Sophie Reyer
BioMacht Data Textstrategien im politischen und postfeministischen Feld
INHALT
: QUEEN OF THE BIOMACHT
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ZUR LAGE
: QUEEN OF THE BIOMACHT!
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DIE GÖTTLICHE KOMÖDIE HEUTE
: HELDIN, INNEN
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HELDEN REISEN
: MISS BIO MACHT MISS DATA
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: CORONA: DARK QUEEN!
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FORMEN UND DESILLUSIONIERUNGEN
: CORONA. DARK QUEEN
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DIE KRONE. WER SPRICHT?
: GOD INCEL
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VERDREHT. BEWUSSTSEIN UND KÜNSTLICHE INTELLIGENZ
: GOD INCEL VERDREHT (TWISTED WORLD)
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: MISS APOKALYPTIKA
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ANGST ALS WARE: NIE WAR FURCHT SO SEXY
: MISS APOKALYPTIKA
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MANIFEST GEGEN DIE HERRSCHAFT DER ANGST
: VAMPYRELLA
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AUSBLICK: DER VAMPIR ALS LETZTE HOFFNUNG?
: VAMPYRELLA
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EINE DISSOZIATION
: BIO MACHT MISS DADA
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HOFFNUNG: DADA ODER DATA?
: BIO MACHT MISS DADA
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DIE NEUE MACHT
: VAMPIRE, FREAKS UND NERDS
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AUSBLICK. HOFFNUNG
: VAMPIRE, FREAKS UND NERDS
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LETZTE ERKENNTNIS QUELLEN ÜBER DIE AUTORIN
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KUNST IST TOT. ES LEBE DER ALGORITHMUS!
GÖTTER UND HELDINNENBILDER DER GEGENWART. EINE ASSOZIATION
: QUEEN OF THE BIOMACHT ZUR LAGE
Schenkt man den Theorien Michel Foucaults Glauben, so befinden wir uns im Zeitalter der Biomacht. Das Wort »Biomacht« leitet sich von »bios« ab, was aus dem Griechischen kommt und in der Übersetzung so viel wie »Leben« bedeutet. Aber was genau heißt das? Für die einen fängt Politik an, wo Leben aufhört, für andere wiederum ist es genau umgekehrt: Politik hat an sich schon mit Leben zu tun. Die Definition des Begriffes ist jedenfalls nicht wertfrei, sondern immer konfliktbehaftet. Es handelt sich bei »Biopolitik« um ein theoriepolitisches Feld, in dem gearbeitet wird, und um keinen objektiven Forschungsgegenstand. Wie lässt sich nun aber dieser Begriff deuten? Die Frage ist immer, auf welchen Wortteil man den Akzent legt. Ist es das Leben oder ist es die Politik, was soll hier betont werden? So schälen sich zwei Bereiche heraus: zum einen jener, in dem Lebensprozesse zum Gegenstand der Politik erhoben werden, wie es beispielsweise bei den Euthanasieprogrammen in Zeiten des Nationalsozialismus geschah,
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und zum anderen der Bereich, in dem es zur Regulierung des Lebens durch Politik kommt. Deutet man den Begriff naturalistisch-polizistisch, so steht das Leben über der Politik; geht man jedoch von einem rational-historischen Begriff aus, so verhält es sich genau umgekehrt. Die von Foucault vorgeschlagene Klassifizierung lautet wie folgt: Wenn »Biopolitik« oder »Biomacht« betrieben wird, kommt es zu einer Abstraktion des Lebens von den substanzhaften Trägern. So gibt es im Zeitalter der Biomacht keine singulären Existenzen mehr, sondern sogenannte »Bevölkerungen«. Zu wichtigen Strömungen der Biopolitik kann man zum Beispiel die Entwicklung modernen Wissens in Statistik sowie Demografie et cetera zählen. Dass es dem Menschen nun möglich ist, in die biologischen Verhältnisse einzugreifen und diese zu regulieren, verändert seinen Umgang mit der Welt. Natur ist kein selbstständiges Substrat mehr, sie ist ein Korrelat der Regierungshandlungen.
