Siegrid Düll (Hrsg.)
Drachenkuss – im Glanz des Goldes Streiflichter auf Kult- und Machtsymbole in Literatur und Kunst des Orients und Okzidents
Abb. 1: Drache im Wolken- und Regen-Spiel mit der Donner-Perle. Detail eines chinesischen Kaisergewandes (erkennbar an der Anzahl der Klauen), Goldstickerei auf Seide, 18. Jh., Museo Oriental de Valladolid, Colegio de los Agustinos Filipinos.
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INHALT
Zueignung ........................................................................................................
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EINFÜHRUNG Die „Göttlichen Ungeheuer“ Siegrid Düll ......................................................................................................
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Abbild und Deutung Siegrid Düll ......................................................................................................
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Phantasiegeborne Kreaturen Heinz P. Adamek .............................................................................................
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Jagd nach Gold- und Kultpapieren Wolfgang Stifter ..............................................................................................
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I. KLIMT REVISITED – IMPULSE ZUR INSPIRATION Beobachtungen zu Heinz P. Adamek: „KLIMT revisited – Von der Irritation zur Inspiration.“ Ein Weg in die Zukunft? Siegrid Düll ......................................................................................................
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Fata Morgana oder Glanz des Goldes – Sallie McIlherans Aquarell Siegrid Düll ......................................................................................................
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Von Klimt zu „Timeless Traces“ – Gezeiten der Kunst Sallie McIlherans Heinz P. Adamek .............................................................................................
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En conversation avec Klimt / Zwiesprache mit Klimt Étienne Yver / Übersetzung: Heinz P. Adamek .............................................
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„Judith“ – Höhepunkt des Dramas Friedrich Hebbel ..............................................................................................
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Adele Bloch-Bauer, Klimts „Goldene Adele“ Heinz P. Adamek .............................................................................................
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Beauté / Schönheit Étienne Yver / Übersetzung: Heinz P. Adamek ............................................
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Das Schöne und die Ambivalenz unserer Wirklichkeit Wolfgang Speyer .............................................................................................
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Zeichnungen zum „Ver Sacrum“ von Gustav Klimt Marian Bisanz-Prakken ..................................................................................
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Zur „Magic of Line“ Gustav Klimts Siegrid Düll ......................................................................................................
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Was sagt der Orphische Mythos – und was sah Gustav Klimt? Siegrid Düll ......................................................................................................
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Wie Orpheus? Étienne Yvers gemalte Parabeln Heinz P. Adamek .............................................................................................
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Spagat der Neugier zwischen Wissenschaft und Kunst Hans-Jörg Rheinberger / Elfie Miklautz .......................................................
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Kunst und Wissenschaft – Säulen menschlicher Existenz Heinz P. Adamek .............................................................................................
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II. METAMORPHOSEN: SPRACHBILDER – BILDSPRACHEN Sprachenvielfalt – Europas Reichtum oder Bürde? Heinz P. Adamek .............................................................................................
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Chimärenjagd Christoph Meckel ............................................................................................
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„Allaha ısmarladık“ – Die sanfte Vertreibung aus dem Paradies Friederike Weis, kommentiert von Siegrid Düll ..........................................
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„Ein Drache groß und feuerrot“ in der Offenbarung des Johannes Sabine Ries .......................................................................................................
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Dante Alighieris höllische Ungeheuer im „Inferno“ der Divina Commedia. Geburtsstunde einer Weltsprache Heinz P. Adamek / Étienne Yver ...................................................................
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Le Dragon à plusieurs têtes et le Dragon à plusieurs queues / Der mehrköpfige und der mehrschwänzige Drache Jean de La Fontaine / Übersetzung: Ernst Dohm ........................................
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INHALT
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Georg Friedrich Händels Kampf mit Bettlern und Drachen Heinz P. Adamek .............................................................................................
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Pracht aus Tausend und einer Nacht – Krönungsmantel der römisch-deutschen Kaiser. Ein Artefakt mit rätselhafter Symbolik Heinz P. Adamek .............................................................................................
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Der goldene Adler in Aragonien – nur ein Märchen? Neufassung: Siegrid Düll ................................................................................
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Il danaro fa tutto / Geld vermag alles Siegrid Düll nach Italo Calvino .....................................................................
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Das Goldene Vlies – vom Kultobjekt zum Machtsymbol Heinz P. Adamek .............................................................................................
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Mädchen, die Medea heißen Sabine Ries .......................................................................................................
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Zwei Drachenschicksale aus der frühen Moderne – Kreaturen von Kokoschka und Klinger Patrick Werkner ..............................................................................................
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Bestiarium oder Geleitzug des Orpheus – Le Bestiaire ou Cortège d’Orphée Heinz P. Adamek, Guillaume Apollinaire .....................................................
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III. STREIFLICHTER AUF LYRIK UND PROSA FEUER UND ASCHE Gold auf der Drehscheibe im alten Ägypten Jean Yoyotte ....................................................................................................
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Der Kampf um das Licht – Die Rettung der Sonnenbarke in Ägypten Wilhelm Just ....................................................................................................
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Aleppo, Ischtar, Abraham Siegrid Düll ......................................................................................................
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Zenobias Abschied Siegrid Düll ......................................................................................................
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Palmyra Siegrid Düll ......................................................................................................
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Die Zeugungskraft des Feuers Wolfgang Speyer nach Friedrich Hölderlin ..................................................
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Die Stunde der Proserpina Siegrid Düll ......................................................................................................
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Ikarus im Feuer Siegrid Düll ......................................................................................................
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Ecce Homo / Feuerkult Friedrich Nietzsche .........................................................................................
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Es ist Feuer … Ingeborg Bachmann .......................................................................................
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Das Glimmen im Nimbus – Muscat im Welttheater Siegrid Düll ......................................................................................................
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Sperlonga Siegrid Düll ......................................................................................................
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Der Drachentöter Rainer Maria Rilke .........................................................................................
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Ein Drache, in dem das Feuer erloschen ist – Expertise eines Medicus Andreas Hillert ................................................................................................
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Angistrion Achim Knüpffer von Hirschheydt .................................................................
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GOLDENES VERBLASSEN Goldene Blätter Heinz P. Adamek .............................................................................................
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Lebensbaum Heinz P. Adamek .............................................................................................
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Das Nichts – ein Alles … Heinz P. Adamek .............................................................................................
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INHALT
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IV. ERWECKUNG DER DRACHEN – IM FILM Hic sunt dracones – Ungeheuer auf Zelluloid. Die Leinwandkarriere des Drachen Fáfnir im anekdotischen Vergleich der deutschen zur US-amerikanischen Filmindustrie Lucas Vossoughi & Artur Golczewski .........................................................
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ANHANG Literaturauswahl .............................................................................................
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Abbildungsnachweis .......................................................................................
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Vita der Herausgeberin ..................................................................................
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Dank .................................................................................................................
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Impressum .......................................................................................................
