Landschaft. Kultur-, Natur-, Wirtschafts- und Erfahrungsräume

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ISBN 978-3-11-047852-5

e-ISBN (PDF) 978-3-11-048047-4

ISSN 2199-4331

Library of Congress Control Number: 2024951600

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Einbandgestaltung: Katja Peters

Satz: LVD GmbH, Berlin

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Inhalt

VORWORT 7

Frank Göttmann und Eva-Maria Seng

Das Reden und Schreiben über Landschaft – eine Einleitung 9

Frank Göttmann

Landschaft – Raum und Lebensform 29

Wilfried Ehbrecht

„Raum“ und „Land“ Westfalen in der landesgeschichtlichen Forschung 69

Eva-Maria Seng

Kulturlandschaften

Die Rückgewinnung des immateriellen Kulturerbes in die Landschaft 107

Heinz-Dieter Heimann

Klöster und Landschaften 129

Hansjörg Küster

Landschaft: Natur, Gestaltung, Ideen 149

Marco Silvestri

Wassermanagement und Wasserlandschaften frühneuzeitlicher Montanregionen

Erzgebirge – Harz – Potosí 163

Jan Carstensen

Der Torf und die Landschaft 197

Imaginierte Lebenswelten – Shakespeares Landschaften im „Wooden O“ 209

Rolf Sachsse

Landschaft + Medien ≠ Medienlandschaften

Zur Bedeutung technischer Bilder von pastoralen Motiven 231

Autorenverzeichnis 245

Abbildungsnachweise 251

VORWORT

An der Wiege des vorliegenden Sammelbandes stand eine Tagung an der Universität Paderborn vor über zehn Jahren. Einige der damals gehaltenen Vorträge sind nun in Aufsatzform hier enthalten, einige andere, die das thematische Spektrum erweitern, sind hinzugekommen. Die Autoren haben bis zum Erscheinen viel Geduld aufbringen müssen, wofür wir ihnen wahren Dank schulden. Besonders verdient Wilfried Ehbrecht hervorgehoben zu werden, der uns seinen höchst fundierten Text über das sogenannte „Raumwerk Westfalen“ hinterlassen hat, aber nun leider das Erscheinen nicht mehr erleben kann. Auch der allzu frühe Verlust von Hansjörg Küster erfüllt uns mit Trauer. Über sein im besten Sinne interdisziplinäres Werk hinaus wären von ihm gewiss noch überraschende und kenntnisreiche Einsichten in die Ökologie und Geschichte der verschränkten Natur- und Kulturlandschaft zu erwarten gewesen.

Landschaft ist einem jeden Menschen eingeboren, er tritt ihr gegenüber, bewegt sich in ihr und formt sie. Sie erzeugt ihn aber auch in seinem Tun und Denken, ja, er ist ein Kind seiner Landschaft. Wenige reflektieren theoretisch und methodisch über sie und schreiben schließlich darüber. Damit mögen sie Erkenntnisse gewinnen, die sie anderen mitteilen und diesen von Nutzen sind. Indessen streben Autoren auch nach Selbstvergewisserung über ihren Gegenstand. Und das alles geschieht, so ho en die Herausgeber, mit den Texten dieses Bandes.

Das Erscheinen eines solchen Bandes beruht auf einer vielfältigen vorteilhaften Infrastruktur und verdankt sich besonders den Menschen, die sie tragen. So haben wir besonders den Mitarbeiterinnen des de Gruyter Verlages Frau Dr. Anja Weisenseel und Frau Arielle Thürmel zu danken, die mit großem Verständnis und Einfühlungsvermögen und mit ausgeprägtem Sachverstand dieses Buch ans Licht der Welt gebracht haben.

Wir widmen diesen Band unseren Autoren Wilfried Ehbrecht und Hansjörg Küster.

Paderborn, im Herbst 2024

Die Herausgeber

Frank Göttmann

Eva-Maria Seng

DAS REDEN UND SCHREIBEN ÜBER LANDSCHAFT –

EINE EINLEITUNG

1.Vorüberlegungen

Beschäftigung mit Geschichte ist keineswegs nur ein Unternehmen chronologischer Ordnungsbemühungen, was man aus einer Tradition mittelalterlicher Annalen und antiker Epochalisierungen nach Herrscher- und Regierungszeiten vermuten möchte, sondern stets ist der Raum als Korrelat wenigstens implizit als mitbestimmender Faktor angesehen worden. Schon bevor Gustav Droysen sein berühmtes Diktum geäußert hat, Geschichte vollziehe sich „in Zeit und Raum“, hatte zum Beispiel der Universalgelehrte Gottlieb Wilhelm Leibniz seiner Welfengeschichte aufgrund eigener Forschungen im Harz eine breite Darstellung der Geologie und Erdgeschichte als Handlungsraum voranstellen wollen. Dass er darin steckenblieb und die Welfengeschichte im Beginn des 11.Jahrhunderts (768 bis 1005) abbrach, hatte andere Gründe1, die nicht in seinem grundsätzlichen Ansatz lagen, Geschichte und Raum ursächlich zu verweben.2 Dies trug erst reichere Früchte, als an den Universitäten Leipzig, Bonn und Münster die interdisziplinäre Geschichtliche Landeskunde entwickelt wurde, die ganz unterschiedliche Disziplinen wie Historie, Geographie, Geologie, Sprachund Kulturgeschichte und andere in der Erforschung des Landes zusammenführte.3 Sichtbarer Ausdruck ist insbesondere das mehrbändige „Raumwerk Westfalen“ geworden, das seit 1931 in großen Abständen und 1996 mit zwei bilanzierenden Abschlussbänden erschienen

1 Schepers, Heinrich, „Leibniz, Gottfried Wilhelm“ in: Neue Deutsche Biographie 14 (1985), S.121–131 [Online-Version]; URL: https://www.deutsche-biographie.de/pnd118571249.html#ndbcontent (20.12.2021).

2 Dazu mit ausführlichen Zitaten Leibniz‘ Holz, Hans Heinz: Gottfried Wilhelm Leibniz, Frankfurt a.M. 1992, S.132–134.

3 Überblick zur Geschichte der Disziplin vgl. Werner, Matthias: Zur Geschichte des Faches, in: Freitag, Werner/Kißener, Michael/Reinle, Christine/Ullmann, Sabine (Hg.), Handbuch Landesgeschichte, Berlin 2020, S.3–23; einen Rundgang durch vergleichbare Forschungsrichtungen in Europa unternimmt Rutz, Andreas: Landesgeschichte in Europa. Traditionen – Institutitionen – Perspektiven, ebd. S.102–125.

ist.4 Indessen war man sich von Anfang an des Wesensmerkmals der Forschungsaufgabe, Disziplingrenzen zu überschreiten, bewusst, nicht erst gelegentlich der Postulation im Sammelband „Landschaft als interdisziplinäres Forschungsproblem“5 (1977), sondern zumindest implizit im Rahmen der sich Ende des 19.Jahrhunderts formierenden Geschichtlichen Landeskunde. Hier wurden o enbar keine Selbstverständlichkeiten formuliert und dem Eindruck entgegengewirkt, dass die Beschäftigung mit Raum und Landschaft ursprünglich in erster Linie von den Geowissenschaften reklamiert wurde. Vielmehr wurde einmal mehr das Spektrum der für die Landschaftsforschung relevanten Disziplinen von der Kunstgeschichte, über Literatur bis zur Wirtschaftsgeographie abgeschritten.6

