Caravaggio und die Grenzen des Darstellbaren

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Caravaggio und die Grenzen des Darstellbaren



Valeska von Rosen

Caravaggio und die Grenzen des Darstellbaren AmbiguitÀt, Ironie und PerformativitÀt in der Malerei um 1600 Dritte, aktualisierte und erweiterte Auflage


Inhaltsverzeichnis Vorwort und Dank EinfĂŒhrung: Caravaggio und die Grenzen des Darstellbaren Eine Analogie von Leben und Werk? Text- versus bildgestĂŒtzte Diskurse Die AmbiguitĂ€t und PerformativitĂ€t der Bild in epochaler Perspektive Versuchte Normierungen Verhandlungen ĂŒber das ‚Darstellbare‘ VerĂ€nderungen des ‚BildwĂŒrdigen‘ Anmerkungen zum Sprachgebrauch

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Posen und Rollenspiele. Die PerformativitÀt des Bildes 1. PerformativitÀt in profanen GemÀlden

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1.1 Caravaggios „Bacchus“ im Atelier: Posen und Rollenspiele 55 eines Knaben 1.2 „Bacchus und Trinker“: Bartolommeo Manfredi demaskiert Caravaggio 73 1.3 KĂŒnstliche Wolken im Olymp: Spadarinos „Brindisi“ und 78 Manfredis „Midas“ 1.4 Die PerformativitĂ€t des Bildes. Lebendigkeit und AttitĂŒde 83 1.5 Vorzeichnungsloses ‚Abmalen‘ der Modelle? 94 Caravaggios ‚Fehler‘ 1.6 Die PerformativitĂ€t der Wahrnehmung 108

2. Theatrale Mimesis in der Altarmalerei 2.1 Fliegende Engel als dei ex macchina in Altarbildern 2.2 „Con modo non naturale“: Dramatisches Licht und kĂŒnstliche Wirklichkeiten

3. PerformativitĂ€t in religiösen GemĂ€lden 3.1 Verkörperte Theologumena: Caravaggios „Madonna dei Palafrenieri“ und Battistello Caracciolos „Immacolata Concezione“ 3.2 Eine Heilige in Pose. Caravaggios „Katharina von Alexandrien“ 3.3 Die „Hl. Magdalena“ der Sammlung Pamphilj: „mezzo tra il devoto e profano“ 3.4 ResĂŒmee: Die PerformativitĂ€t der Bilder

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II Arbeiten an der Semantik. AmbiguitĂ€t im religiösen Sammlerbild 1. Ein MĂ€dchen bei der Hausarbeit und eine Dame bei der Toilette? Antiveduto Grammaticas „Hl. Pudentiana“ und Francesco Furinis „Hl. Lucia“ 173 1.1 Die „Hl. Pudentiana“ von Antiveduto Grammatica in Nantes 173 1.2 Francesco Furinis „Hl. Lucia“ in der römischen Galleria Spada 181 1.3 Namenlose MĂ€rtyrerinnen und laszive GlaubenspersoniïŹkationen: Furinis weibliche Heilige in HalbïŹgur

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2. Unklare Gesten oder worum wird gespielt? Variationen ĂŒber zwei petrinische Sujets

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2.1 Ein ‚Close-up‘ eines Altarbildes: Filippo Vitales „Befreiung Petri“ in Nantes 2.2 Mit und ohne FlĂŒgel: Antiveduto Grammaticas Variationen der „Befreiung Petri“ 2.3 KlĂ€rungen und VerunklĂ€rungen einer caravaggesken Invention: Die „Verleugnung Petri“ und der „Pensionante del Saraceni“ 2.4 Wer spielt? Worum wird gespielt? WĂŒrfeln um das Gewand Christi und andere Spielerdarstellungen der ‚Caravaggisten‘

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3. Spadarinos und Caravaggios religiöse SujeterïŹndungen und ein Bildpalimpsest

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3.1 HĂ€usliche Szenen: „Maria und Anna bei der Handarbeit“ in der Galleria Spada und „Martha und Magdalena“ am Schminktisch in Detroit 3.2 Jacopo Vignalis „Konzert der hl. CĂ€cilie“ und die Grenzen des Akzeptablen

