Oswald Wieners Theorie des Denkens

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Inhaltsverzeichnis

7 Vorwort

Gespräche

11 Literatur, Sprache, Denken: Die Anfänge

Gespräch zwischen Oswald Wiener und Thomas Eder

79 Von Maschinen zur Denkpsychologie

Gespräch zwischen Oswald Wiener und Thomas Raab

111 Pleomorphismus im Denken und die Computer-Metapher Weiser, Symbol und das „Grounding“-Problem

Gespräch zwischen Oswald Wiener und Michael Schwarz

Essays

181 Oswald Wiener

Kybernetik und Gespenster

Im Niemandsland zwischen Wissenschaft und Kunst

209 Michael Schwarz

Kognitive Zeichen Von der Ontogenese zur Aktualgenese

Eine Psychogenese in Anlehnung an James Mark Baldwin und Jean Piaget

259 Thomas Eder „Blödigkeit“ hersagen

Bemerkungen zum Memorieren von Sprachereignissen am Beispiel einer Ode von Friedrich Hölderlin

297 Thomas Raab

Phantasie, Verdrängung und Motivation in einem ökologischen Gedächtnismodell

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Vorwort

Aus der Kunst kommend und notgedrungen zum Forscher geworden, hat der vielseitig schaffende Oswald Wiener (1935—2021) mit seiner Denkpsychologie der akademischen Wissenschaft zeitlebens Schwierigkeiten in der Rezeption bereitet. Dies hat unterschiedliche Gründe. Unter anderem trägt dazu sein doppelt exzentrisch scheinender Ansatz bei, exploratives Denken nicht als Gegensatz zur empirischen Wissenschaft zu begreifen und, damit zusammenhängend, die Informatik mit der Selbstbeobachtung zu verbinden.

In den 1960er-Jahren gehörte der für die deutschsprachige literarische Neo-Avantgarde einflussreiche Schriftsteller Wiener zur ersten Generation an Intellektuellen und Kunstschaffenden, die ihre teils enttäuschten künstlerischen und politischen Hoffnungen auf die seit den 1940er-Jahren neu entstandene Kybernetik richteten. Die Sprachphilosophie und der linguistic turn schienen zunehmend keine Verheißungen mehr zu bieten, und die Angst vor dem sich ankündigenden social engineering schlug bei Wiener wie bei einigen anderen, ursprünglich geisteswissenschaftlich Orientierten in eine Lust an der positivistischen, naturwissenschaftlichen, ja sogar behavioristischen P rovokation um. In einem der Gespräche dieses Buchs führt Wiener sein Pendeln zwischen Technikhoffnung und Technikangst demgemäß auf eine Art „Stockholm-Syndrom“ zurück. Als einer der Ersten lebte er, als Schriftsteller und Informatiker, „the two cultures“ der Natur- und Geisteswissenschaften in einem Leib.

Heute ist Oswald Wieners Reputation als vorausblickender Kritiker des Einflusses computertechnischer Innovation nicht nur auf unser aller Lebensgefühl, sondern auch auf unser aller konkretes Verhalten, auf Gewohnheiten, Sitten und implizite Ideologien international unumstritten (vgl. die englischen Übersetzungen einiger Schlüsseltexte in der amerikanischen Kunstzeitschrift October 2001 und 2019), dies bisher vor allem aber im Bereich der Kunst und der Geisteswissenschaften.

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Das soll der vorliegende Band energisch korrigieren, indem er Gehalt und Bedeutung von Wieners Theorie des Denkens für die Kybernetik, die künstliche Intelligenz, die theoretische und technische Informatik, die Psychologie, die Cognitive Science, die Philosophie und die Ästhetik herausarbeitet. Denn eine angemessene Rezeption dieser über die Jahrzehnte gewachsenen Theorie und, mehr noch, ihre Einschätzung und systematische Ausarbeitung wie Fortführung in diesen Bereichen steht unserer Meinung nach noch aus. Bislang hat sie sich nur in der Praxis gezeigt, nämlich in einer erklecklichen Zahl von Denkenden und Kunstschaffenden, die sich von Aspekten, Begriffen oder auch nur dem in die Zukunft gewandten Spirit Wieners anregen ließen.