Dass freilich mit dem „Raumwerk“ das Thema Land und Raum für die Historie keineswegs – und sei es nur für Westfalen – abgeschlossen sein konnte, lag aus wissenschaftstheoretischen Gründen auf der Hand. So hat der sogenannte spatial turn nach dem cultural turn eine neue Welle der Beschäftigung mit Fragen des Raumes in Geschichts- und Kulturwissenschaften evoziert. Zumal sich mit jenem Ansatz kein generelles Synonym für jegliche räumliche Wahrnehmungsweise anbot7, musste zwangsläufig auch der Begri der Landschaft in seinen unterschiedlichen Varietäten und Verwendungsmodi wieder Aufmerksamkeit fordern. Will man die Relevanz der Beschäftigung mit Landschaft richtig einschätzen, sollte keinesfalls übersehen werden, dass sie stets die Schnittstelle zwischen Politik, Gesellschaft, Medien, Naturwissenschaften und Technik markiert. Die aktuelle Auseinandersetzung über die sogenannte Energiewende belegt das sehr eindrücklich in der aktuellen Filmdokumentation „End of Landschaft“.8

4 Vgl. den Beitrag von Ehbrecht in diesem Band. Kurze Charakterisierung bei Schneider, Joachim: Der Begri der Landschaft in historischer Perspektive, in: Felten, Franz J./Müller, Harald/Ochs, Heidrun (Hg.), Landschaft(en). Begri e – Formen – Implikationen, Stuttgart 2012, S.9–24, hier S.17. – Vgl. auch Küsters Ausführungen über wissenschaftliche Ansätze, Ausrichtung, Inhalte und sachliche und wissenschaftshistorische Bedeutung des „Raumwerkes“; Küster, Thomas: Die Vermessung Westfalens. Konzeptionen geschichtlicher Landeskunde auf den Raumwerktagungen 1950 bis 1970, in: Freitag, Werner/Reininghaus, Wilfried (Hg.), Westfälische Geschichtsbaumeister. Landesgeschichtsforschung und Landesgeschichtsschreibung im 19. und 20.Jahrhundert. Beiträge der Tagung am 10. und 11.Oktober2013 in Herne, Münster 2015, S.45–68.

5 Hartlieb von Wallthor, Alfred/Quirin, Heinz (Hg.): Landschaft als interdisziplinäres Forschungsproblem. Vorträge und Diskussionen des Kolloquiums am 7./8.November1975 in Münster, Münster 1977.

6 Vgl. systematisiertes Spektrum von Disziplinen, Subdisziplinen und Frageaspekten im Vorwort des Sammelbandes Smuda, Manfred (Hg.): Landschaft, Frankfurt a.M. 1986, S.9, ergänzt u.a. Gartenbau, Geographie, Geologie, Kunstgeschichte und -theorie, Landesgeschichte, Literatur, Medien, Ökologie, Parklandschaft, Philosophie, Religion, Regionalwissenschaft, Soziologie, Wirtschaftsgeographie.

7 Joachim Schneider, Begri , S.19f. konstatiert eine Distanz der Vertreter des spatial turn zum Begri der historischen Landschaft. – Einen multiperspektivischen Einblick in diese Forschungsperspektive bietet der Sammelband Döring, Jörg/Thielmann, Tristan (Hg.): Spatial Turn. Das Raumparadigma in den Kultur- und Sozialwissenschaften, Bielefeld 2008.

8 Rehmann, Jörg: End of Landschaft. Wie Deutschland das Gesicht verliert; https://joerg-rehmann.de/ blog/2024/03/25/kino-doku-end-of-landschaft-neu-aktualisierte-fassung-2021/(11.07.2024).

Das Reden und Schreiben über Landschaft – eine Einleitung 11

Landschaft ist zuallererst ein vertrautes Wort der Alltagssprache. Sprecher verwenden es unbefangen, im Vertrauen darauf, dass Hörer es verstehen. Aber schon bei diesem einfachen Kommunikationsakt können gemeinte Botschaft und Rezeption erheblich voneinander abweichen, und nähere Attribute und Erklärungen sollen Missverständnissen vorbeugen. Das ist nicht anders, wenn sich wissenschaftliche, kulturelle und gesellschaftliche Disziplinen des Ausdrucks bedienen.

Der Ausdruck Landschaft ist mithin wegen der vielfältigen Verwendungszusammenhänge und Bedeutungsdimensionen schillernd und nicht einfach zu fassen. Die Begri sgeschichte abschreitend, hat neben anderen Schenk im wesentlichen drei relevante Felder des Inhalts und des Gebrauchs beschrieben9: (1) „Landschaft“ als politisch-territorialer Personenverband; das ins Mittelalter zurückreichende Konzept von „Land und Leuten“ lebt faktisch fort bis in die heutigen Landschaftsverbände Nordrhein-Westfalens. (2) Landschaft als „geschauter Erdausschnitt“ gewinnt mit der neuzeitlichen Malerei eine ästhetische Qualität bis zur „Schönheit“, aber auch „Wildheit“ der Natur.10 (3) Ihr entspricht in der wissenschaftlichen Geographie eine quasi regionalistische, auch statistische Betrachtung und Erfassung beziehungsweise Vermessung von „Erdräumen und -gliederungen“. Während diese Linie Raumwissenschaften und Naturgeographie ausbauen und sich sukzessive auch von dem Terminus Landschaft zur Benennung räumlicher Einheiten verabschieden und den „Raum“ zu ihrer Leitidee erheben11, kristallisieren sich cum grano salis die ersteren beiden Aspekte sowohl wissenschaftlich als auch alltagslebensweltlich und -sprachlich im Phänomen der die Natur einschließenden Kulturlandschaft heraus, von der aus sich heutige Umweltbewegungen mit ideologisierenden Begleitumständen entwickeln können. Letztlich geht es bei der

Kulturlandschaft als den vom Menschen nach seinen existenziellen gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und kulturell-ästhetischen Bedürfnissen eingerichteten und angepassten Naturraum, der im Laufe der Zeit mit einer zunehmenden Dynamik entstanden ist und weiterhin in der Folge sozialer, wirtschaftlicher und geistig-kultureller Dynamik ständig verändert wird.12

Trotz dieser scheinbar apodiktischen Setzung muss dabei immer das explizite oder implizite Bemühen um einen klaren Begri am Anfang stehen. Natur und Kultur geben als Epitheta die Richtungen vor, wenn materielle Grundlagen und Erkenntnisziele benannt werden

9 Vgl. Schenk, Winfried: Historische Geographie, Darmstadt 2011, S.11–15.

10 Zu (2) vgl. insbesondere Flach, Werner: Landschaft. Die Fundamente der Landschaftsvorstellung, in: Smuda, Landschaft, S.11–28; Waldenfels, Bernhard: Gänge durch die Landschaft, ebd., S.29–43. –Hier ist auch zu verweisen auf die politisch aufgeladene Landschaftsmalerei seit dem 19.Jh., die von Heimatmalerei und nationalistischer Heimatideologie nicht zu trennen ist; vgl. Krüger, Matthias: Art. „Landschaft, politische“, in: Fleckner, Uwe/Warnke, Martin/Ziegler, Hendrik (Hg.), Handbuch der politischen Ikonographie, Bd.2 München 2011, S.87–94.

11 Schenk, Historische Geographie, S.12.

12 Schenk, Historische Geographie, S.14, zit. nach: Vereinigung der Landesdenkmalpfleger in der Bundesrepublik Deutschland (Hg.): Denkmalpflege und historische Kulturlandschaft. Arbeitsblatt 16, in: Denkmalschutz-Informationen 26 (2002), S.93–99.