4. Laszive SĂŒnderinnen und ebensolche MĂ€rtyrer: Heftige Affekte und das piacer troppo des Betrachters 4.1 Die „Magdalena“ von Guido Cagnacci und die Diskursivierung des erotischen Heiligenbildes seit dem Cinquecento 4.2 Objekt der Blicke: der „Hl. Sebastian“ von Carlo Saraceni, Giovanni Baglione und von einem anonymen „Caravaggisten“ in Monticello 4.3 ResĂŒmee: Zum GattungsproïŹl des erotischen Heiligenbildes im Seicento

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5. Caravaggios ‚Ignudo‘ in der Pinacoteca Capitolina und andere Darstellungen Johannes’ des TĂ€ufers 5.1 Caravaggios nackter „Johannes“ in der Pinacoteca Capitolina: Hirte oder Heiliger? 5.2 Die Sprache der Inventare und die ‚Sprache‘ der Bilder 5.3 „Vn’ ignudo di S. Gio. Battista“: Caravaggios ĂŒbrige TĂ€uferDarstellungen 5.4 Bedeutungsspiele: AmbiguitĂ€t und der diletto des Betrachters 5.5 Hirten- oder KreuzstĂ€be? Die Johannes-Darstellungen der ‚Caravaggisten‘ 5.6 Voraussetzungen der AmbiguitĂ€t: Leonardos „Johannes-Bacchus“ in seinem Kontext 5.7 Posen eines ‚Michelangelo-Knaben‘

6. Die Waffen des Liebesgotts und die Arma Christi – Cupidi und Christuskinder im Schlaf: Transformationen einer Figur 6.1 Ceccos „Bambino GesĂč“ in Budapest und die Nacktheit des Christuskindes 6.2 Die ErïŹndung des Sujets und das Durchspielen der Analogien: Der Bambino GesĂč und der Cupido dormiente 6.3 Spielformen der AmbiguitĂ€t: Heranwachsende Cupidi und ebensolche Christuskinder 6.4 Zwischen antiker Mythologie und christlicher Heilsgeschichte: Schlafende Kinder und ein weiterer Bildpalimpsest 6.5 „L’invito al bambino“: Parallele PhĂ€nomene in der zeitgenössischen sakralen Lyrik

7. ResĂŒmee: Zum GattungsproïŹl des religiösen Sammlerbildes um 1600

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III Ironisches Spielen mit Normen. Caravaggios Werke im ‚öffentlichen‘ Raum Avantpropos: Voraussetzungen eines Auftrags an Caravaggio. Die Contarelli-Kapelle in S. Luigi dei Francesi 1. Verschobene Peripetien und dunkle Handlungen in Caravaggios ersten storie fĂŒr einen sakralen Raum: die Seitenbilder der Contarelli-Kapelle 1.1 Die amphibolia der ErzĂ€hlung in der „Berufung MatthĂ€i“ und die ambivalenten Reaktionen der ‚Caravaggisten‘

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1.2 Ironisierung der perspicuitas in der Dunkelheit des „MatthĂ€usMartyriums“

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2. Dekorum und Ironie im MatthĂ€us-Altarbild fĂŒr die Contarelli-Kapelle

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2.1 „Un uomo dozzinalissimo e plebeo“: noch einmal zum Dekorum des„MatthĂ€us-Giustiniani“ 2.2 „Gran schiamazzi“: Caravaggios Selbststilisierung 2.3 Ambivalenzen einer Kategorie 2.4 Ironische Imitationen: Caravaggio, Raffael und der Cavalier d’Arpino

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Schluß

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Literaturverzeichnis

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Namensregister

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Verzeichnis der Werke Caravaggios