Dieses Buch sollte also ursprünglich ein Leitfaden zur Genese und damit auch zum besseren Verständnis der für Laien wie für Kognitionsforschende ungewöhnlichen Denktheorie Oswald Wieners sein. Auf Grundlage von drei Gesprächen der Herausgeber mit Wiener sollten die zentralen, aus der durch theoretische Informatik gestützten Erkenntnistheorie und der auf Selbstbeobachtung beruhenden Denkpsychologie abgeleiteten Begriffe herausgearbeitet werden, um das Werk Wieners im Allgemeinen und das 2015 erschienene Fachbuch Selbstbeobachtung im Speziellen leichter verständlich zu machen.

Zwei Entwicklungen während der Arbeit am Buch haben uns dazu geführt, diesen vermittelnd gemeinten Ansatz zu modifizieren. Erstens lag es Wiener näher, einen zukunftsweisenden und mit neuen Ideen produktiven Text verfassen zu wollen, als die historische Entwicklung seiner Gedanken aufzuarbeiten. Zweitens verstarb Oswald Wiener zu unserer großen Trauer am 18. November 2021, und die im Nachlass befindlichen Fragmente zeigen, dass er zwar bis zuletzt am für uns alle zentralen Problem „Was unterscheidet menschliches Denken und Fühlen fundamental von statistischer Reiz- auf Verhaltensumrechnung?“ gearbeitet hat, wenngleich sie nicht zur Publikationsreife ausgearbeitet waren. Was blieb, sind viele Gedanken- und Selbstbeobachtungsprotokolle. Diese harren wie der gesamte Nachlass einer bereits projektierten Aufarbeitung und Publikation.

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So bilden nunmehr die drei Gespräche mit den Herausgebern den ersten Teil des Buchs. Sie detaillieren jeweils eine tentative Werkphase in der Denktheorie Wieners und reichen von der ersten, noch vom linguistic turn, wenn auch oft abwehrend geprägten Phase über (seit den 1970er-Jahren) die Phase des Versuchs der stringenten Definition historisch strittiger erkenntnistheoretischer Begriffe durch die Automatentheorie bis zur letzten, seit Ende der 1990er-Jahre in der Gruppendiskussion ablaufenden denkpsychologisch selbstbeobachtenden Phase.

Der zweite, hinzugekommene Teil des Buchs besteht nun aus dem letzten von Oswald Wiener zu Lebzeiten publizierten größeren Essay mit dem Titel „Kybernetik und Gespenster“ als einer Art Summa seines Lebenswerkes. Dieser Essay enthält an seinem Ende ein Kurz-Glossar mit Erklärungen manch wichtiger theoretischer Begriffe, die auch in anderen Teilen des Buchs verwendet werden. Ergänzt wird dieser zweite Teil durch drei jeweils ein Detailproblem der Denktheorie weiterführende Essays der drei Herausgeber. Sie thematisieren die Genese von „kognitiven Zeichen“ als gegenständliche Fundierung des Denkens essenziell anders, als es die Modelle der tiefen neuronalen Netze für die computergestützten Neurowissenschaften in ihrer „Objekterkennung“ tun (Schwarz), das Problem des Auswendiglernens von Texten als Modellfall von strukturierendem Einsichts-Lernen (Eder) sowie eine Gedächtnistheorie auf Basis der Wiener’schen Theorie, die psychoanalytische „Metapsychologie“ mit der Kognitionswissenschaft zu verbinden sucht (Raab).

Wir hoffen, dass zumindest die sowohl die Gespräche als auch die Essays prägende Einheitlichkeit der Begriffsverwendung dem Werk einen — wenn auch die Leserschaft fordernden — Einführungscharakter verleiht. Die Befassung mit dem Werk eines unserer Überzeugung nach Diskursbegründers der neuen Theorie des Denkens soll damit um einen Baustein reicher sein.

Unser größter Dank gilt dabei Ingrid Wiener, die das Gerüst unserer gemeinsamen, auch in größerem Rahmen durchgeführten Treffen und Diskussionen mitgetragen und überhaupt erst ermöglicht hat!

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Literatur, Sprache, Denken: Die Anfänge

Gespräch zwischen Oswald Wiener und Thomas Eder

Erste Begegnungen mit Musik und Literatur in den 1950er-Jahren

TE: Die Gespräche, die wir führen, sollen deine intellektuelle Entwicklung seit den späten 1950er-, frühen 1960er-Jahren bis zur heutigen Zeit dokumentieren. Im Folgenden geht es um deine frühe Phase als Dichter und Künstler. Was hat dich bewogen, als junger Mann Musiker oder Dichter werden zu wollen? War das Ziel tatsächlich ein kunstinternes, nämlich die neue Dichtung zu schaffen? Als ob man um der Entwicklung der Dichtung willen etwas Neues schaffen müsse — oder gab es auch ein außerhalb der Kunst und der Dichtung liegendes Ziel, auf das hin sich diese entwickeln müssen?

