Ars et Scientia
Schriften zur Kunstwissenschaft
Band 29
Herausgegeben von Bénédicte Savoy, Michael Thimann und Gregor Wedekind
Lisanne Heitel
Die Neuerfindung des Malerischen
Zur Rezeption Tizians und der venezianischen Kunst in Klassizismus und Romantik
De Gruyter
Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften in Ingelheim am Rhein
ISBN 978-3-11-130188-4
e-ISBN (PDF) 978-3-11-130255-3
ISSN 2199-4161
Library of Congress Control Number: 2024937174
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.
© 2024 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston
Einbandabbildung: Washington Allston, Diana auf der Jagd, Öl/Lwd., 1805, 163,8 × 241,3 cm, Harvard Art Museums/Fogg Museum, Schenkung von Mrs. Edward W. Moore, Leihgabe des Washington Allston Trust. © The Harvard Art Museums, Boston, President and Fellows of Harvard College.
Einbandgestaltung: Kerstin Protz, De Gruyter Satz: SatzBild GbR, Sabine Taube, Kieve Druck und Bindung: FINIDR, s.r.o., Český Těšín
www.degruyter.com
Inhalt
Dank 7
I. Einleitung 9
Der Kampf der Farbe 9
Farbe als Problemstellung 11
Internationale Verbindungen, Tizian und die Farbe der Romantik im Spiegel der Forschung 13
disegno versus colore – Vasaris folgenreiches Urteil 16
Die Rezeption Tizians im Klassizismus: Anton Raphael Mengs und Sir Joshua Reynolds 19
Die Sonderstellung Londons 24
Exkurs: Tempera 26
II. Washington Allston als Vermittler der venezianischen Maltechnik in Rom kurz nach 1800 29
Der amerikanische Tizian 29
Forschungsstand und Quellenlage 32
Boston – Anfänge 36
London – Farbe! 43
Paris – Festigung der Technik und Jacques-Louis David als Antiheld 71
Rom – Meisterwerke 80
Fazit 147
III. Intermezzo: Das Jahr 1810. Goethes Farbenlehre, Runges Farbkugel und die „wollüstige Farbe“ in der Tizianrezeption der Nazarener 149
IV. Tizians „Farbenzauberei“ in den Werken von Anton Joseph Dräger und seinem Umkreis 159
Einleitung 159
Forschungsstand und Quellenlage 161
Jugend und Studienzeit in Dresden 164
Rom 170
Nachbeben: Die Malweise des Tizian 234
Rumohrs „verbotene Früchte“ 236
Farbe als politisches Mittel. Die Kontroverse um die Belgischen Historienbilder 239
Dräger als Gewährsmann für die Farbtechnik der 40er-Jahre 243
V. Schluss 251
VI. Anhang 257
Rudolf Wiegmann: Die Malweise des Tizian 257
Katalogteil 270
Literaturverzeichnis 283
Personenregister 305
Bildnachweis 309
Dank
Das vorliegende Buch ist die leicht überarbeitete Fassung meiner Dissertation, die ich im Mai 2020 an der Georg-August-Universität Göttingen eingereicht habe.
Ohne die Unterstützung zahlreicher Personen und Institutionen hätte diese Arbeit nicht realisiert werden können. Für die vielfältige Hilfe möchte ich mich an dieser Stelle sehr herzlich bedanken.
Mein besonderer Dank gilt meinem Doktorvater Prof. Dr. Michael Thimann, der mit großem Interesse, wertvollen Hinweisen und motivierenden Gesprächen meine Arbeit begleitet hat. Für ihre Bereitschaft, die Zweitkorrektur zu übernehmen, danke ich sehr Prof. Dr. Iris Wenderholm. In ihrem Hamburger Kolloquium durfte ich erstmals meine Ideen und Thesen vorstellen. Den Teilnehmern dieses und denen des Göttinger Kolloquiums danke ich für viele Anregungen und gewinnbringende Diskussionen.
Die Arbeit an meiner Dissertation ermöglicht hat ein Promotionsstipendium der Evangelischen Studienstiftung Villigst. Dafür fühle ich mich der Stiftung zu äußerstem Dank verpflichtet. Auch für die Gewährung eines Reisestipendiums, das mir einen vierwöchigen Forschungsaufenthalt in Boston und New York ermöglichte, danke ich Villigst sehr.
Meine Recherchen brachten mich an verschiedene Archive, in denen ich auf Interesse und Unterstützung gestoßen bin. Gedankt sei insbesondere den Mitarbeitern des Harvard University Archive in Boston und denen des Deutschen Studienzentrums Venedig jeweils für die mehrwöchige Bereitstellung eines Arbeitsplatzes und die Unterstützung bei Recherchen.
Ich danke Prof. Dr. Bénédicte Savoy, Prof. Dr. Michael Thimann und Prof. Dr. Gregor Wedekind für die Aufnahme meiner Arbeit in die Schriftenreiche Ars et Scientia. Schriften zur Kunstwissenschaft sowie Anja Weisenseel und Martina Kupiak vom De Gruyter Verlag für die freundliche Betreuung. Der Druck wurde mit einem großzügigen Zuschuss der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften ermöglicht.
