen Kosten einem kleinen Kreis an gesellschaftlich hochstehenden Schülern und Studenten vorbehalten. Thesenblätter wurden in Italien spätestens seit dem frühen 16. Jahrhunderts meist für die zeremoniellen Disputationen pro gradu angefertigt, die nach den angestrebten Titeln Baccalaureat, Lizenziat und Doktorat zu unterscheiden sind.1 Mit Abstand am häufigsten waren die in Frankreich als tentative bezeichneten Thesenverteidigungen zur Erlangung des Baccalaureats der Philosophie, das als Grundvoraussetzung für alle Folgestudien nach heutigen Gesichtspunkten funktionell eher dem Abitur als einem universitären Abschluss vergleichbar ist. Die zu verteidigenden philosophischen Thesen wurden in aller Regel von den Präses der jungen Kandidaten verfasst. Daraus ergibt sich eine erste Komplikation der Repräsentation; die Autorschaft der Thesen wird von symbolischen und faktischen Urhebern beansprucht. Beide Personen werden auf den Thesenblättern in einem kurzen Text benannt, der die wichtigsten Informationen zur Disputation – wer, was, wann und wo – bereithält. Ein dritter Text, die Widmung, stellt die Verbindung zwischen dem Kandidaten und einem Mäzen, in vereinzelten Fällen einer
1 Annalisa Pezzos Katalog gedruckter Thesen der Biblioteca Comunale degli Intronati bietet einen wertvollen Längsschnitt der Geschichte mehrerer verwandter Thesenblatt-Gattungen in Siena: Le tesi a stampa a Siena nei secoli XVI e XVII. Catalogo degli opuscoli della Biblioteca Comunale degli Intronati, Cinisello Balsamo 2011. Ich beziehe mich in erster Linie auf die Darstellung der Gattungsgeschichte in Frankreich aus kunst- und wissenschaftsgeschichtlicher Perspektive in: Véronique Meyer, Les thèses, leur soutenance et leurs illustrations dans les universités françaises sous l’ancien régime, in: Claude Jolly/ Bruno Neveu [Hg.], Mélanges de la Bibliothèque de la Sorbonne 12. Éléments pour une histoire de la thèse, Paris 1993, S. 45–111.
Mäzenin, her.2 Auch für diesen Text müssen Autorschaft und Autorenfigur als potenziell getrennte Kategorien betrachtet werden.3 Bei den Widmungsempfänger:innen handelt es sich um Familienmitglieder der Kandidaten, lokale Würdenträger bis hin zu Hochadeligen, Ministern und Mitgliedern der königlichen Familie, unter deren Ägide die Defensio gestellt wurde.4 Diese drei Texte bilden die gattungsmäßige Minimalvoraussetzung für ein Thesenblatt, egal ob illustriert oder bloßer Typendruck (Abb. 1).
Entscheidend für die Repräsentation der Widmungsträger:innen am Thesenblatt ist das Problem des Widmungsgegenstands. Die Thesen besitzen nicht das wissenschaftliche Prestige eines Traktats oder den künstlerischen Glanz eines Romans, die mit vergleichbaren Widmungsschriften versehen wurden.5 Sowohl der Kandidat als auch die Widmungsträger:innen konnten von der druckgrafischen Expansion des Gegenstands nur profitieren. In der Gattungsgeschichte wurde die literarische Widmung zunächst um Wappendarstellungen und/oder Porträts der Widmungsträger:innen erweitert. Diese zentralen Elemente der Repräsentation können allegorisch verschränkt und ausgefaltet werden. Eine überwiegende Mehrzahl der um 1600 aufkommenden illustrierten Thesenblätter ist dem Paradigma des Einblattdrucks unterworfen, mit einer getrennten Abfolge von Grafik, Widmung, Thesen und Ankündigung der Defensio.6 Nur jene
2 Mein Bemühen um inklusive Sprache trifft auf den weitgehenden politischen Ausschluss und die gesellschaftliche Marginalisierung von Frauen im 17. Jahrhundert, wobei Geschlechtsidentitäten stetem historischen Wandel unterworfen sind, wodurch Übertragungen in beide Richtungen erschwert werden. Im Folgenden greife ich dann auf den Gender-Doppelpunkt zurück, wenn unter Berücksichtigung des historischen Kontexts tatsächlich Frauen und Männer miteingeschlossen sind, etwa bei den Widmungsträger:innen, sowie bei überhistorischen Aussagen bzw. Aussagen mit Gegenwartsbezug zu Personengruppen wie Künstler:innen und Rezipient:innen.
