Eckel, Gregor Wedekind (Hrsg.) GRENZGÄNGER
PHOENIX. MAINZER KUNSTWISSENSCHAFTLICHE BIBLIOTHEK
Herausgegeben von Matthias Müller, Elisabeth Oy-Marra und Gregor Wedekind
Band 10
Winfried Eckel, Gregor Wedekind (Hrsg.)
Eckel, Gregor Wedekind (Hrsg.) GRENZGÄNGER
PHOENIX. MAINZER KUNSTWISSENSCHAFTLICHE BIBLIOTHEK
Herausgegeben von Matthias Müller, Elisabeth Oy-Marra und Gregor Wedekind
Band 10
Winfried Eckel, Gregor Wedekind (Hrsg.)
FIGUREN DES DEUTSCH-FRANZÖSISCHEN KULTURTRANSFERS
Gedruckt mit freundlicher Unterstützung des Mainzer Zentrums für Frankreich- und Frankophoniestudien
ISBN 978-3-11-132119-6
e-ISBN (PDF) 978-3-11-132344-2
ISSN 2747-9587
LIBRARY OF CONGRESS CONTROLN UMBER: 2024933107
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Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliogra e; detaillierte bibliogra sche Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.
© 2024 Walter De Gruyter GmbH, Berlin/Boston
Einbandabbildung: Victor Hugo, Tache (ou Tête de caractère), um 1869, Tinte auf Velinpapier, 22,3 × 14,4 cm, St. Peter Port, Maison de Victor Hugo, Hauteville House.
Reihenlayout und Satz: Andreas Eberlein, aromaBerlin
Druck und Bindung: Beltz Gra sche Betriebe GmbH, Bad Langensalza
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VII Winfried Eckel, Gregor Wedekind E IN LEITUN G
1 Elisabeth Décultot
JOHANN GEORG WI LLE UND JOHANN JOACHIM WINC KE LMANN. U NTERSUC HUN GEN ZU ZW EI INEINANDER VERSC HRÄNKTEN N ETZ WERKEN DER EUROPÄISCHEN AUFK L ÄRUN G
19 Stéphanie Genand
CONSENTIR À L’A LTÉRITÉ : LE COSMOPO LITISME NÉGATIF DE GERMAINE DE STAË L
31 Gregor Wedekind
GRENZGAN G IN DER REPUB LIK DER KÜNSTE: DAVID D’ANGERS UND D EUTSCHL AND
67 Winfried Eckel
I MPERIA LE Z IVI LISATION: DIE EUROPA- IDEE IN VIC TOR HUGOS RHEINBUCH
83 Véronique Liard
EDGAR QUINET UND D EUTSCHLAND: VON DER ROMANTISCHEN V ERK L ÄRUN G ZUR WARNENDEN ABLEHNUN G
101 Andreas Gipper
ORGANISIERTER WISSENSCHAFTSTRANSFER IN DER FRANZÖSISCHEN
DRITTEN REPUB LIK. E MI LE DURKHEIM UND D EUTSCHL AND
113 Stephanie Marchal
U NIVERSA L SPRACHE KUNST? JULIUS M EIER-GRAEFE UND DIE V ERMITTLUN G DER FRANZÖSISCHEN M ODERNE NACH D EUTSCHL AND
135 Niklas Bender
ERNST ROBERT CURTIUS: DIE DEUTSC H-FRANZÖSISCHE V ERMITTLUN G IN IHRER RADIKAL STEN K RISE
153 Hervé Bismuth
A RAGON ET LA CULTURE A LLEMANDE : UNE REL ATION PASSIONNE LLE
165 Martin Schieder
FREMDE IN DER H EIMAT. DIE DEUTSC H-FRANZÖSISCHEN I DENTITÄTEN
VON WOLS UND HANS H ARTUN G
191 Abbildungsnachweis
Winfried Eckel, Gregor Wedekind
Frontalier, ière […] Habitant d’une région frontière et spé cial[men]t qui va travailler chaque jour dans un pays limitrophe. Carte de frontalier.–
Adj. Population frontalière. Ville frontalière. (Petit Robert)
Grenzgänger, der […] jmd., der regelmäßig eine Grenze passiert, um in dem Gebiet jenseits der Grenze zu arbeiten, in die Schule zu gehen o. Ä.: Ü[bertragen] ein G. zwischen den verschiedenen Medien (Duden)
Kulturtransfer, Kulturvermittlung, Kulturaustausch oder auch interkultureller Dialog sind ohne Überschreitung einer vorgestellten oder tatsächlichen Grenze zwischen zwei Kulturräumen nicht denkbar. Ideen, Denkweisen, Regelungen, Herstellungsverfahren, aber auch konkrete Dinge wie Bücher, Gemälde oder Maschinen und andere Kulturgüter mehr müssen eine solche Grenze passieren, damit sie im jeweils anderen Kulturraum zur Kenntnis genommen oder zum Gegenstand produktiver Weiterverarbeitung werden können. Der Figur des Grenzgängers kommt in diesem Zusammenhang eine besondere interkulturelle Bedeutung zu. Nur wenn Menschen die Grenze zwischen Ländern, Sprachräumen oder anderweitig definierten Welten (z.B. Künsten oder Medien) buchstäblich (physisch) oder metaphorisch (geistig) überschreiten, können gemeinsam mit ihnen materielle oder immaterielle Kulturprodukte den kulturellen Kontext wechseln, z.B. Konzepte des ersten Kulturraums auf Phänomene des zweiten Anwendung finden oder jenseits der Grenze gefundene Einsichten diesseits fruchtbar gemacht und zur Lösung von Problemen verwendet werden. Indem sie so die Grenzen zwischen Kulturräumen durchlässig machen, können Grenzgänger dazu beitragen, dass zunächst klar unterschiedene Kulturen einander durchdringen, ihre Inhalte sich vermischen und Hybridbildungen entstehen, die gegenüber den Ausgangselementen immer auch etwas Neues darstellen. Grenzgängern kann so geradezu eine kulturpoietische Funktion zugesprochen werden, die es möglich macht, dass Kulturen sich verändern und weiterentwickeln.
Die interkulturelle Bedeutung des Grenzgängers umfasst aber auch noch einen anderen wichtigen Aspekt. Dieser hat weniger mit dem Abbau kultureller Di erenzen und der Herausbildung von Ähnlichkeiten durch Mischungen zu tun als vielmehr im Gegenteil mit einer deutlicheren Wahrnehmung solcher Di erenzen und einem Verständnis für
sie. Denn der Pendler zwischen Kulturen kann auch als Brückenbauer fungieren, der über einen Abstand hinweg für Verständigung sorgt, ohne doch diesen Abstand zu tilgen. Indem er bei seinen Grenzübertritten Wissen über die eine Kultur in der jeweils anderen verbreitet, kann er dazu beitragen, Vorurteile der Kulturen über einander zu entkräften und so etwas wie einen interkulturellen Dialog in Gang zu bringen. Das gilt zumindest für intellektuelle oder künstlerische Grenzgänger, die als Repräsentanten ihrer Herkunftskultur auftreten und mit einer Neugier für das kulturell Fremde unterwegs sind. Das von ihnen initiierte Gespräch zwischen den Kulturen bzw. einzelnen ihrer Teilnehmer kann übergreifende Gemeinsamkeiten, aber auch kulturspezifische Di erenzen erkennen lassen; und wenn dabei Konfrontation und Feindschaft vermieden werden, mag es idealiter zu Anerkennung von Alterität und wechselseitigem Respekt führen. Die interkulturelle Funktion des Grenzgängers ist unter diesem zweiten Aspekt weniger kulturpoietischer, als vielmehr theoretischer und ethischer Natur. Sie lässt das kulturell Andere erkennen und ihm gegenüber eine Haltung beziehen.
So lässt sich zumindest idealtypisch zwischen zwei Ausprägungen des Grenzgängers unterscheiden. Während beim ersten Typ die Pendelbewegungen über die Grenze diese tendenziell verwischen oder ausradieren, können die Brückenschläge des zweiten Typs unbeschadet der erreichbaren Verständigung die Grenze selbst nur umso deutlicher hervortreten lassen. Gerade die Überquerung der Grenze zieht sie dann implizit neu. Im Hinblick auf die interkulturellen Leistungen des Grenzgängers lässt sich im Anschluss an den Sprachgebrauch der Forschung beim ersten Typ von ›Kulturtransfer‹,¹ beim zweiten Typ von ›interkultureller Verständigung‹ sprechen,² auch wenn zwischen diesen Vorgängen Berührungen bestehen. Für die involvierten Kulturen ist dieser Unterschied erheblich: Muss der Kulturtransfer die Identität wenigstens der aufnehmenden Kultur notwendig verändern, kann diese bei einer Verständigung oder Mediation zwischen den Kulturen bestehen bleiben und sogar bestärkt werden. Entsprechend bietet sich an, terminologisch zwischen dem ›Transfertyp‹ und dem ›Verständigungstyp‹ des Grenzgängers zu di erenzieren.
1 Vor allem Michel Espagne hat den Begri des Kulturtransfers explizit mit dem der Mischung (»métissage«) verknüpft: »Le terme de transfert culturel marque un souci de parler simultanément de plusieurs espaces nationaux, de leurs éléments communs, sans pour autant juxtaposer des considérations sur l’un et l’autre pour les confronter, les comparer ou simplement des cumuler. Il signale le désir de mettre en évidence des formes de métissage souvent négligées au profit de la recherche d’identités, d’une recherche qui vise naturellement à occulter ces métissages, même lorsque les identités en résultent. Il oppose des sciences humaines centrées sur le composite à la quête des formes homogènes.« Dagegen verfehle die Vorstellung des Kulturaustauschs (»échanges entre les cultures«) ihren Gegenstand durch »un respect excessif attaché à l’intégralité et l’identité des pôles rapprochés«. Michel Espagne, Les transferts culturels franco-allemands, Paris 1999, S.1 und S. 4.
2 Niklas Bender verwendet den Begri der »deutsch-französischen Vermittlung«, die man als Spezialfall der ›interkulturellen Vermittlung‹ verstehen kann, im Kontext der Begri e »Gespräch«, »Begegnung«, »Verständigung«, Kritik von »Vorurteilen«, »Kenntnis« der Nachbarkultur, »gegenseitige Achtung«, »Anerkennung«, »Zusammenarbeit«, »Austausch« u.a. Teils entnimmt er diese Begri e seinem Analysegegenstand. Vgl. seinen Beitrag zu Ernst Robert Curtius in diesem Band.