Neuerungen, was den philosophischen Diskurs über den Begriff »Biopolitik« anbelangt, haben sowohl Giorgio Agamben als auch Michael Hardt und Antonio Negri mit ihren Theorien gebracht. Bei Agamben taucht erstmals die Trennung zwischen nacktem Leben und politischer Existenz auf, während Hardt und Negri die Theorie vertreten, dass es in unserer Gesellschaft zu einer Auflösung der Grenzen zwischen Ökonomie und Politik kommt. Ein weiteres Aufgreifen des Diskurses finden wir später auch bei Ágnes Heller und Ferenc Fehér. Deren These lautet, dass es durch zu viel Berücksichtigung biopolitischer Faktoren zu einer Regression der Politik an sich komme.1 Vielleicht noch einmal zum Begriff »bios«: Der Bereich der Lebensphilosophie wurde erstmals in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts durch Philosophen wie Arthur Schopenhauer, Friedrich Nietzsche oder auch Henri Bergson thematisiert. Den Beginn eines Diskurses über Biopolitik
kann man auch in den Arbeiten und Theorien von Rudolf Kjellén aus dem Jahre 1924 ausmachen, der den Staat als ein Lebewesen begriff. Er prägte den Terminus »Kollektivsubjekt«. Kjellén vertrat die These, dass soziale und politischrechtliche Bindungen auf einer Ganzheit beruhen würden, die das Echte und Ewige verkörpert – zweifelsohne ein mythischer und idealisierter Zugang.2 Nicht umsonst also wird in meinem Theatertext »vogelglück« die Biomacht personifiziert und als große Königin angebetet. Während des Nationalsozialismus wurde erstmals auch der Begriff des Volkskörpers eingesetzt. Darunter versteht man eine rassische, homogene Gemeinschaft, die autoritär geführt wird. Soziale und politische Probleme seien auf erbbiologische Unterschiede zurückzuführen, so die Ideologie. Dieser Ansatz ist überaus gefährlich und wissenschaftlich nicht fundiert.
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Im Nationalsozialismus wurden unterschiedliche Theorien in eine politische Ideologie integriert: Sowohl Sozialdarwinismus als auch Pangermanismus wurden für politische Zwecke instrumentalisiert und missbraucht. Otmar von Verschuer mag als einer der Vertreter zu nennen sein. Die Erbanlage ist in seiner Theorie eine Reaktionsmöglichkeit, mit »Rassenproblemen« umzugehen. Wie bei allen fragwürdigen Strömungen gibt es also auch gegen die Vorherrschaft der Biomacht inzwischen spannende Bewegungen in den Bereichen Kunst, Kultur und Wissenschaft, die sich mit biopolitischen Vorgängen befassen, sie durchleuchten sowie zu stören versuchen.3 Zum Beispiel – wie in einem späteren Kapitel erläutert – durch eine besondere Art und Weise, Sprache zu behandeln, die ich eine Art der »Sprache der Auszehrung« nennen möchte: So wird die Produktionsmaschinerie nicht einfach durch klare Syntax, einfache Formen und Bilder beliefert; vielmehr kommt es zur
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Auslotung neuer Bereiche und Möglichkeiten, Sprache zu denken. Doch ich greife vor; ich beginne mit der Hoffnung. Nun ja, ganz im Sinne der Kreisform – wieso nicht? Aber im Anschluss sei erst mal die Welt der Queen of the Biomacht, der alles regierenden Königin dieser Strömung, eingeführt.
