Sophia Naomi Eisenring, Grace Oberholzer, Sara Schmiedl (Hrsg.)
i Ausgabe 11
es geht sich schon aus
„üblicherweise werden Nachrufe in Printmedien veröffentlicht“ – das bin ich, denkt sich JENNY; ein Epilog ist offensichtlich kein Nekrolog, sagt das www, ich wär dumm, würd ich meinen, einen eigenen, nicht selbst schon bald einmal zu verfassen beginnen; ein Ruf statt ein Wort, das Danach an den Anfang stellen – und hoffentlich gibts Echo; das erste Jahrzehnt ist abgezählt, servus, 11. Ausgabe; broke wie nie
8
Seite 14–21
SARA SCHMIEDL
NACHRUF AUF LITERATURMAGAZIN SINA AHLERS
Seite 22–29
Milch und Schuld (AT) Monolog
VANESSA FRANKE
Seite 30–33
DREAM REELS ANNA DRAXL
Seite 34–41
SKIZZEN ÜBER DIE ANATOMIE VON FUSSNOTEN LEON ERIK RAFAEL BUCHNER
wachen
Seite 42–45
9
INHALTSVERZEICHNIS
MICHÈLE YVES PAUTY
Seite 46–49
ein Gespräch über Privileg das ist
ein Text über mich
PHILLIP MEINERT
Seite 50–55
Heimatnotiz
DILÂ KIRMIZITOPRAK
Seite 56–59
GROUND OF CURIOSITIES a fragmented story out of the ground:
MURI DARIDA
Seite 60–65
Leonardo im Cabrio
GRACE OBERHOLZER
Seite 70–79
GROSSMUTTERhype
10
LEON LOCHER
Seite 82–87
Hansel and Gretel Introductory Text Kultschutz Zeit mauern FABIENNE IMLINGER
Seite 88–93
Gehen
ANA TCHEISHVILI
Seite 94–101
WHICH MONTH IS THE CRUELEST MONTH?
INHALTSVERZEICHNIS
THERESA SERAPHIN
11
Seite 102–105
Schneeflocke
EMILY GRUNERT
Seite 106–109
Mangelnde Informationen KATHARINA FEIST-MERHAUT
Seite 110–113
SKIZZEN EINES LETZTEN BILDES JOHANN VOIGT
Seite 114–117
DÜ DÜ DÜ DÜ DÜ DÜ SOPHIA NAOMI EISENRING
Vorwort
Seite 122–125
vom Ende.
VANESSA FRANKE
Vanessa Franke *1993 in Stuttgart. Studierte Literatur, Kunst und Medien in Konstanz, Wien und Mainz. Die letzten drei Jahre lebte sie in Paris und arbeitete dort als Sprachlehrerin und Lektorin. Sie schreibt zurzeit ihre Promotion zwischen Paris und Weimar, außerdem wissenschaftliche Aufsätze, Buchkritiken und Poesie auf Englisch, Französisch und Deutsch.