Idealtypisch sind diese Unterscheidungen insofern, als Übernahmen von Hervorbringungen einer Kultur durch eine andere, die damit eigene Desiderate erfüllt (›Kulturtransfer‹), nicht nur poietisch die aufnehmende Kultur weiterentwickeln, sondern auch theoretisches Wissen über die andere Kultur und eine ethische Haltung ihr gegenüber vermitteln können. Und umgekehrt kann das Gespräch zwischen Kulturen oder ihren Vertretern, das auf Abbau von Vorurteilen, Wissen über einander, wechselseitigen Respekt und Konfliktüberwindung zielt (›interkulturelle Verständigung‹), die beteiligten Kulturen jeweils selbst poietisch verändern. Operationen des Transfers und der Mediation sind nicht streng zu trennen. Die Übersetzung literarischer oder wissenschaftlicher Texte ist ein Beispiel dafür, dass ein und derselbe Vorgang die hier unterschiedenen Funktionen gleichermaßen erfüllen kann. Um die Zusammengehörigkeit des Unterschiedenen zu bezeichnen, bietet sich im Deutschen als eine Art Oberbegri für ›Kulturtransfer‹ und ›interkulturelle Verständigung‹ der Begri der ›interkulturellen Vermittlung‹ an, der einerseits das Übertragen von Konzepten oder Sachen (Kulturgütern), andererseits aber auch den auf Verständigung zielenden Dialog von Individuen (Personen oder Kulturen) und den Ausgleich von Interessen meinen kann. Grenzgänger befördern eine Vermittlung oft in beiden Bedeutungen des Worts.
Der Grenzgänger als interkulturelle Figur par excellence ist in den letzten Jahren verstärkt in den Fokus der Forschung gerückt, dies sowohl in seiner konkreten, etwa in der Definition des Duden festgestellten Bedeutung des Berufspendlers ins Nachbarland³ als auch in tendenziell erweitertem und übertragenem Sinn, welcher auch den Pendler zwischen Kulturen, Religionen, Sprachen, Künsten, Medien oder Disziplinen umfassen kann.4 Der vorliegende Sammelband teilt so mit einer Reihe vorangegangener Publikationen die Aufmerksamkeit für die ›Träger‹ oder ›Akteure‹ interkultureller Kommunikation, erschöpft sich dabei aber nicht in einem biographischen Interesse. Er gewinnt sein Profil dadurch, dass er das ema des Grenzgängers dezidiert mit dem des Kulturtransfers und der interkulturellen Verständigung verknüpft und so nach den ›Leistungen‹ fragt, die in einem konkreten Fall die Person dessen, der eine Kulturraumgrenze physisch oder mental regelmäßig überquert, für die involvierten Kulturen erbringt. Dabei kann diese Leistung
3 Vgl. z. B. Philippe Hamman, Les travailleurs frontaliers en Europe: mobilités et mobilisations transnationales, Paris 2006; Christian Wille, Grenzgänger und Räume der Grenze. Raumkonstruktionen in der Großregion SaarLorLux, Frankfurt a.M. 2012.
4 Der Fragestellung des vorliegenden Bandes am nächsten kommen die folgenden kulturwissenschaftlichen Publikationen: Grenzgänger zwischen Kulturen, hg. von Monika Fludernik und Hans-Joachim Gehrke, Würzburg 1999 (mit einem besonderen Interesse für das Konzept der Grenze und die Rolle des Grenzgängers bei der Konstruktion von kultureller Identität und Alterität); Caroline S. Hornstein, Grenzgänger. Problematik interkultureller Verständigung , Frankfurt a. M. 2003 (mit einem Fokus auf Identitätsentwürfen in kulturell pluralen Gesellschaften sowie auf dem Spannungsfeld kultureller Pluralisierung und Integration); Zwischen Kulturen. Mittler und Grenzgä nger vom 17. bis 19. Jahrhundert, hg. von Joachim Eibach und Claudia Opitz-Belkhal, Hannover 2018 (mit einem besonderen Interesse für Begegnungen zwischen Europa und der außereuropäischen Welt: China, Indien, Arabien, Südamerika u. a.).
XWinfried Eckel, Gregor Wedekind
darin bestehen, dass die Kulturen sich für einander ö nen, aber auch darin, dass sie sich im Gegenteil, dies ein scheinbar widersinniger Extremfall der Vermittlung,5 schärfer gegen einander abgrenzen. Der akteurzentrierte Ansatz ist also kein Selbstzweck, sondern zielt auf die Bestimmung der jeweiligen kulturellen Funktion.
Geographisch konzentriert sich dieser Sammelband auf den deutsch-französischen Kulturraum, historisch vor allem auf das 19. und 20. Jahrhundert, mit einem Rückblick auf das 18. Jahrhundert. Von Johann Georg Wille bis zu Wols und Hans Hartung reicht die Reihe der ausgewählten Grenzgänger, die im Wesentlichen den Bereichen bildende Kunst, Literatur und Wissenschaft entstammen. Mit jeweils unterschiedlicher Gewichtung finden sich die abstrakt unterschiedenen Aspekte Kulturtransfer und interkulturelle Verständigung bei allen Grenzgängern mit einander verknüpft. Mag bei einer Germaine de Staël oder einem Ernst Robert Curtius das Motiv der Verständigung zwischen Frankreich und Deutschland teils programmatisch dominieren, sind die beiden wie alle anderen auch Akteure des Kulturtransfers, die bewusst oder unbewusst, gezielt oder unabsichtlich zur Verbreitung von Ideen, Konzepten oder Verfahren aus dem einem Land im jeweiligen Nachbarland beigetragen haben. Und wer wie Émile Durkheim oder Hans Hartung im Nachbarland gleichsam in die Schule geht, um sich bestimmte fremde Errungenschaften anzueignen, befördert immer auch den interkulturellen Dialog. Dass die meisten der im Folgenden behandelten Grenzgänger in einem Zeitalter sich verschärfender nationaler Spannungen zwischen Deutschland und Frankreich gewirkt haben, verleiht ihren Aktivitäten eine besondere Bedeutung. Erscheint unter dem Vorzeichen dieser kollektiven Verhärtungen die interkulturelle Verständigung so dringlich wie schwierig, besitzt auch der Vorgang des Kulturtransfers in diesem Zusammenhang eine eigene Qualität als Aneignung aus einem potentiell feindlichen Kulturkontext.
Als einen herausragenden Vermittler zwischen Frankreich und der deutschsprachigen Welt in der zweiten Hälfte des 18.Jahrhunderts beschreibt Elisabeth Décultot in ihrem Beitrag den aus Hessen stammenden, aber seit 1736 in Paris lebenden Kupferstecher Johann Georg Wille (1715–1808). Willes Vermittlungstätigkeit stützte sich auf vielfältige gesellschaftliche Kontakte in der französischen Hauptstadt als Leiter eines Ateliers und einer Zeichenschule sowie ab 1761 als Mitglied der Académie royale de Peinture et de Sculpture, zum anderen aber auch auf zahlreiche Brie ontakte mit Künstlern, Kunsthändlern, Sammlern, Gelehrten, Schriftstellern und Übersetzern in Deutschland, der Schweiz, Italien und Frankreich. Im Rahmen dieses Netzwerks, das Décultot als den vielleicht bedeutendsten Teil seines Werks begreift, gelang es Wille, Ideen und Informationen sowie Bücher und Kunstgegenstände (Stiche, Gemälde) aus Deutschland international bekannt zu machen. Vor allem die Schriften zur Kunst eines Winckelmann, Lessing, Hagedorn, Mendelssohn oder Sulzer verdanken Wille ihre Wahrnehmung im Nachbarland. Zum deutsch-französischen Kulturtransfer und zur Anerkennung deutscher Kultur jen-
5 Vgl. dazu den Beitrag von Véronique Liard in diesem Band.
seits des Rheins leistete Wille so schon vor Germaine de Staël einen großen Beitrag. Obwohl im physischen Sinn nicht eigentlich Pendler zwischen Deutschland und Frankreich, sondern Emigrant, verstand sich Wille bis zuletzt als »Deutscher« in Frankreich.6 Décultot spricht von einem Kulturpatriotismus vor dem Hintergrund französischer Kulturdominanz. Zugleich wertet sie die Figur Willes als Beleg für eine Ö nung der französischen Kultur auf andere europäische Traditionen.
Germaine de Staël (1766–1817) gehört ohne Frage zu den wichtigsten Figuren deutsch-französischer Kulturvermittlung zu Beginn des 19.Jahrhunderts. Von Goethe stammt die Bemerkung, wonach ihr in Frankreich zunächst verbotenes Buch De l’Allemagne (London 1813) »in die chinesische Mauer antiquierter Vorurteile, die uns von Frankreich trennte,« eine »breite Lücke« gebrochen habe,7 so dass nach seinem Urteil die Rezeption der damals neueren deutschen Literatur und Philosophie in Frankreich und Europa erst möglich wurde. Überzeugt von dem »génie naturel« der Nationen, die sie im Gefolge Herders als große Individuen (»grands individus«) begri ,8 musste de Staël die Idee kultureller Übernahmen von einer Nation zur anderen zumindest im Sinne einer einfachen Imitation grundsätzlich skeptisch beurteilen. Weil jede Nation ihrer »pente naturelle« zu folgen habe, stand sie den Bemühungen Friedrichs des Großen um eine Orientierung der deutschen Kultur an der französischen schro ablehnend gegenüber.9 Gleichwohl hielt sie so etwas wie ›Kulturtransfer‹ (avant la lettre) für möglich und war der Ansicht, dass die Nationen in begrenztem Maß voneinander lernen können. So empfahl sie zum Ärger Napoleons, der sie aus Frankreich verbannen ließ, den Franzosen die Deutschen in mancher Hinsicht als Vorbild (wie übrigens in anderer Hinsicht auch umgekehrt); nur so sei etwa die Sterilität (»stérilité«), von der sie die französische Literatur bedroht sah, zu überwinden.¹0 Stéphanie Genand zeigt, dass De l’Allemagne das Ergebnis einer langen Auseinandersetzung mit deutscher Kultur ist und nicht erst an deren Anfang steht. Zugleich verteidigt sie das Buch gegen den Vorwurf einer subjektiv-persönlichen Dimension, die den Anspruch auf Kulturvermittlung problematisch werden lasse, und argumentiert, dass gerade die den Äußerungen de Staëls zu entnehmende Verunsicherung der Grenzgängerin, die sich weder Frankreich noch Deutschland ganz zugehörig fühlte, einen erhellenden Blick auf die beiden Länder möglich gemacht habe. Im Anschluss an
6 »Ich, der ich ein Deutscher bin, lasse keine Gelegenheit vorbeigehen, den deutschen Künstler in diesem Lande bekannt zu machen.« Brief an Christian Ludwig von Hagedorn, 18. Dezember 1756, in: Johann Georg Wille , Briefwechsel, hg. von Elisabeth Décultot, Michel Espagne und Michael Werner, Tübingen 1999, S. 142. Noch Jahre später bestätigt Christoph Friedrich Nicolai dem Freund, er sei »in der Hauptstadt Galliens ein Deutscher« geblieben. Brief an Wille, 25. September 1774, ebd., S. 535.