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EINF ÜHRUNG
DIE „GÖTTLICHEN UNGEHEUER“
Götter des altgriechischen Typus, wie wir sie von Homer gewohnt sind, gehörten bereits zur olympischen High Society. Zuvor aber verkörperten sie ähnlich wie ihre Nachbarn im Alten Orient unterschiedliche „Naturgewalten, meteorologische Phänomene und Triebkräfte botanischer und animalischer Fruchtbarkeit“. Sie waren aus heutiger Sicht „Funktionsgötter; ihre Zuständigkeiten waren strikt regional, clanisch, ethnisch, auf eine Stadt, eine Tempelmetropole, eine Dynastie konzentriert. Sie fungierten für ihre Adoranten als Schutzherren ihrer Lebensqualität.” Auch wenn Peter Sloterdijk („Den Himmel zum Sprechen bringen“ 2020) mit seiner rationalistisch vorgetragenen Meinung den allerheiligsten Gegenständen ihren Zauberschimmer nimmt, dürfte er damit für die Vorzeit der abrahamitischen Religionen, die Wolfgang Speyer („Aus dem Erbe von Antike und Christentum“ 2019) als „mythhistorisch“ bezeichnet, zumindest ein Orientierungsraster anbieten, dessen Anonymität durch die Heilserwartungen im frühen Christentum bzw. im griechisch ‚getauften‘ Judentum überblendet wird. Betrachtet man indessen die Vorbereitungen zum Hieros gamos, zur göttlichen Vermählung, wie sie auf mesopotamischen Rollsiegeln aus dem 3. Jahrtausend v. Chr. sichtbar werden, lässt sich im sublimen Ausdruck erotischer Empfindsamkeit auch eine solche zur eigenen Verschmelzung mit der sich entkleidenden Mondgöttin Ischtar vorstellen. Eine Ahnung, die sich mit einer animistisch geprägten Welterfahrung verbinden lässt, in der ,Bild und Sache‘, Unbewusstes und Bewusstes, Leibliches und Seelisches noch eine Einheit bildeten (H. Heuermann „Animismus und Magie“ 2021). Drachen sind ebenfalls Urheber von Naturgewalten. Sie bewegen sich in den Elementen Wasser, Erde, Luft und Feuer, werden Symbolträger für schadenbringende Abweichungen, die auch im weiblich/männlichen Naturtrieb immanent sind. Nach den Weltentstehungsmythen des Alten Orients gehören Drachen zu den ‚Göttlichen Ungeheuern‘ (W. Sonntagbauer „Drachen am Rande des Abgrunds“ 2022), die aus einer diffusen Vorstellung von CHAOS aufsteigen, den Regelkreis im KOSMOS bedrohen (R. W. Düll „Zur Regulation der Harmonia“ 1994) und erst durch ihre (vorübergehende) Beseitigung den Schöpfungsakt ermöglichen. Im Laufe der Zeit nehmen sie auch überragende Eigenschaften anderer Wesenheiten auf, die sich bis zum Gigantischen steigern, nicht zu verwechseln mit Schadendämonen wie den singenden Sirenen (Vogel mit Frauenkopf) oder speziellen Sphingen (Löwenleib mit Jungfrauenkopf), deren Wirkmächtigkeit in verbaler Irreführung bestand. Die urtümliche Gorgo-Medusa (eine Dämonin mit Schlangenhaupt und versteinerndem Blick) verliert durch den Sieg
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der Athena ihre Überlegenheit, deren Substitutin sie wird. Angst und Unkenntnis bei den Menschen der Vorzeit verbanden drachenartige Wesen mit dem unberechenbaren ‚Bösen‘. Auch auf dem Weg ins Jenseits lauerten die oft geflügelten Ungeheuer, wie aus den ägyptischen Quellen hervorgeht. Eventuell verleiteten Funde von versteinerten Resten der Dinosaurier, der „Schrecklichen Echsen“, unter ihnen auch der Urvogel „Archäopteryx“ mit Krallen an den Federflügeln (Naturhistorisches Museum Wien) aus dem Erdmittelalter (!), griechische und römische Schriftsteller (etwa Ovid) und ihre Vorgänger zur Vorstellung ehemaliger Giganten, die von den Göttern unter die Erde geschleudert wurden, und, zugedeckt von den Landmassen der Inseln im Golf von Neapel und auf Sizilien, zu wiederholten Erdbewegungen Anlass gaben. Wenn auch sehr selten, wurde zumindest die frühzeitige Existenz übergroßer Monster bestätigt und damit die Urangst vor allen großen Bewegungen, die auf dem Himmel, auf der Erde und besonders im Meer stattfanden ... Ein Dialog mit Göttern und ‚Göttlichen Ungeheuern‘ schien weltweit in phantastischer Entrückung oder philosophischer Eingebung möglich (P. Sloterdijk 2020). In Orakelkulten bemühte man sich, die Stimme eines Gottes hörbar zu machen, wie dies in Delphi der Fall war. Der Sieg des über das Meer kommenden Apollon Delphinios (W. Sonntagbauer „Vom Tanzen der Delphine“ 2021) über den Pythondrachen erhob ihn zum auserwählten Ordnungshüter der Zukunft. Die volkstümlichste Begegnung mit den Göttern geschah in theatralischer Folge auf der Bühne, für deren ‚Stimmen‘ berühmte griechische Dramatiker ihre Texte boten. Es war kein Sakrileg, wenn der deus ex machina über dem Theaterrund schwebte und in schicksalbewegenden Worten das Publikum erreichte: „Das Numinose erfüllte in realer Gegenwart die Szene (!).“ Vorrang vor allen Naturgewalten hat in unseren Erzählungen das Feuer. Entdeckt (durch den Blitz des Zeus), geraubt (durch Prometheus, Sohn eines Titanen), gehütet (durch die Vestalinnen) steht der Umgang mit dem Feuer am Beginn unserer Zivilisation und bestimmt nach dunklen Ahnungen und Offenbarungen auch das Ende (O. Taplin „Feuer vom Olymp“ 1991.) Denn mit Feuer kann man Gold gewinnen, mit Gold wächst der Herrschaftsanspruch, der Glanz des Goldes krönt irdische Schönheit und irdische Lust, aber es gibt auch Vergoldungen, die den Kern nicht erkannter Abweichungen verbergen, die urplötzlich explodieren und wie ein Vulkan alles in Schutt und Asche legen. „Aurea prima sata est aetas, quae vindice nullo ...“ – bereits Ovid erkannte zu Beginn seiner Metamorphosen den puren Wert des Goldes und trauerte dem ‚Goldenen Zeitalter‘ nach. Zusammen mit unzähligen Dämonen, denen sich in der Offenbarung
EINF ÜHRUNG
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des Johannes der satanische Drache anschließt, vertreten die Drachen rund um die Erde ein kaum überschaubares Geisterreich, dessen Gegenwart zur Entfaltung des Bewusstseins, zur Erkenntnis des Gegensätzlichen, und mitunter auch zur Komplementierung von Andersartigkeiten in der Menschheitsgeschichte beitrug und weiterhin einen Stellenwert im ‚Gleichnis‘ einnimmt. Die Berührung der Drachen mit dem ‚Numinosen‘ (R. Otto „Das Heilige“ 2014) entrückte diese zunächst dem natürlichen Vorstellungsbild, aber ihre spürbare Anwesenheit im menschlichen Umfeld und auch im Menschen selbst, der sich über die Stimme einer Gottheit des göttlichen Anteils seiner Seele bewusst wurde (W. Speyer „Antikes Erbe“ 2019), forderte die Phantasie weltweit zu vielfältigen Figurationen heraus, deren Deutung nur auszugsweise in der vorliegenden Zusammenstellung versucht werden kann, aber gleichzeitig auch als Anregung zur Entdeckung einer neuen Symbolsprache dienen soll, die unserem Denken und Fühlen verbindlich ist, und auch für die Welt der Techniker über das Diagramm mit gegensätzlichen Polen und flexiblem Mittelwert erkennbar wird. Einstieg in unserem Metier bietet der Nachlass von Gustav Klimt, dem es vergönnt war, sich im Orphischen Mythos zu vertiefen und die Wahl seiner Musen selbst zu bestimmen (Marian Bisanz-Prakken „Zeichnungen“, bzw. „The Magic of Line“ 2012). Und so werden im weiteren Verlauf auch weit zurückliegende Quellen in gegenständlicher oder schriftlicher Form aufgedeckt, die eine Annäherung an den Originalbefund und dessen zeitgebundene Subversionen nicht nur zur musealen Aufbewahrung begünstigen können. Als sehr einprägsam stellte sich die Mischgestalt des Greifen, des erhabenen Wächters des Goldes in Babylon heraus: Ein geflügelter Löwe mit Adlerkopf, der auch Apollon in Didyma (Südwesttürkei) begleitete und seit dem christlichen Mittelalter (neben dem Adler) als Löwengreif die Ranghöhe der Hocharistokratie bezeichnete. Eine Steigerung erfuhr der Greif in der Vignette des 1829 in Rom gegründeten Istituto di Corrispondenza Archeologica, das, ab 1859 unter der Schirmherrschaft des preußischen Königshauses finanziert, 1874 ein Reichsinstitut wurde und so eine gigantische Brücke in der Wissenschaftsgeschichte zwischen Babylon, Rom und Berlin schuf. Im Einfallsreichtum der Künstler und Gelehrten reichen sich Bildkunst und Sprachkunst verbindlich die Hand. Siegrid Düll
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Rollsiegel-Motive aus dem Alten Orient (O. Keel „Drachenkämpfe“)
Abb. 4: Entkleidete Regengöttin auf speiendem Löwendrachen, der den Wagen des Wettergottes zieht. Mesopotamisch um 2250 v. Chr.
Abb. 5: Wettergott hält in seiner Hand Baum, Überwundene Schlange und Leine des Stiers, auf dem Ischtar steht. Mesopotamisch 18. Jh. v. Chr.
Abb. 6: Gott mit Blitzbündel jagt Schlangendrachen, der die Bäume bedroht. Syrien 9./8. Jh. v. Chr.
Abb. 7: Gott steht mit Blitzbündel drohend hinter aufgerichtetem (gehörntem) Drachen mit zwei Tatzen. Stern deutet auf Ischtar. Irak um 800 v. Chr. (Vorbild für christliche Umdeutung)
Abb. 8: Wettergott mit Pfeil und Bogen auf speiendem Löwen einen geflügelten Löwendrachen jagend. Rechts der aramäische Traumdeuter „Jappahaddu“ (s. Is.). Iran 8. Jh. v. Chr.