OW: Außerhalb höchstens ein metaphysisches — ich war damals ein etwas unbeleckter Bewusstseinsphilosoph. Das Rätsel Bewusstsein, das war das letzte Ziel. Die Hoffnung war, dass man über Dichtung Aufschlüsse und Einsichten erhält, und die Frage nach dem Bewusstsein selbst schien mir jenseits jeder Wissenschaft zu stehen. Dies hat mich auch von Anfang an zu einem wütenden Wissenschaftsgegner gemacht. Ich habe damals sehr viel Zeit darauf verwendet, mir zu beweisen, dass die Wissenschaft ein einziger Humbug ist und ein großes Unglück.

TE: Und die Alternative dazu wäre die Kunst?

OW: Das Ziel war gar nicht so klar formuliert. Es war eher ein dumpfes Gefühl, dass ein Durchbruch durch sie erzielt werden müsse. Irgendwie musste man durch eine Mauer stoßen, und man hat sich keine großen Fragen gestellt, was dahinter wäre.

TE: Könnte man das so präzisieren, wie du es ja später auch manchmal behauptet hast, nämlich dass es in deiner Arbeit damals zwei Tendenzen gegeben habe, die nebeneinander oder vielleicht auch gegeneinander bestanden haben: einerseits der Wunsch nach einer Steigerung der Empfindung und des Erlebens durch Kunst und auf der anderen Seite die Hoffnung, ein besseres Verstehen der Mechanismen des Bewusstseins durch Kunst und Dichtung zu erlangen?

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OW: Letzteres hat sich eigentlich von allein und anfänglich unbemerkt eingeschlichen. Irgendwann ist mir natürlich klargeworden, dass ich selbst auch zu denen gehöre, die ich mit der Kritik an der Wissenschaft angreife, weil ich ja auch etwas verstehen wollte. Und zwar verstehen in dem Sinn, was ich heute klares Verstehen nenne. Nicht ein gefühlsmäßiges Verstehen, das war mir zu wenig. Ein echter Künstler hätte sich, glaube ich, damit zufrieden gegeben. Ich war sehr empfänglich, was Stimmungen und Affekte betrifft. Aber das hat mir eben nicht gereicht, ich wollte es schon deutlicher wissen, was da hinter der Mauer sein wird, die durchbrochen werden musste. Auf dem Weg dorthin habe ich mir — ohne es zu merken — Wissen angeeignet. Ich habe sehr viel gelesen und gewisse Namen zum ersten Mal in dieser Zeit bewusst wahrgenommen, Spinoza z. B. In dieser Zeit, wir sprechen da von der ersten Hälfte der 1950er-Jahre, sind diese Grundlagen wenigstens einmal — vielleicht nicht sehr solide, aber immerhin einmal skizzenhaft — gelegt worden. Der Zwiespalt, wie ich das einmal geschrieben habe, war: Auf der einen Seite Aufhebung der Wirkung beim Kunstmachen und -rezipieren durch „umfassende Erklärung ihrer Mechanismen — diese Kenntnis würde einen instand setzen, beliebige Wirkung vorausberechnend zu erzeugen; sie würde die Ergriffenheit relativieren und den Manipulator selbst der Manipulation entziehen. Andererseits war die Wirkung der Kunst so weit wie irgend möglich zu steigern […]. Der Zwiespalt führt bei mir zu abruptem Schwanken zwischen Bewußtseinsphilosophie und Behaviorismus. Ein von Naivität diktierter Kompromiß: In den fünfziger Jahren machte ich mich zu einem fanatischen Künstler, weil ich in der Kunst das überlegene Erkenntnismittel sah. Die Kunst war experimentell , weil die variierte Wirkung auf andere und vor allem auf mich selbst der Gegenstand von Beobachtungen sein konnte, die Hypothesen über die zugrundeliegenden Mechanismen ermöglichen würden. […] Man konnte […] zugleich die Ergriffenheit und die Einsicht haben, und, die Apotheose (‚Selbstbezüglichkeit‘, das die hegelsche Vorstellung ‚Synthese‘ ablösende Schlagwort der Epoche), Ergriffenheit durch Einsicht. […] Erst in den siebziger Jahren verstand ich, daß das