7 Johann Wolfgang Goethe, Sämtliche Werke, hg. von Ernst Beutler, Zürich 1961–1966, Bd. 11, S. 736 (Tag- und Jahres-Hefte 1804, verfasst 1825).
8 Germaine de Staël, De l’Allemagne, hg. von Simone Balayé, Paris 1968, Bd.1, S.171 und S. 41.
9 Ebd., S.132. Vgl. ebd. Chapitre IX: »Des étrangers qui veulent imiter l’esprit français«, S.93–97, und Chapitre XVI: »La Prusse«, S. 127–132.
10 Ebd., S.48 und S. 259.
Überlegungen Pierre Machereys schlägt sie für die eigentümliche Haltung de Staëls den Begri eines ›negativen Kosmopolitismus‹ vor.
Künstlerische Gründe waren es, die den französischen Bildhauer David d’Angers (1788–1856) bewogen, die Grenze zu deutschen Landen zu überschreiten. Richtete sich doch sein Anliegen, die Geistesgrößen seiner Zeit in Portraitmedaillons und Büsten festzuhalten, auch auf deutsche Dichter und Künstler, womit er zugleich in direkter Nachfolge der von Germaine de Staëls De l’Allemagne in Frankreich angefachten Bewunderung für Deutschland steht. Gregor Wedekind zeigt in seinem Beitrag, wie David als Kultur- und Kunstvermittler agierte. So brachte er bei dem Besuch von Goethe diesem neben seinem republikanischen Patriotismus auch die Dichtungen und Porträtmedaillons französischer Dichter und Künstler mit– und wurde seinerseits bei seiner Abreise von seinem deutschen Gastgeber mit vier silbernen Medaillen beschenkt. Wedekind begreift auch die durch David angefertigte kolossale Goethe-Büste als bedeutenden Akt kultureller Vermittlung, indem er sie einerseits als Brücke zwischen den benachbarten Ländern bis heute bemisst, andererseits jedoch in der Befremdung des Werks auf die deutschen Zeitgenossen eine in der Grenzüberschreitung sichtbar zutage kommende kulturelle Di erenz o engelegt sieht. Der Dialog zwischen dem französischen Bildhauer und dem deutschen Schriftsteller wird als Form eines kulturdiplomatischen Austauschs charakterisiert. Auch Davids Zusammentre en mit dem romantischen Maler Caspar David Friedrich analysiert der Beitrag als Kulturtransfer, bis hin zur durch David in Gang gebrachten Grenzüberschreitung von Friedrichs Werken nach Frankreich, welche damit als Objekte der Übertragung zu transkulturellen Medien wurden, die den transkulturellen Horizont Davids und die transkulturelle Dimension im Scha en Caspar David Friedrichs aufzeigen. Als ein Grenzgänger der besonderen Art erscheint Victor Hugo (1802–1885) in dem Beitrag von Winfried Eckel. Während verschiedener Rheinreisen seit den späten 1830er Jahren, die ihren literarischen Niederschlag in dem Buch Le Rhin. Lettres à un ami (1842/45) gefunden haben, wird die deutsch-französische Grenze von ihm nicht nur gequert, sondern er fährt sie in gewissem Sinn– nämlich gemäß seiner Au assung vom Rhein als ›natürlicher Grenze‹ zwischen Deutschland und Frankreich– auch entlang. Der Dichter korrigiert so dem Anspruch nach den politischen Grenzverlauf dort, wo der Wiener Kongress linksrheinische Gebiete Frankreich aberkannt hatte. Neben das horizontale Queren und Entlangfahren einer Grenze im Raum tritt zudem das gleichsam vertikale Überschreiten einer Grenze in der Zeit, nämlich der Grenze zwischen dem Gegenwärtigen und Vergangenen bzw. Zukünftigen. In der Auseinandersetzung mit der deutschen Geschichte nämlich findet Hugo einen Anstoß für die Idee eines europäischen Staatenbundes, in dem das Grenzproblem im Sinne Frankreichs gelöst werden soll. Das föderale Deutschland erscheint ihm als Modell jenes Europas der Zukunft, für das er auch die Franzosen zu gewinnen sucht. Französisch-nationalistische Motive verbinden sich auf teils paradoxe Weise mit kosmopolitisch-internationalistischen. Einen Beitrag zur interkulturellen Vermittlung stellt das Rheinbuch nicht zuletzt deshalb dar, weil es
für ein breiteres französisches Publikum das Bild eines historischen Deutschlands mit einer weit zurückreichenden Geschichte zeichnet, das das zuvor von Germaine de Staël entworfene philosophisch-literarische Porträt ergänzt.
Edgar Quinet (1803–1875) gilt als der erste, der in Frankreich das auf de Staël zurückzuführende Bild Deutschlands als Land der Dichter und Denker sowie der Deutschen als Volk von Träumern, die zu politischen Taten kaum fähig sind, radikal in Frage gestellt hat. Dies ist nicht nur deshalb bemerkenswert, weil dieses Bild bis zum deutsch-französischen Krieg von 1870/71 das ö entliche Bewusstsein in Frankreich dominiert hat, sondern auch deshalb, weil Quinet selbst in seinen jungen Jahren dieses Bild begeistert geteilt hat. Anhand einer Lektüre seiner deutschlandbezogenen Texte zeichnet Véronique Liard daher den Wandel des Deutschlandbildes bei dem französischen Schriftsteller und Historiker nach. Sie zeigt, dass bereits seit Anfang der 1830er Jahre in den Schriften Vorbehalte gegenüber Deutschland und Warnungen angesichts einer aus Deutschland drohenden Gefahr zu vernehmen sind. Das von de Staël gezeichnete Bild erscheint Quinet zunehmend als trügerisch, da die wahre Natur Deutschlands eine andere sei. Spätestens mit der Einnahme von Paris durch die Deutschen 1870 sieht er diese bislang vom schönen Schein seiner Literatur und Philosophie nur verdeckte Natur zum Vorschein gekommen: »Barbarie et sauvagerie, c’était donc là ce qu’elle [l’Allemagne] cachait pour nous au fond de sa philosophie et de sa littérature!«¹¹ Auch wenn die hier verwendete Gedankenfigur eines Grundes, der an die Oberfläche tritt, eine Reminiszenz an seine frühe Schellinglektüre sein mag, ist deutlich, dass Quinet an dieser Stelle eine klare Grenzlinie zwischen den Kulturen oder besser: zwischen Kultur und Barbarei zieht. Man kann von einem Grenzfall interkultureller Vermittlung sprechen.
Der Beitrag von Andreas Gipper widmet sich einem der Gründerväter der modernen Soziologie und zugleich wichtigsten Vermittler sozialwissenschaftlicher Forschung und eoriebildung zwischen Deutschland und Frankreich an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert: Émile Durkheim (1858–1917). Der Sohn aus einer elsässischen Rabbinerfamilie geht noch als Student 1885/86 im Rahmen eines vom Bildungsreformer der Dritten Republik Louis Liard initiierten Stipendienprogramms nach Deutschland. Das Ziel seines Auslandsaufenthalts besteht darin, nicht nur allgemein Vorzüge des deutschen Universitätssystems kennenzulernen, sondern insbesondere auch Antworten der deutschen Sozialwissenschaften auf die Frage nach der Möglichkeit sozialer Kohärenz in modernen Gesellschaften zu studieren – eine Frage, die auch im Zentrum der Durkheim’schen Soziologie steht. Gipper spricht von einem »organisierten Wissenschaftstransfer«, der seinen Ursprung in einer durch die Niederlage 1870/71 ausgelösten Selbstbefragung Frankreichs gehabt habe, die etwa bei dem Historiker Ernest Renan zu der Diagnose geführt habe, dass der Grund für die französische Niederlage besonders in einem mangelhaften Gemeinschaftsgeist zu suchen sei. Geradezu beispielhaft findet sich hier ein
11 Edgar Quinet, Le siège de Paris et la défense nationale. Œuvres politiques après l’exil, Paris 1871, S. 25.
Beleg für die ese Matthias Middells, dass Kulturtransfer idealiter seinen Anfang mit einer Defizitanalyse der aufnehmenden Kultur nehme, also mit der Feststellung von Mängeln, die durch den Transfer behoben werden sollen.¹² Zugespitzt könnte man sagen, dass im Kontext des durch Argwohn und Feindschaft geprägten Verhältnisses zwischen Frankreich und Deutschland zur Zeit Durkheims das Konzept des Kulturtransfers eine besondere Bedeutung dadurch gewinnt, dass es in die Nähe von gezielter Spionage und Kulturdiebstahl rückt. Anschlüsse fand der Soziologe vor allem an Konzepte der deutschen Wirtschaftswissenschaften, namentlich des Kathedersozialismus eines Gustav von Schmoller oder Adolph Wagner, dem er die Einsicht in die Notwendigkeit stärkerer staatlicher Kontrolle des Wirtschaftslebens entnahm, eines Dirigismus, den man heute in Deutschland eher als typisch für Frankreich ansetzt, während in den Anfangsjahren der Dritten Republik diesbezüglich Impulse für Frankreich im Gegenteil von Deutschland ausgingen. Das Beispiel zeigt, wie im Zeichen von Kulturtransfer vermeintliche nationale Di erenzen tatsächlich verwischen können.