Für die vielen aufmunternden Gespräche und dafür, dass sie den großen Aufwand des Korrekturlesens auf sich genommen haben, danke ich Nuria Jetter, Nikolaus Teichmüller und meiner Schwester Marlene Teichmüller. Für das überaus umsichtige abschließende Lektorat danke ich Dr. Nikolaus Gatter.
Besonders möchte ich mich bei meinen Eltern dafür bedanken, dass ich bei ihnen von Anfang an Zuspruch und jegliche Unterstützung fand, das erfüllende Fach Kunstgeschichte zu studieren und die Promotion hieran anzuschließen.
Vor allem aber danke ich meinem Mann Moritz Heitel, der unerschütterlich an das Gelingen meines Projekts geglaubt hat, der stets Zeit, Raum und Ruhe für meine Arbeit zu schaffen wusste und mich unbedingt und selbstlos unterstützt hat. Ihm und unseren beiden Töchtern ist diese Arbeit gewidmet.
I. Einleitung
Der Kampf der Farbe
One of the most fruitful ways to study the period from 1775 to 1825 during which modern painting began, is, ignoring subject matter, to look at it as a struggle between the coloristic and the sculpturesque styles.1
Die hier von Edgar Preston Richardson bezeichneten feindlichen Lager hatten sich zum Ende des 18. Jahrhunderts in ihre Hoheitsgebiete zurückgezogen: Während die Linie in Frankreich und den deutschsprachigen Ländern unangefochten regierte, hatte die Farbe Großbritannien und die Neue Welt erobert. Speziell für die deutsche Kunst hält sich das Narrativ, dass dieser Zustand anhielt und ein Erstarken der Farbe erst zur Mitte des 19. Jahrhunderts mit der Düsseldorfer Malerschule einsetzte.2 Folgende Überlegungen motivieren jedoch die Frage, ob der coloristic turn in der Deutschen Kunst des 19. Jahrhunderts einer Neudatierung bedürfe.
Der Kampf des Malerischen mit dem Linearen3 ist ein althergebrachter Topos der Kunstgeschichte. Ganze Künstlergenerationen waren in das Ringen um Vormacht verstrickt, seit Plinius d. Ä. (23/24–79 n. Chr.) Mitte des 16. Jahrhunderts als Kronzeuge für den Vorrang der Zeichnung vor der Farbe herangezogen worden war. Die Anekdote, nach der die Anfänge der Malerei im Umreißen eines menschlichen Schattens lagen, und die, in der die größten Maler der Antike, Apelles und Protogenes, sich gegenseitig im Malen feiner Linien übertrafen, gelten seither als Argumente für den Primat des disegno. Allein die Linie, so die Schlussfolgerung, enthalte die Idee, also das geistige und das konstituierende Moment der Kunst.4 Die Fürsprecher der Farbe ihrerseits nahmen für sich in Anspruch, dass nur die Farbe einem Bild Leben einhauchen und es beseelt erscheinen lassen könne. Den technischen Reiz der Farbe hingegen wagten sie in der intellektuellen Debatte,
1 Richardson 1944, S. 34.
2 Vgl. unter anderem Krieger 2006, S. 92–95; von Rosen 2001, S. 66–69; Richardson 1944, S. 34.
3 Aus dem Kontext des Zitats wird deutlich, dass Richardson mit „sculpturesque styles“ bezeichnet, was übersetzt das Themenfeld des Linearen abdeckt.
4 Plinius 1882, S. 116, 137 f.; Vgl. Mainberger/Ramharter 2017, S. 313 f.; Pape 2014/1, S. 82 f., Fn 10; Mainberger 2007, S. 20 f.
die auch dazu diente, die Malerei in den Rang einer ars liberalis zu erheben, nicht anzuführen. Zu sehr sah man diese Seite der Malerei mit dem niedergestellten Handwerk verbunden.5
Als eine Ursache für die Entfremdung englischer und kontinentaler Kunsttheorien zum ausgehenden 18. Jahrhundert kann der Beginn der Napoleonischen Kriege angeführt werden. Durch die Konflikte waren die Bildungsreisen der Engländer stark eingeschränkt, zeitweise sogar gänzlich verhindert. So etablierte sich im deutschen Klassizismus die Umrisslinie als ideales künstlerisches Ausdrucksmittel, wobei die Farbe zum schmückenden Beiwerk verfiel. In London dagegen formierte sich unter Sir Joshua Reynolds (1723–1792) und Benjamin West (1738–1820) die English School of Painting, deren Künstlerschaft von der Suche nach dem venezianischen Geheimnis, der Farbe Tizians, angetrieben wurde.