EINF ÜHRUNG
ABBILD UND DEUTUNG Drachen haben viele Gesichter. Sie leben oft im Glanz des Feuers, tragen Titel und Kronen, können sich blitzschnell verwandeln, denn Drachen sind Erfindungen. Ihre scheinbar tierische Gestalt wird in der jüdisch-christlichen Vorstellung „feuerrot“ gesteigert. Die ägyptisch-griechische Urschlange (Ouroboros), die ihren Schwanz verschlingt, genügte noch dem frühen Naturprinzip der Gleichgeschlechtlichkeit und Selbsterneuerung. In den altorientalischen und indischen Schöpfungsmythen tritt ein drohendes Meeresungeheuer, der sogenannte Chaosdrache auf, den auch die Juden überwältigen mussten (Psalm 74, 12 f.). In allen Kulturkreisen – von Ägypten bis zu den Mayas – galt die höchste Verehrung der Gottheit des immer wiederkehrenden Lichts. Im Luftraum über dem Nil kreiste der leuchtende Horus-Falke, über den Höhen und Küsten Mittelamerikas war es der Sonnenadler. Als Regengott, der zur Fruchtbarkeit der Erde beitrug, wurde eine Vogel-Schlangengottheit (Vereinigung zweier Wesen – des Gewittergottes in Gestalt des Adlers, der auf der Schlange, die die Wolke symbolisiert, reitet) verehrt, nicht unähnlich dem chinesischen Drachen-WolkenRegenspiel (Abb. 1). Im altiranisch-mesopotamischen Kulturkreis wurden Götter und Göttinnen sehr früh in menschlicher Gestalt wiedergegeben. Auf mesopotamischen Rollsiegeln (O. Keel 2001) werden im 3. Jahrtausend v. Chr. ‚Feuerdrachen‘ sichtbar: Ein Vierfüßler mit sieben Schlangenköpfen, aus dessen Rücken Flammen schlagen, wird von zwei Göttern besiegt, die Widderhornkappen tragen. Um 2300 sorgt ein syrischer Berggott mit zwei Baumgöttinnen für die Erhaltung der lebenswichtigen Natur. Etwa gleichzeitig begegnen einander am Euphrat die unbekleidete Regengöttin Ischtar und der Wettergott, auf feuerspeienden, geflügelten Löwen stehend, vor der heiligen Hochzeit. Feuerlöwen symbolisieren die Vitalität des Sonnenkreises. Auf syrischen Rollsiegeln des 18. Jahrhunderts hält Ischtar, gekennzeichnet durch Mond und Stern, ihre Hand schützend über einen Baum, während der Wettergott eine dünne, angreifende Schlange tötet. Wohl zeitgleich lässt Ischtar auf einem Stier stehend ihren Mantel fallen, während der Wettergott in derselben Hand einen Baum, die überwundene Schlange und die Leine des Stiers hält. Der Lebensbaum war gerettet. Auf Stempelsiegeln ist der Löwendrache schon früher belegt. Löwendämonen tauchen bereits um 3000 v. Chr. in Susa, im Südwesten des Altiran, auf (E. Porada 19792); seitdem tragen sie über Jahrtausende zur Verkörperung des
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Herrschaftsanspruchs bei (RAC 4, 1959), sei es durch eine übergeordnete, bis zu den Sternen reichende Symbolik (wie auch Adler, Stier und Schlange), sei es durch Kampf und Kraftübertragung auf den Sieger. Zu den frühesten Zeugnissen gehört eine Steatit-Vase mit Banddekor, der von Dattelpalmen flankiert wird und in bewegter Bildfolge rivalisierende Löwen und Stiere zeigt sowie eine Göttin, die auf zwei Löwinnen stehend zwei gebändigte Schlangendrachen hochhält (29./28. Jh.; E. Porada „Altiran“ 1979). In altbabylonischer Zeit, zwischen 1800 und 1600, versucht man den Löwendrachen nicht nur als kosmische Größe, sondern auch als Bedrohung des Einzelnen darzustellen. Die wachsende Vormacht der Assyrer verursacht Dauerkonflikte zwischen Assur am Tigris, Babylon (semit. Babilim = „Tor des Gottes“) am Euphrat und den Nachbarländern. Die aggressive und gefährliche Seite des Löwendrachens rückt in den Vordergrund. Schließlich beherrschen die Assyrer von ca. 900–600 v. Chr. den Vorderen Orient und Armenien bis zum Persischen Golf. Ein Flachrelief aus Nimrud zeigt Assurnasirpal II. (883–859) mit gespanntem Bogen, wie er auf seinem königlichen Streitwagen einen niedergestreckten Löwen überrollt. Jetzt dominiert auf den Rollsiegeln der gehörnte Schlangendrache mit eingeringeltem Schwanz. Der Zweikampf mit Blitzgabel, Blitzbündel oder Pfeilbogen wird in zahlreichen Variationen bis zum Beginn des 7. Jahrhunderts fortgesetzt. Schon lange davor wird die aufgerichtete fadendünne Schlange als Symbol des ‚Bösen‘ vom Wettergott besiegt. Seit dem 9./8. Jahrhundert wird sie auch liegend abgebildet mit erhobenem Kopf. Dem Kampf gegen ein anmaßendes ‚Göttliches Ungeheuer‘ begegnet man seit Beginn des 2. Jahrtausends auch in ägyptischen Texten: Es ist der Schlangengott Apophis, der die Sonnenbarke bedroht, der daher vernichtet werden muss. Die Apophis-Schlange wird auf den Papyri und Wandmalereien des 2. Jahrtausends lang, dünn und liegend dargestellt; sie wird von dem Verstorbenen mit langem Stab niedergestochen oder vor dem Bug der Barke in Anwesenheit der versammelten Götter systematisch zerstückelt. Als Besitzer eines Skarabäus, des ägyptischen Glückskäfers, konnte man auch im Kleinformat auf den Schutz des Schlangensiegers hoffen, der allerdings im 14. und 13. Jahrhundert – in Anlehnung an Siegelsteine – wie ein asiatischer Wettergott aussieht (O. Keel 2001). Im ägyptischen Alltag waren giftspeiende Kobra-Schlangen gefürchtet. Ihre reihenweise Abbildung in den Gräbern sollte dem Toten bei der Feindabwehr helfen. Vorbild war die Uräus-Schlange vor der hoch aufragenden Krone des göttlich verehrten Pharao (Knaurs „Lexikon der ägyptischen Kultur“ 1960).
EINF ÜHRUNG
Herakles, der Hauptheld der griechischen Mythologie, wird auf griechischen Vasen des orientalisierenden Stils (7./6. Jh. v. Chr.) im Kampf mit einer vielköpfigen Schlange, der „Hydra von Lerna” (Tochter des Typhon und der schlangenleibigen, skythischen Echidna und damit Schwester des Kerberos) am Eingang der Unterwelt abgebildet. Ihre nachwachsenden Schlangenköpfe konnten nur durch die Kraft des Feuers bezwungen werden. Wasser und Feuer im steten Rhythmus der Urnatur. Durchgesetzt hat sich in der griechisch-römischen Antike die Bezeichnung drakon/draco (J. Irmscher 19867). Apollon hatte in Delphi den Python-Drachen (Sohn der Erdgöttin Gaia) besiegt, der als Schlange wiedergegeben wird. Die Priesterin Pythia vertrat einen alten Quellenkult. Der phönikische Königssohn Kadmos tötete einen Quelle behütenden Drachen in Theben. Seine Tochter Semele (Enkelin des Feuergottes Hephaistos) verbrannte in den Armen des Göttervaters Zeus. Aus dem Feuerstoß wuchs ihr Sohn Dionysos. Kadmos war unterwegs, um seine Schwester Europa wiederzufinden (die auf dem Rücken eines göttlichen Stiers entführt worden war). Einflüsse aus dem Vorderen Orient und Ägypten, Kaufmannsgüter und Kulte, Spuk und Naturdeutung, breiteten sich auf dem Seeweg unablässig nach Westen aus, wie ein pompejanisches Wandbild andeutet: In einer Landschaft, die das überschwemmte Nilland meint, sind Pygmäen dabei, Krokodile zu jagen; dabei handelt es sich um eine Parodie der Einwohner Ägyptens (H. Mielsch 2006) und deren Angst vor dem Schrecken erregenden Rachen eines ‚Göttlichen Ungeheuers‘: Sobek-Seth. Die Reihe der Ungeheuer nimmt kein Ende ... In den anschließenden christlichen Jahrhunderten wird ein bereits auf den Rollsiegeln der Assyrer vorkommender Typus tradiert, der seit dem 9. Jh. v. Chr. zunehmende Verbreitung fand: Es ist der aufgerichtete Schlangendrache mit Wolfskopf und eingeringeltem Schwanz und zwei Tatzen! Die sehr vereinfachten Träger dieses Typus des 7. Jhs. v. Chr. wurden aus billigem Kompositmaterial (verglaster Quarzsand) geschnitten und weit über den ganzen Alten Orient (Iran, Irak, Syrien und Israel) und bis nach Griechenland verbreitet. Aus der bibelgerechten Anpassung der Flügel wuchsen schließlich Fledermausflügel, welche den Engelsturz Luzifers und seine elende Engelabkunft bezeugen sollten. Besonders eindrucksvoll dargestellt in der Buchmalerei, in der sich nach byzantinischem Vorbild ein „westlicher“ Erzählstil entwickelte („Romanik“ 2004). Bezeichnend für die christliche Sittenstrenge ist die Darstellung auf einem Kapitell in der ehemaligen Abteikirche Saint-Andoche von Saulieu in Burgund, in der man 2019 die 900-Jahrfeier beging. Dort begegnen sich im Hochrelief zwei Vogeldrachen-Wesen und berühren sich mit ihren Zungen: das ist der baiser
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Abb. 9: Drachenkapitell „Le baiser impur“ (Der Zungenkuss), Basilika Saint-Andoche de Saulieu, 12. Jh.