3 Véronique Meyer betont, dass eine literarisch anspruchsvolle Widmung gleich mehrere Gelehrte beschäftigen konnte [vgl. Pour la plus grande gloire du roi. Louis XIV en thèses, Rennes 2017, S. 60]. In Zusammenhang mit der frühneuzeitlichen Widmungspraxis und einer Topik des gelehrten Herrschers verweist Gwendoline de Mûelenaere auf einen weiteren Autorschaftsdiskurs: „This association of wisdom and power can be compared to a classical feature of dedicatory rhetoric that makes the honoree the ‚author‘ of the work he obtains. The process makes it possible to affirm, through the clientele relationship, the absolute sovereignty of the prince, who possesses not only what he gives but also what he receives“ [Early Modern Thesis Prints in the Southern Netherlands. An Iconological Analysis of the Relationships between Art, Science and Power, Leiden 2021, S. 179].
4 Wenig ist über das Zustandekommen der Patronatsverhältnisse und deren Implikationen bekannt. Für die besser erforschten Thesenwidmungen an Ludwig XIV. kann zusammengefasst werden, dass diese ein seltenes Privileg darstellten, dass das Thesenblatt dem König vor der Defensio persönlich vom Kandidaten überreicht wurde und dass in wenigen Fällen königliche Gunstbezeugungen in Form von Ämtervergaben kurz nach der Defensio nachgewiesen werden konnten [vgl. Meyer, Louis XIV en thèses, S. 52–72].
5 Bis heute relevant zur Widmungspraxis im 16. und 17. Jahrhundert in Frankreich ist Wolfgang Leiner, Der Widmungsbrief in der französischen Literatur (1580–1715), Heidelberg 1965.
6 Die meist qualitativ hochwertigen Porträts und Wappendarstellungen wurden nur selten im Verbund eines Thesenblatts aufbewahrt. In fünf Klebebänden mit Thesenblättern, die für das Rektorat des Collège d’Harcourt in Paris angefertigt wurden, fehlen die verteidigten Thesen vollständig. Ein
1 Robert Nanteuil, Porträt des Léonor Goyon de Matignon für das Thesenblatt des François Marescot, Kupferstich und Typendruck auf Seide, ca. 855 × 550 mm, 1662.
kleine Minderheit von Thesenblättern, die in der vorliegende Arbeit untersucht werden, lässt die allegorischen Porträts zu monumentalen Rahmen für sämtliche Texte anschwellen.7 Dieser zuerst in Italien aufgekommene Typus illustrierter Thesenblätter fand Großteil der Thesenblätter in den Bänden war mit Porträts illustriert, gefolgt von religiösen Sujets und Heiligendarstellungen. Nur vereinzelte Plakate entsprechen dem weiter unten beschriebenen all-over druckgrafischer Illustration, durch das die diskrete Trennung von Bild und Text per Scherenschnitt vereitelt [Paris, Bibliothèque Sainte Geneviève, Inv.: W2411-5, 350]. Ein gewaltiges Œuvre unbekannter Thesenblattillustrationen sind die ca. 240 von Robert Nanteuil gestochenen Porträts, die größtenteils zu diesem Zweck geschaffen oder adaptiert wurden und entscheidend zum Erfolg des Künstlers beitrugen [vgl. Audrey Adamczak, Robert Nanteuil ca. 1623–1678, Paris 2011, S. 44]. Für Nanteuils Schüler Gérard Edelinck und Charles Audran können ähnliche Auftragslagen vermutet werden.