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Bildnachweis

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Inhaltsverzeichnis

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Vorwort und Dank Am Anfang meiner BeschĂ€ftigung mit Caravaggio und den „Caravaggisten“ standen eine Reihe von Fragen: Wie lassen sich die unkonventionellen Aspekte der GemĂ€lde Caravaggios analytisch fassen, ohne dabei auf das Denkmuster vom prĂ€modernen, regelzerstörenden „Genie“ zurĂŒckzugreifen? Wie sind seine Werke ĂŒberhaupt in der Bildkultur seiner Zeit zu verorten? Erschöpfte sich die Leistung der – so unbefriedigend als „Caravaggisten“ bezeichneten – Maler seines Umfelds tatsĂ€chlich darauf, das subversive Potential seiner Bilder zu nivellieren, oder gab es auch konzeptionelle Zuspitzungen seiner Strategeme? Welches Betrachterverhalten konditionierten Werke wie der „JohannesKnabe“ in der römischen Pinacoteca Capitolina, und was war ĂŒberhaupt die adĂ€quate Rezeptionshaltung vor religiösen Bildern in SammlungsrĂ€umen? Und schließlich: Worin bestehen die epochalen Voraussetzungen der PhĂ€nomene des Ambiguen, Ironischen und Performativen – gerade in einer Zeit, in der mehr als je zuvor versucht wurde, die religiöse Bildsprache zu regeln? Daß ich diesen Fragen mit Konzentration und in Breite nachgehen konnte, verdanke ich drei Institutionen: der Bibliotheca Hertziana, die mir ein Forschungsstipendium gewĂ€hrte, das mir die Materialsammlung vor Ort ermöglichte, dem Wissenschaftskolleg zu Berlin, in dessen luxuriöser Abgeschiedenheit ich in engem Austausch mit Kollegen ganz anderer Disziplinen das Erarbeitete ĂŒberdenken konnte, und schließlich der Gerda Henkel Stiftung, die mir zum richtigen Zeitpunkt die Voraussetzungen fĂŒr die Niederschrift des Textes bot und ĂŒberdies einen großzĂŒgigen Druckkostenzuschuß fĂŒr die Publikation zur VerfĂŒgung stellte. Allen beteiligten Personen in diesen Institutionen, in Rom Sybille Ebert-Schifferer und Elisabeth Kieven, in Berlin Dieter Grimm, Luca Giuliani und Joachim Nettelbeck und in DĂŒsseldorf Michael Hanssler und Angela KĂŒhnen gilt mein sehr herzlicher Dank. Die vierte beteiligte Institution, die FakultĂ€t fĂŒr Geschichts- und Kulturwissenschaften der Freien UniversitĂ€t Berlin, hat das Manuskript als Habilitationsschrift angenommen. Klaus KrĂŒger und Werner Busch haben mich Ă€ußerst fair und hilfsbereit durch das Verfahren geleitet und mir ebenso wie Horst Bredekamp höchst wertvolle Hinweise fĂŒr die Überarbeitung gegeben. Von zwei Personen habe ich mehr gelernt als ich es durch das Zitieren ihrer Schriften an den jeweiligen Stellen zum Ausdruck bringen kann: Von Rudolf Preimesberger, der in magistralen AufsĂ€tzen das Prinzip der „kunstlosen Kunst“ fĂŒr Caravaggio fruchtbar gemacht hat, auf dem meine Überlegungen zu Caravaggio basieren, und von Bernhard Jussen. Seine AusfĂŒhrungen zur historischen Semantik und seine wissenschaftliche curiositas an Bildern waren