Abb. 10: Zwei Ouroboros-Schlangen auf dem Kapitell einer Halbsäule der ehemaligen, weitgehend zerstörten Kirche der Prieuré Saint-Léonard, in Île-Bouchard (Gemeinde im Département Indre et Loire), Meister Denis und Atelier, 1130/40.
EINF ÜHRUNG
impur, der sündige Drachenkuss! (Abb. 9). Die ständige Präsenz des satanischen Drachens deutet sich – den Gläubigen sichtbar – in zahlreichen Formulierungen der romanischen Bauplastik an. Nach der Jahrtausendwende beginnt in den Stiftskirchen in Südfrankreich – vor allem in Burgund – die reiche Ausstattung mit Figurenkapitellen, auf denen der gefürchtete Satan in obiger Prägung mit seinen lokal verbindlichen Dämonen zur Schau gestellt wird, und erreicht ihren Höhepunkt im 12. Jahrhundert – weit über Frankreich hinaus. „In versteinter Form an den Kirchen angebracht, sollten sich die Dämonen wie in einem Spiegel selbst erkennnen, um durch ihr eigenes Angesicht abgeschreckt zu werden“ (Horst Bredekamp in „Romanik“ 2004). Effektiver wirkt eine Saga aus Wien, wo ein Basilisk im Jahr 1212 (gefürchtet wegen seines „bösen, versteinernden Blicks“) in einem Hausbrunnen saß, der seinen Pesthauch über die Stadt verbreitete und erst durch das mutige Einschreiten eines Bäckerjungen, durch Vorhalten eines Spiegels, bei seinem eigenen Anblick zu Stein erstarrt, bezwungen wurde. Zeitgleich zum burgundischen Wirkungskreis wird die Verdichtung des Satanischen in Grauen erregenden Fabelwesen in Stein durch islamische Webkunststücke in Palermo ergänzt, die giftspeiende Drachenschlangen auf dem inneren Prunkmantel König Rogers II. in dekorativer Verschlingung verewigten (Abb. 48) und damit Erinnerungen aus dem Repertoire des Alten Orients auffrischten, die bereits in sassanidischen und byzantinischen Seidenwirkereien belebt worden waren (L. v. Wilckens „Die textilen Künste“ 1991). Die aus dem Lebensbaum wachsenden Drachenkopfhälse erinnern an die Darstellung kleiner Tierprotome auf einem babylonischen Urkundenstein des Marduk-apla-iddina II. (715 v. Chr.). Dicht an Tempelgebäude geschmiegt sollen sie Göttersymbole andeuten. Denn die Götter werden jeden verfluchen, der diesen Stein zu zerstören versucht; das bestätigt die Inschrift („Welt des alten Orients“ 19752, Einband). Die äußeren Tierprotome kennzeichnen den Sirrusch, den „Drachen von Babylon, der dem obersten der Götter, Marduk, selber heilig war (C. W. Ceram „Götter, Gräber und Gelehrte“ 1949). Auf einem Kapitell einer Halbsäule der weitgehend zerstörten Kirche der ehemaligen Bruderschaft „La Prieuré Saint-Léonard“ in Île-Bouchard, nördlich von Poitiers, fällt die antithetische Darstellung zweier, ineinander verschlungener Drachenschlangen mit ‚Wolkenflügeln‘ auf, die gierig ihr eigenes Schwanzende verschlingen (Abb. 10). Ein Hochrelief, das im Atelier des Bildhauers Denis um 1130 entstand und sich stilistisch zwischen den Drachenkuss in Saulieu und die (berühmte) Eva im Sündenfall in Autun (die der durch sein ‚Weltgericht‘ bekannte Gislebertus schuf) einreihen. Unzweideutig und sogar verdoppelt wird auf die Ouroboros-Schlange aus dem altorientalischen Mythenkreis hingewiesen,
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Abb. 11: Drachenkapitell St. Michael Wien, Kanzelpfeiler, um 1220.
die es zu vernichten gilt. Gewiss eine Anspielung auf den Leviathan und seine Schlangengestalt, die bei Jesaja 27,1 „als geringelt, schnell und schwer fassbar“ vorgestellt wird – grundsätzlich auf alle Ungeheuer, die in der tobenden Brandung an den Rändern der Erde lauern. Ebenfalls aus der Werkstatt von Meister Denis blieb in Île de Bouchard ein Halbsäulenkapitell mit zwei „Basilisken“, Drachenwesen mit Vogelkopf, erhalten, deren Schwänze im traditionellen Wolfskopf endigen und den Amphibaena-Typus wiedergeben ... Auf den Figurenkapitellen des 12. Jahrhunderts überwiegt der Typus der einander zu- oder abgewandten, zweifüßigen Drachen (so etwa am romanischen Trichterportal von St. Stephan in Wien) mit meist ineinander verschlungenen Schwänzen. Ein bemerkenswertes Beispiel für diese Darstellungsform findet sich am Kanzelpfeiler der Wiener Michaelerkirche aus 1220 (Abb. 11). Die beiden gefiederten Drachen dienten damals, laut dem Archäologen und Ethnologen Hubert Zeinar, als Hinweis auf das Zentrum des Kraftortes der Kirche, das auf
EINF ÜHRUNG
eine, unter dem Kirchenfundament verlaufende Wasserader und eine positive, kraftbündelnde Erdstrahlung zurückgeführt wurde, was für die Positionierung der Kanzel den Ausschlag gab. Ein ‚groteskes‘ Beispiel bietet der rankenspeiende Wolfsdrachenkopf zur Verzierung einer Reliefplatte aus dem ehemaligen Dominikanerkloster (Arap Camii) der genuesischen Vorstadt Konstantinopels (um 1430; S. Düll „Byzanz in Galata“ 1986), womit sich dieser Kreis der Motivwanderung schließen lässt. Als Retter aus der Not bewährte sich „Sanct Georg“. Zur Vollendung seiner Legende wurde im 13. Jahrhundert auf ein Meeresungeheuer (Ketos) aus dem vermutlich syrischen (nach V. Haas 1982 nicht äthiopischen) Intermezzo Perseus-Andromeda zurückgegriffen: die Horrorvorstellung der Frühzeit! Damals ging es um eine Jungfrau als Opfergabe. In den sehr viel späteren Darstellungen der ritterlich aufgezäumten Heiligenlegende versucht man seit der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts in der begleitenden, ebenfalls jungfräulichen Prinzessin die spirituelle Kraft ihrer Seele, der oft zitierten „anima“ zu erkennen, die dem makellosen Sieg des Drachentöters und damit der Verbreitung des Christentums zugute kam. Eine Eheschließung mit dem Drachentöter, dem zukünftigen Reiterheiligen und dem Vertreter des Erzengels Michael, konnte nicht stattfinden: „Sanct Georg“ ist eine literarische und mustergültige Gestalt der Hagiografie (J. G. Deckers 2001). Als miles pulcherrimus nimmt er unter den Heiligen nach dem Marienkult (etwa Maria Immaculata) den ersten Platz ein (Abb. 12). Eine der wichtigsten Schriftquellen stellt die Legenda Aurea des Jacobus de Voragine vom Ende des 13. Jahrhunderts dar (S. Meetken; S. Hahn 2001): Eine heidnische Stadt wird vom Gifthauch eines aus dem See auftauchenden Drachen bedroht, der sein Opfer fordert. Das Los fällt auf die Prinzessin, die der von Gott gesandte Retter Georg befreit. Von da an kommt sie öfter vor. Ihre Errettung entspricht nun dem Ritterlichkeitsideal, das durch die himmlischen Strahlen aus dem Reich Gottes sichtbar bestätigt wird. Der Erlöser heißt Jesus Christus, „der auf Löwen und Schlangen tritt“ (Psalm IX 13). Es verwundert daher nicht, dass der spätere Reiterheilige im Typus des kaiserlichen Victor (Goldmedaillon Konstantin II., 353 n. Chr.) wiedergegeben wurde. Nach Vorbildern in Byzanz und in Erinnerung an die Kreuzzüge (der 1. Kreuzzug fand 1096–1099 statt) dominierte schließlich auch im Westen der Drachenkampf zu Pferd mit Lanze und trug bis in die Neuzeit zur glanzvollen Nobilitierung bei („Sanct Georg“ 2001). Mit dem Holzschnitt Albrecht Dürers um 1502/03 (ebenda, Kat. IV 2) deutet sich die wachsende Beliebtheit Georgs und die Zuwendung zu einer Vielfalt einheimischer Formulierungen nördlich der Alpen an.