7 Vgl. Meyer, Les thèses, leur soutenance et leurs illustrations, S. 89.
2 Grégoire Huret, Thesenblatt des Jules César Faure, Kupferstich und Textgravur, ca. 740 × 477 mm, 1. Zustand, 1641.
in Frankreich ab dem 2. Drittel des 17. Jahrhunderts Verbreitung (Abb. 2).8 Bedeutende Entwerfer und Kupferstecher wurden engagiert, um von zwei oder mehr Kupferplatten gedruckte Plakate anzufertigen, die eine erkleckliche Investition in die gesellschaftliche Repräsentation von Kandidat und Widmungsträger:in darstellten. Immense Kosten entstanden außerdem durch die Ausrichtung der soutenance solennelle, die nach aufwändiger Dekoration, musikalischer Begleitung, Gedichten zur Rezitation usf. verlangte.9
8 Die ersten illustrierten Thesenblätter dieses Typus für französische Kandidaten sind in Rom entstanden. 1606 schuf Francesco Villamena ein Heinrich IV. gewidmetes theolgisches Thesenblatt, das 1622 ebenfalls in Rom von Charles Audran für ein Ludwig XIII. gewidmetes Thesenblatt weitgehend kopiert wurde. Zur Chronologie des illustrierten Thesenblatts in Frankreich vgl. etwa Meyer, Louis XIV en thèses, S. 51.
9 Eine höchst interessante vergleichende Perspektive auf den ephemeren Aufwand, der für feierliche Defensios in verschiedenen europäischen Kontexten betrieben wurde, bietet Sybille Appuhn-Radtke, Formen und Funktionen des Thesenblattes. Programm, Plakat und Memorialbild, in: Meelis Friedenthal et al. [Hg.], Early Modern Disputations and Dissertations in an Interdisciplinary and European Context, Leiden 2021, S. 65–101, hier S. 71–73. Für besonders detaillierte und quellenreiche Rekonstruktionen
3 Gilles Rousselet nach Laurent de la Hyre, Fragment eines Thesenblatts, Kupferstich, ca. 435 × 335 mm, vor 1628.
Wenige Thesenblattillustrationen, die am ehesten eine genuine Ikonografie der Gattung ausprägen, stellen die Überreichung des Thesenblatts, also den eigentlichen Akt der Zueignung, allegorisch dar (Abb. 3).10 Diese Illustrationen repräsentieren das Thesenblatt als physisches Objekt mise en abyme und Reihen sich damit in eine lange Tradition von Darstellungen von Widmungsobjekten in der westlichen Kunst.11 Die ebenfalls perpetuierte Repräsentation der Kandidaten und Widmungsträger:innen ist bei solchen Bilderfindungen an die Überreichung des Widmungsobjekts gebunden und in diesem
der Disputationen des Collegio Romanos vgl. Louise Rice, Jesuit Thesis Prints and the Festive Academic Defense at the Collegio Romano, in: John W. O’Malley et al. [Hg.], The Jesuits. Cultures, Sciences, and the Arts 1540–1773, Toronto 1999, S. 149–168, hier S. 158 f.
10 Zu dieser, in den südlichen Niederlanden häufigeren Ikonografie der Thesenblattillustration vgl. Gwendoline de Mûelenaere, La mise en abyme dans les affiches de thèses. Paratexte et méta-narration, in: Tonia Raus/Gian Maria Tore [Hg.], Comprendre la mise en abyme. Artset médias au second degré, Rennes 2019, S. 145–162.