Vorwort und Dank

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der Ansporn, mich am Zimmern eines methodischen Rahmens fĂŒr die Auslotungen des Darstellbaren in der Bildkultur um 1600 zu versuchen. Vielen weiteren Kollegen und Freunden bin ich fĂŒr Hinweise, Diskussionen und konkrete Hilfen dankbar: Thomas Bauer, Marieke von Bernstorff, Costanza Caraffa, Maurizia Cicconi, Beate Fricke, Claudia Gerken, Sergio Guarino, Thomas Hauschild, Philine Helas, Andreas Kablitz, Martin Kaltenecker, Margit Kern, Julian Kliemann, Christiane Kruse, Ekkehard Mai, Golo Maurer, Cecilia Mazzetti, Alexander Perrig, Manfred PïŹster, Rhoda Eitel Porter, Wolfgang Prohaska, Ulrich Raulff, Klaus Reichert, Georg Schelbert, Katharina SchĂŒppel, Lothar Sickel, Beate Söntgen, Christoph Thoenes und Gerhard Wolf, außerdem Roswitha Wisniewski sowie Josefa und Reinhold von Rosen. Essentiell war die UnterstĂŒtzung, welche die Bibliotheken in Rom und in Berlin leisteten. FritzEugen Keller und Gesine Bottomley sei stellvertretend fĂŒr alle Mitarbeiter der Hertziana und des Wiko wĂ€rmstens gedankt. Annette Hojer hat freundlicherweise einen großen Teil der Übersetzungen aus dem Italienischen hergestellt; etwaige Fehler oder Ungenauigkeiten habe jedoch allein ich zu verantworten. Wanda Löwe hat mit PrĂ€zision und großem Einsatz Korrektur gelesen. Das Manuskript wurde im Sommer 2005 fertiggestellt und im Winter 2006/07 ĂŒberarbeitet. Danach erschienene Literatur konnte leider nur noch punktuell eingearbeitet werden. Meine Bochumer Mitarbeiter, Britta Hochkirchen, Barbara Thönnes, Dennis HĂŒbner und Katharina Busch haben mit großer Sorgfalt und Hilfsbereitschaft die Umwandlung eines Manuskripts in ein Buch mit Abbildungen unterstĂŒtzt. Seitens des Akademie Verlags hat Katja Richter das Buch mit hohem Einsatz betreut. Daß ein Band mit GemĂ€lden, die oft unaufïŹndbar in Privatsammlungen verborgen sind, partiell nur Ă€ußerst unbefriedigend zu bebildern ist, ist am Schluß meine etwas zerknirschte Einsicht. Hellmudt Schulz hat mit nie nachlassender Geduld und Freundlichkeit gegenĂŒber der Autorin die UmbrĂŒche erstellt und das Mögliche aus leider mitunter miserablen Vorlagen herausgeholt. Allen gilt mein herzlichster Dank. Mein Mann, Philipp von Rosen, kennt seinen Anteil am Entstehen des Buches. Ich möchte ihn nach der liebevollen und stĂŒtzenden Begleitung durch so viele gemeinsame Jahre nicht in Worte fassen. Meine Eltern, Elke und Edgar Wisniewski, nahmen seit einer Seminararbeit ĂŒber die Contarelli-Kapelle, die ich im Winter 1990 an der LMU MĂŒnchen schrieb und die am Weihnachtstisch heftige Diskussionen ĂŒber die IdentitĂ€t des Protagonisten in der „Berufung MatthĂ€i“ auslöste, regen Anteil am Thema und hatten die wunderbare Idee, die GesprĂ€che auf Malta und Sizilien fortzufĂŒhren. Meine Mutter hat das erste Manuskript dieser Arbeit noch Korrektur gelesen, das Erscheinen des Buches erleben beide nicht mehr. Ihrem Andenken ist es gewidmet. Köln, Ostern 2009

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Vorwort und Dank


Vorwort zur dritten AuïŹ‚age: Die breite Aufmerksamkeit, die die „Caravaggisten“ in den Jahren seit der Drucklegung der beiden letzten AuïŹ‚agen dieses Buches erfahren haben, erleichtert auch die ZugĂ€nglichkeit gut reproduzierbarer Druckvorlagen. FĂŒr die nun vorliegende dritte AuïŹ‚age habe ich mir selbst den Wunsch erfĂŒllt, den Text mit weitgehend farbigen Abbildungen auszustatten. Am Text konnte ich nur dort Korrekturen vornehmen, wo sie den Verbleib oder Zuschreibungen der GemĂ€lde betrafen. Außerdem habe ich Fehler und einige sprachliche Unebenheiten verbessert, aber keine inhaltlichen VerĂ€nderungen vorgenommen. Ohne die unermĂŒdliche UnterstĂŒtzung von Anna Magnago Lampugnani und Linda Marie Kuhnhen in DĂŒsseldorf sowie die Vorarbeiten durch Clara Stolz in Bochum hĂ€tte ich die Neubebilderung des Manuskripts niemals bewĂ€ltigen können. Ihnen gilt mein großer Dank. Köln, Ostern 2021

Vorwort und Dank

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EinfĂŒhrung: Caravaggio und die Grenzen FGU| &CTUVGNNDCTGP Eine Analogie von Leben und Werk? Ein splitternackter „Johannes“ mit Widder, der suggeriert, er sei vielleicht doch nur ein gewöhnlicher Hirte (Abb. 1), ein zum Apostel berufener Zöllner Levi, ĂŒber dessen IdentitĂ€t im Bild sich streiten lĂ€ĂŸt (Abb. 2), eine vor uns posierende

1 Caravaggio, Johannes FGT|6ÀWHGT, Rom, Kapitolinische Museen

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2 Caravaggio, $GTWHWPI /CVVJÀK, Rom, S. Luigi dei Francesi, Cappella Contarelli