Im ersten Hauptteil der vorliegenden Arbeit wird dieser Großerzählung entgegengehalten, dass bereits zu Beginn des 19. Jahrhunderts der Amerikaner Washington Allston (1779–1843) eine Farbtechnik, die auf der englisch-venezianischen Farbtradition beruhte, nach Rom ins Zentrum der Deutschrömer, den Kreis um den Humboldtschützling Christian Gottlieb Schick (1776–1812), tragen konnte. Allstons Farbtechnik traf den Nerv der Zeit. Denn sie versprach, das vielseits bedauerte Problem der verlorengegangenen Technik der Ölmalerei zu lösen. Durch vielfältige Spielräume im Farbaufbau gab diese Technik darüber hinaus dem Künstler die Möglichkeit, seine Idee nicht wie bisher einzig mit der Linie auszudrücken, sondern sie auch im Werkprozess zu entwickeln. Ein theoretisches Interesse an der Aufwertung der Farbe hatte sich nämlich bereits mit Johann Wolfgang von Goethes (1749–1832) Forschungen und den Überlegungen Friedrich Schellings (1775–1854) und denen der Brüder Friedrich (1772–1829) und August Wilhelm Schlegel (1767–1845) zur Farbe Bahn gebrochen. Nun gab es für die Künstler eine Möglichkeit, diese Forderungen in der Praxis umzusetzen.
Im zweiten Hauptteil der Arbeit soll gezeigt werden, dass das künstlerische Interesse an der Farbe und – damit einhergehend – an der Kunst Tizians nicht nachließ. Die Farbtechnik, die der Dresdner Künstler Anton Josef Dräger (1794–1833) um 1830 als tizianeske Technik etablierte, soll auch im Kontext von Goethes Farbenlehre Beachtung finden. Anhand von Drägers Œuvre, das in der vorliegenden Arbeit erstmals zusammenhängend vorgestellt wird, zeichnet sich eine Entwicklung ab, die der nazarenischen Bildwelt entsprang und in ihrem Verlauf eine Gegenströmung zur Kunst der Biedermeierzeit eröffnete. Dabei wird die Frage aufgeworfen, inwieweit das Beherrschen einer komplexen Farbtechnik diesen Prozess beeinflusste.
5 Zu diesem Thema, das als ein Schlüsselthema der Kunstgeschichte betrachtet werden kann, gibt es eine Vielzahl an Literatur. Die jeweiligen Argumente ausführlich dargestellt haben beispielsweise Mainberger 2007 und Krieger 2006. Das Thema wird außerdem unten in Kapitel I disegno versus colore – Vasaris folgenreiches Urteil ausführlicher behandelt.
Als Rudolf Wiegmann (1804–1865), ein enger Freund des früh verstorbenen Drägers, mittlerweile Professor an der Düsseldorfer Malerschule, dessen verschollene Schrift Die Malweise des Tizian6 aus der Erinnerung zusammenstellte und 1847 herausbrachte, geschah dies wiederum unter gänzlich veränderten Vorzeichen. An Debatten, wie sie etwa um die sogenannten Belgischen Historienbilder (Abb. 77, 78) in Deutschland geführt wurden, lässt sich nun die etablierte Neupositionierung der Farbe bestimmen.
Die hier skizzierte und im Folgenden entfaltete Geschichte der Farbe vom reifen Klassizismus bis zur Düsseldorfer Schule wirft ein neues Licht auf die Diskurse der Zeit.
So geht mit der theoretischen Aufwertung der Farbe und der praktischen Suche nach einer adäquaten Technik die Wiederentdeckung Tizians und seiner Bildwerke auch in der Gegenüberstellung zu seinen Antipoden Raffael und Michelangelo einher. Das als Reaktion auf die Französische Revolution und die Kriegsführung Napoleons ausgelöste Streben nach einer genuin deutschen Kunst eröffnete für die Farbe neue Räume. In der Weiterentwicklung der Porträt- und Landschaftsmalerei und der Verbindung der Gattungen in der Historienmalerei übernahm die Farbe beispielsweise als Träger von Stimmung und Licht sowie in der Darstellung eines mit Gehalt aufgeladenen Inkarnats entscheidende Aufgaben.
In seinem Aufsatz von 1944, dem das vorangestellte Zitat entnommen ist, stellte Richardson den Künstler Washington Allston erstmals in den Fokus der modernen Forschung. Dass sein Ansatz, die Malerei um 1800 vor dem Hintergrund der Auseinandersetzungen mit dem Linearen und Malerischen zu betrachten, auch heute noch – neu gewendet – interessante Ergebnisse zutage fördern könne, ist die Ausgangshypothese der vorliegenden Untersuchung.
Farbe als Problemstellung
Weit mehr als in einer dem disegno verpflichteten Kunst kommt es in Bildern, die sich über ihr Kolorit definieren, auf das Original an. Die mit der Linie ausgedrückte Idee lässt sich über die Grafik leicht verbreiten. So ist, um ein Beispiel zu nennen, das vor allem auf Grund seiner malerischen Qualitäten interessante Werk Joshua Reynolds, Ugolino in seiner Zelle (Abb. 1), das in London gefeiert wurde, auf dem Kontinent ausschließlich durch die Druckgrafik bekannt geworden und erfuhr dementsprechend negative Bewertung.7
Wenn Franz Sternbald vor den Bildern Tizians und Correggios in Florenz ausruft:
6 Wiegmann 1847.
7 Tomory 1972, S. 209.
1 Joshua Reynolds, Ugolino in seiner Zelle, 1770–1773, Öl/Lwd., 52 × 72 cm, Knole, Kent, London and South East, National Trust.