30
31
DREAM REELS -1
I’ve been thinking of a house Inside my belly While I listened to a story On a tape recorder In a constant dawn This house was so silent I knew Burning would be its way to cry
-1 Ich habe an ein Haus gedacht In meinem Bauch Während ich einer Geschichte Auf einem Kassettenrekorder lauschte In einer ständigen Dämmerung War das Haus so still dass ich wusste Brennen wäre seine Art zu weinen
Oh where to begin And where to end And what to repeat Never think backwards
Oh wo soll man beginnen Und wo wieder enden Was wiederholen Niemals rückwärts denken
0
0 Ich wünschte wir wären uns vor langer Zeit begegnet In einem Sandkasten am Meeresgrund
1
1 Mein Abschied von dir War die letzte Konsequenz einer Schwangerschaft Die Geburt monatelang Lag ich in den Wehen stumm Ohne dass du es merktest
A sour taste on my tongue From the constant belching The child fermented inside me Feeling my skin from within Until I dragged it out with both hands Gasping for air naked I laid it at your feet When you saw how similar You were frightened I wiped the afterbirth from my fingers And left From afar I heard the first cry
Ein saurer Geschmack auf der Zunge Vom ständigen Aufstoßen Das Kind gärte in mir Tastete mich von innen ab Bis ich es mit beiden Händen herauszerrte Nach Luft schnappend nackt legte ich es dir zu Füßen Als du sahst wie ähnlich es dir war erschrakst du Ich wischte mir die Nachgeburt von den Fingern Und ging Aus der Ferne vernahm ich den ersten Schrei
I wish we had met a long time ago In a sandbox under the sea
My farewell Was the last consequence of pregnancy The birth lasted months I lay in labor silent Without that you noticed
ANNA DRAXL
34
SKIZZEN ÜBER DIE ANATOMIE VON FUSSNOTEN Ich sitze am Sofa und lese Stefan-Manuel Eggenwebers Text „Operationen“1, erschienen 2019 in der Literaturzeitschrift Edit. Das dicke Heft auf den Knien, die linken vier Finger in die Seite geklemmt, sucht der Daumen im Anhang die passende Endnote. Die rechte Hand hält das Smartphone für die schnelle Recherche, der Stift klemmt zwischen den Zähnen. Sobald die rechte Hand wieder frei ist, wird sie ihn greifen, die Spucke an der Hose abwischen und Anmerkungen notieren. Ich stecke wie ein klemmender Ast in dieser Leseposition. Es ist ungewöhnlich warm draußen. Ich schlüpfe in meine grüne Windjacke und gehe nach unten. Die Tür zum gemeinschaftlichen Abstellraum quietscht seit Monaten. Ich schließe mein Rad auf, wickle das Schloss um die Lenkstange und hebe es auf die Straße. Ein paar Wolken hängen am Himmel. Wenig Verkehr. Links, rechts, geradeaus? „Operationen“ hält für die Leser:innen viele Möglichkeiten zum Abbiegen bereit. Der Text verhandelt seine eigene Form. Als Auszug aus einem Roman angekündigt, enthält er Fußnoten in wissenschaftlichem Gestus, Dialoge, die mittels Usernames an Chatverläufe erinnern, und schließlich Endnoten, die Erzählungen über die Erzählung schichten und zugleich als Glossar2 funktionieren. Ein Glossar, das zwischen den in der unbestimmten Zukunft liegenden Jahren -njb und der Gegenwart, dem Jetzt des Lesens, übersetzt. Was vermittelt die Form in ständigem Spiel mit dem Inhalt? 1 2
Stefan-Manuel Eggenweber: Operationen. In: Edit, Nr. 78/79, Herbst 2019, S. 212–225. Glossar, vom Altgriechischen glóssa, lateinisch glossa Sprache, Zunge. Ein Glossar ist eine Form der Anmerkung, meistens in Listenform am Ende eines Textes, die sich der Übersetzung und Erklärung von Worten annimmt.
35
Der Inhalt kurz zusammengefasst: René alias WonderCrip-Woman, Saadet alias FIST of SCIENCE und Sarah alias trisonomieFUcKu2!#%&1!! verkleiden sich in einer als -njb bezeichneten Zukunft als junge cis-männliche HipHopper, um zu operieren: In ihrer Boombox befinden sich medizinische Utensilien und Hightech-Prothesen. Ihr „Patient“ ist Franz, der in einer Beziehung mit Anatol lebt. Der allwissende Bill aus dem Lieblingspodcast ist womöglich der Erzähler des Endnoten-Glossars.
1
5 Error 404 / sorry, page not found / expired URL
Ein Wurm, der sich durch die zwei Oberflächen desselben Raums frisst, hat ein Wurmloch geschaffen.