„Heilige Katharina“ mit langem Degen, der nicht ihr Marterinstrument gewesen sein kann (Abb. 3) und deren Ähnlichkeit mit einer stadtbekannten Dame zweifelhaften Rufs fĂŒr zeitgenössische Bildbetrachter unverkennbar war –1 Caravaggios GemĂ€lde verfĂŒgen ĂŒber ein hohes Potential an Irritierendem und Uneindeutigem. Sie unterlaufen tradierte Lesarten, erzeugen widersprĂŒchliche Bedeutungen, und unklare Gesten erschweren die Bestimmung der Handlungsrollen der BildïŹguren. In den großen SeitengemĂ€lden fĂŒr die ContarelliKapelle entbehren die Narrationen der Evidenz; forcierte und unter realistischen Vorzeichen nicht plausible Ausleuchtungen der RĂ€ume verunklĂ€ren die ïŹgĂŒrlichen Arrangements, und im „Marientod“ (Abb. 4) provozieren unangemessene Gestaltungsweisen ebensolche Assoziationen bei ihren Betrachtern. Kaum etwas an Caravaggios Werken entspricht dem, was seine Zeitgenossen zu sehen gewohnt waren: Die scharfen Hell-Dunkel-Kontraste und die Art und Weise, wie die Figuren in die BildrĂ€ume gesetzt sind, sind Ă€ußerst ungewöhnlich; die LebensĂ€hnlichkeit seiner Modelle und die durch das starke malerische rilievo der Figuren erzeugte Sinnlichkeit der unbekleideten Figuren wie 1 „Johannes der TĂ€ufer“, Rom, Pinacoteca Capitolina (s. Kap. II.5.1); „Berufung des hl. MatthĂ€us“, Rom, San Luigi dei Francesi (siehe Kap. III.1.1.); „Katharina von Alexandrien“, Madrid, Museo Nacional Thyssen-Bornemisza (siehe Kap. I.3.2.).

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EinfĂŒhrung


3 Caravaggio, -CVJCTKPC XQP #NGZCPFTKGP, Madrid, Museo Nacional Thyssen-Bornemisza

der des „Johannes“ in der Pinacoteca Capitolina von ungekannter IntensitĂ€t. Caravaggio begrĂŒndete Bildgattungen, verstieß gegen Normen und Gestaltungskonventionen – kurz: Seine GemĂ€lde weichen in hohem Maße von der Bildsprache seiner Zeit ab und zeichnen sich durch eine auf mehreren Ebenen wirksame AlteritĂ€t, ‚OriginalitĂ€t‘2 und UnkonventionalitĂ€t aus. Die Reaktionen seines Publikums ïŹelen entsprechend aus. Die erhaltenen Textquellen, die – wenn auch bedingt – das KunstgesprĂ€ch der Zeit spiegeln, berichten direkt und indirekt von höchst kontroversen Reaktionen auf die Werke, deren EnthĂŒllung hĂ€uïŹg von „rumore“ und „gran schiamazzi“ begleitet war.3 So wurden bekanntlich mehrere seiner Altarbilder von den zustĂ€ndigen 2 Ich setze den Begriff in AnfĂŒhrungsstriche, um den Unterschied zum OriginalitĂ€tsbegriff der GenieĂ€sthetik zu markieren. 3 Von „rumore“ und „gran schiamazzi“ infolge von Caravaggios erster Kapellenausstattung in San Luigi dei Francesi berichtet Caravaggios Zeitgenosse Giovanni Baglione, der dem Maler Federico Zuccari die Worte „Che rumore Ăš questo 
“ in den Mund legt (Giovanni Baglione, Le vite de’ pittori, scultori et architetti. Dal PontiïŹcato di Gregorio XIII. del 1572. In ïŹno a’tempi di Papa Urbano Ottavo nel 1642, Rom 1642, Faksimile-Edition, hg. v. V. Mariani, Rom 1935, S. 137). Auch die Werke in der Sammlung von Ciriaco Mattei, wie den „Johannes“ in der Pinacoteca Capitolina, bringt er mit „romore“ [sic! Baglione verwendet „rumore“ und „romore“] in Verbindung: „Anzi fe cadere al romore anche il Signor Ciriaco Matthei, a cui il Carauaggio hauea dipinto vn s. Gio, Battista, e quando N. Signore andĂČ in Emaus, & all’hora

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4 Caravaggio, /CTKGPVQF, Paris, Musée du Louvre