: QUEEN OF THE BIOMACHT! DIE GÖTTLICHE KOMÖDIE HEUTE
Cerebra, Höllenhündin: Es ist eine Stadt, die stumm ist. Sagen wir: Ein Wüten wird kommen. Ja, nämlich von außen. Direkt aus dem All. Denn da schweben sie: die mythologischen Riesentiere. Eine Angst gebiert das Sein. Und siehe: Sie speien, speien. Und zwar einen Meteoritenhügel. Das geht ratzfatz. Queen of the Biomacht!, denkt die Göttin, auch Miss Data genannt, die hier auf der Erde herrscht. Sie ist eine moderne Göttin. Besteht aus nichts als einem Algorithmus. Ja: Aus Zahlen gebaut ist ihr Kleid! Und fein säuberlich von allem getrennt, was Leben sein könnte, haust sie im Untergrund. Und nun, siehe: Es wurde gespien. Und es ward dunkel. Wissen Sie auch, warum? Das Ausgekotzte nämlich, das da in die Erdatmosphäre eindringt, das wird auch sogleich – Schutz der Göttin sei Dank! – in einen feinen Viren-Staub zerlegt. Und so schnell kann man gar nicht schauen, da schiebt sich ein Schleier über das Sein! Erschrocken ziehen sich die Menschen in ihre Häuser zurück, um fortan im künstlichen Licht nach ihren rückwärts gerichteten Antrieben zu leben. Miss Data, die Königin, beobachtet alles aus ihrem Versteck. Big mother is watching. Sie sorgt sich. Sie überlegt. Die Queen of the Biomacht hat große Pläne, plant neue Wesen: Vögel mit Schwimmfüßen; Fledermäuse, deren Krallen von feinen Häutchen durchzogen sind und die an Fische erinnern; Schafe mit Kiemen, Katzen, deren Augen groß wie Untertassen sind und im Dunklen leuchten. Das alles wird kommen. Und dann wird es das Geschlecht der Menschen nicht mehr brauchen. Doch noch ist Zeit.
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: HELDIN, INNEN HELDEN REISEN
Das Leben war und ist eine Reise, auch in Zeiten einer Queen of the Biomacht, oder? Wie aber sieht diese Heldin der Gegenwart aus? Um das zu wissen, muss man sich mit dem historischen Abriss der Geschichte des Helden auseinandergesetzt haben, oder? Die Idee der Heldenreise ist eine, die vor allem der amerikanische Mythenforscher Joseph Campbell, der von 1904 bis 1987 gelebt hat, erforschte. Er fand heraus, dass alle bekannten Märchen und Mythen auf einem einfachen Grundmuster beruhen: Die Taten eines Protagonisten ereignen sich auf einer Heldenfahrt oder Heldenreise, im Englischen manchmal auch als »Quest« bezeichnet, die durch typische Situationsabfolgen und Figuren gekennzeichnet ist, die uns in allen Kulturkreisen wiederbegegnen. Diese wahrscheinlich dem Unterbewussten des Menschen entsprungene archetypische Grundstruktur nennt man oft auch Monomythos: ein Begriff, der von James Joyce entwickelt wurde. Von der »Odyssee« bis hin zu Disneys »König der Löwen«
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können wir diese Strukturen in der Geschichte finden und miterleben. Allerdings ist die genaue Analyse dieser Struktur eine relativ neue und zum Großteil Joseph Campbell zu verdanken. Auf seiner Recherche basierend hat Campbell die Heldenfahrt (»The Hero’s Journey«) in der Literatur und im Film – besonders im Kino und da meist im amerikanischen – etablieren können und dadurch große Popularität und Einfluss erlangt. So beruhen beispielsweise alle »Star Wars«-Filme auf Elementen und Motiven der Heldenreise. Ein weiterer wichtiger Vertreter, der in diesem Themenfeld forschte, war der in Hollywood wirkende Christopher Vogler. Mit seinem Buch »Die Odyssee des Drehbuchschreibers / The Writer’s Journey« wurde das Modell der Heldenreise weltweit bekanntgemacht. Im deutschsprachigen Raum entwickelte schließlich die Medienwissenschaftlerin Michaela Krützen diesen Begriff in ihrem Buch »Dramaturgie des Films« weiter. Sie benutzte das Format der Heldenreise zur