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Abb. 12: „O Georgios, Sanct Georgios – Ritter mit dem Drachen“, Griechenland, 18. Jh., Tempera / Holz, 41 × 30 cm, Istituto Ellenico di Studi Bizantini e Postbizantini, Venedig.
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Im Osten wurden neben „Sanct Georg“ auch die Heiligen Demetrios und Theodoros im ‚Drachenkampf‘ dargestellt. Letzterer überwältigt sogar auf der Piazzetta di San Marco in Venedig auf hoher Granitsäule ein Krokodil – in Andacht vor den geraubten Reliquien aus Alexandria. Reptilienartige Drachen fanden besonders im Kultgebrauch Zuspruch. Sie waren in China längst vierbeinig mit einem sehr beweglichen Schlangenleib ausgestattet worden (Abb. 1). Seit der Hanzeit (206–220 n. Chr.) wurde der Drache zum Sinnbild des Kaisers oder Himmelssohnes (W. Eberhard 2004). Profane Zurschaustellungen im Westen bedienen sich bis in die Gegenwart sehr unterschiedlicher Mischwesen, wie etwa beim Karneval in Rio de Janeiro auf Festwagen mit schwebenden Drachen bis hin zu Umzügen im Berliner Wrangelkiez zugunsten der sozialen Solidarität in einem bisher ‚unterbelichteten‘ Stadtviertel. Im Marionettentheater gehört jedoch der Kampf zwischen dem ‚Kasperl‘ und dem Krokodil zum Standardrepertoire; vielleicht zurückführbar auf eine Fährte aus Venedig, aber ohne Bezug zu einer Heiligenlegende. Drachen, die (sowohl männlich wie weiblich) noch aus der Welt der Titanen hervorragten, waren bereits in der olympisch betreuten Antike ‚Ladenhüter‘, die man in unwirtlichen Gegenden (Skylla und Charybdis an der Meerenge Siziliens; Typhon begraben unter dem feuerspeienden Ätna) mied oder an die Grenzen der griechischen Kolonien schob. Der hundsköpfige Drache Ladon bewachte an den Säulen des Herakles im äußersten Westen die „Goldenen Äpfel der Hesperiden“ (ein Hochzeitsgeschenk des Zeus an Hera zur Wahrung der Unsterblichkeit), und der namenlose Drache in Kolchis im Osten verteidigte das „Goldene Vlies“: „Wie über einem brennenden Walde die Flammen sich hinwälzen, eine höher als die andere, so wälzte das Ungeheuer seinen mit leuchtenden Schuppen überdeckten Leib in unzähligen Krümmungen auf sie los …“ (Apollonius Rhodius, in H. W. Stoll 18743). Unter Trajan wurden Feldzeichen (signa) in Form eines farbigen, luftgefüllten Stoffdrachens (der Träger hieß draconarius) nach dakischem Vorbild (auf der Trajanssäule) und wohl auch beim Sieg über das persische Großreich (217 n. Chr.) benutzt (J. Irmscher 19867). Die nur dem Kaiser vorbehaltene purpurne Drachenfahne wurde ihm in der Schlacht und bei feierlichen Aufzügen vorangetragen. Nach Volkert Haas (1982) lässt sich auch die Entstehung vieler Drachenmythen in der Levante bis zur Euphratgrenze schriftlich nachvollziehen. Groß war die Angst vor dem übermächtigen Chedammu in Syrien, dessen zerstörerische Gewalt auch zum Charakter des jüdischen Satans beitrug (der in biblischen
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Schriften viele Namen trägt) und in seiner überragenden Erscheinung dem Zeusgegner Typhon am meisten ähnelte. Drachen und andere im Dämonenglauben furchtbare Mischwesen stellte man sich rund um den Globus oft als Schatzhüter vor. Man darf mit Josef H. Reichholf („Einhorn-Phönix-Drache“ 20182) annehmen, dass seit der Goldgewinnung die Zahl erfundener Drachen drastisch anstieg. Doch seine These von „getarnten Schatzsuchern“ (vom maskierten Abtransport der Rohware aus dem Altaigebirge im Auftrag der Chinesen, indem man eine ‚gepanzerte‘ Decke über eine Reihe schwer bewaffneter polternder Läufer breitete, die sich so hinter einer Schwefel speienden Galionsfigur verstecken und einen bösen Wurm vorschützen konnten), erscheint angesichts der kosmologischen Entstehungsphasen sowohl örtlich wie zeitlich begrenzt. Es besteht jedoch die Wahrscheinlichkeit, dass sich solche Phantome auch andernorts zur scheinbaren Drachenvorstellung verdichteten. Aus dem germanischen, ebenfalls tief greifenden Mythenvorrat sei zum Goldrausch nur an Richard Wagners Rheingold erinnert. Entsprechend groß war der Andrang derer, die hofften, durch Kampf und Sieg zu einem Helden oder Gott aufzusteigen. In den Geschichten aus Tausend und einer Nacht wird die Welt der Gegensätzlichkeiten nicht durch reptilienartige Drachen, sondern durch sehr verwandlungsfähige Geister (djin-ler) bevölkert. Zu den Ausnahmen zählen die sieben Reisen von Sindbad, dem Seefahrer, in denen vielgestaltige Ungeheuer aus fremden Überlieferungen auftauchen. In italischen Volksmärchen, in denen (nach antikem Vorbild) von der auf dem Boden kriechenden, Wohl und Wehe bringenden Schlange die Rede ist, bieten sich für die Drachenvorstellung, die sich als tierisches ‚Mischwesen‘ (W. Speyer 2011) aus dem altorientalischen Repertoire entwickelte, nur wenige Belege (I. Calvino 1975). Ganz anders der Weitblick in Fernost! Dort öffnet sich für die Bezeichnung ‚Drachen‘ der Fächer der Ambivalenz: Himmelsdrachen als Götter und als Wohltäter, die Könige zu Drachensöhnen erheben und mit durchaus gefürchteten Unterweltsdrachen das Spiel der Gegensätze üben. In China, dem Land der festgelegten Ordnungen, blieb der Drache (auf gelbem Grund) bis 1912 als Statussymbol auf der kaiserlichen Flagge erhalten. Es gab ‚Himmelsdrachen‘, welche die regenerierende Kraft des Himmels symbolisieren, ‚Geisterdrachen‘, die den Regen fallen lassen, ‚Erddrachen‘, die Herrscher über Quellen und Flussläufe sind (W. Eberhard „Chinesische Symbole“ 2004). Die Weltmeere wurden von vier Königsdrachen bewacht. In deren Palästen häuften sich Gold und Edelsteine. Greifbar wurden solche Schätze durch Marco Polos Bericht, der die schönsten Perlen in seinen Reisewams nähte. Denn Perlen waren kostbarer als Gold.