Wie ist es möglich, wenn man diese Bilder gesehen hat, daß man noch vom Kolorit geringschätzend sprechen kann? […] Eine Zeichnung möge noch so edel sein, die Farbe bringe erst die Lebenswärme, und ist mehr und inniger als der körperliche Umfang der Bildsäule,8
wird hierin zum einen eine frühe, argumentative Aufwertung der Farbe in Aussicht gestellt, zum anderen bestätigt auch dieses zweite Beispiel, wie wichtig die Kenntnis des Originals für die Bewertung von Farbe ist.9
Die Farbe eines Gemäldes ist, anders als die Linie, nicht ohne weiteres objektiv beschreibbar. Dies hat verschiedene Ursachen, wie zum einen die unzulängliche Auswahl an Begriffen für die Farbe,10 die, selbst wenn sie einen Farbton treffend beschreiben könnten, möglicherweise damit noch keineswegs die Stimmung vermitteln, welche die Farbe durch das Zusammenspiel verschiedener Töne evoziert. Zum anderen besteht häufig eine Unstimmigkeit in der Beurteilung der Farbe in den Kritiken um 1800 und heute. Differente Erfahrungswerte und ein historisch unterschiedliches Empfinden können dem zugrunde liegen. Eine dritte Komplikation liegt in der Veränderung des ursprünglichen Zustandes durch chemische Prozesse, Schmutzschichten und Restaurierungen. Der Aufbau der Farbschichten wiederum lässt sich häufig nur mit restauratorischen Befunden bestimmen und wird nicht unbedingt aus dem Erscheinungsbild ersichtlich.
Um diesen Problemen zu begegnen, wird im Folgenden das Hauptaugenmerk auf schriftliche Quellen, das heißt Aussagen von Künstlern und zeitgenössischen Beschreibungen von Kritikern gelegt. Wie sich zeigen wird, ist es vor allem ein Wechselspiel aus theoretischen Forderungen, Theorien und darauf beruhenden künstlerischen Experimenten, die gleichsam als Antworten hierauf interpretiert werden können, was die Farbe in der deutschen Malerei um 1800 wieder aufleben lässt.
8 Ausspruch des fiktiven Malers Franz Sternbald in Ludwig Tieck: Franz Sternbalds Wanderungen von 1798. Tieck 1798, S. 348 f.
9 Vgl. Pape 2014/1, S. 81 f.
10 Pape 2014, (Vorwort) S. 7.
Internationale Verbindungen, Tizian und die Farbe der Romantik
im Spiegel der Forschung
In seinem Aufsatz Die große simple Linie und die allgemeine Harmonie der Farben von 1988 weist Werner Busch auf die „erstaunliche Erfahrungsspanne“ zwischen englischen, französischen und deutschen Künstlern um 1780 hin, wobei er den Blick der deutschen Künstler durch ihre klassische Bildung verstellt sieht.11 Der Befund, dass die Kunst um 1800 von nationalen Abgrenzungen und Versuchen zu einer eigenständigen Entwicklung geprägt war, beeinflusste möglicherweise den Blick der Forschung und verschuldete das ebenfalls von Busch benannte Forschungsdesiderat der Wechselbeziehungen zwischen deutschen, französischen und englischen Künstlern zwischen 1800 und 1830.12 Während vor allem durch Werkmonografien über deutsche Davidschüler und beispielsweise durch die Forschung von Bénédicte Savoy und France Nerlich13 Abhängigkeiten zwischen deutschen und französischen Künstlern seitdem vielfach aufgearbeitet wurden, besteht das benannte Desiderat zwischen englischen und deutschen Künstlern nach wie vor.14 Die vorliegende Arbeit möchte einen Beitrag zur Erschließung dieses Themas leisten.
Die beiden Künstler Washington Allston und Anton Dräger nehmen aufgrund ihrer Expertise im technischen Umgang mit der Ölmalerei eine Sonderposition unter den Künstlern der ersten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts ein. In dieser Arbeit erfahren sie methodisch dennoch eine unterschiedliche Behandlung. Ein Grund dafür ist, dass beiden Künstlern von der bisherigen Forschung ein quantitativ stark unterschiedliches Interesse entgegengebracht wurde. Während Washington Allstons Leben und Werk in der amerikanischen Kunstgeschichte eine detaillierte Aufarbeitung fand, ist zu Anton Dräger verhältnismäßig wenig geforscht worden.15 Des Weiteren lebte Allston als Amerikaner nur wenige Jahre in Rom, während Dräger nahezu seine gesamte künstlerische Schaffenszeit in der Ewigen Stadt verbrachte. In der vorliegenden Arbeit steht daher die Rolle Allstons als Übermittler der englischen Farbtradition im Zentrum. Die Ausstellung seiner Werke Diana auf der Jagd (Abb. 22) und Selbstporträt (Abb. 30) im Jahr 1805 wird als Initiationsmoment für die Wiederbelebung der Farbe in der deutschen Kunst gedeutet. Die
11 Busch 1988, S. 153–156, Zitat S. 153.
12 Beyrodt/Busch 1982, S. 172.
13 U. a. Nerlich/Savoy 2012.
14 Dies spiegelt sich auch darin, dass erst 2019 auf dem Deutschen Kunsthistorikertag in Göttingen das Fachforum Kunstgeschichte Großbritanniens gegründet wurde. Mit Kulturelle Transfers zwischen Großbritannien und dem Kontinent, 1680–1968 hat Christina Strunck 2019 einen Tagungsband herausgegeben, in dem trotz des vorgegebenen Zeitraums über 300 Jahre fünf von neun Beiträgen auf den Austausch zwischen Großbritannien und dem Kontinent in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts fokussieren. Dies spricht für eine gewisse Konjunktur des Themas.