Beschäftigung mit der Landschaft prägen20, eine großangelegte tiefgehende Synthese nicht erst nach den Ergebnissen, sondern schon im vorhinein bei der Konzeptualisierung von Forschungsprojekten. Verbarg sich eine solche Idee womöglich schon hinter dem alten Konzept der Geschichtlichen Landeskunde, mündete das Resultat der nicht unerheblichen Anstrengungen in eine – despektierlich gesagt – Buchbindersynthese. Heute scheint im Rahmen einer sich stärker formierenden Umweltgeschichte und ökologischer Betrachtungsweisen eher die Überbrückung hemmender disziplinärer Grenzen möglich, wenn auch Hindernisse in Institutionen und Beschränkungen aufgrund fachlicher Ausrichtung und Kompetenz der Forscher nicht zu übersehen sind.21

Dieses ist trotz der Argumentation etwa von Küster, der eine strenge Dichotomie zurückweist, und auch schon von Hard für eine Zusammenschau naturwissenschaftlicher und kulturwissenschaftlicher Herangehensweisen mit Händen zu greifen: Arbeiten über Landschaft zeigen meist – durchaus nach Voraussetzungen und Zielen verständlich – die eine oder die andere Ausrichtung. Infolgedessen sind Forschungen und Darstellungen meist getrennt: Viele Sammelbände thematisieren einerseits faktisch die Geschichtslandschaft beziehungsweise die begri ich komplementäre historische Kulturlandschaft, andererseits die geographisch-naturwissenschaftliche Landschaft. Die folgenden Beispiele mögen das sichtbar machen.

Vorher sei aber festgestellt, dass eine derart vereinfachende Gegenüberstellung nur bedingt trägt: Beim Nachdenken über Landschaft tun sich drei Ambivalenzverhältnisse auf:

(1) besonders historisch oder geologisch-geographisch; (2) Konstruktion von Landschaft oder ihr vorgängiges Vorhandensein; (3) wissenschaftlich oder populär, alltäglich. Dabei ist allgemein der jeweilige Verwertungszusammenhang als Faktor zu bedenken. Etwa auch der Künstler ist an der Konstituierung des Landschaftsbegri s derart beteiligt, dass die außerwissenschaftliche Vorstellung von Landschaft wiederum auf die Wissenschaft ausstrahlt. Ja, generell scheinen die mit der Betrachtung von Landschaft befassten Wissenschaften immer einer „typische[n] Anschlußsituation an eine vor- oder außerwissenschaftliche Vorstellung“ zu unterliegen, was den Austausch der berührten Begri e begünstigt, allerdings sie auch inhaltlich verwischt.22

Derartige Ambivalenzen durchdringen explizit und implizit jegliche Wahrnehmung und Aussage über Landschaft. Dieses spiegelt sich etwa in Sammelbänden, die im neuen

20 Nicht überraschend zählt Küster, Landschaft Mitteleuropa, S.16 als nur einige beteiligte Disziplinen auf: Geologie, Geographie, Vegetationskunde, Zoologie, Anthropologie, Archäologie, Historie und nicht im einzelnen die große Zahl gesellschafts- und wirtschaftswissenschaftlicher Disziplinen, noch nicht die in engerem Sinne kulturellen sowie die sich hinter Landschafts-Komposita verbergenden Ausrichtungen.

21 Küster exemplifiziert das Problem faktisch am praktischen Naturschutz; Küster, Landschaft Mitteleuropa, S.388–393; vgl. auch Ders.: Das ist Ökologie. Die biologischen Grundlagen unserer Existenz, München 2005, S.175–181.

22 Vgl. Flach, Landschaft, S.23f.

Jahrtausend erschienen sind, welche auch vergleichend die Auseinandersetzung mit der Landschaft auf Tagungen repräsentieren.23 Es sei nur hingewiesen auf den Sammel- und Tagungsband des Mainzer Instituts für Geschichtliche Landeskunde, in dem die Herausgeber in der Einleitung jene Traditionszusammenhänge erläutern und in dem neben anderen wie etwa der Fluss-, Sprach- und Burgenlandschaft ein spezieller Landschaftstyp, nämlich die Klosterlandschaft einen breiten Raum einnimmt.24 In ebendem Band bietet Joachim Schneider eine empfehlenswerte Forschungsgeschichte zum Begri der historischen Landschaft.25

Immer wieder steht die Forschung vor der Frage, wie die Komplexität der eine Landschaft bestimmenden Faktoren zur Geltung gebracht werden kann. Heimann/Neitzmann/ Tresp vermeiden trotz der im wesentlichen territorialgeschichtlichen Ausrichtung ihrer Überlegungen weitgehend den Begri Geschichtslandschaft und versuchen ihn in ihrem Sammelband mit dem Begri der „Integrationslandschaft“ sinnvollerweise methodisch-empirisch zu ö nen und damit quasi auch der Container-Falle zu entgehen.26 Auch wenn dabei ein multifaktorieller Kulturlandschaftsbegri im Hintergrund zu stehen scheint, verweist er auf darüber hinausgehende Landschaftselemente. Auf sie konzentrieren sich – ihrerseits mit einer eigenen fachorientierten Einseitigkeit – geologisch-geographische Abhandlungen27 oder populäre Beschreibungen, ohne dass immer der Begri Landschaft im Titel stehen müsste.28 Auch Geschichtsvereine beziehen sich mit ihren regionalen Zeitschriften, Jahrbüchern und Ausstellungen explizit auf die von ihnen beackerten Landschaften.29

23 Beispiel etwa: Felten/Müller/Ochs, Landschaft(en); stichwortartige Erläuterung der unterschiedlichen Zugri e in der Einleitung der Herausgeber, ebd., S. 6 f. Vgl. auch zuletzt den der vergleichenden Methode verpflichteten Sammelband, in dem eine ganze Reihe deutscher Geschichtslandschaften mit entsprechenden theoretisch-methodischen Überlegungen vorgestellt wird: Hucker, Bernd Ulrich/ Kotte, Eugen (Hg.): Geschichtslandschaften, Berlin 2020; ferner Meine, Sabine/Otto, Arnold/Süßmann, Johannes (Hg.): Musiklandschaften zwischen Rhein und Weser. Pluralisierung und Verflechtung entlang des Hellwegs in der Frühen Neuzeit, Würzburg 2023.

24 Felten/Müller/Ochs, Landschaft(en); stichwortartige Erläuterung der unterschiedlichen Zugri e in der Einleitung der Herausgeber, ebd., S. 6 f. – Gleichermaßen diskutierten Heinz-Dieter Heimann und Jens Schneider als Einleitung zu einem gleichnamigen Tagungsband den Begri Klosterlandschaft und seine Implikationen im Kontext von Kulturlandschaft, Historischer Landschaft sowie Kulturerbebewegung: Heimann/Schneider: Zur Einleitung: Kloster – Landschaft – Klosterlandschaft? Annäherungen und Ausblick, in: Czaja, Roman/Heimann, Heinz-Dieter/Wemho , Matthias (Hg.), Klosterlandschaften. Methodisch-exemplarische Annäherungen, München 2008, S.9–22.

25 Schneider, Joachim: Der Begri der Landschaft in historischer Perspektive, in: Felten/Müller/Ochs, Landschaft(en), S.9–24.

26 Heimann, Heinz-Dieter/Neitmann, Klaus/Tresp, Uwe (Hg.): Die Nieder- und Oberlausitz – Konturen einer Integrationslandschaft, Bd.1: Mittelalter, Berlin 2013, S.9–35; im Einleitungstext der Herausgeber (S.12f.) werden alle raumbildenden Faktoren in Zusammenhang gestellt und weitere Landschafts-Komposita aufgegri en, freilich auch auf Desintegrationsprozesse hingewiesen, ebd. S.30f. – Zum Container-Problem vgl. den Beitrag Göttmann in diesem Band unten.