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Die vorliegenden Drachenstudien spiegeln sich „im Glanz des Goldes“ im Ablauf der Gezeiten. Dahinter verbirgt sich die zündende Flamme und auch die Kraft der Zerstörung – das Feuer als Symbol für Anfang und Ende. Das Wort „Feuer“ (huo) ist in China gleichlautend mit dem „Lebendigen“ (huo). Das Gold der Pharaonen begleitete ihre Unsterblichkeit. Gold bedeutet Licht, „Der allein Unsterblichkeit hat, der da wohnet im Licht“, heißt es in der Bibel (Tim. 6,16). „Allah ist das Licht der Himmel und der Erde“, heißt es im Koran (24. Sure, 35). „Sein Licht ist gleich einer Nische, in der sich eine Lampe befindet; die Lampe ist in einem Glase, und das Glas gleicht einem flimmernden Stern.“ Mohammed erscheint in den persischen Prophetengeschichten im Flammennimbus der Erleuchtung. Die Angst vor der Dunkelheit ist groß. Aus der Urangst entwickelt sich der Abwehrzauber. Aus dem Magier wird der Priester. Priester und Könige bestimmen Grenzen und Mitte, Ordnung und Freiheit. Propheten, Dichter, Weltenbummler suchen nach der Erfüllung. Drachen heute haben nichts mehr an sich vom ehemals ‚göttlichen‘ Ungeheuer, das von Wettergöttern besiegt werden musste; sie spiegeln, abgesehen von apokalyptisch oder dämonistisch (H. Heuermann 2020) geprägten Offenbarungen, das ungewisse ‚Chaos‘ einer global wuchernden Zivilisation, der sich zumindest zögerlich Kräfte zur Kontrolle und Rückgewinnung der Natur entgegenstellen. Die Ungeheuer der Gegenwart tragen andere Namen, sie sind Giganten der Technik, die sich in anderen Dimensionen bewegen. Neben dem geschriebenen Wort steht nach wie vor die Kunst als sinnenfroher Hoffnungsträger. Sallie McIlheran (Texas), Ben Siegel (Deutschland), Wolfgang Stifter (Österreich) und Étienne Yver (Frankreich) überraschten bereits in der Ausstellung KLIMT revisited (2013) mit ihrem Farbenspiel zwischen Asche, Feuer, Finsternis und Licht; sie regten ‚zündend‘ die Auswahl der Essays in der vorliegenden Sammlung an. Ihre Bildwerke wurden im Hauptkapitel I fachverbunden rezensiert und zur Diskussion gestellt. Siegrid Düll Bad Reichenhall, Pfingsten 2021
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Abb. 13: Sieg des Theseus über Minotaurus in Anwesenheit von Athena, Terracotta-Cuppa, attisch, Aison, zw. 435–415, Durchmesser: 36,4 cm, Museo Arqueológico Nacional de España, Madrid.
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PHANTASIEGEBORNE KREATUREN
Impuls Wie wappnet’ Ariadne Theseus einst gegen Minotaur, ans Ziel zu kommen und auch heil zurück? Für ihn entbrannt – mit roter Faden-List! Inspiration Rückschau auf das Labyrinth der Archaik … Entflechtung des Gedankens zur Verflechtung der Struktur, Verwicklung als Symbol der Ent–wicklung, Zentrifugale Gedanklichkeit mit Kursabweichungen. Parabel virtueller Entgrenzung. Artefakt Ruhender Pol in der Erscheinungen Flucht, Abstraktion der Wahrnehmung im Kraftfeld der Assoziation, Kodierung ästhetischen Wollens, Verknüpfung im strengen Satz immanenter Dodekaphonik, organischer Extrakt immaterieller Sinnhaftigkeit.
Heinz P. Adamek Gedankenstenogramm zu einem rätselhaften Kunstobjekt
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JAGD NACH GOLD- UND KULTPAPIEREN
China ist mit seiner Jahrtausende währenden Tradition der Papierherstellung ein Dorado für den Grafiker. 2001, bei einem Aufenthalt in Shanghai, entdeckte ich einen Papierladen, in dem sich verschieden gefärbte und geheimnisvoll bedruckte Bögen stapelten. Nach längerem Gustieren entschied ich mich für zwei Konvolute, trieb es aber dann offensichtlich mit meinem Feilschen zu weit, sodass mich die Händlerin laut schreiend und wild gestikulierend aus dem Laden jagte … Um doch noch in den Besitz der bereits ausgewählten Bögen zu kommen, kehrte ich später zurück und bot einen höheren Kaufpreis, der schließlich akzeptiert wurde. Meine „Beute“ bestand aus „Glückspapieren“ in Gelb mit rotem Bolusgrund und Blattgold – daraus fabrizierte ich bald danach den großen „Brief an die goldene Adele“. Die mit Drachenpaaren bedruckten, gefalteten Bögen, angeblich Papiere kultischen Inhalts, die einer künstlerischen Umsetzung harrten, inspirierten mich im Lauf der Jahre zu so manchen Ideen, die sich zu einem Abenteuer entwickelten, dem ich mich 2021 stellte.
Wolfgang Stifter
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Abb. 14: „Drachenpaar pointiert“, Wolfgang Stifter, 2021, Aquarell, Tusche / chinesisches Kultpapier auf weißem Karton, 50 × 40 cm, Sammlung des Künstlers.
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Z E I C H N U N G E N Z U M „ V E R S A C R U M “ V O N G U S TAV K L I M T
Gustav Klimts Tätigkeit im Bereich der Illustrationskunst und des Buchschmucks konzentrierte sich hauptsächlich auf die Zeit seiner Präsidentschaft der 1897 gegründeten Secession. Für das ihm gewidmete Heft der Zeitschrift Ver Sacrum (März 1898) entstand eine Reihe von Tuschzeichnungen – Vignetten, Initialen, hochformatige Illustrationen und die ganzseitig reproduzierte Zeichnung Fischblut. Dieses Blatt nimmt in mehrfacher Hinsicht eine Sonderstellung ein. Bereits in dieser frühen Phase richtete Klimt sich mit der linearen Umrandung nach dem revolutionären quadratischen Seitenformat der Zeitschrift. Zudem war die Zeichnung innerhalb seines Œuvres der Auftakt zu einem Bildgenre, das durch die symbolistische Verbindung von verspielter weiblicher Erotik und geheimnisvollen Unterwasserszenen gekennzeichnet ist – etwa in Gemälden wie Bewegtes Wasser (1898), Goldfische (1901/1902) oder Wasserschlangen (I und II, beide 1904–1907). Fischblut zeichnet sich durch die ausgeprägten Schwarzweißeffekte sowie durch das raffinierte Zusammenspiel von sinnlichen Körperumrissen, langen Haarsträhnen und Linienwellen aus; von unheimlicher Wirkung ist der riesige Fischkopf. Diese unverkennbar vom Illustrationsstil Aubrey Beardsleys inspirierte Arbeit stellt zweifellos einen Höhepunkt der frühen secessionistischen Zeichenkunst dar. Bei aller linearen Stilisierung betont Klimt durch seine subtilen Konturen immer noch die weiblichen Rundungen; die schräg ins Bildfeld hineinragende, perspektivisch verkürzte Aktfigur vermittelt zudem den Eindruck einer gewissen Räumlichkeit. In Anschluss an Fischblut entstand einige Monate später das Gemälde Bewegtes Wasser, das im November 1898 in der Secession präsentiert wurde. Hier treiben stromlinienförmig stilisierte, nackte Wassernymphen völlig parallel an der Bildfläche entlang, getragen von breiten Linienwellen. Dabei zeigt sich bereits das moderne, schlank stilisierte Körperideal. Gleichzeitig kommt hier Klimts innovative Anwendung von parallel-fließenden Linienformationen als Ausdruck einer endlosen Bewegung und eines metaphysischen Schwebezustands erstmals zum Tragen. Eine entscheidende Rolle in diesem Prozess spielte die symbolistische Linienkunst des Niederländers Jan Toorop, der Klimt in den darauffolgenden Jahren zunehmend beeinflussen sollte. Während Fischblut eine zeitlose, mythologische Märchenwelt evoziert, bezieht sich die präsentierte Tuschzeichnung des fliegenden Dreifußes eindeutig auf die griechische Antike. Das einer Hydra entnommene Motiv hängt mit dem Apollo gewidmeten, allwissenden Orakel von Delphi zusammen. Bereits im Gemälde Josef Lewinsky (1894) hatte
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Abb. 35: Fischblut, Gustav Klimt, 1897/98, Feder in Tusche, schwarze Kreide, weiß gehöht / Papier, 40,2 × 40,3 cm (Darstellung), 43,1 × 46,9 cm (Blatt), courtesy Kallir Research Institute / Bridgeman Images, New York.