Einer der großen Vermittler unter den Kunstschriftstellern der Jahrhundertwende ist Julius Meier-Graefe (1867–1935), dessen Leben zwischen Deutschland und Frankreich hin und her pendelte und dessen wegweisende Arbeiten zu Malern wie Delacroix, Manet, Cézanne oder den Impressionisten diese teils erstmals in Deutschland bekanntgemacht haben. Marchal zeigt in genauer Textlektüre, wie der Autor die französische Malerei als eine Kunst konstruiert, die nicht nur autochton bestimmt sei, sondern sich verschiedenste internationale Formsprachen zu eigen gemacht habe. Unbeschadet mancher deutsch-kulturchauvinistischen Äußerungen des Autors an anderer Stelle, erweist sich Meier-Graefe hier durchaus in der Nähe französischer Selbstbeschreibungen, wenn er so die Besonderheit französischer Kunst gerade in deren Universalität erkennt. Marchal vergleicht diese Zuschreibung von Universalität mit dem Universalitätsanspruch, wie er in der Nachkriegszeit im Kontext der Debatte um die Kunst der Abstraktion als Weltsprache erhoben wurde.
Der Beitrag von Niklas Bender gilt dem großen Romanisten Ernst Robert Curtius (1886–1956). Er begreift den Philologen als eine exemplarische Mittlergestalt zwischen Deutschland und Frankreich, die gerade unter den widrigen Bedingungen nach dem Ende des ersten Weltkriegs von der Notwendigkeit des deutsch-französischen Austauschs zutiefst überzeugt gewesen sei. Austausch bedeutete dabei für Curtius weniger Ausgleich und Abbau von nationalen Di erenzen durch wechselseitige Übernahmen und »métissage« (auch wenn Curtius durch seine Vermittlungstätigkeit etwa als Übersetzer aus dem Französischen dazu beigetragen hat) als vielmehr »Gespräch« und »Verständigung« auf Basis »gegenseitiger Achtung« und mit dem Ziel der »Zusammenarbeit«. Der– wie Durkheim – im Elsass geborene Curtius begreift sich dabei als Deutscher, der vor allem auf
12 Matthias Middell, »Kulturtransfer, Transferts culturels«, in: Docupedia-Zeitgeschichte, 28.01.2016, https:// docupedia.de/zg/Kulturtransfer (3. Oktober 2023).
deutscher Seite daran arbeitet, dass der gewünschte Dialog gelingen kann. Dazu gehört für ihn, auch und gerade in der angespannten Zeit nach 1918, die Kenntnis der französischen Sprache und Kultur, das Wissen um aktuelle Entwicklungen im Nachbarland, die Überwindung unzutre ender Stereotype und Vorurteile. Bender zeigt, wie diese Überzeugungen nicht nur Curtius’ Publikationstätigkeit in den zwanziger Jahren bestimmten, sondern auch für seine akademische Lehre und diesbezügliche institutionelle Vorschläge leitend waren. Dass der Gelehrte Vermittlung vor allem als Dialog begri , zeigt sich dann ganz handfest bei seiner Teilnahme an den deutsch-französischen Tre en in Colpach (Luxembourg) im Hause Mayrisch und Pontigny (Burgund) sowie an seinen zahlreichen Korrespondenzen mit französischen Intellektuellen und Schriftstellern. Curtius sucht in den zwanziger Jahren energisch eine »Vermittlung auf Basis nationaler Identitäten«, die im Prinzip als »separat« gedacht werden. Die bei de Staël formulierte Au assung von Nationen als ›großen Individuen‹ ist, wie die Analyse deutlich macht, auch bei dem Romanisten noch in Kraft. Den Rekurs auf das lateinische Mittelalter in Curtius’ philologischem Hauptwerk Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter (1948) begreift Bender als den Versuch, für die modernen europäischen Nationalkulturen mit Blick auf die Zukunft ein gemeinsames kulturelles Fundament in der Vergangenheit freizulegen, nachdem Curtius seinen Vermittlungsversuch spätestens Anfang der dreißiger Jahren als gescheitert ansehen musste.
Auch Louis Aragon (1897–1982) gehört zu den französischen Autoren, die im 20. Jahrhundert die Grenze zu Deutschland und zur deutschen Kultur immer wieder überschritten haben, um sich für die eigene Produktion anregen zu lassen. Bekannt ist etwa seine intensive Beschäftigung mit der idealistischen deutschen Philosophie eines Kant oder Hegel, insbesondere auch den Überlegungen Schellings zur Mythologie, in seiner surrealistischen Phase.¹³ Die Ideen des »merveilleux quotidien« und der »mythologie moderne« aus dem von Benjamin hochgeschätzten Paysan de Paris (1926) erscheinen in diesem Kontext als Produkt eines produktiven Kulturtransfers zwischen der deutschen Romantik mit ihren Ideen des Wunderbaren und der neuen Mythologie und dem französischen Surrealismus. Nicht zufällig wird die berühmte Sirenen-Episode aus dem Abschnitt »Le passage de l’Opéra« begleitet von der Erinnerung an die »Lisel« von der Saar und Aragons Aufenthalt in Deutschland als Mitglied der französischen Besatzungsarmee nach Ende des ersten Weltkriegs.¹4 Hervé Bismuth zeigt, dass das Werk dieses »dernier des écrivains romantiques« im Grund durchgängig von Bezugnahmen auf Deutschland und deutsche Kultur durchzogen ist, denn auch das Schweigen über Deutschland nach dem Kriegseintritt Frankreichs 1939 und in den Jahren nach 1945 kann man noch als solche verstehen. Auch wenn die Konjunkturen dieser Beziehung zum Nachbarland in vielem
13 Vgl. z. B. Emmanuel Rubio, »Présences de Schelling dans Le Paysan de Paris«, in: Recherches croisées Aragon –Elsa Triolet, Bd.8, 2002, S. 189–210.
14 Louis Aragon, Le Paysan de Paris, Paris 1926, S. 31.
jener der Franzosen seiner Generation insgesamt ähnelten, sei Aragons Verhältnis stets von besonderer Leidenschaft gekennzeichnet gewesen. Seine kurz vor Kriegsbeginn verö entliche Rede »Reconnaissance à l’Allemagne« legt davon Zeugnis ab.
Den Abschluss dieses Bandes bildet eine vergleichende Studie von Martin Schieder zu den deutsch-französischen Identitäten von Hans Hartung (1904–1989) und Wols (1913–1951). Beide Künstler, die in den 1930er Jahren nach Frankreich emigrierten, kehrten nach Krieg und Diktatur nicht nach Deutschland zurück und haben gerade von Paris aus eine nachhaltige Wirkung auf die Entwicklung der Nachkriegsmoderne in Deutschland ausgeübt. Schieder untersucht die unterschiedlichen Wege der beiden ins Exil, das gespaltene Verhältnis zu ihrem Geburtsland, die Gründe für ihr Bleiben in Paris, die Rezeption nach dem Krieg durch die Kritik sowie ihre Bedeutung für die Künstler des deutschen Informel. Gemeinsamkeiten und Besonderheiten der beiden Exilanten werden deutlich. Die Selbstbeschreibung von Wols als »Apatride« wird genutzt, um auf dessen prekäre Situation als Mensch und Künstler in Bezug sowohl auf Deutschland als auch Frankreich aufmerksam zu machen: die vergeblichen Bemühungen um eine Einbürgerung in Frankreich und die Überlegungen zur Emigration in die USA, das sehr verhaltene Interesse bei Kritik, Kunsthandel und Museen im Nachkriegsdeutschland und die auch ökonomisch begründete endgültige Abwendung von Deutschland nach 1945. Hartung dagegen erscheint, unbeschadet manch ö entlicher Anfeindungen in Deutschland, als ein auch von der deutschen Kritik gewürdigter Exponent der École de Paris, dem es nach dem Krieg gelingt, eine deutsch-französische Doppelexistenz aufzubauen, wie zahlreiche Anerkennungen diesseits und jenseits des Rheins belegen. Als Kulturvermittler wirkten Wols wie Hartung, weil sie durch die Übernahme in Frankreich kultivierter Malweisen für deutsche Maler wie Emil Schumacher, Karl Otto Götz, Bernard Schultze oder Gerhard Hoehme nach dem Krieg zum Vorbild wurden.
In ihrer Abfolge machen die im Folgenden behandelten Grenzgänger mehr als zwei Jahrhunderte deutsch-französischer Geschichte ausschnitthaft nachvollziehbar, die sie mit ihrem Wirken nicht nur reflektieren, sondern in ihren jeweiligen Arbeitsbereichen teils auch maßgeblich mit gestaltet haben. An die Nebeneinanderstellung der Beiträge können vergleichende Untersuchungen zu den Leistungen der Akteure auf den Gebieten des Kulturtransfers und der interkulturellen Verständigung sich anschließen.
Die Mehrzahl der hier vorgelegten Beiträge geht auf eine im Wintersemester 2018/19 an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz gehaltene Ringvorlesung zurück. Sie wurden für die Publikation überarbeitet und erweitert. Die Herausgeber danken dem Mainzer Zentrum für Interkulturelle Studien (ZIS) für die Unterstützung bei der Durchführung der Vorlesung, dem Mainzer Zentrum für Frankreich- und Frankophoniestudien (ZFF) für die Unterstützung im Zusammenhang der Drucklegung.
Rauch gab David ausführliche Ratschläge für weitere auf der Reise zu besichtigende Orte und zu besuchende Personen.75 Dem greisen Wilhelm von Humboldt stattete das Ehepaar David am 10. Oktober im Schlösschen Tegel einen Besuch ab und in Begleitung von Rauch und Schinkel besuchte man Potsdam– »le Versailles de la Prusse«76 –, Sanssouci, das Neue Palais, den Antikentempel mit Rauchs zweiter Fassung des Sarkophags von Königin Louise sowie Charlottenhof.77 Die Anekdote des verlorenen Prozesses Friedrichs II . gegen den Müller von Sanssouci nahm David zum Anlass, über nationale Charaktereigenschaften zu räsonieren, habe doch jener dem König ein echtes Vermögen eingebracht, »car cela faisait croire au peuple qu’il avait de la liberté et les Allemands, avec leur naïve loyauté, se sont payés de cette apparente liberté! Les Français auraient profité de cela pour aller en avant dans cette voie.«78
David fertigt von weiteren Berliner Persönlichkeiten Porträts in Medaillenform an. So von dem Bildhauer Christian Friedrich Tieck, der seinerseits eine heute verlorengegangene Büste mit dem Bildnis Davids anfertigte, von Schinkel, von Henri François Brandt, dem ersten Medailleur der Königlichen Münze, sowie von den Schriftstellern Wilhelm Häring alias Willibald Alexis und Adelbert von Chamisso.