Wie werden die Leser:innen in der textlich-räumlichen Gestaltung auf Lesekonventionen zurückgeworfen? Stefan-Manuel Eggenweber nützt Verweissysteme, die an Erwartungshaltungen geknüpft sind, für provokative Operationen an der Sprache selbst. Ich trete in die Pedale, strecke den Arm aus, rolle in die Mitte der Straße, blicke über die Schulter nach hinten und nehme die Kurve hügelaufwärts. Gewöhnlich wird der untere Rand eines weißen Blatt Papiers (oder einer Fläche am Bildschirm, die ein weißes Blatt Papier simuliert) für die Fußnote eingeplant und möglicherweise durch eine dünne Linie die Abtrennung vom Haupttext noch visuell betont. Die Reifen für die Fahrt in die akademische Welt. Fußnoten sind da, um Quellen und Ideen nachvollziehbar zu machen. Sie zeichnen nach, woher ich weiß, was ich weiß. Sie bilden einen Chor, ein Rauschen aus Stimmen. Endnoten sind Fußnoten am Ende eines Texts. Beide Noten lassen sich unter dem Begriff Annotation bündeln. Während sie ihren zugewiesenen Ort schon im Namen tragen und dadurch ihr Spezifikum, ist die Annotation, von lat. annotatio, laut dem „dude“3 eine Anmerkung, ein Vermerk, eine generelle Bezeichnung für Hinzugefügtes.4 Ich trete in die Pedale und komme ins Schwitzen. Ich ziehe den Reißverschluss auf, die Jackenteile flattern unter meinen Armen. Verweiszeichen stellen Verbindungen über die räumliche Distanz sicher (*2→). Die Leser:innen vertrauen und nehmen an, dass immer die richtigen Stellen miteinander verbunden sind. Führen die Zeichen in eine Sackgasse, werden sie womöglich zu „fuss notes“5, wie sie die Übersetzerin Uljana Wolf nennt, und stiften Verwirrung. Ein Verweis ist auf den ersten Blick ein wohlgesinntes Angebot. Kippt das Wort „verweisen“ aber in der Bedeutung, wird es zur forschen Aufforderung, woanders hinzugehen. Jemanden eines Ortes zu verweisen heißt auch, dass wohl etwas im Argen liegt und der weitere Aufenthalt nicht länger erwünscht ist. Die freiwillige Entscheidung, die nächste Abzweigung zu nehmen, scheint mit dem englischen link eher gewährleistet zu sein. Der Link, ein agiles Gelenk?
6
Bei der nächsten Ampel fahre ich geradeaus. In der Ausstellung Hungry for Time in der Akademie der bildenden Künste Wien haben die Kurator:innen vom Raqs Media Collective die Flügel von Hieronymus Boschs Weltgerichtstriptychon (ca. 1504) fast geschlossen und nur einen kleinen Wurm zu Füßen der Figur am Außenflügel beleuchtet.6 Auf den Wurm, eine Nebensächlichkeit im Bild, ist eine Videokamera gerichtet, die den Ausschnitt filmt und live auf einen Bildschirm vor dem Triptychon überträgt. Die Kurator:innen verweisen im Begleittext auf Sigmund Freuds Suche nach der Sexualität von Aalen. Wie im Gästebuch der Ausstellung nachzulesen ist und Mitarbeiter:innen berichten, zeigten sich viele Besucher:innen sehr verärgert darüber, denn Boschs Triptychon ist das Herzstück der
Im Glossar von Stefan-Manuel Eggenwebers Operationen weist der allwissende Bill darauf hin, dass dude „der verzweifelte Versuch einer zeitgemäßen Neubenennung des guten alten Dudens“ sei. Eggenweber: Operationen, S. 225. 4 Dude: Annotation. 5 Uljana Wolf: Barbar Blechs Ursprech. Homophone Übersetzung und Nursery Rhymes. In: Etymologischer Gossip. Essays und Reden. Berlin: kookbooks, 2022, S. 194. 6 Hungry for Time. Einladung zu epistemischem Ungehorsam mit Raqs Media Collective, in den Kunstsammlungen der Akademie der bildenden Künste Wien. Ausstellung von 9.10.2021 bis 27.2.2022. 3
LEON ERIK RAFAEL BUCHNER
42
43
wachen Fenstersimsschaukeln. Gebrauchte Autos im Vorbeet. Sonnen krachen in Wacholderbüsche, dampfend.