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Klimt das Motiv des Dreifußes, dem aufsteigender Rauch entströmt, als Sinnbild der künstlerischen Inspiration angewandt. Dass der Zeichnung eine besondere Stellung als Umschlagmotiv des Klimt-Hefts von Ver sacrum zukam, wirft innerhalb der frühen Secession auch ein besonderes Licht auf die programmatische Funktion des Musenvaters Apollo. Hinzuweisen ist hier vor allem auf seine symbolische Präsenz in Form der goldenen Lorbeerkuppel des 1898 eröffneten Secessionsgebäudes. In dem vor allem japanisch inspirierten Hochformat, das im Bereich der Grafik von Ver sacrum überhaupt sehr beliebt war, kommen Klimts zeichnerische Qualitäten besonders zur Geltung. Zum ausgewogenen Spannungsverhältnis zwischen hellen und silhouettenartigen, dunklen Flächen gesellt sich das subtile Spiel der feinen schwarzen bzw. weiß ausgesparten Linien. Summarisch, aber wirkungsvoll zeichnet sich im unteren Bereich eine weite Landschaft ab. Festgestellt wurden Anregungen von der antiken Vasenmalerei, aber auch von Aubrey Beardsley – das Ergebnis trägt jedoch eine unverwechselbare Handschrift Gustav Klimts. Eine weitere Variante der Apollo-Thematik zeigt sich in der gleichfalls schmalen, hochformatigen Initiale D, in der Klimt den schwarzgelockten, lorbeerbekränzten Profilkopf des Gottes platzierte. Die üppige, flächenfüllende Blätterkrone bildet die Kulisse für den Buchstaben D sowie für das Emblem der Secession und verweist durch ihre Kombination mit Apollo auf die Mythologie: Die von Apollo verfolgte Nymphe Daphne ließ sich aus Angst vor dem Verlust ihrer Keuschheit in einen Lorbeerbaum verwandeln, mit dem der Gott daraufhin untrennbar verbunden blieb. 1903 sollte Klimt sich dieser Thematik im Gemälde Daphne erneut zuwenden. Marian Bisanz-Prakken (Gustav Klimt, Ausstellung I, 2012, S. 19 f.)
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Anmerkung der Herausgeberin: Klimts frühe Werke bilden einen Grenzstein zum Historismus. Mit dem Eintauchen weiblicher Figuren in die Wasserwelt wird die Lust an den Gaben eines neuen Frühlings und einer neuen Reifezeit geweckt. Die ‚Zeichnungen‘ von Klimt geben das in allen Variationen in natürlicher Unbefangenheit und dichter Folge wieder. Auch in der frühen indischen Liebeslyrik tauchen wiederholt Wassernymphen auf. (Mit den Merkmalen ihrer Schönheit wird oft die angebetete Geliebte überhäuft.) Bereits der indische Lyriker Bhāravi beschrieb um die Wende des 6. zum 7. Jahrhundert in seinem Kiratardschunija den Nymphentanz, den Friedrich Rückert aus dem Sanskrit in braves Deutsch übersetzte: Vom sanften Wind bewegt, ist fröhlich Hier ein Nymphäentanz zu schauen In Wassern, die sich leise furchen, Wie muntrer Frauen Augenbrauen ... Die Stimmung scheint hier geschlechtslos, aber das Auftauchen eines riesigen (vielleicht antikisch empfundenen) Fischkopfes bei Klimt könnte die Szene verändern, wenn auch nicht für die Wassernymphen in Fischblut (1897–1898). Sie sind Figurationen der Natur und machen dies in stiller Wasserflut transparent. Erst die später folgenden Wasserschlangen I und II in Farbe (1904–1907) scheinen durch den Titel der Zwischenstudie Freundinnen (1905–1906) die Beseelung der Wassergeister zu bewirken. Doch die bei Klimt aufflammende Erotik wird erst im Ewigkeitswunsch seiner Feuertempel eskalieren. Siegrid Düll
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ZUR „MAGIC OF LINE“ GUSTAV KLIMTS
Der angeblich rote Faden der Ariadne entwickelte sich bei Klimt durchaus wie eine ‚magic line‘, die an den Titel eines der vortrefflichen Kataloge von Dr. Marian Bisanz-Prakken (Ausstellung II, Los Angeles 2012) erinnert. Doch ‚Antikes‘ verbirgt sich bei Klimt eher hinter dem Schleier der Allegorie, wobei allerdings die Gorgonen im Beethovenfries nicht nur verjüngt, sondern auch splitternackt erscheinen. Mit der 1889 entstandenen Allegorie der Skulptur, in der antike capolavori wie der Kopf der Juno Ludovisi, der Dornenauszieher oder ein Wiener Musensarkophag als Versatzstücke für eine sepulkral wirkende Antikerezeption dienen, figuriert Klimt die anmutig unbekleidete Lebendigkeit einer jungen Frau, die mit der Linken eine sehr kleine Statuette der Nike emporhält, gewissermaßen von Pallas Athene geborgt, die seitlich gekritzelt im Hintergrund versinkt. Es ist nicht mehr die Sehnsucht J. J. Winckelmanns, Die Kunst der Griechen mit der Seele suchend (F. W. v. Hase 2017), es ist die Lebendigkeit des Konturs, die ‚magic line‘, die den Betrachter in ein Privatissimum lockt, wie das jetzt in der Werbung um uns geschieht. Aus einer Folge von Porträts hochgestellter Damen geht dann im Jahr 1898 zu Beginn der ‚Secession‘ die Pallas Athene mit Goldhelm hervor, metallisch scharf konturiert, fixiert sie den Betrachter mit den bernsteinfarbigen Augen einer vielwissenden Eule, ihrem heiligen Tier. Der Überfluss an Gold mag an die Athena Parthenos des Phidias auf der Akropolis zu Athen erinnern, doch trägt die Klimtsche Pallas Athene die Gesichtszüge der Goldenen Adele und deutet damit gleichwohl auf den Lauf der Welt: Reich gewordene Freigelassene im frühkaiserzeitlichen Rom ließen bereits Statuen ihrer Frauen im Gewand der olympischen Göttinnen in ihren privaten Gärten aufstellen und trugen so zur Divinisierung von Reichtum, Macht und Schönheit bei. Gegenwärtig sind es metallisch lackierte, immer bunter leuchtende Automobile, deren Größe und Preis Absteiger und Aufsteiger (Freigelassene?) in Ratenzahlung vereinen. Die ‚Magic of Line‘ wird bei Klimt vor allem in der ‚goldenen‘ Phase (1903–1908, nach seinen Aufenthalten in Venedig, Ravenna und Florenz) spürbar, die mit fiktiv ausgeschütteten Edelsteinsplittern auf Goldgrund ihre höchste Wirkung und Wertschätzung erreichte. Siegrid Düll
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Abb. 36: Pallas Athene, Gustav Klimt, 1898, Öl / Leinwand, 75 × 75 cm, Wien Museum.
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CANTO NONO […] 37
dove in un punto furon dritte ratto Tre furie infernal di sangue tinte, che membra femminine aveano e atto, e con idre verdissime eran cinte; serpentelli e ceraste avean per crine, onde le fiere tempie erano avvinte. E quei, che ben conobbe le meschine della regina dell‘eterno pianto „Guarda“ mi disse „le feroci Erine.“ […]
NEUNTER GESANG […] 37
Wo plötzlich, steil emporgereckt zum Grauen, Drei blutbefleckte Höllenfurien standen, Glieder und Haltung ganz wie Erdenfrauen, Nur dass die Hüften grüne Hydern banden Und dass, wo Haare sonst das Haupt umspinnen, Sich Nattern nur und Vipern grausig wanden. Und er, dem wohlbekannt die Dienerinnen Der Königin niemals-ausgeweinter Zähren, Er rief: „Sieh da die schrecklichen Erinnen!“ […]
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Abb. 43: Erinnyen, Étienne Yver, 2021, schwarze Tusche „Sumi“ auf Seite 327 des « Traité des Matières Criminelles », Maître Guy du Rousseau de la Combe, avocat au Parlement de Paris – M.DCC.LVI avec approbation et privilège du roi, 25 × 19 cm, Illustration zu Gesang 9, Verse 37–45 ff.
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Abb. 46: Dragon of Wantley, John June, 1744–1775, Kupferstich / Papier für das Libretto der gleichnamigen Oper von Henry Carey, 11,8 × 7 cm, The British Museum / Department Prints and Drawings.
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zu töten. Moore, der sich spontan in die schöne Margerey verliebt, verspricht, den Drachen zu töten, wenn sie mit ihm die folgende Nacht verbrächte, wozu sie einwilligt. Dies führt zu Eifersuchtsausbrüchen von Moores Verlobter Mauxalinda, die sogar versucht, Margerey zu töten, was Moore in letzter Minute verhindert. Nach bangen Momenten, ob Mauxalindas Rache oder die Tücke des Drachens das Schicksal Moores besiegeln würde, trägt Moore den Sieg über den Drachen mit einem Fußtritt davon und erhält zum Dank Margerey zur Frau. Nicht im Sängerkrieg auf der thüringischen Wartburg, sondern auf dem Londoner „Opern-Turnierplatz“ obsiegt in diesem „musikalischen Wettstreit“ schließlich der jüngste der drei deutschen Komponisten, Johann Friedrich Lampe, mit der Erfindung dieser musikalischen Satire … Doch auf dem Nibelungen-Sagenkreis basierend erfährt das Thema des heldenhaften Bezwingers des Drachen im 19. Jahrhundert in Richard Wagners Oper Siegfried (1876) seine heroisch-ernste „Rehabilitation“. Schließlich erweist sich seit dem späten 20. Jahrhundert bis heute die Spezies der Dinosaurier – wohl die „realen Vorfahren“ der Drachen – in der Filmserie Jurassic Park Steven Spielbergs nach dem Roman von John Michael Crichton (1942–2008) wie einst Lampes und Carey’s Drache von Wantley als Publikumsmagnet … Heinz P. Adamek
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Abb. 47: Krönungsmantel, Palermo, Königliche Werkstatt, 1133/34. Rote Seide mit Gold bestickt, Goldfiligran, Email, Edelsteine und Perlen; Breite: 346 cm, Kunsthistorisches Museum Wien / Weltliche Schatzkammer (Inv. Nr. XIII 14).