Analyse von Mainstream-Filmen wie etwa »Das Schweigen der Lämmer« oder auch »Pretty Woman«. Aber auch im therapeutischen sowie im Coaching-Bereich wurde und wird Campbells »Zyklus der Heldenfahrt« verwendet und für psychologisches und initiatorisches Training benutzt.4 Um mit dem Begriff der Heldenreise zu arbeiten, ist es zunächst notwendig, sich die Frage zu stellen, was überhaupt ein Held ist. Diese Suche nach den Ursprüngen führt uns – wie so oft – in die griechische Mythologie: Unter dem klassischen Helden versteht man eine Figur, die sich durch große und kühne Taten – besonders in den Bereichen Kampf und Krieg – auszeichnet und im Mittelpunkt eines Mythos oder einer Sage steht. Dergestalt sind Helden von jeher die Hauptagierenden unterschiedlicher Erzählungen und Geschichten: Sagen und Mythen ranken sich um ihre Kraft, ihre außergewöhnlichen Taten und ihre Entwicklungen. Eines ist jedoch
auffällig: Die Figuren, von denen hier die Rede ist, sind meist von männlichem Geschlecht. Als tapfere Identifikationsfiguren begegnen sie uns in Erzählungen der Antike, des klassischen Altertums, der germanischen Sage – ja sogar in noch früheren Werken wie dem GilgameschEpos der Babylonier. Die Sehnsucht nach Helden scheint also eine zu sein, die tief in der Psyche des Menschen verankert ist: Eine Identifikationsfigur wird erschaffen, ein Individuum, das sich mit Unerschrockenheit und Mut einer schweren Aufgabe stellt, eine ungewöhnliche Tat vollbringt, die ihm Bewunderung einträgt. Und wir dürfen dieser Figur in Form einer Geschichte folgen, dürfen miterleben, mitleiden und möglicherweise aus der Entwicklung des Helden für unser eigenes Leben lernen. Das Bedürfnis nach Helden scheint also so alt zu sein wie die Menschheit selbst. Zugegeben: Träumen wir nicht alle davon, besondere Taten zu vollbringen? Das Bild des Helden zieht sich also bis hinein in die Gegenwart und ist von
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den antiken Mythen im Leben und in der Literatur, im Kino, im Comic und in der Sportarena bis hin zu modernen Figuren wie Superman und Lara Croft gespannt. Die Bandbreite reicht hier vom weltberühmten Fußballhelden bis hin zum leuchtenden Hollywood-Star. Setzt man sich mit den hochdeutschen Ursprüngen des Wortes auseinander, so ist ein Held (althochdeutsch »helido«) eine Person, die eine Heldentat, also eine besondere, außeralltägliche Leistung vollbringt – genau wie der »Heros« der griechischen Antike. Dabei kann es sich um reale oder fiktive Personen handeln, um Gestalten der Geschichte, aber auch aus Legenden oder Sagen. Die heroischen Fähigkeiten des Helden können von körperlicher Art (Kraft, Schnelligkeit, Ausdauer usw.) oder auch geistiger Natur sein, wie in etwa Mut, Aufopferungsbereitschaft, Kampf für Ideale, Tugendhaftigkeit oder Einsatzbereitschaft für Mitmenschen. Nimmt man das Zedler-Lexikon aus der Mitte des 18. Jahrhunderts zur Hand, so findet sich folgende Definition: »Held, lat. Heros, ist einer, der von Natur mit einer ansehnlichen Gestalt und ausnehmender Leibesstärke begabt, durch tapfere Taten Ruhm erlanget, und sich über den gemeinen Stand derer Menschen erhoben.«5 Zu den bekannten Helden aus den Ursprüngen der Weltliteratur zählen wie bereits erwähnt vor allem König