15 Dazu siehe jeweils die Unterkapitel Forschungsstand und Quellenlage der beiden Hauptteile.
Analyse des Bildmaterials gibt in der Gegenüberstellung ausgesuchter Werke der deutschen Künstler in Rom Aufschluss über ihre Rezeption der Farbtechnik Allstons.
Die Berührungspunkte der beiden Jahrzehnte – 1800–1810 und 1820–1830 –, die durch das vermeintlich dogmatisch von der Umrisslinie geprägte Jahrzehnt der Nazarener getrennt zu sein scheinen, werfen Schlaglichter auf die Zusammenarbeit einer internationalen Künstlerschaft in Rom in den 1820er-Jahren.
Zum Thema Farbe im Allgemeinen wie auch zum Thema colore versus disegno gibt es, da diese Felder grundlegende Bereiche der Kunstgeschichte ansprechen, naturgemäß eine kaum überschaubare Anzahl an Veröffentlichungen.16 Im Jahr 2014 fand an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg das 9. Kolloquium der Internationalen Arnim-Gesellschaft unter dem Titel Die Farben der Romantik. Physik und Physiologie, Kunst und Literatur statt.17 In seinem Beitrag untersucht Walter Pape verschiedene theoretische Strategien zur Aufwertung der Farbe und formuliert die These, dass die Farbe dazu beitrug, die Romantik von der rationalen Konzeption des Klassizismus abzugrenzen.18 In der vorliegenden Arbeit wird diese These an konkreten Beispielen erprobt und es wird die Frage gestellt, ob diese Strategie, die Farbe gezielt einzusetzen, auch ein Teil der zweiten Generation der Nazarener nutzte, um ihre Kunst gegenüber derjenigen der Lukasbrüder und ihrer direkten Nachfolger zu definieren.
In dem Übersichtswerk Linienwissen und Liniendenken, das 2017 von Sabine Mainberger und Esther Ramharter herausgegeben wurde,19 wird der Vorrang der Linie seit Aristoteles beschrieben. Die Autorinnen vermuten, die konkrete Aufwertung der Farbe liege in der französischen Kunst begründet. Auch wenn in der vorliegenden Arbeit nicht die radikalen Ansätze eines Eugène Delacroix (1798–1863) zur Verneinung der Linie gesucht werden, soll überprüft werden, wie sich eine solche Entwicklung in der deutschen Kunst zeigt.
Mit ihrer umfangreichen Dissertation Material, Technik, Ästhetik und Wissenschaft der Farbe. 1750–1850 hat die Restauratorin Annik Pietsch die Bewertung der Ölmalerei in dieser Zeit für die deutsche Kunst erforscht. Sie untersucht den Einfluss des Jenaer Kreises und des Goethe-Kreises auf die Farbtechnik, jedoch im Gegensatz zur vorliegenden Arbeit im Hinblick auf die deutsche Kunst im Deutschen Bund, ohne internationale
16 Den bereits im Vorwort genannten Titeln von Verena Krieger und Sabine Mainberger (Krieger 2006; Mainberger 2007) sei der Tagungsband Vasari als Paradigma. Rezeption, Kritik, Perspektiven von 2016 zur grundlegenden Betrachtung des Themas colore vs. disegno beigefügt (Jonietz/Nova 2016). Hierin findet sich auch eine detaillierte Aufstellung der Neuerscheinungen zu dem Thema Vasari und den Viten seit 2011 (Ebda. S. 22–28). – John Gage hat mit seinen Werken Die Sprache der Farbe und Kulturgeschichte der Farbe zwei umfangreiche Übersichtswerke vorgelegt (Gage [1999] 2010; Gage 2001).
17 Pape 2014.
18 Pape 2014/1, S. 85.
19 Mainberger/Ramharter 2017.
Einflüsse zu berücksichtigen.20 Eine vergleichbare Studie wurde von Eva ReinkowskiHäfner für die Temperamalerei unternommen.21 Ebenfalls zum Einfluss von Goethes Farbenlehre auf die bildende Kunst hat Pamela Currie geforscht.22
Die Farbe erhält, wie in der vorliegenden Arbeit gezeigt wird, vor allem mit der Weiterentwicklung der Gattungen Landschaft und Porträt neue Impulse.