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besonders pathetisches Plakat: einen Soldaten im Schützengraben unter zerfetztem Stacheldraht, der anklagend zum Betrachter blickt, während er eine Handgranate gezückt hält. Dazu der Text: „Und Ihr? Zeichnet 7. Kriegsanleihe“. Auch wenn andere Grafiker durchaus zeitgenössische stilistische Lösungen im Sinne einer modernen Ästhetik für die Aufgabe dieses Themas fanden, so bildet doch Julius Klingers Plakat die wohl überraschendste „Werbung“ für eine Kriegsanleihe. Ähnlich wie im Blatt Kokoschkas ist es auch hier ein phantastisches Tier, das sinnbildlich verwendet wird. Ein langer Schlangenkörper mit den Schuppen und Hornzapfen eines Reptils wird von einer riesigen Darstellung der Ziffer acht umfangen. Der Kopf des „Drachen“ wird von sieben Pfeilen durchbohrt, aus seinem geschlossenen Maul tropft Blut, auch das Auge ist von Blut gerötet, und ein achter Pfeil steckt in seinem Körper. Das Tier bäumt sich vielleicht gerade im Todeskrampf auf oder ist schon tot. Mit ihm muss man eher Mitleid haben, als dass es den „Feind“ in einer Furcht einflößenden Weise darstellte. Davor steht der Schriftzug „Kriegsanleihe“ in einer zeitgemäßen Typografie (bei Kriegswerbung wurde ansonsten häufig altertümelnde gotische Schrift verwendet). Alle Pfeile, die den Kopf durchbohren, sind an ihrem Ende nummeriert, von eins bis sieben. Der achte Pfeil trägt keine Ziffer. Klinger hat hier eine geradezu gegensätzliche Symbolik zur etablierten Typologie des Kriegsplakates geschaffen. Hier sehen wir keinen melodramatischen Aufruf, Geld zu spenden, keine sich opfernden Soldaten, keine barbarischen Feinde. Das Tier mit seiner fast zarten Maulöffnung, aus der das Blut rinnt, eignet sich nicht zur Dämonisierung eines Gegners, der endlich zur Strecke zu bringen ist. Viel eher scheint die Darstellung von Mitleid mit dem erlegten Tier zu zeugen, sodass eine ganz andere Symbolik naheliegend ist. Die Empathie mit den Opfern des Krieges, mit dem Leid der Zivilbevölkerung und der Soldaten scheint das zu sein, was Klinger mit dem sich aufbäumenden Körper, der zum Kopf hin immer schmäler und fragiler wird, zum Ausdruck brachte. Vielleicht ist es der Krieg an sich, der hier angeklagt wird, nicht das Böse eines zu besiegenden Gegners, sondern das Leid, das der Krieg allen bringt. Im frühen 20. Jahrhundert stehen somit zwei grafische Arbeiten von Künstlern der Klassischen Moderne, die den „Drachen“ aus seiner traditionellen Rolle in der westlichen Kulturgeschichte gewissermaßen erlösen: Auch Drachen sind, als Projektionsfläche von uns Menschen, nicht nur Angst und Schrecken einjagende Monster, sondern haben auch Humor, haben Schicksale, sie sind fühlende und leidensfähige Kreaturen. Patrick Werkner
II. M ETAMORPHOSEN: SPRACHBILD E R – BI LD S P R A C H E N
Abb. 52: 8. Kriegsanleihe 1918, Julius Klinger, 1918, Plakat (Lithografie), 94,7 × 63,3 cm, Birgit & Peter Kainz, Kunstsammlung und Archiv der Universität für angewandte Kunst Wien, Inv. Nr. 14.934/Pl.
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mit den idealen physischen Attributen für die Verkörperung des germanischen Helden, badet nach getaner Arbeit im Blut des Ungeheuers. Selbst das Gespräch zwischen Siegfried und Fáfnir, welches in vielen literarischen Versionen eine wichtige Rolle spielt, ist ausgespart.2 Das Design des Drachens ist für moderne Augen erstaunlich harmlos, Langs Fáfnir hat etwas Hündisches, gar Bemitleidenswertes – was wohl eher den technischen Einschränkungen geschuldet ist als einer narrativen Intention. Der Film kostete 8 Millionen Reichsmark und war ganze 2 Jahre in Produktion – eine Investition, die sich aber durchaus rechtfertigen ließ, schließlich wurde Fritz Langs Die Nibelungen zu einem der finanziell erfolgreichsten Filme der Weimarer Republik. Parallel zum Langschen Epos erschien in den USA Raoul Walshs The Thief of Bagdad (1924), der gemeinhin als Prototyp des modernen Action-AdventureFilms bezeichnet wird. Basierend auf der persischen Geschichtensammlung Tausendundeine Nacht, handelt es sich hierbei um ein „swashbuckling adventure“ mit dem damaligen Superstar Douglas Fairbanks, der den Film nutzt, um seinen gestählten Körper mit tänzerischer Eleganz in Szene zu setzen. Noch ungetrübt vom 1934 eingeführten Hays Code (eine Initiative zur Zensur gewalttätiger und sexueller Inhalte in Hollywood) schwingt hier die Tradition des Exotismus des 19. Jhs. mit, dessen freizügige Darstellungsweise fremdländischer Körper Anna May Wong (Rollenbezeichnung im Abspann: „mongolische Sklavin“) als erster chinesischstämmigen Schauspielerin zu US-weitem Ruhm verhalf. Douglas Fairbanks’ Dieb trifft im Zuge der Handlung wie Siegfried ebenfalls auf einen Drachen und schlitzt ihm ebenso den Bauch auf. Die Technik hinter diesem Drachen ist sehr vergleichbar zum Langschen Ungeheuer, wobei der dynamischere Schnitt (Lang: 55 Schnitte in ca. 5 Minuten, Walsh: 19 Schnitte in 52 Sekunden Szenenlänge – die amerikanische Variante ist also knapp doppelt so schnell geschnitten) und ein bedrohlicheres Design den Kampf gegen den Drachen ein wenig beeindruckender erscheinen lassen. Nichtsdestoweniger bilden beide Monstren einen absoluten Höhepunkt der damaligen Tricktechnik. Es dauerte mehr als 40 Jahre, bis sich die deutsche Filmindustrie wieder des Nibelungenstoffes annahm. 1966 erschien der Zweiteiler Die Nibelungen unter der Regie von Harald Reinl, einem Veteranen zahlreicher Winnetou- und Edgar-Wallace-Verfilmungen. Reinl, von einem Schauspieler einst als „knallharter Obertiroler (…) an der Grenze zum Brutalen“ bezeichnet, kam ursprünglich aus dem Skisport und wurde durch seine Arbeit als Stunt-Double im deutschen Heimat- und Bergfilm in die Industrie eingeführt. Wie auch schon bei Lang3,
IV. ERWECKUNG DER DRACHEN – I M FI LM
Abb. 63: Siegfrieds Kampf mit dem Drachen Fafnir, Standbild mit Paul Richter als Siegfried aus dem Stummfilm Die Nibelungen von Fritz Lang, 1924.
wurden die deutschnationalen Aspekte von Reinls Nibelungenadaption im liberalen Deutschland der 1960er-Jahre heftig kritisiert. Der Film fiel bei der Kritik durch (vor allem aufgrund der Schauspielleistung von Uwe Beyer, einem olympischen Hammerwerfer, der Siegfried verkörperte), war aber kommerziell durchaus erfolgreich. Die Darstellung von Fáfnir war Reinl aber wohl weniger wichtig als die epischen Landschaftsaufnahmen und die Physis Siegfrieds. Auch hier spricht Fáfnir nicht und die verwendete Tricktechnik unterscheidet sich prinzipiell wenig von ihrer Vorgängerversion. Der Drache speit zwar beeindruckendes Feuer, ist aber klar als recht minimal animierte Puppe erkennbar.
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