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Kybernetik und Gespenster1

Im Niemandsland zwischen Wissenschaft und Kunst

Oswald Wiener

Kybernetik

Als ich zu schwanken begann, ob ich Musiker werden wolle oder Dichter, wurde mir allmählich die Frage, wie, auf welche Weise, Musik und Sprache ihre Wirkungen ausüben, wichtiger als diese Wirkungen selbst, wichtiger als meine Ergriffenheiten. Wie versteht man? Worauf beruht die Wirkung von Achleitners „Konstellation“ baum bim?2 Die Erkenntnistheorie wurde wichtiger als die Ästhetik. Was ist ein Begriff? Wie geht es zu, daß ich weiß, wo ich gerade bin in diesem Musikstück und was das jetzt Gehörte „bedeutet“? Wie verliere ich den Faden? Was ist Bedeutung? Ich wandte mich an die Philosophie, an die Psychologie, aber ich sah ein, allmählich, daß dort keine Antwort war: nicht die »Anstrengung des Begriffs« — Mechanismen wären vonnöten gewesen, verstehende Mechanismen, an denen man beobachten und verstehen lernen kann, wie sie verstehen. Es waren die Fünfzigerjahre, man konnte die Kybernetik kommen hören, die Kybernetik hatte die Antworten …

… nicht. Turing hatte in seinem berühmten Aufsatz 1950 schon geschrieben: »May not machines carry out something which ought to be described as thinking but which is very different from what a man does? This objection is a very strong one, but at least we can say that if, nevertheless, a machine can be constructed to play the imitation game satisfactorily, we need not be troubled by this objection« (Turing 1950: 435). Er hatte also erkannt, daß sich die kommende Entwicklung von „Künstlicher Intelligenz“ nicht mit der Erforschung der menschlichen aufhalten werde. Vermutlich wollte Turing diese Entwicklung; ich aber, im österreichischen Hinterwald, sah fünfzehn Jahre später, noch ohne seinen Aufsatz zu kennen, wie die von ihm angezeigte Art der Verwendung des Computers den Weg zu einer starken Erkenntnistheorie blockierte.3 Noch 19844 glaubte ich, daß Turings behavioristischer Ansatz eine Maschine nicht einmal zum Bestehen seines Tests führen könne und meinte, mir eine Auseinandersetzung mit seiner Formulierung sparen zu dürfen (obwohl mir hätte auffallen müssen, daß er sich diese »objection« ganz zu Anfang seines Aufsatzes vor-

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genommen hatte und nicht im Rahmen seiner Beschäftigung mit den Einwänden, die er für widerlegbar hielt, Turing 1950: 442 ff.).

Ich konnte mir nämlich nicht vorstellen, daß die Entwicklung der hardware ihr Tempo bis ins einundzwanzigste Jahrhundert beibehalten werde. Und heute haben wir Computer, die sehr wohl jene »alle möglichen Kombinationen bilden könn{en}, deren Zahl unser Vorstellungsvermögen erschreckt«5 und die Bibliothek von Babel derart durch die Buchstabenfolge eines Satzes seihen, daß ein Mensch die Rückstände als das passende Bonmot versteht. 2011 gewann ein Programm namens Watson6 drei Folgen des Fernseh-Quizspiels Jeopardy! gegen die beiden Champions dieser Serie. Im Vergleich zu den Zielen laufender Projekte war Watson recht bescheiden ausgerüstet: nur neunzig IBM Power 750 Server mit nur sechzehn Terabytes RAM, jeder Server mit nur einem 3.5 GHz 8-Kern-Prozessor, und jeder Kern konnte nur höchstens vier threads gleichzeitig abwickeln.7

Ein trade-of zwischen Speicherkapazität und Arbeitsgeschwindigkeit (erwähnt an der in Fußnote 3 bezeichneten Stelle) besteht , weil „tiefe“ Strukturen weniger Daten benötigen als fache, aber mehr Zeit. Mit dem immensen Wachstum der Speicher und der unerhörten Beschleunigung der Verarbeitung, d. h. mit den sinkenden Verarbeitungskosten pro Einheit wird Ockhams Vorschrift unökonomisch, eine Erschwernis, die höchstens als eine Denksport-Regel Überlebenschancen hat. Die Geschwindigkeit dient nur mehr dem Durchforsten der Datenbanken oder dem generate-and-test8 der fachen Formalismen. Mit einem Überfuß an Speicherplatz etc. entfällt die Notwendigkeit der Akkommodation von Struktur, „Akkommodation“ ist nunmehr ein Sammeln von Fällen — eine große, vielleicht riesige, Anhäufung der Ausnahmen von einer fachen Regel ersetzt die tiefe Regel (für die eine Ausnahme eine Krise wäre). Gewiß: Ein Mindestmaß an Strukturen muß vorhanden sein. Es käme jeweils darauf an, jenes Minimum zu fnden, welches für einen gegebenen Bereich gewissermaßen eine universelle Maschine bildet.9 Das könnte, wenn die Entwicklung der Berechnung schneller ist als die des Berechneten, auf weite Strecken hin einfach durch trial and error geschehen.10