Fenster, suiziddicht. Dämmwolle. SUVs und ein gebrauchtes Auto in der Parkbucht.
Der Morgen: Hallo. Die Katze: Ne, jetzt nicht. Mein Bein schmerzt. Ich, ein Ich, ein Subjekt, das sich selbst im Schlaf denied: Es hat an der Tür geklopft. Der Kater: Ich klopfe nicht. Ich kratze. Der Morgen: Herein. Ich, ein Ich, ein Subjekt, das sich selbst im Schlaf nicht ausruhen kann, schält sich aus der Decke.
Ich, ein Ich, ein Subjekt, das sich selbst im Schlaf fürchtet: Ich möchte umdrehen. Der Kater: Das ist eine Tierklinik. Der Morgen. Das war eine Tierklinik vor dem Krieg. Arzthelferinnen im Chor: Guten Morgen. Der Morgen: Guten Morgen.
Wacholderbüsche bei den Wurzeln packen.
AUSREIßEN, DRAUFSPUCKEN, HINLEGEN, SCHLAFENGEHEN. Der Kater: SCHNURRR. Der Morgen: Du bist immerhin auf der Warteliste. Ich, ein Ich, ein Subjekt, das sich selbst im Schlaf nicht mehr wälzen kann: Schnurrr. So kommentierst du die aktuelle Situation?! Der Morgen: Bald wirst du therapiert. Der Kater: AUSREIßEN, DRAUFSPUCKEN, HINLEGEN, SCHLAFENGEHEN. Ich, ein Ich, ein Subjekt, das sich selbst den Schlaf nicht gönnt: Als würde das so ablaufen. Der Kater: Mein Bein schmerzt. Der Morgen: Ein Auto hat ihn erwischt. Ich, ein Ich, ein Subjekt, das sich selbst im Schlaf verlässt: Kliniken lassen mich klamm fühlen. Der Kater: Es liegt in deiner Hand. Der Morgen: AUSREIßEN, DRAUFSPUCKEN, HINLEGEN, SCHLAFENGEHEN. Ich, ein Ich, ein Subjekt, das sich selbst im Schlaf leugnet: THE QUEEN (KING) REIGNS, BUT DOES NOT RULE.
Arzthelferinnen im Chor: Was können wir für Sie tun? Wir, ich, sie, er, du sind da für Sie. Der Morgen: Guten Morgen. Wir suchen eine Fachkraft. Arzthelferinnen im Chor: Wir sind vom Fach. Wir, ich, sie, er, du. Setzten Sie sich. Wir sind das Fach. Der Kater: Habt ihr Tee? Ich, ein Ich, ein Subjekt, dass sich selbst im Schlaf sucht: Ich war hier schon einmal. Der Morgen setzt sich. Die Arzthelferinnen im Chor: Ihr Bein zuckt, zuckt. Sollen wir Hilfe holen? Der Kater: Pfefferminztee, das ist ja fast wie bei Oma zu Hause. Der Morgen: Wir stehen im Halteverbot. Wo ist die Fachkraft. Das muss jetzt schnell gehen. Die Arzthelferinnen: Eine leichte Tablette gegen den Schmerz? Der Kater: Gerne einen Pfefferminztee, wie bei Oma zu Hause. Ich, ein Ich, ein Subjekt, das sich selbst im Schlaf sieht: Mir geht es besser, danke. Haben sie noch mehr Tabletten auf Rezept? Fenster, geöffnet. Gebrauchte Autos im Vorbeet. Anwohnerinnen schneiden an Hecken.
Ich, ein Ich, ein Subjekt, das sich selbst im Schlaf nicht mehr schlafen sieht: Frau Nachbarin, lassen Sie sich einen Rat geben. Der Kater: Mit gesunden Beinen die Hecke an der Wurzel reißen. Vor dem Krieg. Der Morgen: Nach Sonnenaufgang. AUSREIßEN, DRAUFSPUCKEN, HINLEGEN, SCHLAFENGEHEN.