Nebenher besuchte er den Marsstall, bewunderte die Köpfe der »sterbenden Krieger« von Andreas Schlüter und bemerkte mit Blick auf die dort zur Schau gestellten Wa en und Fahnen, darunter viele Trophäen in Form von Fahnen der französischen Republik: »Je regrette que les pays modernes ne comprennent pas encore que tous ces trophées éternisent les haines des nations, qu’il faudrait au contraire chercher à faire disparaître. C’est une plaie toujours saignante, dans laquelle on verse du vitriol.«79
Die Weiterreise erfolgte am 23. Oktober in Richtung Dresden, wo das Ehepaar am nächsten Morgen um halb neun eintraf. Schon zur Mittagszeit, um ein Uhr, wurde David durch den Maler Carl Christian Vogel von Vogelstein, den er bereits aus Paris kannte, bei Ludwig Tieck eingeführt. Dessen Kolossalbüste zu formen war Davids wichtigstes Anliegen während dieses Deutschlandbesuchs. Tieck empfing den Gast zunächst reserviert und ließ sich nur mit Mühe in ein verkrampftes Gespräch ziehen.80 Schließlich aber willigte er ein, vom 28. Oktober bis zum 10. November in wechselnden Intervallen Modell zu sitzen.8¹ Was wiederum Vogel von Vogelstein in einem Gemälde festgehalten hat, von dem
75 Vgl. dazu Maaz 2004 (wie Anm. 1), S. 81 f.
76 Bruel 1958 (wie Anm. 8), Bd.1, Carnet 26, S. 322.
77 Ebd., S. 322–326.
78 Ebd. S. 323.
79 Bruel 1958 (wie Anm. 8), Bd.1, Carnet 26, S. 321.
80 Ebd., Carnet 25, S. 303: »J’ai trouvé à Tieck un air extrêmement embarrassé, comme le sont les Allemands, lorsqu’ils voient les personnes pour la première fois. Notre conversation a été gênée tout le temps qu’a duré notre visite.«
81 Vgl. die Angaben ebd., S.303–309. Le Nouëne 2005 (wie Anm. 6), Nr. 140, S. 129 gibt als Zeitraum für die Dauer der Modellsitzungen irrigerweise den Zeitraum bis zum 27. November an.
5Carl Christian Vogel von Vogelstein, Ludwig Tieck, von dem der Bildhauer David d’Angers eine Büste anfertigt, 1834, Öl auf Leinwand, 88,3 × 94,5 cm, Leipzig, Museum der bildenden Künste.
er insgesamt drei Fassungen anfertigte (Abb. 5).8² Die Skizze für die dritte Fassung, eine Sepiazeichnung von 1836, dedizierte er fast zwei Jahrzehnte später »À monsieur David d’Angers très célèbre à Paris, de son très dévoué ami Vogel v. V., Munich 1854«.8³ Damit
82 Carl Christian Vogel von Vogelstein, Ludwig Tieck, von dem der Bildhauer David d’Angers eine Büste anfertigt, 1834, Öl auf Leinwand, 88,3 × 94,5 cm, Leipzig, Museum der bildenden Künste. Neben dieser Erstfassung existierte eine heute verschollene zweite eigenhändige Fassung des Sujets. Eine dritte veränderte Fassung bewahrt das Deutsche Romantikmuseum in Frankfurt am Main auf: David d’Angers modelliert die Büste Ludwig Tiecks, 1836, Öl auf Leinwand auf Holz, 57,2 × 65,7 cm. Siehe dazu Uwe Heckmann, »Zeitdokument und Programmbild. Carl Christian Vogel von Vogelsteins Gemälde David d’Angers modelliert die Büste Ludwig Tiecks«, in: Jahrbuch des Freien Deutschen Hochstifts, Tübingen 2000, S. 195–214.
83 David d’Angers modelant le buste de Tieck, 1836, Sepiazeichnung, 53 × 60,5 cm, Angers, Musée des Beaux-Arts. Siehe Le Nouëne 2005 (wie Anm. 6), Nr.140, S. 129 f.
schloss sich ein Kreis, der die länderübergreifende Selbstzeugung der Kunst durch Kunst eindrucksvoll visualisiert und ihre Manifestationen zu örtlichen Hinterlassenschaften hat werden lassen. Vogel von Vogelstein seinerseits war mit einem Parallelprojekt zu Davids Privatpantheon beschäftigt, legte er doch eine umfangreiche Sammlung von gezeichneten Porträts an, die heute im Kupferstichkabinett der Staatlichen Kunstsammlungen in Dresden au ewahrt werden.84
Dresden brachte David eine Fülle von weiteren Begegnungen und Bekanntschaften: mit dem Archäologen Karl August Böttiger und dem Bildhauer Ernst Rietschel, dem Zeichner und Radierer Moritz Retzsch, dem Naturwissenschaftler Jules-Frédéric Blumenbach und vor allem, gleich am ersten Tag, mit Carl Gustav Carus: »C’est un grand et bel homme qui porte le génie empreint sur sa noble physionomie. Il est auteur de plusieurs ouvrages, entre autres d’une anatomie comparée que l’on traduit actuellement. […] Il dessine aussi extrêmement bien. Il sent admirablement la musique; il raisonne sur les arts comme un homme de génie.«85 Mit Carus sollte ihn dann eine lebenslange Freundschaft verbinden.86 Während er das Porträt seiner Dresdner Bekanntschaften selbstredend jeweils in Form eines Medaillons festhielt, dezidierte David Carus darüber hinaus noch eine Marmorbüste, die er 1836 fertigstellte und an den Empfänger sandte. Auch sie ist heute in der Sächsischen Landesbibliothek Dresden aufgestellt (Abb. 6).
Von Dresden aus besuchte David die Sächsische Schweiz und am 22. November das Schlachtfeld von Jena, auf dem Napoleon in der sogenannten Doppelschlacht von Jena und Auerstedt 1806 die preußischen Truppen geschlagen hatte. Ebenso erwies er den großen Toten Deutschlands seine Reverenz: Zunächst suchte er am 25. November das Grab von Goethe in Weimar auf, an dem er weinend niederkniete.87 Am 2. Dezember stattete er dem Grab Albrecht Dürers auf dem Friedhof von Nürnberg seinen Besuch ab. Besichtigt wurden sodann dessen Wohnhaus, die Burg, das Rathaus sowie St. Sebald und St. Lorenz, aber auch die polytechnische Schule, wo er die Arbeit des Erzgießers Jakob Daniel Burgschmiet bewunderte.88 Burgschmiet sollte später den Bronzeguss eines Standbildes Dürers vornehmen, dessen Grundsteinlegung anlässlich des 300. Todestages von Albrecht Dürer am 7. April 1828 erfolgt war, das aber erst 1840 enthüllt wurde. Um die technischen Anforderungen des monumentalen Entwurfs, wie er von Rauch, dem ausführenden Bildhauer vorlag, bewältigen zu können, war Burgschmidt mit einem Stipendium seiner Heimatstadt zu einer Fortbildung in Erzgießerei nach Paris geschickt worden, wo er sei-
84 Siehe dazu Carl Christian Vogel von Vogelstein 1788–1868. Eine Ausstellung zum 200. Geburtstag , hg. von Rainer G. Richter, Kat. Ausst. Dresden, Albertinum, 1988, S. 45–74.
85 Bruel 1958 (wie Anm. 8), Bd.1, Carnet 25, S. 303.
86 Vgl. den Briefwechsel zwischen David und Carus abgedruckt in de Caso 1992 (wie Anm. 5), S. 228–241.
87 Bruel 1958 (wie Anm. 8), Bd. 1, Carnet 27, S.331: »Aujourd’hui, 25 novembre 1834, j’ai été visiter le tombeau de Gœthe. J’ai deposé une couronne dessus, et je me suis agenouillé auprès des restes du grand homme. Je n’aurais pas cru qu’après cinq ans, mes yeux eussent versé tant de larmes auprès de ce tombeau.«
88 Ebd., S. 335.
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Pierre-Jean David, gen. David d’Angers, Carl Gustav Carus, 1834/1836, Marmor, Dresden, Sächsische Landesbibliothek –Staats- und Universitätsbibliothek.
nerzeit auch David in seinem Atelier aufgesucht, den Meister aber nicht angetro en hatte. In Nürnberg konnte er David nun nicht nur eigene Arbeiten zeigen, sondern auch Rauchs Entwurf der Dürer-Statue, den dieser dafür kritisierte, dass er dem Maler die Gestalt eines Kaisers gebe, statt die eines Denkerkünstlers.89 Von der nächsten Station Regensburg aus, wo David die Kathedrale besuchte, unternahm er einen Ausflug zur Walhalla: »C’est bien là le Panthéon du Nord, le paradis caché, invisible à la terre. Ces grands hommes dorment au milieu des brouillards de la Germanie.«90 Da Emilie aufgrund von Komplikationen
89 Bruel 1958 (wie Anm. 8), Bd.1, Carnet 27, S. 335: »La statue faite par Rauch a l’air d’un empereur qui tient un rouleau sur lequel seraient inscrites les lois; celle de Purschmidt, au contraire, peint admirablement un penseur artiste.«