Die Landschaftsmalerei um 1800 wurde unter dem Titel Landschaft am „Scheidepunkt“. Evolutionen einer Gattung in Kunsttheorie, Kunstschaffen und Literatur um 1800 (2010)23 aus verschiedenen Perspektiven beleuchtet. Der Beitrag von Hilmar Frank Die Neuerungsdynamik der Landschaftsmalerei um 180024 konzentriert sich auf die Aufwertung der Landschaft aus einem erneuerten Verständnis von Ideal und Regelbindung der Romantik gegenüber dem Klassizismus, dessen Gesetze in der Landschaft kaum künstlerisch ausgedrückt werden konnten, da sie zu sehr an das menschliche Ideal gebunden waren. Wie Frank analysiert, eröffnet die romantische Kunsttheorie demgegenüber besonders der Gattung Landschaftsmalerei Entwicklungsfreiräume. Wie sehr jedoch die Aufwertung der Farbe mit diesen frühen Impulsen der Landschaftsmalerei einhergeht, wird weder in diesem Aufsatz noch m. E. in anderen Beiträgen beleuchtet.
In seinem grundlegenden Aufsatz zum Porträt in der Romantik Die Einheit des Charakters, Das Seelenhafte, Symbolische und Charakteristische in der Porträt-Ästhetik der Romantik, 25 in dem Roland Kanz die Ausdruckskraft der gezeichneten Porträts beschreibt,26 wird das Inkarnat nicht behandelt, das jedoch von Goethe, Meyer und den Kunsttheoretikern des Jenaer Kreises als essenziell in der Porträtkunst betrachtet wird und allein durch die Farbe ausgedrückt werden kann. Zu hinterfragen ist außerdem das alleinige Vorbild Raffaels, das von Kanz als Maßstab angesetzt wird. Der Rezeption Raffaels in der Romantik, die mit den Titeln Raffael als Idee. Ein Künstlerphantasma der Romantik27 und Sterbliche Götter. Raffael und Dürer in der deutschen Romantik28 auch Michael Thimann erforscht hat, wird mit der vorliegenden Studie zur Rezeption Tizians eine oppositionelle Strömung an die Seite gestellt.
20 Pietsch 2014.
21 Reinkowski-Häfner 2014.
22 Currie [2010] 2013; Currie [2011] 2013.
23 Bertsch/Wegner 2010.
24 Frank 2010.
25 Kanz 1999.
26 Kanz 1999, S. 229.
27 Thimann 2014/2.
28 Thimann 2015.
Neben dem Ausstellungskatalog des Frankfurter Städel von 2019, Tizian und die Renaissance in Venedig, soll zu Tizian nur noch auf die grundlegenden Forschungsarbeiten von Daniela Bohde 29 und Peter Humfrey verwiesen werden.30
Mit seinem Tagungsband The reception of Titian in Britain. From Reynolds to Ruskin hat Humfrey ferner ein Thema bearbeitet, das dem Titel zufolge Parallelen zur vorliegenden Arbeit erwarten ließe. Tatsächlich jedoch treten hauptsächlich die Unterschiede zwischen den Ländern zu Tage, indem in der vom colore dominierten Kunst der britischen Künstler Tizian als Schlüsselthema bearbeitet werden kann, während es im Umfeld der dem disegno verpflichteten Kunst der deutschen Künstler als Nischenmotiv herausgearbeitet werden muss.31
disegno versus colore – Vasaris folgenreiches Urteil
Die Bewertung der verschiedenen italienischen Schulen beruht bekanntermaßen in erster Linie auf dem im 16. Jahrhundert von Giorgio Vasari geprägten disegno-coloreDisput. Bereits der Ursprung des Primats des disegno ist von der Frage nach geistiger Aufwertung bestimmt, nachdem der disegno argumentativ in den Paragone, die Erhebung der Malerei in den Rang der ars liberalis, verstrickt war.32
Bereits auf den ersten Seiten seiner Tizian gewidmeten Vita gibt Vasari Auskunft über die Malweise des venezianischen Künstlers, wobei seine eigene Präferenz in der Debatte um disegno und colore klar zum Tragen kommt.33 Venedig war als Zentrum der Textil- und Glasindustrie, für die qualitätvolle Pigmente eine hohe Bedeutung hatten, schon früh zum Umschlagplatz des europäischen Farbenhandels avanciert.34 So hatte die Verfügbarkeit der besten Farbpigmente die venezianische Malerei wesentlich geprägt.
Die Kritik Vasaris richtet sich sowohl gegen das direkte Malen nach dem Vorbild der Natur als auch gegen das Malen ohne vorbereitende Zeichnung. Er fordert stattdessen das Darstellen eines Ideals nach der idea, der Vorstellungskraft der platonischen Ideenwelt, entstanden mit Hilfe der künstlerischen Urteilskraft. Diese als disegno zusammengefasste Vorgehensweise steht als Terminus technicus dem colore gegenüber, der auf handwerklicher statt auf geistiger Ebene ansetzt, Naturnähe evozieren soll und die sinnliche Erfahrbarkeit eines Kunstwerks unterstreicht. Zudem beriefen sich die Theoretiker der Renaissance auf die Lehren Platons und Aristoteles’, in denen die Farbe mit Weiblichkeit und
29 Bohde 2002.
30 Humfrey 2007; Ausst. Kat. Frankfurt 2019.
31 Auch in dem Sammelband Romantik und Renaissance. Die Rezeption der italienischen Renaissance in der deutschen Romantik (Vietta 1994) spielt die Rezeption Tizians kaum eine Rolle.