11 Mûelenaere, Early Modern Thesis Prints, S. 180–207.
Abhängigkeitsverhältnis markiert. Als visuelle Tautologie tritt die mise en abyme des Thesenblatts als Darstellungsgegenstand zwangsläufig in Spannung zur allegorischen Entfaltung der Widmungsträger:innen, die ja gerade die geringe Strahlkraft der Thesen kaschieren sollte. Erst diese Absetzungsbewegung von den akademischen Texten eröffnete den beteiligten Künstlern jene Gestaltungsfreiheit, die Kunsthistoriker:innen heute fasziniert und herausfordert.12 Verschiedenste Gattungen und Topoi der bildenden und darstellenden Künste wurden der allegorischen Bildpanegyrik dienstbar gemacht; sämtliche Mittel der Bildorganisation waren recht, um die Herausforderungen der Bild-TextKombination im Großformat zu bewältigen.13 Zeitgenössisch führte die ungezügelte Entfaltung der Allegorie in Thesenblatt und soutenance solennelle zu regelmäßiger Kritik im Sinne eines akademischen Nüchternheitsethos und Versuchen dem betriebenen Aufwand studienrechtliche Grenzen zu setzen.14 Doch erst die allmähliche Abwendung von der allegorischen Ausdrucksweise im Laufe des 18. Jahrhunderts konnte die Gattung ernsthaft gefährden und machte sie schließlich obsolet. Die in der vorliegenden Arbeit untersuchten Objekte entstammen der umfangreichen Sammlung französischer Druckgrafik des Frühbarock der Wiener Albertina mit Vergleichsobjekten aus der Bibliothèque nationale de France und anderen europäischen und US-amerikanischen Sammlungen.15 Von diesen illustrierten Thesenblättern können trotz durchwegs prominenter Urheber meist nur ein, maximal zwei vollständige Exemplare in Wien und Paris nachgewiesen werden; eine nachhaltige damnatio memoriae, die historische und gattungstheoretische Fragen aufwirft.
Meine erste Begegnung mit illustrierten Thesenblättern führt zurück zu meiner Magisterarbeit über illustrierte Kalenderplakate des 17. Jahrhunderts. Diese Gattung ist in Frankreich unter dem Namen Almanach bekannt, womit neben den Plakaten Kalender
12 Selbstverständlich umfasste diese Gestaltungsfreiheit auch die mise en abyme, die die barocke Faszination für alle möglichen Formen der Metarepräsentation bediente. Dennoch stellt diese ThesenblattIkonografie in Frankreich eine große Ausnahme dar.
13 „Tous les genres de gravure convenaient : portraits, armoiries, allégories, sujets religieux, Vierge, Christ, saints en buste ou à mi-corps… La qualité dépendait du rang du modèle et de la volonté de l’impétrant. On s’adressait alors aux plus grands peintres, Vouet, Champaigne, Baugin, Bourdon, Le Brun, Mignard et aux plus célèbres graveurs, Huret, Lasne, Charles Audran, les frères Poilly, Edelinck, Nanteuil, Rousselet. Pour donner plus de richesse à son affiche, il arrivait que le candidat fasse à la main, et non typogravier, le texte des positions“ [Véronique Meyer, L’Illustration des Thèses à Paris dans la seconde moitié du XVIIe Siècle. Peintres · Graveurs · Éditeurs, Paris 2002, S. 26].
14 Vgl. Rice, Jesuit Thesis Prints, S. 154 ff. und Meyer, Louis XIV en thèses, S. 51.
15 Französischen Thesenblättern und vielen Fragmenten solcher Werke in der Albertina wurde noch keine systematische Untersuchung zuteil. Ein von mir erstellter Zensus umfasst Objekte, die bekannten Stechern zugeordnet werden können. Hervorzuheben sind mindestens sechs von Charles Audran gestochene Thesenblätter, drei bis vier von Abraham Bosse, ein oder zwei aus der Hand Pierre Darets, elf von Grégoire Huret, drei mögliche Thesenblattfragmente Michel Lasnes, vier Werke Claude Mellans und neun Plakate Gilles Rousselets.