MICHÈLE YVES PAUTY
46
Michèle Yves Pauty arbeitet als visuelle Künstler*in und Autor*in und absolviert derzeit den Master für Literarisches Schreiben am Deutschen Literaturinstitut Leipzig. Pautys fotografische Arbeiten wurden u. a. bei FOTO Wien, Vienna Design Week, Parallel, PhotoIreland und Eyes On gezeigt, die schriftstellerischen wurden in diversen Magazinen und Anthologien veröffentlicht. Für das Roman-Manuskript „Familienkörper“ hat Pauty das Hilde-ZachLiteraturförderstipendium der Stadt Innsbruck und das Projektstipendium für Literatur der Stadt Wien erhalten. Pauty lebt in Wien und Leipzig und ist Teil des Kollektivs sy:rup.
47
ein Gespräch über Privileg das ist ein Text über mich
du legst dich in den Lichtfleck am Boden, den Kopf auf der Matratze, und das Handy in deinen Händen wirft Schatten auf dein Gesicht. Die Arme sind zu kurz für den gewünschten Ausschnitt. Ich erinnere mich an das Bild vom Vortag, harte Schatten an den falschen Stellen, hat es die restliche Ästhetik in deinem Feed unterbrochen. Ein Halbkörperporträt, dein Blick in die Kamera, dein Oberkörper frei. Ich biete dir meine Hilfe an, mache das Foto im Sonnenwurf von dir. Der Oberkörper wieder frei, und wieder ist es wichtig, dass er am Bild sichtbar ist. Du rekelst dich unter dem Handy, einen Arm unter den Kopf geschlagen, bringst dich in Pose, die Brust hervorgestreckt. Ich mache mehrere Bilder und gebe dir das Handy zurück. In der halben Stunde bevor du gehst, beginne ich das Gespräch. Einem Unwohlgefühl folgend, ohne vorher nachzudenken, aufzuschlüsseln. Ein Gespräch über die Dokumentation wachsender Brüste auf Instagram, über Privileg, über Zensur. Eigentlich ist es auch kein Gespräch. Ich spreche, du hörst zu. Dass andere vor dir schon das misogyne System aufgezeigt haben. Warum du dein Privileg ausnützt. Die Nippel-Zensur auf Instagram, TikTok, Facebook, sie besteht. Du willst einen Punkt machen und schützt dabei nicht, was sich in mir eingeschrieben hat zu schützen. Unsere Gesellschaft teilt und in dieser Teilung ist mein Körper nicht frei. Er ist unfrei. Ein ganzer Planet und die Hälfte der Spezies Mensch darauf hat einen anderen Wert. Die KI wiederholt dieselben Muster, auch sie kann nur so gut sein, wie die Menschen, die sie füttern. Aber nichts ist gut. In den acht Jahren unserer Beziehung habe ich die Differenz zwischen uns nie stärker empfunden, wie in diesen Moment, in dem du deinen Oberkörper der Kamera entgegenstreckst. Du zeigst deine Brüste ohne den Impuls zu bedecken. Die Annäherung, die unsere Körper in den letzten Monaten erfahren, meine Hormone sind jetzt auch deine Hormone, fühlt sich in diesem Augenblick so an, als wird mir etwas genommen. Als könntest du wechseln und einfach haben, was du begehrst. Weicher
LEON LOCHER
Leon Locher *1998 in Berlin, aufgewachsen in Bern. Seit 2021 studiert er Sprachkunst an der Universität für angewandte Kunst Wien. Er arbeitet in Text, Theater und Performance, wobei sein Arbeitsschwerpunkt meistens auf der Intersektion zwischen Text und Körper beziehungsweise Text und Raum liegt. Arbeiten von und mit ihm waren u. a. am Theaterfestival HIN & WEG, am Rundgang der Akademie der bildenden Künste Wien und in der Galerie KUB in Leipzig zu sehen.