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EinfĂŒhrung


Kongregationen und Priesterschaften scharf kritisiert und abgelehnt. Gleichzeitig verfĂŒgte Caravaggio aber ĂŒber einen illustren Kreis von Sammlern und Förderern in Rom und den Orten seiner durch Ă€ußere UmstĂ€nde erzwungenen Reisen, die sich nicht nur um seine Galeriebilder förmlich gerissen, sondern auch die abgelehnten Altarbilder gern fĂŒr ihre Sammlungen ĂŒbernommen haben. Daß Caravaggio unkonventionell arbeitete, weil er so veranlagt war und auch so lebte, ist ein verblĂŒffend einfaches und darum durch die Ă€ltere Forschung so beharrlich perpetuiertes Denkmuster, das gleichwohl unter strukturellen Gesichtspunkten wenig hilfreich ist.4 SelbstverstĂ€ndlich lassen sich Werk und Leben bei einem KĂŒnstler nicht gĂ€nzlich trennen, doch die Annahme einer vorschnellen KausalitĂ€t ließ alle weiteren und weiterreichenden Bedingungen seiner Praxis beiseite. Denn Caravaggios Werke ‚erklĂ€ren‘ sich nicht aus der postulierten Besonderheit seines Charakters und Lebens – zumal wir hierbei ohnehin Gefahr laufen, einem Zirkelschluß zu unterliegen und die ‚SchwĂ€rze‘ seiner Seele aus der seiner Bilder herauszulesen. Die in den Schriftquellen dokumentierten Ereignisse in seinem privaten Leben (Mord oder Totschlag infolge eines eskalierten GlĂŒcksspiels mit Freunden, Inhaftierungen infolge unerlaubten Tragens eines Degens und Beleidigungen)5 lassen auf ein besonderes Temperament mit Hang zur BrutalitĂ€t, zu AusbrĂŒchen von JĂ€hzorn und mangelhafter Selbstbeherrschung schließen. Diese Eigenheiten, die im ĂŒbrigen che s. Thomasso toccĂČ co’l dito il costato del Saluadore; & intaccĂČ quel di molte centinaia di scudi“ (Ebd.). 4 Idealtypisch formuliert dies Christoph L. Frommel 1971: „Provozierend wirkten sein Leben, seine AussprĂŒche und Bilder schon auf die Zeitgenossen. [
] wo er in der Öffentlichkeit auf Ablehnung stĂ¶ĂŸt, versucht er es ein zweites Mal. Doch er malt nur solche Themen, die er im ganz persönlichen Sinne umdeuten kann. Und diese persönliche Umdeutung ist nur möglich, weil es ihm gelingt, elementare Erfahrungen seiner eigenen Existenz unmittelbar fĂŒr seine Kunst fruchtbar werden zu lassen, weil er seine Kunst lebt und sein Leben zu Kunst macht.“ Christoph Luitpold Frommel, Caravaggio und seine Modelle, in: Castrum peregrini 96 (1971), S. 21–56, hier 21 und 54 (Hervorh. V.v.R.); vgl. auch ebd. S. 21: „[
] wir haben in Caravaggios Werken eine seltsame Wechselwirkung zwischen Leben und Kunst entdeckt, eine existentielle LebensfĂŒlle, die uns Heutigen wichtiger geworden ist als Pathos und Formel [
]. Im Folgenden soll versucht werden, dieses WechselverhĂ€ltnis am Bildgegenstand einiger ausgesuchter Werke zu veranschaulichen“ (ebd., S. 21 f.). Auch Howard Hibbards psychoanalytische Überlegungen, denen zufolge der Maler seine SchuldgefĂŒhle im Kunstschaffen kompensierte, stehen in dieser Denktradition (Howard Hibbard, Caravaggio, New York 1983, S. 259 f.). Dagegen argumentiert z. B. Carrier, vgl. David Carrier, The TransïŹguration of a Commonplace. Caravaggio and His Interpreters, in: Word & Image 3 (1987), S. 41–73, hier 43. 5 FĂŒr alle diesbezĂŒglichen Dokumente siehe Stefania Macioce, Michelangelo Merisi da Caravaggio: fonti e documenti 1532–1724, unter Mitarbeit v. Antonella Lippi, Rom 2003, bes. Nr. I Doc 71, S. 70, I Doc 115, S. 105, I Doc 160, S. 138 (Caravaggio wirft einem Kellner einen Teller mit Artischocken ins Gesicht), I Doc 167, S. 140 f., I Doc 175, S. 147–150, II Doc 234, S. 180, II Doc 273, S. 195; siehe aber auch das Dok. I 96, S. 92–95, aus dem hervorgeht, daß das Tragen des Degens bei KĂŒnstlern in Caravaggios Umfeld durchaus ĂŒblich war.