90 Ebd., S. 342.
ihrer Schwangerschaft unpässlich war, absolvierte David den letzten Abschnitt der Reise von Regensburg nach München alleine. Vom 8. Dezember an traf er hier seinen Bildhauerkollegen Ludwig Schwanthaler, die Maler Peter von Cornelius und Wilhelm von Kaulbach sowie den Architekten Leo von Klenze. Nur von letzterem fertigte er ein Medaillon an. Sein Urteil über die von Schwanthaler entworfenen und von jüngeren Bildhauern ausgeführten Figuren großer Maler an der Fassade des Neubaus der Pinakothek fiel äußerst kritisch aus– einerseits wegen des viel zu hohen Aufstellungsortes an der Fassade, aber auch wegen ihrer platten Ausarbeitung: »Il ne faut pas vouloir chercher le goût chez les Allemands; ils en sont totalement dénués; ils n’ont pas assez de vivacité dans l’esprit.«9¹ Die Deckenmalereien Cornelius’ in der Glyptothek erschienen ihm als distanziert und herzlos. Die Münchner Residenz mit den Ausbauten Klenzes und der Ausmalung Schwanthalers beurteilte er verhalten, um dann erneut zu einem allgemeinen Charakterbild vorzustoßen:
La promptitude n’est point dans le caractère allemand. Leurs premiers peintres ne pensaient pas à donner une physionomie à l’art; ils lui ont donné une physionomie naturelle à eux. Ils étaient alors des hommes d’instinct; c’est pour cela que leurs ouvrages sont si remarquables. Le génie allemand est profondément moral; ce peuple comprend admirablement toutes les plus tendres expressions du cœur; tous ces sentiments sont rendus dans les vieux maîtres avec une naïve pudeur, une retenue si innocente! Il y a dans leurs ouvrages si peu d’envie de produire de l’e et!9²
Der in Deutschland gegenüber den französischen Künsten topisch erhobene Vorwurf geistreicher E ekthascherei, wird so in positiv gewendetem Verständnis als deutsches Manko reklamiert. Zugleich spielte David die Flachheit und akademische Blutleere der zeitgenössischen Kunst in Deutschland gegen die Tradition der altdeutschen Malerei aus, in der er jene Innigkeit, Tiefe und Unschuld verkörpert sah, die seiner Vorstellung des Deutschen entsprach. Wichtig war ihm die Begegnung mit Schelling, von dem er ein Medaillon anfertigte. Mit ihm erörterte er die Schenkung und Aufstellung einer Replik seiner Goethebüste für die Akademie der Wissenschaften.9³ Nach fünf Tagen kehrte David zu seiner Ehefrau in Regensburg zurück, um von hier aus schließlich gemeinsam die Rückreise über Stuttgart nach Paris anzutreten. Wenn David sich auf seine private Wallfahrt durch Deutschland begeben hatte, um dort die Großen der Dichtung, des Geistes, der Kunst und der Wissenschaft zu ehren, so zögerte er bei aller Bewunderung für das Land und die Leute keineswegs, alles Gesehene und Erlebte seinem Urteil zu unterwerfen. Die Fülle der Erfahrung des Neuen und Anderen rief bei ihm ein Maximum an Selbstversicherung und Selbstreflexion hervor.
91 Ebd., S. 348.
92 Ebd., S. 349.
93 Das geht aus dem Brief Schellings an David hervor, in dem er sich für die Zusendung des Medaillons mit seinem Porträt bedankte. Brief vom 24. Dezember 1835, zit. nach Jouin 1890 (wie Anm. 11), S. 98.
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Pierre-Jean David, gen. David d’Angers, Caspar David Friedrich, 1834, Bronze, Hamburg, Kunsthalle.
Die für David künstlerisch eindrucksvollste Begegnung seiner zweiten Deutschlandreise war die mit Caspar David Friedrich in Dresden.94 Carus hatte ihn am Abend des 7. November 1834 bei dem Maler eingeführt und noch 1841, ein Jahr nach Friedrichs Tod, würdigte David diesen gegenüber Carus als »le plus grand génie parmi les peintres de paysage dont je connais les ouvrages«.95 Auch von Friedrich entstand im Jahr der Begegnung 1834 ein Porträtmedaillon in Bronze (Abb. 7). Bei dem ersten Zusammentre en der beiden Männer holte Friedrich, nachdem er sich gehörig hatte bitten lassen, einige seiner Werke hervor, um sie dem französischen Gast zu zeigen. Eines davon beschrieb dieser in seinem Reisetagebuch näher: »Un délicieux tableau représentant un arbre sans feuilles, une chouette sur une branche et la lune qui joue derrière les branches. Pas de terrain; cela est d’un e et qui fait rêver.«96
94 Zu den ästhetischen Implikationen dieser Begegnung, die in Davids Einschätzung von Friedrichs Landschaftskunst als der Erfindung des neuen Genres der »Tragödie der Landschaft« kulminiert, siehe Wedekind 2021 (wie Anm. 4), S. 45–76.
95 David d’Angers an Carl Gustav Carus, Brief vom 6. Januar 1841, zit. nach de Caso 1992 (wie Anm. 5), S. 238: »Vous m’obligeriez beaucoup, cher ami, si vous pouviez m’envoyer des notes sur frederich, votre illustre maître, tout ce que vous pourrez me procurer sur cet homme sera reçu par moi avec une profonde reconnaissance car c’est selon moi le plus grand génie parmi les peintres de paysage dont je connais les ouvrages, et puis ce caractère si singulier si mélancolique! cette vie si simple, cette modestie si remarquable tout cela a laissé dans mon âme une trace ine açable, il y a peu d’instants où son souvenir ne se présente pas à ma mémoire, sans vous je ne l’aurais pas connu, c’est vous qui me l’avez révélé, je crois en vérité qu’il n’était compris que de vous à Dresde dans votre Allemagne comme dans tous les autres pays le mérite joint à un caractère modeste n’est souvent connu qu’après la mort.«
96 Bruel 1958 (wie Anm. 8), Bd.1, Carnet 25, S. 309.
Fast mehr als zwei Jahrhunderte später sollte diese Beschreibung mit dem Hinweis auf den ungewöhnlichen, und auch im Werk Friedrichs einmaligen Bildausschnitt ohne sichtbares Bodenterrain und damit ohne Angabe eines Horizonts, eine spektakuläre Wiederentdeckung ermöglichen. Am 10. Februar 2010 wurde vom Auktionshaus Azur Enchères in Cannes ein Gemälde versteigert, auf dem zwei in den Himmel ragende blattlose Baumäste zu sehen sind, auf deren einem sich eine Eule niedergelassen hat. Der Schätzpreis des Bildes war mit 80 bis 100 Euro angegeben. Als gegen 16 Uhr mit der Versteigerung des Gemäldes begonnen wurde, das mit 100€ aufgerufen wurde, stiegen die Gebote zunächst jeweils um 10€, als die 1000 Euro-Marke erreicht war schließlich in Schritten um 100€. O ensichtlich hatte das Gemälde mehrere Interessenten gefunden, die sich ein Bietergefecht lieferten, was sich allein schon daraus erklären ließ, dass es von einem schönen Goldrahmen umgeben war, der eindeutig aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts stammte. Es dauerte eine Viertelstunde bis das Bild schließlich nicht wie zu erwarten gewesen wäre bei 1500 oder 2000€, sondern bei 350.000€ zugeschlagen wurde. Eine traumhafte Wertsteigerung, aber dennoch kein angemessener Preis. Die Käufer waren zwei bekannte Pariser Galeristen, Bertrand Gautier et Bertrand Talabardon, die das Bild gleichsam auf Verdacht ersteigert hatten. Mit Aufgeld immerhin für 420.000 Euro. Dies dann doch nicht allein wegen des Rahmens, vielmehr gingen die Galeristen davon aus, es mit einem verschollenen Gemälde von Caspar David Friedrich zu tun zu haben. Ihre Annahme sollte sich als richtig erweisen. Mit der Expertise von Helmut Börsch-Supan vom 16. Juni 2010 wurde das auf Leinwand gemalte Ölbild mit den Maßen 25,2 × 31,1 cm unter dem Titel Eule auf einem Baum als von Friedrichs Hand stammend diesem zugeschrieben und seinem Œuvre zugeschlagen (Abb. 8).97 Bevor Gautier und Talabardon sich ihres Coups aber sicher sein konnten, erreichte sie nur wenige Woche nach ihrer Erwerbung eine Vorladung, in der mitgeteilt wurde, dass der Verkäufer auf dem Klageweg die Annulation des Verkaufs mit Berufung auf den Artikel 1110 des Code civil betreibe: »pour erreur sur la substance«.98 Im November 2011 wurde schließlich ein außergerichtlicher Vergleich der streitenden Parteien publik. Den beiden Pariser Kunsthändlern wurde nun von dem ursprünglichen Verkäufer ausdrücklich zugestanden, das Werk entdeckt und ihm einen Wert verliehen zu haben. In Anerkennung ihrer Leistung als »Inventeur« wurden ihnen sodann ein 50prozentiger Anteil am Eigentum des Gemäldes zugesichert. Forderungen in der Ö entlichkeit, dem Louvre ein Vorkaufsrecht einzuräumen und es
97 Reproduziert und damit auch sichtbar in die Friedrich-Literatur aufgenommen bei Johannes Grave, Caspar David Friedrich, München, London und New York 2012, S.27, Abb. 10. Der Verweis auf das Gutachten von Börsch-Supan findet sich auf S. 262.
98 Die Entdeckung des Bildes und den weiteren Verlauf der Erwerbung hat Didier Rykner in verschiedenen Artikeln in seinem Internetmagazin La Tribune de l’Art begleitet: Didier Rykner, »Après les a aires Poussin, voici l’a aire Friedrich«, in: La Tribune de l’Art, 11. März 2010; ders., »Le hibou de Friedrich proposé au classement comme trésor national«, in: La Tribune de l’Art, 17. November 2010; ders., »Le hibou s’est envolé«, in: La Tribune de l’Art, 12. Dezember 2011 sowie ders., »À propos du Hibou de Friedrich, une interview de Bertrand Talabardon et Bertrand Gautier«, in: La Tribune de l’Art, 12. Dezember 2011.
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Caspar David Friedrich, Eule auf einem Baum, um 1834, Öl auf Leinwand, 25,2 × 31,1 cm, franz. Privatsammlung.
nicht außer Landes zu verkaufen, kam die Gruppe der Eigentümer insofern nach, als Gautier und Talabardon dem Louvre das Gemälde für eine von ihnen festgesetzte Summe von 6,5 Millionen Euro anboten, was ihrer eigenen Einschätzung nach um einiges unter dem möglichen, auf dem internationalen Kunstmarkt zu erzielenden Preis lag. Doch der Louvre wollte oder konnte nicht, und bereits im Dezember 2011 wurde das Gemälde für eine ungenannte Summe an einen ungenannten französischen Sammler verkauft. Ob dieser es irgendwann einmal dem Louvre vermachen wird, steht dahin, scheint aber nicht ausgeschlossen.