32 Krieger 2006, S. 95.
33 Vasari [1568] 2005, S. 15 f.
34 Ausst. Kat. Frankfurt 2019, S. 185.
die Zeichnung mit Männlichkeit assoziiert werden. Wie Verena Krieger in ihrem Überblick zur Begriffsgeschichte des Dualismus disegno und colore ausführt, kam im 16. Jahrhundert dieser Konnotation eine so große Bedeutung zu, dass anstelle des männlichen colore das weibliche pittura in diesem Zusammenhang zeitweise in den Sprachgebrauch einging.35 Daraus entwickelte sich neben der Gegenüberstellung von aktiv und passiv eine weitere Assoziation, welche die Farbe hierarchisch unterordnen sollte: Dem Wahrheitsanspruch der Zeichnung wurde die vermeintlich trügerische Schönheit der Farbe gegenübergestellt.
Die direkten Antworten auf Vasari von venezianischen Schriftstellern, wie Lodovico Dolce (1508–1568), Annibale Caracci (1560–1609), Carlo Ridolfi (1594–1658) oder Marco Boschini (1602–1681)36 konnten die einmal entstandene Verknüpfung der Kunststile mit den italienischen Schulen nicht mehr lösen. Im Gegenteil: Ihre Kritik bezog sich hauptsächlich auf die von Vasari deklarierte Vorrangstellung der Kunst Michelangelos. Sowohl das Bild von Tizian als Koloristen als auch die Konnotationen Farbe/Schein, Zeichnung/Wahrheit verfestigten sich, da die Kritiker mit denselben Vokabeln und Vergleichen argumentierten.37 Stattdessen nutzten die Advokaten der Farbe, wie Krieger beschreibt, andere Strategien: Zum einen sprachen sie ausdrücklich von colorito anstatt pittura, benutzten also wieder einen männlichen Begriff, der gegenüber colore jedoch noch eine aktive Konnotation besitzt.38 Zum anderen erweiterten sie den Dualismus von Linie und Farbe um die invenzione, so dass der disegno des wichtigsten Arguments seiner Aufwertung nun beraubt war und die Farbe an letzter Stelle einen vollendenden Wert erhielt. Als letztes und entscheidendes Argument führten sie an, nur die Farbe könne ein Bild beleben oder beseelen – beide Wörter fügen sich im italienischen zu animato zusammen.39 Diese Bemühungen fruchteten jedoch kaum.
Vasari, der, wie Valeska von Rosen beschreibt, ein „Objektivität beanspruchendes kategoriales System“40 geschaffen hatte, konnte seinen Imperativ mit der Gründung der Accademia del Disegno auch in der Künstlerausbildung manifestieren. Sie stehe, so Nikolaus Pevsner in seiner Monografie zur Geschichte der Akademien, am Beginn
35 Krieger 2006, S. 93 und Fn 16
36 Dolce [1557] 1871; Ridolfi [1648] 1914/24; Boschini [1660] 1966; Zapperi [1568] 2010.
37 Vgl. Kemp 1974, S. 224–230; Von Rosen 2001, S. 11 f.
38 Ines Bauer präzisiert in ihrem Aufsatz Malen in Venedig: colorito alla veneziana: Das venezianische Interesse galt „[…] weniger dem colore, dem Farbton an sich, als vielmehr dem colorito: der Art der Farbgebung bzw. dem Kunstgriff, einzelne Farbtöne in ein harmonisches Zusammenspiel zu bringen.“ (Bauer 2003, S. 57).
39 Krieger 2006, S. 93 f.
40 Von Rosen 2011, S. 12.
der Entwicklung moderner Kunstakademien.41 Der Name der Accademia würde fortan Programm sein; der disegno sollte die Mitglieder der verschiedenen florentinischen Gilden – Malerei, Skulptur und Architektur – einen.42 Mit Rom und Bologna folgten bald weitere Akademiegründungen,43 die Accademia di belle arti di Venezia entstand hingegen erst 1750.