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Eines jedenfalls zeigen solche Programme deutlich genug: auf den Erwerb von Struktur nicht mehr angewiesen, erreichen sie das ihnen gesetzte Ziel auf ganz anderen Wegen als die menschliche Intelligenz.11 Worte in Watson sind bit-Ketten — sie bedeuten nichts. Gesteuert durch eine Menge von teilweise probabilistischen 12 AbleitungsRegeln und unterstützt von seiner beachtlichen und wachsenden Datenbasis setzt das Programm eine von Menschen als Sprachausdruck gelesene Input-Zeichenkette in eine Output-Zeichenkette um, die Menschen wie einen Satz verstehen — eine perfekte Durchführung von Watsons (des Behavioristen) an sich ja Ockhamschem Anliegen, die hidden variables so flach wie möglich zu halten — »we denied the necessity of assuming imagery {...} for the reason that we can substitute for what it is supposed to do a mechanism which is exactly in line with what we have found to exist everywhere else, viz., an enormously developed system of language habits«.13

Denken ist für Watson und in Watson ein Abbilden von Wortlisten auf Wortlisten durch eine Funktion mit größter Extension und geringster Intension: das Ideal ist Tabellen-Nachschlagen. 14 Im Fall Watson verbergen die Vorgänge keinerlei Rätsel — wenn rätselhaft scheint, daß sie für Turings Test genügen, dann liegt das wohl an Turings Test. Watson hingegen ist rätselhaft genug (z. B. muß sich der Leser selbst zurechtlegen, warum sich ein Erregungsmuster im Sprechapparat so häufig und langwierig in Ketten von anderen Erregungsmustern der selben Muskelgruppe umformt, bevor sich Hand oder Arm bewegen, usw.), aber zum Unterschied von Watson funktioniert er ja ganz anders als er seiner eigenen Tätigkeit abliest.

»Sinn ist ein Trick {der Evolution}, die Beschränkungen der formalen Kapazität eines Organismus zu umgehen; er ermöglicht die Führung syntaktischer Operationen durch „Inhalt“«15. Nun, Sinn und Bedeutung sind die Gespenster der Kybernetik. Allgemeiner: die »subjective experiences« — „mental images“, „vorstellen“, „meinen“, überhaupt „mind“, „Bewußtsein“ ... gespenstisch ist es, daß solche Worte, die ganz allein der Umgangssprache angehören, nun wieder Eingang in die Wissenschaft gefunden haben und daß ebendeshalb das mit

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bierter Aufgaben mit Reizen angestoßenen Versuche, Schemata, die „rein“ oder durch nur wenige Eigenschaften zu „Fakten“ spezifiziert sein können, zu umfassenderen Strukturen (Modellen) zu akkommodieren. Phantasien können als ein von diesen Aufgaben intermittierend ausgegebener „Rundfunk“ begriffen werden, mithilfe dessen diese nicht motorisch, sondern durch solcherart strukturelle Anpassung gelöst werden können.

Ein Gutteil der Anpassung erfolgt indes aus ökonomischen Gründen in actu durch soziale Drift, wodurch die Verdrängung im Sinne Freuds als Anpassung an ein bestimmtes und bestimmbares proximales Milieu dargestellt werden kann. Das all diesen Verhaltensformen unterliegende Motiv stammt weder von Sexual- noch Todestrieben, sondern folgt letztlich einem thermodynamisch ablaufenden Strukturtrend (zur „Negentropie“), der im Individuum phasenhaft und interindividuell je nach genetischer Prädisposition und Milieuverstärkung unterschiedlich stark, als äußere Manipulations- oder innere Strukturierungstendenz ausformt. Individuelle Orientierung und damit Homöostase entwickeln sich durch Komplexitätsreduktion der Außenwelt qua Handlung oder Komplexitätssteigerung der Innenwelt qua Denken.

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ISBN 978-3-11-065960-3

e-ISBN (PDF) 978-3-11-066287-0

Englische Print-ISBN 978-3-11-065961-0

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