in verschiedenen Buchformaten bezeichnet wurden. Am Ende des Jahrhunderts verknüpft Antoine Furetière den Begriff in seinem Dictionnaire universel mit Spott für leichtgläubige Menschen und betrügerische Astrologen.16 Selbst die Körper wetterfühliger Personen werden laut Furetière als „Almanachs“ bezeichnet. So misstrauisch die Astrologie besonders von der Kirche stets betrachtet wurde, erst der tiefgreifende Wandel wissenschaftlicher und politischer Paradigmen ab dem 17. Jahrhundert konnte ihre Macht ernsthaft in Frage stellen, wenn auch nicht brechen. Was unter dem Namen Almanach zirkulierte, wurde spätestens im 19. Jahrhundert feinsäuberlich in Kalender, Jahrbücher aller Art, literarische Kompendien und Relikte astrologischen Volksglaubens unterschieden. Die von mir untersuchten Plakate fielen als hyperbolische Propaganda –Ludwig XIV. war als Sonne und unbewegter Beweger an die Stelle der Planetengötter getreten – bereits in der 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts aus der Mode. In der französischen Revolution feierte die Kalenderillustration als Allegorie des republikanisch/rationalen Dezimalsystems Auferstehung mit geborgter Zeit. Nicht der gregorianische Kalender, sondern die allegorische Ausdrucksweise hatte ihr Ablaufdatum überschritten.
Ein ähnliches Schicksal widerfuhr dem zeitgenössischen illustrierten Thesenblatt, das allein durch die der Gattung verbundenen Namen bedeutender Künstler vor völliger Obskurität bewahrt wurde. Die Sammelleidenschaft des 18. Jahrhunderts verschaffte den Thesenblättern unter dem Gebot der Vollständigkeit einen bescheidenen Platz in den großen Grafikkabinetten Europas, als ihre Rolle im akademischen Leben bereits erodierte. Ob ein Sammler wie Prinz Eugen allerdings seine französischen Thesenblätter, die einst der Panegyrik der Feinde des Hauses Habsburg gedient hatten, je betrachtete, ist nicht überliefert. Der Pariser Verleger und Grafikhändler Pierre-Jean Mariette (1694–1774), der die Sammlung zusammengestellt hatte, bezeichnet ein Richelieu gewidmetes Thesenblatt nach einer denkbar knappen Beschreibung im Katalogteil eines Gilles Rousselet gewidmeten Klebebands als „Thèse allégorique“.17 Einen allgemeinen Begriff davon, was unter einer Allegorie zu verstehen ist, konnte Mariette unter seinen Zeitgenoss:innen zweifellos voraussetzen. Doch bereits zu Furetières Zeiten war die Historisierung und damit verbundene Abwertung der Allegorie weit fortgeschritten. Zwar kann er sich eine schöne Allegorie vorstellen, sofern diese ingeniös ist, doch macht er den uneigentlichen allegorischen Sinn als „application arbitraire“ verächtlich und ortet bei den Kirchenvätern „allegories bien froides“.18 Von dieser Skepsis, die so oder so ähnlich immer wieder aufflackerte, ist es nicht weit zu Hegels Diktum, dass die Allegorie als abstrahierende Erfindung des Verstandes „frostig und kahl“ sei und zur romantischen
16 Antoine Furetière, Dictionnaire universel, Contenant généralement tous les mots françois tant vieux que modernes, & les Termes des Sciences et des Arts : Divisé en deux Tomes. Tome premièr A–H, La Haye/ Rotterdam 1702, S. 72.
17 Albertina, Inv.: HB 153.2, Kat. Nr. 51.
18 Furetière, Dictionnaire universel I, S. 68.
Abwertung der Allegorie gegenüber dem Symbol.19 Aufgerieben zwischen dem Vorwurf der barocken Obskurität und dem Scheitern an der utopischen Wahrhaftigkeit des Symbols erschien die allegorische Ausdrucksweise spätestens seit der Aufklärung als lästiger Umweg zur bezeichneten Sache, deren Wert und Bedeutung historisch ermessen werden muss. Eine application arbitraire setzt positive Qualitäten des betrachteten Gegenstands voraus, denen gegenüber das allegorische anders Sprechen als Negation steht. Die informationslose Benennung einer Allegorie als Allegorie genügt dann, um diese kalten Objekte eines überholten künstlerischen Vokabulars einzuhegen.