Die besonderen französischen Interessen an dem Bild rühren zum einen daher, dass nur ganz wenige Werke des deutschen Malers in französischen Museen zu finden sind. Der Louvre selbst bringt es nur mit Müh und Not auf zwei Gemälde– L ’Arbre aux corbeaux, 1975 angekauft, und Bord de mer au clair de lune, von den Freunden des Louvre als Geschenk für diesen im Jahr 2000 erworben.99 Dazu kommen noch einige wenige Zeichnungen. Es ist vor allem aber die Provenienz des nun wieder aufgetauchten Gemäldes aus der Sammlung von David d’Angers, die das besondere nationale Interesse an ihm begrün-
99 Vgl. die Katalognummern des Œuvrekatalogs von Helmut Börsch-Supan und Karl Wilhelm Jähnig, Caspar David Friedrich. Gemälde, Druckgraphik und bildmäßige Zeichnungen, München 1973 (Studien zur Kunst des 19. Jahrhunderts), Nr. 289: Rabenbaum, um 1822, Öl auf Leinwand, 59 × 73 cm; Nr. 246: Küstenlandschaft im Mondschein, 1818, Öl auf Leinwand, 22 × 30,5 cm.
det. Dieser gehörte zu Lebzeiten Friedrichs zu den ganz wenigen Ausländern, die Werke des Malers erwarben. Neben einem dänischen Prinzen und dem russischen Zaren zählt David d’Angers als einziger Franzose zu dieser illustren Gruppe. Und inzwischen gehört nicht nur sein eigenes künstlerisches Werk, sondern auch seine eigene Kunstsammlung, so bruchstückhaft sie auch nur erhalten ist bzw. rekonstruiert werden kann, zum künstlerischen Patrimoine Frankreichs.
Ob David das Gemälde von Friedrich bereits während seines Dresdner Aufenthaltes, der bis Anfang Dezember 1834 dauerte, erworben hat oder erst nach Friedrichs Tod durch die Vermittlung von Carus, ist ungewiss.¹00 In jedem Fall hat Friedrich seinem französischen Besucher im November eine Zeichnung als Geschenk überlassen– Le cimétière sous la lune –, die wie das beschriebene Gemälde einen im Mondlicht hockenden Uhu zum motivischen Mittelpunkt hat (Abb. 9).¹0¹ Das Blatt kam 1974 als Schenkung der beiden Graphikhändler Paul und Hubert Prouté in den Louvre und stammte aus einem ehemals David d’Angers gehörenden liber amicorum, in das es zusammen mit anderen Zeichnungen von befreundeten Künstlern eingeklebt war.¹0² Auch in diesem Fall entspricht eine Beschreibung Davids in seinen Notizen dem Blatt. Dort ist von einem ausgehobenen Grab die Rede, »sur le rebord de laquelle le fossoyeur avait planté sa pelle, et sur laquelle est perché un hibou, et la lune qui éclaire cette scène du tombeau«. David berichtet von einem kleinen Zwischenfall, zu dem es gekommen sei, als er Friedrich, nachdem dieser ihm das Blatt als Geschenk angetragen hatte, gebeten habe, das Blatt für ihn zu signieren. Der Maler habe dabei versehentlich ein wenig Tinte darauf tropfen lassen, worauf sein erster Impuls gewesen sei, die Zeichnung zu zerreißen. Wovon ihn David jedoch mit der Bemerkung abhalten konnte, man könne den Fleck doch für einen Vogel halten.¹0³ Dieser Fleck ist auch heute noch am linken Blattrand als eine verwischte Schmiere deutlich zu erkennen.¹04 Schon allein dies und die für Friedrich unübliche Signatur der Sepiazeichnung
100 Davids Brief an Carus vom 14. März 1843 ist zu entnehmen, dass er im selben Jahr mehrere Arbeiten Friedrichs erworben hat: »Je vous envoye ci inclus un billet de deux cent francs pour solder le petit tableau et les croquis de notre frédrich.« Zit. nach de Caso 1992 (wie Anm. 5), S. 239.
101 Christina Grummt, Caspar David Friedrich. Die Zeichnungen. Das gesamte Werk , 2 Bde., München 2011, Bd. 2, Nr. 978: Friedhof im Mondschein, um 1834, Pinsel in Braun und Bleistift, 14 × 19 cm.
102 Vgl. dazu Arlette Sérullaz, »Un dessin de Caspar David Friedrich«, in: Revue du Louvre, Jg. 25, 1975, Nr. 1, S. 55–56 sowie Patrick Le Nouëne, »Une aquarelle inédite de Caspar David Friedrich (1774–1840) conservée au musée des Beaux-Arts d’Angers«, in: La Revue du Louvre, Jg. 47, 1997, Nr.1, S.54–58, hier S. 54.
103 Bruel 1958 (wie Anm. 8), Bd.1, Carnet 27, S.329: »Il est très impressionnable: quand je l’ai prié de mettre son nom au bas d’un dessin qu’il m’avait donné, représentant une fosse sur le rebord de laquelle le fossoyeur avait planté sa pelle, et sur laquelle est perché un hibou, et la lune qui éclaire cette scène du tombeau, il laissa tomber un peu d’encre dessus. Je vis que son premier mouvement était de le déchirer; mais il n’en fit rien, parce que je l’assurai que l’on pourrait prendre cette tache pour un oiseau. Il sourit, avec cette expression enfantine que l’on ne retrouve que chez les hommes remarquables d’Allemagne.«
104 Maaz 2004 (wie Anm. 1), S.72 geht irrigerweise davon aus, Friedrich habe den unabsichtlichen Tintenfleck nachträglich kurzerhand in den dargestellten Uhu verwandelt. Dagegen identifizierte bereits Sérullaz 1975 (wie Anm. 102), S.56, Fußnote 3, den Fleck am linken Bildrand und die Signatur als mit der Beschreibung Davids übereinstimmend.
erweisen sie ganz zweifelsfrei als zur ehemaligen Sammlung David d’Angers zugehörig. David berichtet, dass Friedrich auf seine Bemerkung hin mit einem kindlichen Ausdruck gelächelt habe, wie man ihn nur bei den bedeutenden Männern Deutschlands finden könne. In seinen zu Lebzeiten unpublizierten Aphorismen hat Friedrich seinerseits ein solches Lächeln angesprochen – »Oft schwieg ich still. Oft hab’ ich auch gelacht.«¹05 – und als einen Modus seiner Reaktion auf verschiedenartige, seiner Autorintention manchmal geradezu entgegengesetzte Interpretationen seiner Bilder charakterisiert. David akzentuiert seine Beobachtung mit dem Begri des Kindlichen und deutet damit auf Friedrichs unverstellte Lust am Spielerischen der Phantasie hin. Zugleich beinhaltet Friedrichs Lächeln seine Einwilligung in die Komplizenschaft der beiden Künstler im Wissen um die Potentialität der Formbildung.
David besaß noch weitere Werke Friedrichs: Seit 1906 befinden sich als Schenkung der Tochter des französischen Bildhauers, Hélène Leferme, im Museum von dessen Heimatstadt Angers zwei Zeichnungen, von denen eine die Ruine Eldena und ein Backhaus
105 Caspar David Friedrich, »Aphorismen über Kunst und Leben«, in: Caspar David Friedrich in Briefen und Bekenntnissen, hg. von Sigrid Hinz, Berlin 1984, S. 84.
zeigt, die andere eine Gebirgslandschaft bei Teplitz.¹06 Ein drittes, aquarelliertes Blatt, ebenfalls seit 1906 im Besitz des Musée des Beaux-Arts von Angers, zeigt die Pforte des Kapitelsaals mit Blick auf den ehemaligen Klausurhof und Garten des Klosters Heilig Kreuz in Meißen.¹07 Es wurde erst 1996 wieder als von Friedrich stammend identifiziert.¹08
Davids Sammlung umfasste außer diesen insgesamt vier Arbeiten auf Papier noch drei Ölgemälde, wie aus seinem Nachlassinventar von 1856 hervorgeht. »Un petit tableau (une chouette sur un arbre dépouillé par Friedrich)«, ist zweifellos mit dem 2010 wiedergefundenen Bild einer Eule auf einem Baum identisch. Angeführt wird dort ein zweites und drittes Gemälde, dessen Sujet in einem Fall mit einer »barque à sec«, also einem Kahn auf dem Trockenen angegeben ist und im anderen Fall mit »vue de ruines et e et de lune«, d. h. Ruinen im Mondschein.¹09 Diese beiden Bilder sind verschollen und warten darauf, auf einer Auktion in Cannes oder anderswo entdeckt zu werden.
David d’Angers besaß also mindestens sieben Werke Friedrichs, die er teilweise noch nach dem Tod des Malers auf Vermittlung von Carus erwarb. Bereits kurz nach seinem Dresdenaufenthalt hatte David im März 1836 diesem geschrieben, dass er noch niemals etwas so Poetisches wie Friedrichs Arbeiten gesehen habe und setzte hinzu, »il faudra que nous tâchions d’avoir à Paris un de ses grands tableaux«, ein Geschäft, das auszuhandeln er Carus bald bitten wolle.¹¹0 Mit dem Wechsel in die Wir-Form (»nous«) und dem Anspruch auf ein großes Gemälde proklamierte er selbstbewusst die eigene Sammlung als Medium einer repräsentativen Präsenz von Friedrichs Kunst in der französischen Hauptstadt und in Frankreich. Diese Rolle hat sie aber nicht eingenommen, vielleicht auch deswegen nicht, weil es zum Ankauf eines der großformatigen Bilder Friedrichs nicht gekommen ist, sind doch alle erhaltenen und alle schriftlich erschließbaren, verschollenen Bilder Friedrichs in Davids Sammlung von kleinem Format. Ein weiterer Grund dafür werden die zeitgeschichtlichen Umstände gewesen sein, mit denen David sich gegen Ende seines Lebens konfrontiert sah. Als ein überzeugter Republikaner und radikaler Demokrat stellte er nach der Februarrevolution 1848 seine Profession für eine Weile zurück,
106 Grummt 2011 (wie Anm. 101), Bd. 2, Nr. 997: Westfassade der Ruine Eldena mit Backhaus und Scheune, um 1837, Pinsel in Braun und Bleistift, 17,6 × 23,9 cm; Nr. 972: Gebirgslandschaft bei Teplitz, 1835 (oder später), Pinsel in Braun und Bleistift, 22,8 × 30,7 cm.
107 Grummt 2011 (wie Anm. 101), Bd. 2, Nr.852, Kloster ruine Heilig Kreuz bei Meißen, um 1824, Aquarell über Bleistift, 21 × 14,9 cm.