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eine ganze Reihe weiterer KĂŒnstler in der FrĂŒhen Neuzeit mit ihm teilten, werden ihm aber kaum bestimmte Themen oder Darstellungsweisen auf den Leib geschrieben haben.6 Die Behauptung einer KausalitĂ€t von Leben und Werk wird zudem problematischer, vergegenwĂ€rtigt man sich die große Bildproduktion der Maler seiner Nachfolge, die zumindest teilweise ihrem Vorbild Caravaggio hinsichtlich ihrer UnkonventionalitĂ€t in wenigem nachstanden – eine ErklĂ€rung auch ihrer Bildsprache aus der psychischen Disposition der einzelnen KĂŒnstler dĂŒrfte sich hier von selbst verbieten und zeigt folglich die Problematik solcher ErklĂ€rungsmuster auf. Die Forschung hat in den letzten Jahrzehnten damit begonnen, sich des historischen Orts und ideengeschichtlichen Stellenwerts ihrer Vorannahmen zu vergewissern. Dabei erkannte sie in der RĂŒckprojektion der in der (post)romantischen Genie- und AusdrucksĂ€sthetik wurzelnden Leben-Werk-Analogie auf KĂŒnstler frĂŒherer Zeiten ein methodisches Problem.7 Es verstĂ€rkte sich durch die zunehmende Erkenntnis der Bedeutung des self-fashioning der KĂŒnstler in der FrĂŒhen Neuzeit und ihrer Selbstdarstellungs- und Maskierungspraktiken, die uns ohnehin der Illusion, ĂŒber die kĂŒnstlerische Produktion einen unverstellten Blick auf das Wesen des jeweiligen KĂŒnstlers zu erhalten, berauben. Die Versuche der jĂŒngeren Forschung, die AlteritĂ€t und novitas von Caravaggios Bildern zumindest partiell zu nivellieren, indem sie die stilistischen Parallelen zwischen seinen Werken und der oberitalienischen, speziell der lombardischen Malerei nachwies, waren vor dieser Folie – also der methodisch schwierigen Beschreib- und Interpretierbarkeit der UnkonventionalitĂ€t – nachvollziehbar, sie fĂŒhrten aber nicht zum gewĂŒnschten Resultat. TatsĂ€chlich lassen sich fĂŒr viele stilistische und konzeptuelle Charakteristika der GemĂ€lde Caravaggios, wie die Hell-Dunkel-Malerei und das Interesse an niederen Bildgattungen, die Voraussetzungen in der oberitalienischen Malerei ïŹnden. Wie aber ebenfalls lĂ€ngst beobachtet wurde, ĂŒberwiegen die Unterschiede und nicht die Gemeinsamkeiten.8 ErklĂ€ren lĂ€ĂŸt sich auf diese Weise weder das forciert unkonventionelle als auch das von der Forschung immer vermerkte, aber nie

6 Ein damit verknĂŒpftes Thema ist die postulierte HomosexualitĂ€t des Malers; siehe dazu Kap. 1, S. 60 und Anm. 12. 7 Besonders explizit: Klaus W. Hempfer, Shakespeares Sonnets: Inszenierte AlteritĂ€t und Diskurstypenspiel, in: Shakespeares Sonette in europĂ€ischen Perspektiven, hg. v. Dieter Mehl, MĂŒnster 1993, S. 168–205, wiederabgedruckt in: Ders., Grundlagen der Textinterpretation, hg. v. Stefan Hartung, Stuttgart 2002, S. 157–183, hier 157. 8 Mit Bezug auf die Farbbehandlung z. B. von Janis C. Bell, Some Seventeenth-Century Appraisals of Caravaggio’s Coloring, in: Artibus et historiae 14 (1993), Nr. 27, S. 103–130, bes. S. 103–106; dies., Light and Color in Caravaggio’s Supper in Emmaus, in: Artibus et historiae 16 (1995), Nr. 31, S. 139–170.