Trotz der nachhaltigen Skepsis an allem, was sich allegorisch nennt oder allegorisch genannt wird, kann viel Positives über das Thesenblatt als Gegenstand kunsthistorischer Forschung berichtet werden. Das illustrierte Thesenblatt ist eine gut erforschte und breit rezipierte druckgrafische Gattung. Wichtige Publikationen sind französischen, süddeutschen, italienischen und niederländischen Thesenblättern und deren oft prominenten Urhebern gewidmet.20 Geteilte Voraussetzungen und Charakteristika, ökonomische und personelle Verflechtungen der jeweiligen Produktionsstätten aber auch spezifische Unterschiede wurden in mehreren Studien herausgearbeitet. Es stimmt allerdings auch, dass die Forschungsstränge zu Thesenblättern noch „weitgehend nach Sprachen getrennt“ verlaufen, wie Sybille Appuhn-Radtke jüngst feststellte, weshalb ihr Ansatz „internationale Konstanten und regionale Differenzen in der Gestaltung des Thesenblattes herauszustellen“ besonders hervorzuheben ist.21 Über die gebotene Kontextualisierung der Gattung in ihren zeitgenössischen Rezeptions- und Produktionsfeldern besteht in den jüngeren Publikationen Konsens. Querverbindungen zu performativen Formen der Repräsentation wie dem barocken Fest und den damit verbundenen Fragen der politischen und gesellschaftlichen Repräsentation in und durch Kunst wurden
19 Georg W. F. Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik I [1832–1845], Frankfurt am Main 1970, S. 512.
20 Hervorzuheben sind die Publikationen von Véronique Meyer und Maxime Préaud für das Thesenblatt in Frankreich, Sybille Appuhn-Radtke und Werner Telesko für den süddeutschen und österreichischen Raum, Annalisa Pezzo und Louise Rice für Italien sowie Gwendoline de Mûelenaeres Arbeiten zur Thesenblattproduktion in den südlichen Niederlanden.
21 Appuhn-Radtke, Formen und Funktionen des Thesenblattes, S. 61. Beispiele für überregionale Perspektiven und Studien: Véronique Meyer, Les frontispices de thèses: un exemple de collaboration entre peintres italiens et graveurs français, in: Jean-Claude Boyer [Hg.], Seicento. La peinture italienne du XVIIe siècle et la France. Actes du colloque, Paris 1990, S. 105–123; Claude Mignot, Un marché inédit pour une thèse dédiée à Richelieu : Grégoire Huret à Jean Chaillou, in: Jean-Claude Boyer/Bénédicte Gady/Barbara Gaehtgens [Hg.], Richelieu, Patron des arts, Paris 2009, S. 435–442; Mûelenaere, Early Modern Thesis Prints; Louise Rice, Matthaeus Greuter and the Conclusion Industry in SeventeenthCentury Rome, in: Eckhard Leuschner [Hg.], Ein privilegiertes Medium und die Bildkulturen Europas. Deutsche, Französische und Niederländische Kupferstecher und Graphikverleger in Rom von 1590 bis 1630, München 2012, S. 221–238. Weiterführend: Marianne Grivel, Le commerce de l’estampe à Paris au XVIIe siècle, Genève 1986.