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Gilgamesch, der sumerische König, der uns in der Literatur Mesopotamiens begegnet; Samson und David, zwei Könige in der palästinischen Mythologie; Herkules – oder Herakles – sowie Odysseus in der griechischen Mythologie. Weitere wichtige Vertreter sind unter anderem auch Cú Chulainn, der bekannteste Held der keltischen Mythologie; Beowulf aus Skandinavien; Sindbad der Seefahrer, der Held arabischer Märchen; Richard Löwenherz, der englische König; sowie Wilhelm Tell aus der Schweiz. Wie bereits erwähnt, finden sich in den langen Heldenlisten nur wenige weibliche Vertreter – und das bedauerlicherweise. Einige wenige wären zum Beispiel die Amazonenkönigin Penthesilea oder die viele Jahrhunderte später in Frankreich agierende Kämpferin Jeanne d’Arc, die in Manneskleidung Krieg führte und letzten Endes auf dem Scheiterhaufen verbrannt wurde. In der russischen Geschichte finden wir den Helden in Form von Alexander Newski vertreten, einem Revolutionär und Krieger; im südamerikanischen Raum wird von El Pípila erzählt, aber auch von dem mexikanischen Volkshelden Simón Bolívar, eine historische Persönlichkeit, die Lateinamerika von den Spaniern befreite. Und auch der bekannte und im Film oft dargestellte Zorro aus Kalifornien lässt sich zu dieser Helden-Rubrik zählen. Weitet man den Blick auf den asiatischen Raum aus, so findet man in China beispielsweise einen
Vertreter in dem Helden Liu Hulan, und in Japan ist Yamatotakeru eines der frühesten tradierten Beispiele für einen solchen. Die Tradition der Helden setzt sich bis ins 20. Jahrhundert fort, in dem zahlreiche – nun auch real existierende – Soldaten und Revolutionsführer als Helden bezeichnet werden. Das Feiern dieser historischen Persönlichkeiten geht meist mit einem intensiven Personenkult einher, der von Volk oder auch Regierung initiiert und forciert wird. Unter ihnen finden sich beispielsweise Mao Zedong (1893–1976, China) oder auch Che Guevara (1928–1967, Kuba) und Nicolae Ceaușescu (1918–1989), rumänischer Diktator, um nur ein paar zu nennen. Die Heldenfiguren meiner Romane und Theatertexte sind unterschiedlich geartet. So haben »Vertrocknete Vögel«, »baby blue eyes« und »insektizid« ganz im Sinne einer Poetik des Banalen, wie Marlene Streeruwitz sie betreibt, Frauen als Protagonistinnen, die aus der klassischen Mittelschicht stammen. Ihr Alltag und die Sinnlosigkeit, das Perpetuierende und die Monotonie, in der sie in ihren Rollen verhaftet sind, wird hier zum Thema des Textes. Mit jeder Form klassischer Identifikationsmöglichkeit bricht beispielsweise jedoch »Marias« – denn hier werden Mörderinnen zu den Hauptfiguren der Dichtung ernannt: Frauen, die Kinder umgebracht haben. Ähnlich spröde und nicht besonders sympathisch
ist auch die Figur der Sara in der »Schläferin« konzipiert – auch sie hat ihr Kind auf dem Gewissen und ist demnach keine Person, mit der LeserInnen sich auf den ersten Blick identifizieren können oder wollen. Spröde sind und bleiben auch die Protagonistin Vampyrella, die ihre Männer mit Vorliebe aussaugt, sowie der Autist Jakob – denn er vollführt, auch wenn die/der LeserIn seelisch bei ihm sein mag, einige Gewaltakte im Laufe der Handlung. Anders jedoch verhält es sich mit dem Protagonisten des Romans »Der kleine Mann aus Salz«, der die klassische Struktur eines Märchens aufweist. (Hier kommen, ähnlich wie bei russischen Puppen, viele Märchen in einem vor, genauso wie auch in dem Roman »Tausendundein Tag«.) Er ist ein klassischer Sympathieträger. Dies ist der Form des Märchens geschuldet, das hier ausgeleiert, verzerrt und verfremdet wird. Eine Identifikationsfigur ist an dieser Stelle notwendig, um Verfremdung und Verschiebung auf eine andere Ebene hin zu erzeugen. Die Figur des Helden begegnet uns also in ihren Ursprüngen zunächst im antiken Heros. Auffallend ist hier neben seiner Tapferkeit vor allem noch ein anderes Merkmal, und zwar die Herkunft: Der Held zeichnet sich stets durch eine besondere Abstammung aus; oder aber seine Geburt wird durch Prophezeiungen oder anderweitige Vorzeichen