27 Beispiel Seitz, Bernd-Jürgen: Das Gesicht Europas. Die Vielfalt unserer Landschaften, Darmstadt 2020.

28 Z.B.Reiseliteratur, Kunstführer.

29 Beispiele: Hegau-Jahrbuch; Ausstellung „7000 Jahre Kulturlandschaft in Ostwestfalen. Die archäologische Sammlung des Historischen Vereins für die Grafschaft Ravensberg in der Kaiserpfalz

Bei der geologisch-naturwissenschaftlichen Erforschung von Landschaften scheint es weder Probleme der Abgrenzung von Nachbarlandschaften noch der inhaltlichen Beschreibung zu geben: etwa Gesteinsuntergrund, Oberflächenformationen, Verwitterungsprozesse, Abtragung und Sedimentation sowie Hebungs- und Senkungsvorgänge, die Begrenzung durch angrenzende Naturräume stellen quasi objektive Befunde zur Verfügung, wobei paläologische Erkenntnisse zur Flora und Fauna mit einbezogen werden.30 Freilich verweist der Untertitel des als Beispiel gewählten Aufsatzes über den Hegau – „Eine Landschaft wie aus einem Lehrbuch der Geologie“ – auf das grundsätzliche Problem, den betrachteten Raum mit Hilfe eines bestimmten Interpretationsmusters zu identifizieren. Dies erscheint freilich unvermeidlich, da Wissenschaft mit einem erprobten begri ichen Instrumentarium an ihren Gegenstand herangehen muss. Über dieses methodologische Dilemma hinaus muss uns in unserem Gesamtkontext die Frage nach der Verbindung dieser Naturlandschaft mit dem Menschen, der sie besiedelt, beschäftigen. Völlig zu Recht stellt der Autor am Ende seines Textes die Frage nach der „Rolle [der] Geologie auch in MenschUmwelt-Systemen.“31 Er nennt die in den geologischen Prozessen entstandenen fruchtbaren Böden und die günstigen Klimaverhälnisse als Voraussetzungen eines „klassische[n] Ackerbaugebiete[s] mit uralter Besiedlungsgeschichte“. Ein zweiter Faktor sind die Schottervorkommen, die wegen des umstrittenen Kiesabbaus zunehmend zu gesellschaftlich-politischen Konflikten führen. Zum dritten evoziert die Landschaft einen modernen Tourismus, über dessen Folgen man durchaus geteilter Meinung sein kann.32 Ohne diese Zusammenhänge hier weiter diskutieren und bewerten zu können, vermitteln sie doch einen Eindruck davon, dass die alte strikte Di erenzierung zwischen Natur- und Kultur-Landschaft längst obsolet geworden ist, auch wenn der methodische Zugri wegen der jeweiligen teils hochspezialisierten Analysemethoden meist getrennt nach Disziplinen erfolgen muss. Umso dringender geboten ist es aber stets, die Ergebnisse möglichst schon in statu nascendi aufeinander zu beziehen.

In der Forschungsgeschichte lohnt sich immer auch der Blick zurück. Vor zwei Generationen (1964) hat der Geograph Josef Schmithüsen unter Rückgri auf das Humboldtsche Diktum vom „Totalcharakter einer Erdgegend“ und der Frage nach deren „Gesamtbescha enheit“ Kriterien für die wissenschaftliche Erforschung einer Landschaft als „räumliche Gesamtwirklichkeit“ formuliert: (1) substantieller und formaler Aufbau; (2) Wirkungssystem; (3) Bildungsbedingungen; (4) Entstehung; (5) Wesen ihrer Bevölkerung; (6) Elemente und Faktoren der geschichtlichen Vergangenheit. Wie dieses Postulat in der Praxis eingelöst wer-

Paderborn“, 12.04.–6.08.2018. – Die „Historische Kommission für Westfalen“ versteht sich nach eigenen Aussagen auf Faltblättern ihrer Veranstaltungen „von Anfang an [als] Teil der westfälischen Geschichtslandschaft“; (gegr. 1896).

30 Ein schön dokumentiertes Beispiel ist der Hegau im westlichen Bodenseeraum; Schwab, Andreas: Der Hegau und seine Umgebung. Eine Landschaft wie aus einem Lehrbuch der Geologie, in: Schriften des Vereins für die Geschichte des Bodensees und seiner Umgebung 139 (2021), S.227–248.

31 Ebd., S.247.

32 Ebd., S.247f.

unter dem Begri Kulturlandschaft. In den Jahrbüchern des Hegau-Geschichtsvereins – um als Beispiel die Landschaft des Hegaus im westlichen Bodenseeraum noch einmal aufzugreifen – werden scheinbar unverbunden historische Themen wie Kartendarstellungen, Kirchen, Burgen, Gebäude, Kunstwerke, Zeitungen, Badeplätze, Kriegsgefangene, Naturschutz, Gärten, Gewässer, Straßen, Gastronomie, Tourismus, Schi ahrt etc. abgehandelt. Sie werden in einem einleitenden Aufsatz über die „Kulturlandschaft Hegau“ in einem quasi systemischen Kontext aufeinander bezogen. Der Autor Rainer Luick nähert sich dem Problem mit der traditionellen Ausgangsfrage „Was ist Natur, war ist Kultur?“ und beschreibt die langfristige Entwicklung und die Veränderungen von Flora und Fauna im generell als Kulturlandschaft aufgefassten Hegau besonders aus der Perspektive der landund forstwirtschaftlichen Nutzung durch den Menschen bis in die jüngste Zeit.39 Keine Überraschung, aber bedenkenswert ist seine Feststellung, dass unser populäres Faszinosum der Naturlandschaft eigentlich nur „imaginäre Projektionen von Idealen oder Erinnerungen“ darstellen, die aus Malerei oder romantisierenden Naturbeschreibungen überliefert sind und mit der vorfindbaren Realität beziehungsweise mit der tatsächlichen Nutzung und Gestaltung oft nicht viel zu tun haben.40 Gegenüber allen beobachtbaren Tendenzen, sich eine bestimmte Landschaft als separate, isolierte Entität herauszugreifen und sich anzuverwandeln, macht Luick eindringlich darauf aufmerksam, in welch hohem Maße die Kulturlandschaft Hegau – als exemplarischer Fall – bezüglich landwirtschaftlicher Produkte und benötigter Rohsto e, sogar des Müllexports weltweit mit anderen Landschaften verwoben ist, mit Landschaften, die meist vor unseren Augen verborgen und auch geistig ausgeblendet bleiben.41 Globalisierung und Glokalisierung42 bezeichnen eben keine Randphänomene von Landschaft.

Die Synthese von Naturlandschaft und Kulturlandschaft wird gleichsam programmatisch hergestellt im Titel „Naturräume und Kulturlandschaften Westfalens“ des resümierenden Bandes des westfälischen sogenannten „Raumwerkes“.43 Hier sind „die Naturlandschaften des westfälischen Raumes […] nach ihren klimatischen und geomorphologischen Merkmalen zu vier Großräumen […] zusammengefaßt“. Sie bilden die Szenerie für die historischen Ereignisse und Strukturen, die mit der Zwischenüberschrift „Naturräume und

39 Luick, Rainer: Was ist Natur, was ist Kultur? – Bemerkungen zu Gestaltungsfaktoren von Kulturlandschaft am Beispiel des Hegau, in: Hegau, Zeitschrift für Geschichte, Volkskunde und Naturgeschichte des Gebietes zwischen Rhein, Donau und Bodensee. Themenband „Kulturlandschaft Hegau“, Jahrbuch 76 (2019), S.5–30; vorausgegangen war schon der vergleichbar ausgerichtete Themenband „Natur- und Kulturlandschaft Hegau“, Jahrbuch 65 (2008).

40 Luick, Was ist Natur, S.8.

41 Ebd., S.6.

42 Zur Einordnung des Begri es in die Globalgeschichte Osterhammel, Jürgen/Petersson, Niels P.: Geschichte der Globalisierung. Dimensionen, Prozesse, Epochen, Sonderausg. Bundeszentrale für politische Bildung (bpb) der 6. aktualisierten Aufl. München 2019, Bonn 2020, S.12.

43 Ditt, Hildegard/Hartlieb von Wallthor, Alfred: Der Raum Westfalen, Bd.6, Fortschritte der Forschung und Schlussbilanz, T. 6,2: Naturräume und Kulturlandschaften Westfalens, Münster 1996. –Zu diesem großen Publikationsunternehmen vgl. Ehbrecht im vorliegenden Band.