Während auf diese Weise Vasaris Kunsttheorie die akademische Ausbildung junger Künstler bis ins 19. Jahrhundert beeinflusste, trug besonders die von Ridolfi verfasste Tizianbiografie neben der frühen Verbreitung seiner Werke an die Königshöfe Europas dazu bei, dass Tizian vor allem als Kolorist maßgeblich Einfluss auf nachfolgende Künstlergenerationen nahm. Hierzu gehören neben den Venezianern in den folgenden zwei Generationen Peter Paul Rubens (1577–1640), Anthonys Van Dyck (1599–1641) und Diego Velázques (1599–1660).44 Obwohl Nicolas Poussin (1594–1665) im Streit der Poussinisten und Rubenisten Ende des 17. Jahrhunderts als Galionsfigur des disegno gegen den colore stand, bildete er gemeinsam mit Claude Lorrain (1600–1682) eine Schule der Farbe und des Lichts heraus, die vor allem von englischen Tizianverehrern um 1800 rezipiert wurde. Die auf Vasaris Doktrin folgende Herabstufung des colore wird also nicht ohne Kritik, aber den wesentlichen Punkten folgend von Künstlern und Kunsttheoretikern bis weit ins 19. Jahrhundert hinein übernommen – so jedenfalls lautet der Stand der Forschung.45 Der scheinbar gerade Weg, den die Rezeption in der Nachfolge Vasaris nimmt, weicht jedoch nicht nur in England und in Frankreich – mit dem Akademiestreit oder den Werken des Eugène Delacroix46 – früh ab, sondern wird in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts auch unter den deutschen Künstlern in Rom nicht ohne Weiteres verfolgt. Dabei treten die Abweichungen von dieser Tradition immer dann zu Tage, wenn der disegno seinen Zenit überschreitet, so zum Ende der klassizistischen Epoche um 1800 und erneut, nachdem die nazarenische Lehre an Aktualität verliert, ab 1825.
41 Pevsner betont, dass die Gründung der Accademia del Disegno durch Cosimo de Medici von Vasari durchgesetzt wurde (Pevsner 1986, S. 57). Cosimo und Michelangelo standen der Akademie vor (ebda., S. 59).
42 Vgl. Pevsner 1986, S. 61. Pevsner beschreibt auch die Künstlerausbildung, die zunächst nur im Zeichnen bestand.
43 Ausst. Kat. Washington, 1975, S. 15.
44 Humfrey 2007, S. 220.
45 S. 9, Fn 2.
46 Pichler/Mainberger/Leonhard 2017, S. 368.
Die Rezeption Tizians im Klassizismus:
Anton Raphael Mengs und Sir Joshua Reynolds
Mengs
Ein kurzer Blick auf zwei Hauptvertreter des Klassizismus des 18. Jahrhunderts verdeutlicht die Gründe für die gegensätzliche Bewertung, die Tizian in der Folge Vasaris in England und auf dem Kontinent zuteilwurde. Anton Raphael Mengs (1728–1779) und Sir Joshua Reynolds bieten sich hier an, da sie die beiden Strömungen, die in dieser Arbeit gegenübergestellt werden, nämlich die Nachfolge Raffaels versus Nachfolge Tizians, vertreten. Vor allem ihre verschriftlichten Ansichten zur Kunst, die nachfolgende Künstler und Künstlergenerationen beeinflussten, bilden die Grundlagen dieses Kapitels.
In Mengs’ schriftlichem Nachlass finden sich eine Vielzahl von Einschätzungen zu Tizian und der venezianischen Schule des Cinquecento, die für den Klassizismus repräsentativ sind. In seiner Abhandlung Ueber die drei grossen Maler Raphael, Correggio und Titian, wie über die älteren Maler überhaupt folgert er:
Die Malerei nämlich besteht in der Zeichnung, in dem Licht und Schatten, dem Colorit, in der Nachahmung, in der Erfindung und im Ideal; Raphael war der Zeichnung in Composition in einem hohen Grade Meister, und des Ideals wenigstens in einem höheren Grade, als andere, […]. Correggio dagegen ist nur im Helldunkel und im Colorit vortrefflich, und Titian zeichnet sich nur durch sein Colorit und die Nachahmung der Natur aus. Man muss also Raphael den höchsten Werth zuerkennen, weil er sich des Besitzes der nothwendigsten und edelsten Theile der Kunst rühmen durfte; während Correggio die anmuthigen, bezaubernden in seiner Gewalt hatte, und Tizian sich auf das Nothwendige, auf die Nachahmung der Natur beschränkte.47
Die Bezugnahme auf Vasaris Schriften beziehungsweise die kurz darauf verbreiteten Leitfäden der Accademia di San Luca, von der auch Mengs 1752 zum Mitglied ernannt wurde,48 ist unübersehbar: Mengs stellt Zeichnung, Licht/Schatten und Kolorit einander gegenüber sowie Ideal, Erfindung und Nachahmung. Wie Vasari legte er eine Hierarchie fest, in der das Zeichnen und Erfinden eines Ideals an höchster Stelle stehen, während Correggios Chiaroscuro sowie Tizians Nachahmung der Natur und seine Fähigkeiten in Hinsicht auf das Kolorit jenen untergeordnet sind.
Eine ähnliche Rolle, wie sie Vasari für die Accademia del Disegno gespielt hatte, übernahmen Mengs und Johann Joachim Winckelmann (1717–1768)49 für viele der neuentstandenen Akademien deutscher Fürstentümer, und – wie Nikolaus Pevsner für Mengs
47 Schilling 1843, Band 1, S. 117. Die Herausgabe von Mengs’ Schriften durch Gustav Schilling (1805–1880) 1843/44 spiegelt das anhaltende Interesse an dem deutschen Maler wider.
48 Röttgen 2001, S. 365.
49 Winckelmanns Credo lautete unter anderem: „Suchet die edle Einfalt in den Umrissen.“ Winckelmann an Johannes Wiedewelt (1731–1802) in einem Brief vom 14. April 1761. Zitiert nach Busch 1984, S. 180.