in diesem Zusammenhang in den Blick genommen.22 Seit den frühesten Monografien zu illustrierten Thesenblättern ist ein vielschichtiges Bild der Gattung entstanden, mit dem an kunsthistorische Diskurse in- und außerhalb der Grafikforschung angedockt werden kann. Aus der Erforschung einer einst prestigeträchtigen druckgrafischen Gattung und ihrer Protagonist:innen im gesellschaftlichen Kontext können Rückschlüsse auf die enge Verflechtung politischer, sozialer und ästhetischer Diskurse im 17. und 18. Jahrhundert gezogen werden. Der vielschichtige Begriff, der dem illustrierten Thesenblatt durch diese Untersuchungsfelder als kunsthistorischer Gegenstand verliehen wird, fügt sich als Mosaikstein in ein stetig wachsendes kulturwissenschaftliches Tableau der frühen Neuzeit. Die Emblemforschung ist zweifellos eine der Leitlinien für die wissenschaftliche Beschäftigung mit illustrierten Thesenblättern, die ein hohes Bewusstsein für ikonografische und medientheoretische Fragestellungen und Probleme der Intermedialität bedingt. Mithilfe des methodischen Rüstzeugs und der historischen Fragestellungen der Emblemforschung wurden Thesenblätter etwa im Zusammenhang der frühneuzeitlichen, besonders jesuitischen Schulrhetorik und Mnemotechnik erforscht.23 Aus diesen Ansätzen ergibt sich ein großes Naheverhältnis zu wissenschaftsgeschichtlichen Fragestellungen der Visualisierung, Ordnung und Verfügbarmachung von Wissen und den zugrundeliegenden epistemologischen Paradigmen, denen mehrere jüngere Publikationen gewidmet sind.24 Zugleich stellt die Emblematik in ihren ungezählten publizistischen, angewandten und theoretischen Erscheinungsformen eine der größten Herausforderungen der Frühneuzeitforschung dar. Versuche substanzieller Gattungsdefinitionen des Emblems scheitern spektakulär an dessen proteischer Wandlungsfähigkeit. Rüdiger Zymners Definition des Emblems als offenes Kunstwerk ist demgegenüber kein bloß strategischer Vorschlag eines Minimalkonsenses, sondern eine rezeptionsästhetische Wendung der scheinbar konstitutiven Dreiteiligkeit des Emblems.25 Bernhard Scholz bietet detaillierte
22 Vgl. insb. Meyer, Illustration des thèses; Gwendoline de Mûelenaere, „Omnia singularem disputationi conciliabant celebritatem“. Les défenses de thèses dans les Pays-Bas espagnols, in: Ralph Dekoninck et al. [Hg.], Cultures du spectacle baroque. Cadres, expériences et représentations des solennités religieuses entre Italie et anciens Pays-Bas, Bruxelles/Roma 2019, S. 319–336; Appuhn-Radtke, Formen und Funktionen des Thesenblattes; Rice, Jesuit Thesis Prints.
23 Vgl. Anette Michels, Philosophie und Herrscherlob als Bild. Anfänge und Entwicklung des süddeutschen Thesenblattes im Werk des Augsburger Kupferstechers Wolfgang Kilian (1581–1663), Münster 1987.
24 Vgl. insb. Susanna Berger, The Art of Philosophy. Visual thinking in Europe from the late Renaissance to the early Enlightenment, Princeton/Oxford 2017, Barbara Bauer, Die Philosophie auf einen Blick. Zu den grafischen Darstellungen der aristotelischen und neuplatonisch-hermetischen Philosophie vor und nach 1600, in: Jörg Jochen Berns/Wolfgang Neuber [Hg.], Seelenmaschinen. Gattungstraditionen, Funktionen und Leistungsgrenzen der Mnemotechniken vom späten Mittelalter bis zum Beginn der Moderne, Wien/Köln/Weimar 2000, S. 481–519 und Mûelenaere, Early Modern Thesis Prints, S. 55–60.
25 Vgl. Rüdiger Zymner, Das Emblem als offenes Kunstwerk, in: Wolfgang Harms/Dietmar Peil [Hg.], Polyvalenz und Multifunktionalität der Emblematik. Akten des 5. Internationalen Kongresses der Society for Emblem Studies. Teil 1, Frankfurt am Main u.a. 2002, S. 9–24, hier S. 23 f.