Das Reden und Schreiben über Landschaft – eine Einleitung 19

Funktionsräume“ an die beschriebenen Naturräume angekoppelt werden, dann aber die Darstellung dominieren.44 Zugegeben, der resümierende Band beschreibt die in den älteren Bänden dokumentierten historischen Darstellungen, auch wenn die Verfasserin Hildegard Ditt ihr Unbehagen einräumt, die theoretisch-methodischen Fragen nicht näher behandeln zu können, und mit der einmal aus dem Zeitverständnis heraus getro enen Gliederung und dem Zuschnitt des Raumes und seiner Untereinheiten nicht sonderlich glücklich scheint.45

Denn in der Tat verbirgt sich hinter Raum und Zeit als Konstituenten von Landschaft das Dilemma ständiger Veränderlichkeit. Landschaft ist ein zeitloses Phänomen, eine Konstante, geologisch und anthropologisch, die sich in einem fortwährenden Wandlungsprozess befindet. Sie verändert sich ständig:46 (1) als materielle Formation und Struktur, in die Tiefe und an der Oberfläche, quasi natürlich47, (2) als gesellschaftlich-politische Organisationsform, (3) als erlebte, wahrgenommene, imaginierte Wesenheit, als Phänomen, (4) als Größe, die dem Klima und dem Menschen unterworfen ist und auf diese zurückwirkt.

Damit entzieht sich Landschaft einer eindeutigen Begri sbestimmung und Definition und ist nur beschreibbar je nach interessengeleiteten Sichtweisen und damit verbundenen Zielen und spiegelt den Wandel der Zeiten. Daher muss sich jede Generation neu über sie verständigen, sie nicht neu erfinden. Denn die Verständigung kann nur gelingen aufgrund des historischen, naturwissenschaftlichen und geographischen Wissens über Landschaft(en), auf der Grundlage reflektierter Untersuchungsmethoden und Theorien, schließlich unter der Selbstreflexion des Betrachters.

2.Unesco-Konvention – Kulturlandschaften

Dieses Dilemma zwischen Beharren und Wandel spiegelt sich im Grunde auch in der ambivalenten Formulierung der Unesco-Konvention, den „Richtlinien für die Durchführung des Übereinkommens zum Schutz des Kultur- und Naturerbes der Welt“ (Endfassung 2017).48 Dort lautet die Definition für Kulturlandschaften:

44 Ditt/von Wallthor, S.270 ., Karte der erfassten Naturräume S.17.

45 Ebd. S.18.

46 Vgl. etwa die von Seitz, Gesicht Europas, S.118f. aufgeführten Faktoren des Wandels seit dem 19.Jahrhundert wie Flussregulierungen, Ausbau von Verkehrsinfrastruktur, Industrialisierung der Landwirtschaft, Bodenversiegelung, Braunkohle-Tagebau, Ausbau sog. regenerativer Energien.

47 Z.B. spricht Seitz von „natürlich gewachsenen Landschaftstypen“; Seitz, Gesicht Europas, S.101, aber auch von „halbo enen“ Landschaften, die, höchstens zur Hälfte mit Bäumen und Sträuchern bedeckt, aus der landwirtschaftlichen Nutzung herausgenommen sind und besonders „naturnah wirken“, ebd., S.102f.

48 https://whc.unesco.org/document/158581(13.04.2022), S.17, Nr.47, Verweis auf Anlage 3. – Zu Unesco- und europäischen Landschafts- und Naturschutzinitiativen auch vgl. Seitz, Gesicht Europas, S.142 f.u. 145f.; zur europäischen Landschaftskonvention Küster, Schöne Aussichten, S.104f.; Text: https://rm.coe.int/1680080630 (16.05.2023).

Kulturlandschaften sind Kulturgüter und stellen die in Artikel 1 des Übereinkommens bezeichneten „gemeinsamen Werke von Natur und Mensch“ dar. Sie sind beispielhaft für die Entwicklung der menschlichen Gesellschaft und Ansiedlung im Verlauf der Zeit unter dem Einfluss der physischen Beschränkungen und/oder Möglichkeiten, die ihre natürliche Umwelt aufweist, sowie der von außen und von innen einwirkenden Abfolge von gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und kulturellen Kräften.49

Natur und Umwelt erscheinen hier im wesentlichen als beschränkender oder potentieller Faktor menschlicher Tätigkeit oder, wie es dann weiter in der näheren Begri sbestimmung der Anlage heißt, als schützenswertes Gut zur Erhaltung biologischer Vielfalt. Was die Natur als Akteur im Rahmen der „gemeinsamen Werke von Natur und Mensch“ beiträgt, erschließt sich nicht, es sei denn als ein Werkzeug oder gestaltbares Material für den Menschen, auch wenn auf die „Vielzahl der Erscheinungsformen der Wechselwirkung zwischen dem Menschen und seiner natürlichen Umwelt“ abgehoben wird (Anl. 3, Zi er 8). Aber die Richtung ist eindeutig, wenn die Kategorie der „organisch entwickelten“ Landschaft skizziert wird, die „ihre gegenwärtige Form durch die Einbindung in ihre natürliche Umwelt und in Reaktion auf sie entwickelt“ hat (Anl. 3, Zi er 10, ii). Die reine Landschaft erscheint schließlich nur noch als Restgröße:

Bei einer Relikt-Landschaft oder fossil geprägten Landschaft handelt es sich um eine Landschaft, in welcher der Entwicklungsprozess irgendwann in der Vergangenheit entweder abrupt oder allmählich zum Stillstand gekommen ist. Ihre besonderen Unterscheidungsmerkmale sind jedoch in materieller Form immer noch sichtbar.50

Diese Vorstellungen lassen sich nicht so leicht damit vereinbaren, dass immer häufiger im Kontext der Diskussion von Umweltschutzmaßnahmen zwischen „Nutzlandschaften“ und „Schutzlandschaften“ unterschieden wird. 51 Und zur Klärung trägt auch keineswegs bei, dass es sich bei amtlich ausgewiesenen Naturschutzgebieten und nationalen Naturlandschaften eigentlich um Kulturlandschaften handelt. 52 Das definitorische Dilemma aller Begri sbestimmungen von Landschaft wird hieran nur umso o enbarer.

Kurzum, das Verhältnis zwischen Natur und Kultur zur Charakterisierung einer Landschaft ist nie eindeutig, sondern ein Prozess, der ständigen Änderungen unterliegt. Per definitionem kann der Anteil der Flächennutzung als Kriterium herangezogen werden, um den Charakter einer Landschaft näher zu bestimmen: Während in Deutschland überhaupt inzwischen keine natürlichen Landschaften mehr anzutre en sind und es gut zur Hälfte von Agrarland bedeckt ist, auch wenn 30% der Fläche von, kultiviertem, Wald eingenommen werden, kann man je nach Grad der menschlichen Einwirkung nach „naturnahem“

49 In der zugehörigen Anlage zur Unesco-Konvention 3, S.108–110 wird die Definition noch näher erläutert.

50 Ebd. Anl. 3, Zi er 10, ii.

51 Vgl. Seitz, Gesicht Europas, S.121.

52 Ebd., S.140.

Das Reden und Schreiben über Landschaft – eine Einleitung 21

oder „halbnatürlichem“ (geringer Einfluss oder extensive Nutzung, ein Drittel der Gesamtfläche), „naturfernem“ (intensiv genutzt) oder mit wachsender Tendenz „naturfremdem“ (versiegelt) Land mit zwei Dritteln der Fläche unterscheiden. 53 Auch nach europäischen Befunden scheinen naturnahe Landschaften eine Art Übergangsphänomen zwischen Wildnis und naturfernen und naturfremden Kulturlandschaften zu beschreiben.54

Jedoch bleibt das Problem der detaillierten Binnengliederung der genannten Nutzungsaggregate bestehen. Der Versuch, aufgrund biogeographischer Konzepte nach „Ökoregionen“ oder „Ökozonen“ zu trennen, bringt letztlich auch keine eindeutigen Resultate hervor, weil in der Realität die Übergänge fließend und sozusagen volatil sind.55 Gleichwohl liegt damit ein pragmatischer naturwissenschaftlicher Zugri vor, der mit einem kultur- und sozialwissenschaftlichen vereinigt werden muss, um Landschaft zu erfassen. Das meint Seitz‘ Kapitalüberschrift „Landschaften und Lebensräume“, die beide Seiten aufeinander bezieht.56