108 Vgl. Le Nouëne 1997 (wie Anm. 102). Siehe auch Petra Kuhlmann-Hodick, »Zwei Aquarelle Caspar David Friedrichs in Dresden und Angers«, in: Dresdner Kunstblätter, Jg. 40, Nr.4, S. 116–127.
109 de Caso 1980 (wie Anm. 27), hier S.89: »(494) Un petit tableau (une chouette sur un arbre dépouillé, par Friedrich)… 25 F; (495) Un second tableau par le même, sujet barque à sec… 20 F; (496) Un troisième tableau, du même, vue de ruines et e et de lune… 15 F«.
110 David d’Angers an Carl Gustav Carus, Brief vom 28. März 1836, zit. nach de Caso 1992 (wie Anm. 5), S. 230: »[...] et Mr Fréderic que fait-il de grand en peinture, actuellement? quel génie! je n’avais encore rien vu de si poétique que ses ouvrages, il faudra que nous tâchions d’avoir à Paris un de ses grands tableaux, c’est une a aire que je vous prierai de me négocier dans un temps qui ne sera peut-être pas long.«
übernahm als Bürgermeister des 11. Arrondissement von Paris ein ö entliches Amt und amtierte nach den Wahlen vom 23. April 1848 als Abgeordneter des Départements Maine-et-Loire in der verfassungsgebenden Nationalversammlung. Nach dem Staatsstreich Napoleons III . am 2. Dezember 1851 wurde er verhaftet und aus Frankreich verbannt. Erst 1853 wurde es ihm gestattet, aus seinem Exil in Griechenland nach Paris zurückzukehren, wo er relativ isoliert und bei zerrütteter Gesundheit seine letzten Jahre bis zu seinem Tod am 6. Januar 1856 verbrachte.
Hinter dem von David angestoßenen Kunsttransfer stand die Überzeugung, Friedrich unter den bedeutenden Landschaftsmalern Europas den herausragenden Stellenwert einräumen zu wollen, dem ihm damals nicht einmal seine deutschen Zeitgenossen zugebilligt haben. Jedoch wurde Friedrich trotz Davids bewundernder Sammlertätigkeit in Frankreich bis weit in die zweite Hälfte des 20.Jahrhunderts mehr oder weniger ignoriert.¹¹¹ Mit dem Eingang einiger Friedrich-Werke aus der Sammlung des Bildhauers in das Museum von Angers fanden diese allerdings einen Aufnahmekontext, der ihnen Zeit verscha te, ihre Potentialität zu entfalten und selbst zu Objekten der Übertragung zu werden.¹¹² Einen Versuch, diese rückgängig zu machen, gab es 1944. Mit einem Schreiben vom 8. April 1944 informierte der Kunsthistoriker Herbert von Einem den Reichsminister Bernhard Rust über seine Aktivitäten im Versuch, zwei Sepien Caspar David Friedrichs im Besitz des Museums in Angers für das kunsthistorische Institut der Universität Greifswald, das 1940 in Caspar-David-Friedrich-Institut umbenannt und an das von Einem 1943 als ordentlicher Professor berufen worden war, käuflich zu erwerben.¹¹³ Bei den beiden Sepien handelte es sich um die beiden erwähnten Blätter Westfassade der Ruine Eldena mit Backhaus und Scheune und Gebirgslandschaft bei Teplitz die 1906 als Schenkung in das Museum gekommen waren. Seine Feststellung, dass diese Blätter »im Rahmen des fran-
111 Daran änderte auch nichts die Würdigung, die Hippolyte Fortul Caspar David Friedrich noch zu Lebzeiten Davids auf zwei Seiten im ersten Band seines Buches über die Kunst in Deutschland im Rahmen seines Kapitels über Dresden zukommen ließ. Hippolyte Fortoul, De l’art en Allemagne, Bd.1, Paris 1841, S. 515–518. Siehe dazu auch Pierre Vaisse, »Frankreichs Kenntnis der deutschen Romantiker«, in: Marianne und Germania 1789–1889. Frankreich und Deutschland. zwei Welten – Eine Revue, Kat. Ausst. Berlin, Berliner Festspiele, Martin-Gropius-Bau, 1996, S.235–242 sowie Gabriele Bleeke-Byrne, French Perceptions of German Art (1800–1850): Studies in stereotypes and their ideological influence, Diss. masch. Brown University 1989, Ann Arbor 1994.
112 Zum Begri und Modell der Übertragung vgl. omas Keller, Verkörperungen des Dritten im Deutsch-Französischen Verhältnis. Die Stelle der Übertragung , Paderborn 2018, hier insbesondere die Einleitung S. 11–44.
113 Verö entlicht hat diese Quelle Kilian Heck, »Herbert von Einem in Greifswald und Caspar David Friedrich in Angers. Die deutsche Romantik und der nationalsozialistische Kunstraub in Frankreich«, in: Imitatio – Aemulatio – Superatio. Bildpolitiken in transkultureller Perspektive. omas Kirchner zum 65. Geburtstag, hg. von Marlen Schneider und Ulrike Kern, Heidelberg 2019, S. 193–210.
zösischen Museums Fremdkörper« seien, versuchte er mit der Behauptung zu belegen, dass diese »auch nicht ö entlich zugänglich« seien und der Konservator des Museums bei seiner Besichtigung 1942 »nichts von ihnen« gewusst habe, sie »unerkannt« in einer Zeichnungsmappe bzw. in einem Sammelrahmen im Direktorenzimmer verwahrt würden.¹¹4 Die Kunst dieses deutschen Malers könne nur von Deutschen geschätzt werden, so der Subtext, weswegen die Blätter aus ihrem unpassenden Exil wieder dahin zurück sollten, wo sie vermeintlich hingehörten. Von Einem orchestrierte die geplante Aneignung – eine legalistische Variante von Kunstraub– auf allen Kanälen und versuchte die deutschen Dienststellen im besetzten Frankreich dazu zu bewegen, auf das Museum in Angers Druck auszuüben. Doch Joseph Busley, der zuständige Referatsleiter für den Kunstschutz der Region Angers, und Hermann Bunjes, der Leiter der kunsthistorischen Forschungsstätte Paris, spielten in diesem Fall nicht mit und stoppten mit Verweis auf die Unantastbarkeit französischen Staatsbesitzes und die heikle diplomatische Lage den Vorstoß von Einems, der so glücklicherweise eine folgenlose Episode blieb.
Erst jetzt, knapp 200 Jahre später, erlangt der von David initiierte Übergang Caspar David Friedrichs nach Frankreich in seiner Qualität als Übertragung volle Wirksamkeit. Die nach Frankreich verschobenen Werke des deutschen Romantikers sind ihrerseits zu transkulturellen Medien mutiert. Sie verkörpern ein damaliges deutsch-französisches Verhältnis und eines von heute, wie sie den transkulturellen Horizont Davids verkörpern und die transkulturelle Dimension im Scha en Caspar David Friedrichs.
Ein letztes Porträt von der Hand Davids soll zum Schluss hier Erwähnung finden. 1842 fertigte er im Auftrag eines Komitees, das eigens gebildet worden war, die Büste von Ludwig Börne für dessen Grabmal auf dem Friedhof Père Lachaise an (Abb. 10). Darunter ist ein ebenfalls von David entworfenes Bronzerelief angebracht, auf dem drei Frauen zu sehen sind: Links und rechts die Personifizierungen von Frankreich und Deutschland, die eine mit einem Lorbeer-, die andere mit einem Eichenkranz gekrönt, die ihre Wa en hinter sich niedergelegt haben und sich die Hände reichen. Ermutigt werden sie von der Frau in der Mitte, der Verkörperung der Liberté mit der phrygischen Mütze. Zu beiden Seiten der Figurengruppe ragen zwei Sockel heraus, die auf ihrer Vorderseite die Namen von Voltaire, Rousseau, Lamennais, Béranger sowie von Lessing, Herder, Schiller und Jean Paul tragen. Wie Börne, der wegen seiner politischen Gesinnung in Paris im Exil gelebt hatte, wo er 1837 gestorben war, haben diese Schriftsteller in besonderer Weise zum politischen Fortschritt und zur Annäherung der beiden Kulturen Frankreichs und Deutschlands beigetragen. Das Grabmal ist damit auch ein Plädoyer für die deutsch-französische Freundschaft und eine frühe Würdigung des deutsch-französischen Dialogs.¹¹5
114 Herbert von Einem an Bernhard Rust, Brief vom 8. April 1944, abgedruckt in: Ebd., S. 205.
115 Vgl. die Katalogeinträge 6/36 und 6/37 von Anna Czarnocka in Marianne und Germania 1789–1889. Frankreich und Deutschland. zwei Welten– Eine Revue, Kat. Ausst. Berlin, Berliner Festspiele, Martin-Gropius-Bau, 1996, S.324–325.
10
Pierre-Jean David, gen. David d’Angers, Grab von Ludwig Börne, 1842, mit Bronzebüste Ludwig Börne und dem bronzenen Flachrelief La France et l’Allemagne unies par la Liberté, Paris, Friedhof Père-Lachaise.
Dass über der Verkörperung der Freiheit die Büste Börnes angebracht ist, darf als Hinweis darauf verstanden werden, dass dieser als deutscher Patriot und Wahlfranzose Zeit seines Lebens journalistisch für die Vision gestritten hat, die David d’Angers auf dem Relief in Bronze gegossen hat und die er seinerseits mit seiner »Collection des hommes célèbres« im Sinn hatte. Als eine Frieden und Freundschaft stiftende Idee, die die Vernetzung der großen Geister Europas über alle Nationalgrenzen hinweg als das politische Projekt eines gemeinsamen Europas, einer gemeinsamen Welt verfolgte. Als Denkmale ohne o ziellen Auftrag, ohne nationale und kriegerische Rhetorik, o en und transnational. Als eminente Dinge der Memoria zur Zeugung menschlicher Größe. David d’Angers künstlerisches Konzept war auf die Zirkulation von Ideen, Objekten und Werten hin angelegt, entfaltete damit selbst ein Netzwerk und stieß im Rahmen seiner republikanisch gesonnenen politischen Agenda einen Austausch zwischen den Nationen Europas an, der sich jedoch nur als individueller Dialog mit Intellektuellen unterschiedlicher Gesinnung realisierte.