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angekündigt. In manchen Ausnahmefällen, wie etwa in den Isländersagas, ist der Held aber auch ein Taugenichts, der zu Beginn seiner Existenz nichts anderes tut, als hinter dem Ofen zu liegen und das Leben zu genießen. Das tut er, bis ihn eine Initialzündung von außen – oder innen – dazu treibt, seine »Heldenreise« anzutreten. Was den Helden nun als wichtiges Attribut kennzeichnet, ihn während seines Aufbruchs in die Welt zu einem besonderen Charakter macht, ist leicht zu erklären: Es kommt zum Vollbringen einer »heroischen« Tat, einer Tat, die nicht der Norm des Handelns entspricht, also dergestalt Außergewöhnliches vollbringt. So werden Riesen erschlagen, wird Blutrache geübt, oder es ergibt sich die Rettung eines anderen Individuums – besonders gern werden hier Jungfrauen in die Geschichte des Helden eingeflochten – aus einer scheinbar ausweglosen Situation. Am Anfang, aber spätestens am Ende seiner Reise entspricht der Held also normalerweise der Definition dessen, was in der jeweiligen Kultur, in der seine Geschichte verankert ist, als vortrefflich und erstrebenswert gilt. Das Glück – mit einem anderen Wort das »Heil«, das sich etymologisch auch auf den Helden zurückführen lässt – steht ihm dabei regelmäßig zur Seite, ist jedoch nicht in allen klassischen Heldensagen vorhanden. So finden wir diesen Aspekt zwar in griechischen und römischen Sagen und Mythen, in der
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altnordischen Heldenepik jedoch mutet es eher ungewöhnlich an. Auffallend ist außerdem die Verbindung des Heldenhaften mit dem Göttlichen. So sind viele Helden, was Rang und Status betrifft, den Göttern ähnlich. Sei es, dass sie als Halbgötter – im griechischen Mythos meist durch die Zeugung des Göttervaters Zeus, der sich wieder einmal in eine schöne Sterbliche verliebt hat und sie in Form eines Stieres oder Goldregens befruchtet – auf die Welt kamen. Sei es, dass sie besonderen Schutz durch einen oder mehrere Gottheiten genießen. Was die Wortwurzel betrifft, so lässt sich der Terminus »Heros«, wie bereits erwähnt, aus dem Altgriechischen herleiten, in dem er einen Kulturheros der Mythologie meint. Oft handelt es sich bei den griechischen Heroen auch um Gründerfiguren, die griechische Städte, Staaten und Länder in die Welt setzten. Dennoch sind diese mythischen Helden nicht immer perfekte Vorbilder. In nicht allzu seltenen Fällen zeichnen sie sich auch durch Wunden und Kerben aus. So ist es bei dem germanischen Helden Siegfried eine ungeschützte Stelle am Schulterblatt, an der er tödlich verwundet werden kann – und sich deshalb so als perfekte Identifikationsfigur für den Menschen eignet. Was das Zeitalter betrifft, in dem Helden werken und wirken, so finden wir in der griechischen Mythologie die Bezeichnung des »Heroischen Zeitalters«. Von den Geschichtsschreibern der