Freilich muss man bedenken, dass Landschaft in den Unesco-Richtlinien nur zu dem besonderen Zweck des Schutzes des Kultur- und Naturerbes beschrieben ist 57 und nicht per se als Beitrag zur wissenschaftlichen Diskussion über Räume. Dennoch lohnt es sich, die hier geäußerten Gedanken aufzunehmen und sich anregen zu lassen. Besonders die Feststellung der ständigen Veränderung bei stabiler Wahrung einer erkennbaren Identität sollte ein ständiger Merkposten bleiben. Denn ein solcher Prozess kann zu keinem Ende gelangen, können doch neue Befunde, Sichtweisen, Ergebnisse den Blick auf Landschaft und ihr Bild verändern, weil sich regelmäßig immer wieder neue Fragen an die Geschichte stellen, die Theorie sich fortentwickelt, Methoden verfeinert werden und neue technische Forschungsinstrumente zur Verfügung stehen. Es ist also festzustellen, dass Landschaft bis in jüngste Zeit eine Aufgabe bildet, der sich Wissenschaft stellen muss. Denn aktuelle politische, ökonomische und gesellschaftliche Phänomene und Entwicklungen, die unter Schlagwörtern wie Glokalisierung und Umweltbewegung allgegenwärtig sind, verlangen, den Blick auf das Gebilde Landschaft zu schärfen. Dort ereignen sich auf relativ überschaubarem Raum real und mental diejenigen Veränderungen und scha en die Lebensbedingungen, welche den Menschen als Individuum und soziale Gruppe unmittelbar betre en. Und so könnte man diesen produktiven Diskurs als Reden über Landschaft bezeichnen – ein Reden unter durchaus unterschiedlichen Positionen, Prämissen und Mitteln. Ein

53 Ebd., S.16f.; europäische Vergleichszahlen ebd.; „naturnahe“ Landschaft und „Wildnis“ in Europa vorwiegend in Skandinavien und unzugänglichen Gebirgsregionen, vgl. ebd. S.130 .

54 Ebd., S.132 u. 136.

55 Ebd., S.22f.; ebd. Liste biogeographischer Regionen Europas nach prägender Charakteristik.

56 Ebd., S.25.

57 Zum grundsätzlichen Problem der Übertragung und Anwendbarkeit lange entwickelter denkmalpflegerischer Grundsätze und Methoden auf die Kulturlandschaft Gunzelmann, Thomas: Denkmallandschaft und Kulturlandschaft – die Landschaft in der Denkmalpflege, in: Blucha, Jürgen/Körner, Stefan/Nagel, Annemarie/Wiersbinski, Norbert (Bearb.), Denkmalschutz und Naturschutz – voneinander lernen und Synergien nutzen, Bonn-Bad Godesberg 2009, S.47–72.

solches Reden bleibt immer notwendig defizitär. Deshalb können auch die in diesem Band vereinigten Beiträge aus ihrer je eigenen Sicht mit ihrem je eigenen Spezialthema einen Beitrag zur Verständigung und Diskussion über Landschaft leisten. Freilich ist zu bedenken, dass letztlich jeweils nur relativ begrenzte raum-zeitliche und sachliche Ausschnitte behandelt werden. Jedoch repräsentiert der jeweilige Verweisapparat die breite Einbettung der Thematik in die schier unermessliche Debatte, das heißt das schon stattgefundene Reden. Gewiss wird Landschaft auch künftig ein o enes Projekt bleiben, das wegen der Unmittelbarkeit des Verhältnisses zwischen dem Menschen und seinem Raum Anlass zu kritischer Selbstverortung und Orientierungshilfe bieten mag.58

3.Bemerkungen zu den Beiträgen des Bandes

Nach der allgemeinen Einführung versucht der Beitrag des Mitherausgebers über Landschaft als Raum und Lebensform einen breiten Rahmen zu scha en, in den sich die Einzelbeiträge begri ich und sachlich einordnen lassen. Dabei wird von vornherein deutlich, wie vielgestaltig der Terminus Landschaft sowohl in alltäglichen, alltagssprachlichen und sachlichen Bezügen sowie in übertragenem Sinne begegnet.

Unter dem Titel „Raum“ und „Land“ Westfalen in der landesgeschichtlichen Forschung widmet sich Wilfried Ehbrecht dem wahrscheinlich bekanntesten großangelegten Forschungsunternehmen zur Erfassung und Darstellung einer historischen Großlandschaft unter dem Signum der Geschichtlichen Landeskunde. Das unter dem Etikett „Raumwerk Westfalen“ etablierte Publikationsunternehmen, über Jahrzehnte berieben, bindet alle einschlägigen Disziplinen zusammen und repräsentiert forschungsgeschichtlich eine Betrachtungsweise, die im Kern trotz vieler Modifikationen und methodischer und sachlicher Ergänzungen nach wie vor Gültigkeit beansprucht. Der Autor beschreibt seine Vorgeschichte, seine methodisch-theoretischen Grundlagen und seine Verwirklichung seit den 20er Jahren des 20.Jahrhunderts. Aus dem Beitrag wird nebenbei sichtbar, wie Geschichtswissenschaft durch politische und persönliche Vorzeichen beeinflusst ist und welche Konsequenzen daraus auf Methodik, Theorie und Ergebnisse folgen. Ein wichtiger Punkt dabei scheint das Ringen um die Ausdehnung des gemeinten Raumes der Landesgeschichte zwischen politischen Wunschvorstellungen und naturräumlich-geographischen und territorialgeschichtlichen Gegebenheiten.

Die Mitherausgeberin Eva-Maria Seng vertieft mit ihrem Aufsatz Kulturlandschaften. Die Rückgewinnung des immateriellen Kulturerbes in die Landschaft die weiter oben schon aufgegri ene Rolle der UNESCO bei der Erfassung von Artefakten und Landschaften, die

58 Das heutzutage zu beobachtende Auseinanderdriften von Ding-Bezug und Information und dessen sozialpsychologische Folgen kann als philosophisches Problem an dieser Stelle nicht diskutiert werden. Gleichwohl wäre es in Hinblick auf die „Beheimatung“ des Menschen in „seiner“ Landschaft ein ernsthaftes Problem. Zu jener These vgl. z.B. Han, Byung-Chul: Undinge. Umbrüche der Lebenswelt, 2.Aufl. Berlin 2021.

Reden und Schreiben über Landschaft –

es als Welterbe der gesamten Menschheit zu bewahren und zu schützen gilt. Damit kommt eine Perspektive der staatlich und institutionell veranlassten und gesteuerten Zuschreibung von allgemein anerkannter Bedeutung zum Ausdruck, die sich bei näherem Hinsehen allerdings keineswegs als selbstverständlich und unbestritten herausstellt. Vielmehr scheinen im Hintergrund politische Interessen auf, die den Widerstreit zwischen intendierter sachlicher Objektivität und unterschiedlichen Bewertungen kennzeichnen. Auch wenn die von Seng explizit behandelten Beispiele den Beobachter beeindrucken und ihre Wahl zum Welterbe überzeugt, o enbart sich doch, dass es dabei keine absolute Objektivität geben kann. Das Ergebnis bestimmen letztlich historisch und regional veränderliche Auswahlkriterien und Bewertungsmaßstäbe. Diese betre en o ensichtlich Fragen, Prämissen, Sachverhalte, wissenschaftliche Vorlieben und Richtungsentscheidungen, die im vorliegenden Band aus unterschiedlichen Perspektiven diskutiert werden.