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EinfĂŒhrung


als intellektuelles Strategem analytisch erfaßte und als „ambig“9 bezeichnete Potential seiner Bilder. Es manifestiert sich allein in dem Umstand, daß von Caravaggios fĂŒnf römischen Altarbildern drei von den zustĂ€ndigen Kongregationen bzw. Priesterschaften nicht behalten wurden; möglicherweise gab es ein sechstes, das dasselbe Schicksal ereilte.10 In allen FĂ€llen waren, wie die Ă€ltere Forschung, gestĂŒtzt auf Berichte und Indizien, stets argumentiert hat, mit einiger Wahrscheinlichkeit die bemĂ€ngelte Angemessenheit der Ausdruckssprache und die VerstĂ¶ĂŸe gegen das Dekorum von Figur und Darstellung die ausschlaggebenden GrĂŒnde. Die in der jĂŒngeren Forschung geĂ€ußerten Zweifel an den Berichten ĂŒber die ZurĂŒckweisung der Werke aufgrund mangelhaften Dekorums sind ein nachvollziehbarer Versuch, dem Dilemma der Beschreibbarkeit von UnkonventionalitĂ€t nach dem Ende der GĂŒltigkeit des LebenWerk-Paradigmas samt der Vorstellung vom prĂ€modernen ‚Regelzerstörer‘ zu entgehen. Die entsprechenden Argumentationen und Konjekturen halten aber, wie zu zeigen sein wird, einer kritischen ÜberprĂŒfung nicht stand.11 Zu viele Fakten deuten darauf hin, daß Caravaggios Werke bei ihrer EnthĂŒllung tatsĂ€chlich jenen „rumore“ ausgelöst haben, von dem mehrere Quellen und indirekt auch die spĂ€tere Bildproduktion der ‚Caravaggisten‘ sprechen, und daß Caravaggio dies mehr als nur in Kauf nahm: Wenn er die Betrachter seines ersten Altarbildes fĂŒr die Contarelli-Kapelle mit einem Apostelevangelisten konfrontiert, der des Schreibens unkundig erscheint und hierfĂŒr die Hilfe eines reizvoll entblĂ¶ĂŸten Engels in Anspruch nehmen muß (Abb. 5), wenn er in der „Katharina von Alexandrien“ (Abb. 3) eine MĂ€rtyrerin, deren tradierte Darstellung den Zeitgenossen bekannt war, in forcierter Pose auf einem großen Kissen mit ‚falschem’ Martyriumswerkzeug und einem vertrockneten Palmzweig posieren lĂ€ĂŸt, und wenn sein (verlorenes) TrinitĂ€ts-GemĂ€lde – wahrscheinlich handelt es sich um sein sechstes, ebenfalls abgelehntes römisches Altarbild – sogar einen nĂŒchternen Inventar-Verfasser zu einer ungewöhnlichen Beschreibung veranlaßt:

9 Eine Ausnahme bildet der Germanist Peter Burgard in seinem Artikel: The Art of Dissimulation: Caravaggio’s „Calling of St. Matthew“, in: Pantheon 56 (1998), S. 95–102, der mit Bezug auf die vieldiskutierte Unklarheit des Protagonisten MatthĂ€us in der „Berufung MatthĂ€i“ in der Contarelli-Kapelle von einem KalkĂŒl des Malers ausgeht. Dabei deutet er eine weitere Perspektive des PhĂ€nomens an, wenn er ĂŒber das GemĂ€lde schreibt, es „participates in an eminently Baroque performance of tension and fundamental ambiguity“ (ebd., S. 95). 10 Es handelt sich um das Altarbild fĂŒr die Contarelli-Kapelle in San Luigi dei Francesi (ehem. Berlin, Kaiser-Friedrich-Museum), den „Marientod“ (Paris, MusĂ©e du Louvre) und die „Madonna dei Palafrenieri“ (Rom, Galleria Borghese). Siehe hierzu Kap. III.2.1 und III.2.2. FĂŒr das mögliche sechste Altarbild siehe S. 36, 148, 400, 401. 11 Siehe Kap. III.2.2; ich beziehe mich vor allem auf die entsprechenden Versuche von Luigi Spezzaferro und Creighton Gilbert.

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5 Caravaggio, /CVVJÀWU WPF 'PIGN (Kriegsverlust), ehem. Berlin, Kaiser-Friedrich-Museum

„un quadro d’un vecchio e d’un giovane, con una colomba sotto [
] capriccio del Caravaggio, col quale ha voluto esprimere la Trinità“, „ein GemĂ€lde mit einem Alten und einem Jungen und einer Taube darunter [
], ein capriccio Caravaggios, mit dem er die TrinitĂ€t hat ausdrĂŒcken wollen“,12 12 Zitiert nach Mia Cinotti, Michelangelo Merisi detto il Caravaggio: tutte le opere. Saggio cri-

tico di Gian Alberto Dell’ Acqua, Bergamo 1983 (Hervorh. V.v.R.); siehe hierfĂŒr Kap. III.2.2.

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EinfĂŒhrung


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