Antike wird diese Ära im sogenannten »Goldenen Zeitalter« – also zu Beginn der Menschheitsgeschichte – angesetzt und endet mit dem Trojanischen Krieg, in dem laut altgriechischer Konzeption die letzten legendären Kämpfer der Epoche fielen oder mit wenigen Ausnahmen auf ihrer Heimreise starben. Einer der wichtigen Vertreter dieser Zeit wäre beispielsweise der Held Achill. Auch dieser glänzt durch gottesähnliche Eigenschaften, und ist dennoch von menschlichen Gefühlen getrieben, mit denen sich jeder – und das bis in unsere Gegenwart hinein – identifizieren kann. So beschreibt Homers Ilias ihn als den größten und stärksten Kämpfer im Trojanischen Krieg, der jedoch nicht frei ist von dem gar nicht so edelmütigen Gefühl der Rache. Als sein Vetter Patroklos durch Hektors Hand sterben muss, wird er maßlos in seinem Zorn. Aus diesem Grund fordert er Hektor zum Duell und tötet ihn. Doch damit nicht genug: Der Leichnam des Mannes wird um Trojas Mauern geschleift, und die Ehre eines Begräbnisses wird ihm verweigert, bis schließlich der König Priamos den Helden auf Knien anfleht, die Leiche freizugeben. In dieser Szenerie finden wir also zum Beispiel das Phänomen Rache, das in antiken Gesellschaften eine ganz andere Rolle innehatte, auserzählt und analysiert. Eine Thematik, die bis in die Gegenwart hinein von höchster Brisanz ist. Die Geschichte der Rückforderung
der Leiche ist also insofern spannend, da sie dem Helden Achill eine menschliche Facette hinzufügt. Heroische Figuren sind demnach, wie bereits erwähnt, menschliche Figuren, und als menschliche Figuren haben sie eine Nähe zu denen, die ihren Geschichten lauschen. Jede Heldensage bedient sich einerseits dieser Nähe, darf jedoch auch nicht ins Extrem verfallen. Denn sobald der Held sich durch ein zu hohes Maß an Alltäglichkeit auszeichnet, verliert er seinen Status, verliert das, was später in der Dramenkonzeption auch als »Fallhöhe« bezeichnet wird – und der/die ZuhörerIn wendet sich gelangweilt ab. So verfahre ich auch mit »Vampyrella«, Sara aus »Schläferin« und den meisten anderen meiner Frauenfiguren: Als Opfer des Systems tragen sie die Wunden einer Welt der Biomacht an ihren Körpern und Seelen und perpetuieren diese jedoch genauso, wie sie versuchen, gegen sie anzukämpfen. Insofern weisen sie so eine große Nähe zum Menschen an sich auf. Dennoch werden sie durch eine Form des artifiziellen Sprachgebrauchs auf heldenhafte Weise überhöht, denn sie sind tönende, klingende und in diesem Sinne auf gewisse Art und Weise auch schönere und bessere Individuen, die im Lesenden Sehnsucht hervorrufen. Doch zurück zum Topos des Helden: In den laufenden Jahrhunderten hat sich der Begriff des Helden abgespaltet; nun
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: GOD INCEL VERDREHT. BEWUSSTSEIN UND KÜNSTLICHE INTELLIGENZ
Dass das Leben eine Zeitbombe im Labor ist, wird klar, wenn man sich mit der Literatur von Yuval Noah Harari auseinandersetzt. Seit 2016 wird, wie dieser schreibt, die Welt vom liberalen Markt beherrscht. Dennoch: Nach und nach kommt es zu einer Art Subversion der liberalen Ordnung. Was aber ist nun Liberalismus eigentlich genau? Nun, darunter versteht man eine Gesinnung, die die Freiheit schätzt. Diese Grundhaltung setzt jedoch eine wichtige Tatsache voraus, nämlich dass der Mensch überhaupt einen freien Willen hat! Noch im 18. Jahrhundert war der Homo sapiens eine Art Blackbox, während man sich immer mehr an die Analyse seines Bewusstseins herantastete. Die Aufklärung betonte den freien Willen und die Entscheidungsfreiheit des Menschen. Doch die Gehirnforschung beweist, dass es damit offenbar gar nicht so weit her ist, wie wir denken. Im Gegenteil befürworten Liberale zwar freie Märkte und demokratische Wahlen, da sie den Ansatz vertreten, dass jeder Mensch ein einzigartiges und