Der Titel des Aufsatzes von Heinz-Dieter Heimann Klöster und Landschaften nimmt vordergründig den beliebten Ansatzpunkt in den Blick, auf welche Weise dominante Faktoren eine Raumeinheit konstituieren und prägen mögen. Eine solche Sichtweise hat zur Feststellung mannigfacher Speziallandschaften geführt, die mit attribuierenden Landschafts-Komposita benannt werden. Ein jüngeres Unternehmen etwa, das architektonische Anlagen und historisches Wissen räumlich dokumentiert und nicht zuletzt die noch bestehenden Standorte museal und touristisch vermarktet, firmiert unter dem Namen „Klosterlandschaft Westfalen-Lippe“.59 Das Anliegen von Heimann geht indessen deutlich darüber hinaus. Klostergründungen durch religiöse Gemeinschaften seit dem frühen Mittelalter erschließen in Mitteleuropa faktisch den kaum besiedelten Natur-Raum als geistliche, Herrschafts- und Verkehrs-Landschaft und sind Reflex einer spezifischen Ordenspolitik. Dabei diskutiert der Autor die Forschung über Klosterlandschaften und diesen Begri besonders anhand der breit angelegten lexikalischen Klosterbücher und exemplifiziert die Problematik der sich formierenden Räume am Beispiel der in Westfalen eine besondere Raumwirksamkeit entfaltenden Reichsabtei Corvey und deren materieller und immaterieller Bedeutung. Unter der Perspektive der Erfassung und Erforschung von Landschaften verweist Heimanns Ansatz auf wichtige Prinzipien: die Wechselwirkung zwischen natürlichen Standortfaktoren und gestaltender Kultur, die im Ergebnis eine integrative, gleichwohl veränderliche Wesenheit erzeugen. Hierfür sind besonders die ausgeprägten institutionellen und geistigen Verflechtungen innerhalb des im wesentlichen offenen Landschaftsraumes mit entscheidend. Sie stehen in Konflikt mit den sich erst allmählich herausbildenden territorialen Grenzen, die damit zu einem landschaftsbildenden Faktor werden. Zur zentralen Frage nach den Triebkräften der Raum- und Landschaftsbildung kann die vom Autor beobachtete Quellengruppe der Buchkultur wichtige Aufschlüsse bereitstellen, sorgt sie doch im zwischenklösterlichen Austausch um den Kristallisationskern Corvey für eine nachhaltige Vernetzung durch Kommunikation und damit

59 https://www.klosterlandschaft-westfalen.de/(31.01.2024).

für eine Formierung eines nach innen und von außen identifizierbaren Raumes, an den sich eine charakteristische Erinnerungskultur anschließt.

Wie oben bereits angeklungen, hat Hansjörg Küster sehr viel Lehrreiches zum Diskurs über Landschaft beizutragen. In seinem hier verö entlichten Aufsatz Landschaft: Natur, Gestaltung, Ideen geht es ihm insbesondere um vermeintliche Divergenzen zwischen Natur und Kultur bei der Ausprägung, Nutzung und Wahrnehmung von Landschaft auf der einen Seite und deren eigentlichen inneren Verbindungen und politische Symbolik auf der anderen Seite. Letzteres exemplifiziert er an der Landschaftsmalerei des 19.Jahrhunderts, in der technische Anlagen als ganz selbstverständliche, integrative Bestandteile einer scheinbar naturbestimmten Landschaft auftreten. Mit anderen Worten: Die Idee von Landschaft verweigert sich jeglicher eindeutigen Dichotomie. Das gilt gleichermaßen – im Grunde generell – in mannigfaltigen anderen Fällen, wie Küster mit den beigefügten Bildquellen belegt, zum Beispiel für die vielen Leuten aufgrund der Vegetation als Ausbund von Natürlichkeit geltende Agrarlandschaft, die allein aufgrund ihres Zustandes als bearbeitete ihren Kulturzustand o enbart. Eine mögliche Di erenzierung liegt dann allein in der Idee und der Befindlichkeit des Betrachters. Darüber hinaus macht Küster auf eine Tatsache aufmerksam, die bei der Auseinandersetzung um die Begri e Natur- oder Kulturlandschaft allenfalls sehr am Rande eine Rolle spielt: die Dominanz menschlicher Wahrnehmungsweisen und Nutzungssysteme. Jahrtausende dauernde Veränderungen und relativ kurzfristige ökologische Umbrüche konnten Flora und Fauna nachhaltig verändern, wodurch sich auch die Bedingungen für die Existenz des Menschen, seine Ernährungsgrundlagen, materiellen und ideellen Lebensformen und gesellschaftlichen Organisationsformen änderten und ihn zur Anpassung zwangen oder einzelne Gruppen zum Untergang verurteilten. Als Merkposten für jegliche Diskussionen über Landschaft gibt Küster den Gedanken mit auf den Weg, dass sich die komplementären Größen Natur und Kultur stets dynamisch verändern und in Abhängigkeit voneinander andere Ergebnisse zeitigen – und ungleichzeitig und mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten, Rückentwicklungen nicht ausgeschlossen, sollte man hinzufügen.

Dass der Bedarf an Wasser jeglicher Qualitätsstufe ein ewiges Menschheitsthema ist, bedarf keiner Begründung. Und doch scheint manchmal bis heute aus dem Blick zu geraten, dass der Wasserverbrauch großindustrieller Anlagen in Konkurrenz um die knappe Ressource mit der Nachfrage der Wohnbevölkerung einer Region treten kann, wie im Frühjahr 2024 in Brandenburg zutage getreten. Erschließung, Nutzung und Verteilung von Wasser greifen ober- und unterirdisch massiv in den natürlichen Charakter und die Struktur einer Landschaft ein und verändern deren Wahrnehmung und Wert für Mensch und Gesellschaft. Diesen kohärenten Komplex untersucht Marco Silvestri vergleichend am Beispiel der Wasserlandschaften frühneuzeitlicher Montanregionen im Erzgebirge und Harz sowie im bolivianischen (damals spanische Kolonie Peru) Potosí im 16. und 17.Jahrhundert: Wassermanagement und Wasserlandschaften frühneuzeitlicher Montanregionen. Erzgebirge – Harz – Potosí. Der geradezu legendäre Abbau von Silbererzen in den erfassten Revieren bescherte den Herren, besonders den sächsischen Herzögen und der spanischen

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Krone horrende Einnahmen. Die betrachteten Fälle gelten in der Wirtschaftsgeschichte als Beispiele früher Industrialisierung und der damit verbundenen technischen, wirtschaftlichen, siedlungsgeographischen, gesellschaftlichen und demographischen Umwälzungen. In Silvestris Beitrag geht es nun zum einen um die den Naturgegebenheiten angepasste Technik des Wasserbaus als Voraussetzung eines Schürfbetriebes, der Ableitung der Wässer aus den Gruben und des Transportes der Erze und des Aushubs. Gleichermaßen handelt er über die nötigen Baumaterialien, besonders das Holz, die auf dem Wasserweg herangescha wurden, sowie über das Wasser als Energiequelle für den Antrieb der Weiterverarbeitungsanlagen und die damit verbundenen massiven Eingri e in die Landschaft und in die vorherrschende agrarische Wirtschaftsweise. Damit korrespondierte die Veränderung der regionalen Siedlungs- und Bevölkerungsweise. Das schon seit Georg Agricola im 16.Jahrhundert dokumentierte Wissen über alle Belange der Bergbautechnik verbindet der Autor zum anderen mit Ausführungen über die konkret in den beschriebenen Fällen greifbaren Akteure und Spezialisten, die als Träger des zunehmend international erfahrbaren montan- und vermessungstechnischen Wissens, zum Teil selbst als Autoren, verstanden werden müssen. Dabei kommen aber völlig zu Recht auch Landesfürsten, obrigkeitliche Spitzenbeamte und Städte wie etwa Annaberg und generell interessierte Kapitalgeber in den Blick, welche die entscheidenden herrschaftlichen, rechtlichen, fiskalischen und gewissermaßen raumplanerischen Rahmenbedingungen und praktischen Voraussetzungen für die technische Ausbeutung und wirtschaftliche Verwertung des Erzabbaus setzten, wobei auch die enormen Eingri e in die Landschaft und die Folgen für die Umwelt bedacht werden. So zeigt der Beitrag, dass nur eine integrative Betrachtungsweise aller relevanten Faktoren der Bedeutung des Silberbergbaus und darüber hinaus generell des frühindustriellen Montanwesens an der Zeitenwende gerecht werden kann.