82
83
Hansel and Gretel Introductory Text knusper knusper knäuschen wer knabbert an mein’ (insert endearing term for „house“) (or any body part) (insert same phrase in any language) (insert same phrase in any language) (insert same phrase in any language) (insert same phrase in any language) (insert any phrase in same language) (insert same phrase in any language) ...
LEON LOCHER
84
KULTSCHUTZ
85
Kultschutz die Wiege von uns ist zweigeteilt wie das Schwert über der Kirche die Sätze der Alten wandern weite Strecken wirbeln in der Muschel dass Naturzustand die einzige Katze ist in meiner Hütte Goldadern auf den Flaggen der Freiheit des Stigmas das Teil wird des Zuges die Pufferzonen meditieren solange sie gewogen werden als Goldstaub von uns allen die Brücke der Hochkluft der Hochkultur die Kerzen haben vergessen unter den Fingern zu brennen
die Stiere haben gewusst in der Röhre des Unterlebens zu schreien dass Wirbel die Mauern sind der Regierung schreibt die Polizei die Gesichter der Tiere in die Strafakten schreibt sie die Route des Zuges auf die Bäuche der Ziegen das ist der Weg der Weißen träumt das Korps es hängen Schwertkreuze über ihrer Wiege
ANA TCHEISHVILI
94
*** Einmal ein paar Genozide und ein paar Diktaturen her küsste meine Großmutter die Türklinke ihrer Großmutter aus Freude, im Winter. Ihre Lippen froren an der Türklinke fest jemand riss sie an der Schulter zurück Hautfetzen blieben an der Türklinke kleben, wie alte Tapetenreste nach dem Umzug und ihre Lippen bluteten. Sie erzählte es mir, um mich zu trösten als sie mir Pflaster vom entzündeten Mückenstich am Knie abriss und ich weinte. Ich bin in eine heiße Stadt gezogen, ich küsse immer fremde Türklinken.
95
WHICH MONTH IS THE CRUELEST MONTH?
*** 92 Tbilissi ein überfüllter Zug mit einem leeren Wagen kommt an, ich steige ein, Es war nicht leer, alle lagen auf dem Boden wegen einer Schießerei. 22 Berlin ein überfüllter Zug mit einem leeren Wagen kommt an, ich steige ein, Es war nicht leer, ein wohnungsloser Mann ist auf dem Sitz eingeschlafen.
ANA TCHEISHVILI
96
97
WHICH MONTH IS THE CRUELEST MONTH? Ich komme durcheinander mit Jahrestagen von Genoziden und Kriegsanfängen, wie mit Geburtstagen, wenn man zu viele Freunde hat und Hochzeitstagen nach ein paar Ehen. Ich frage welcher Monat ist der grausamste und höre: „zu lange her, zu weit weg“
JOHANN VOIGT
Johann Voigt *1994 in Dresden, studiert Sprachkunst an der Universität für angewandte Kunst Wien. Er arbeitet mit Text und Sound und beschäftigt sich in seiner Arbeit mit Autorität und Dissoziation. 2022 entstand während seiner Residency im Dock 20 Lustenau die Soundinstallation „Outlet_2“.
114
115
DÜ DÜ DÜ DÜ DÜ DÜ Ich belausche meine Freund*innen. Ich starre meine Freund*innen minutenlang an, bis sie nervös werden. Ich starre sie an und ihre Gesichter färben sich rot und mein Gesicht färbt sich rot, weil ich damit konfrontiert werde, dass gute Kommunikation so nicht funktioniert. Ich frage mich, wie gute Kommunikation funktioniert. Ich beneide die gut Kommunizierenden. Ich habe Scham vor meiner Art der Kommunikation. Ich verlasse zwei Wochen lang meine Wohnung nicht.
Ich frage meine Mutter aus. Ich frage meine Großeltern aus. Ich frage alles aus allen heraus. Ich kratze und schabe und schlecke die letzten Reste aus allen Menschen in meiner Umgebung heraus und sammle sie in Einweggläsern.