Das Thema Der Torf und die Landschaft, das Jan Carstensen aufgrund seiner intensiven eigenen Forschungserfahrungen beisteuert, liefert die historischen und wirtschaftsgeschichtlichen Grundlagen für eine Problematik, die in den letzten Jahren aufgrund ökologischer Vorstellungen zutage getreten ist: der Abbau von Torf als Dünger für den Gartenbau und die Wiedervernässung trockengelegter Moore und Sümpfe. Beides, die wirtschaftliche Nutzung und die Austrocknung der für Verkehr und menschliche Gesundheit gefährlichen Landstriche, stellte sich jahrhundertelang bis weit ins 20.Jahrhundert hinein gesellschaftlich und lebensweltlich durchaus anders dar. Gewiss wurde durch den Torfabbau in den von Carstensen beschriebenen niederdeutschen Küstengebieten die Landschaft stark in Mitleidenschaft gezogen, aber der Historiker muss die Verhältnisse sine ira et studio beschreiben: Torf war auch für die angrenzenden Landschaften in Hinblick auf die gesellschaftlichen und Lebensverhältnisse, in Hinblick auf die wirtschaftlichen Existenzbedingungen eine wichtige Größe: als Heizmaterial für die Bevölkerung, als Brennmaterial für energieintensive Gewerbebetriebe, zur Salzgewinnung, für die Produktion von Ziegelsteinen, die weit und breit aufgrund des Mangels sonstigen Baumaterials die Wohn-, Amts-, Gewerbe-, Kirchenbauten etc. sicherten, als Verdienstmöglichkeit für Einheimische und saisonale Wanderarbeiter, für Handel und Transportgewerbe. Kurz, die Beschäftigung mit dem Abbau und der Nutzung

von Torf kann Einsichten dafür vermitteln, wie die sozioökonomische Entwicklung einer komplexen Gesellschaftsformation, aber auch die mentale Prägung und Lebensqualität einer ganzen Bevölkerung von einem zentralen Energieträger und Rohsto abhängig sein können.

Stefan Schneckenburger führt den Leser in die Welt Shakespeares, eines Dichters, in dessen Werken Natur, Vegetation und Tierwelt bekanntlich keineswegs nur die Kulisse bilden, sondern sich als Faktoren der äußeren und inneren Handlung erweisen. Imaginierte Lebenswelten. Shakespeares Landschaften im „Wooden O“ sind keineswegs schlicht erfundene Landschaften, die von Menschen und auch Tieren bevölkert sind, sondern symbolisieren staatliche und gesellschaftliche Ordnung, sind Metaphern für menschliche Beziehungen und Handlungen. Solche Landschaften sind real auf der Bühne nicht sichtbar, sondern werden vom Dichter durch Sprache und Handlung beim Zuschauer als Vorstellung allererst hervorgerufen, das heißt durch Kommunikation zwischen dem Stück und der Lebenswelt und dem Vorwissen des miterlebenden Zuschauers, ja Zuhörers. Voraussetzung dafür ist ein erstaunlich breiter und di erenzierter Fundus von botanischem Wissen auf beiden Seiten der Bühnenrampe wie auch von geographischen Kenntnissen und Erfahrungen in Hinsicht auf Geländeformationen und Oberflächengestalten. Darüber hinaus sind Naturphänomene als Metaphern für soziale und politische Sachverhalte als Gemeingut vorausgesetzt. Auf diesem Wege vermittelt der Dichter dem Zuschauer seine Botschaft und aktiviert dessen verborgenes, in ihm angelegtes Denken und Fühlen. Mit der Inwertsetzung des persönlichen Wissens und der intrinsischen Motivationsvoraussetzungen des Rezipienten bezüglich der Landschaft und aufgrund seiner gemeinsamen Kommunikationsbestände mit Dritten – Personen oder auch Gegebenheiten – aber macht Schneckenburger am Beispiel der Dramen Shakespeares auf einen entscheidenden Sachverhalt auf dem weiten Feld der Vorstellung und Wahrnehmung von Landschaft aufmerksam, der nicht selten durch das wissenschaftliche Forschungsraster fällt.

Wenn auch Shakespeares Medium zwischen Dichter und Rezipient gleichsam das Artefakt des imaginierten Gartens ist, darf uns das technische Medium der Fotografie, das Rolf Sachsse zum Angelpunkt seiner Überlegungen macht, nicht in die technizistische Irre führen: Landschaft + Medien ≠ Medienlandschaften. Zur Bedeutung technischer Bilder von pastoralen Motiven. Die im Aufsatztitel formulierte Ungleichung lässt das Zwischen aufscheinen, das sich im Raum zwischen realer Landschaft beziehungsweise Bildobjekt und fotografischem Aufnahmegerät und heute schließlich dem digital erzeugten und veränderten Produkt ö net bis hin zu durch KI erzeugte virtuelle Landschaften, die des realen Substrats völlig entbehren und etwa in Computerspielen und Animationsfilmen die Bühne bereitstellen. Freilich muss dahinter wohl nach wie vor eine Idee von Landschaft stehen, einer Landschaft, deren Bedeutung als eigenständiges Objekt, als Bildelement und als Faktor der beabsichtigten Aussage Sachsse durch die Geschichte der Fotografie nachverfolgt. In deren Verlauf scheinen sich Grundkonstellationen zu wiederholen, wie etwa an der Funktion von Landschaft zur Beglaubigung der raum-zeitlichen Anwesenheit in der Kriegsfotografie des Ersten Weltkriegs zu ersehen und in der niederländischen Landschaftsmalerei des 17.Jahr-

Das Reden und Schreiben über Landschaft – eine Einleitung

hunderts sowie im – neuerdings als Allgemeingut grassierenden – Selfie. Und neu auftretende gesellschaftliche Strömungen wie der Denkmalschutz geben dem stillgestellten dokumentierenden Architekturfoto einen Wert von Dauer. Nichtsdestoweniger entsteht durch den technischen Zugri mit dem reproduzierbaren Bild ein Objekt eigenen Charakters, das als solches vom Betrachter angeeignet werden kann und mit dem ursprünglich abgebildeten Objekt, der Landschaft oder dem Landschaftselement, bestenfalls als Spiegelbild noch etwas zu tun hat. Diese grundsätzliche Problematik entwickelt Sachsse seit der Entwicklung der fotografischen Technik und deren technischer Vorgeschichte in Apparatebau und physiko-chemischen Verfahren, aber nicht zuletzt der druckgraphischen Reproduktionstechnik, die mit der Lithographie just zum Zeitpunkt der Geburt der Lichtbildnerei einen hohen Reifegrad erreichte. Entscheidend für die folgende Entwicklung scheint jedoch geworden zu sein, dass sich der menschliche Blick auf das Objekt durch die Zwischenschaltung und damit Vermittlung eines technischen Apparates veränderte – womit sich tendenziell auch das Objekt selbst veränderte, aber letztlich auch der Betrachter.

Gewiss spiegeln die Skizzen und Gedanken, die hier über die Texte des vorliegenden Bandes geäußert wurden, zuerst die subjektiven Eindrücke der Herausgeber wider. Die Autoren mögen davon abweichen und Wert auf anderes legen, und die Leser wiederum mögen etwas missen, weiteres assoziieren oder auch widersprechen. Das aber ist letztlich der Zweck des Bandes: das Reden und Schreiben über Landschaft als dauerhaftes Thema am Leben zu erhalten und zu bereichern.

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