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wertvolles Individuum sei. Doch was geschieht, wenn das gar nicht der Wahrheit entspricht? Neuere Entwicklungen zeigen, dass dieser Glaube an unsere Unaustauschbarkeit nach und nach obsolet werden könnte. Anhand mehrerer Strömungen kann man unweigerlich erkennen, dass wir den Begriff »Individuum« neu hinterfragen müssen. Zum einen verlieren die Menschen mehr und mehr ihren wirtschaftlichen und militärischen Nutzen – alles kann ja inzwischen viel leichter von einem Computer ausgeführt werden –, und zum anderen hat dies zur Folge, dass das politische und ökonomische System diesen nicht mehr besonders viel Bedeutung beimisst. Zwar ist das Kollektiv nach wie vor wichtig, das Individuum verliert jedoch, wie es scheint, in unserer Zeit mehr und mehr an Bedeutung; vor allem, wenn es nicht dem Markt dient. Unser System wird nach wie vor einige Einzelpersonen schätzen, doch diese werden sich eher in elitären Kreisen bewegen, während die Masse der Bevölkerung mehr und mehr
an Wert, Sinn und Bedeutung verlieren wird. Bis ins 20. Jahrhundert hinein hatte jede Hand, die einen Hebel oder ein Gewehr betätigen konnte, einen gewissen Wert. Heute aber lassen sich diese Instrumente viel leichter von Robotern bedienen. Im Bereich der Wirtschaft wird also diese Fähigkeit weitaus weniger Bedeutung haben, was nach und nach dazu führen wird, dass die Allianz zwischen Kapitalismus und Liberalismus gefährdet ist. Glaubte man im 20. Jahrhundert noch daran, dass der Schutz durch die Menschenrechte gegeben sei und wir uns daher nicht zwischen Moral und Ökonomie entscheiden müssten, so scheint auch diese Entwicklung ins Wanken geraten zu sein. Science-Fiction-Konzepte gehen davon aus, Computer müssten eine Art Bewusstsein entwickeln, um es mit menschlicher Intelligenz aufnehmen zu können. Doch die reale Wissenschaft liefert ein gänzlich anderes Bild. Es sieht so aus, als würden verschiedene Wege zu Superintelligenz
führen – denn Formen von Bewusstsein existierten auf organischer Ebene bereits lange vor dem Menschen. Was also ist wichtig für die Zukunft: Intelligenz oder Bewusstsein? Und vor allem: Wie lässt sich dies herausarbeiten? Eine wichtige und überaus politische Frage, wenn nicht die Frage unseres Jahrtausends schlechthin. Würde man die Welt von einem Algorithmus lenken lassen, so würde ein solches System eine Menge an Zeit und Geld sparen. Jedoch würden aber auch gleichzeitig Millionen Arbeitsplätze verlustig gehen. Schenkt man der Theorie mancher Ökonomen Glauben, dann werden Menschen möglicherweise bald schon nutzlos sein, da die meisten ihrer Tätigkeiten leichter und effizienter von Robotern ausgeübt werden können. So behaupten böse Zungen, nicht optimierte Menschen würden bald schon keinen Wert mehr haben. Während 3-D-Drucker und Roboter die billigen Arbeitskräfte aus der »Dritten Welt« ersetzen werden, die heute noch manuell Hemden herstellen, werden auch nur noch wenige
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: BIO MACHT MISS DADA HOFFNUNG: DADA ODER DATA?
Bei dem Begriff der Biomacht handelt es sich, wie bereits in einem früheren Kapitel erwähnt, nach Michel Foucault um jene politische Macht, die das Leben im Allgemeinen vereinnahmt. Zielsetzung dieser Macht sei es, so der Philosoph, eine normalisierte Gesellschaft zu kreieren, in der die Gouvernementalität, die sich der Lebensprozesse annimmt, sich für die Entwicklung der Individuen der Bevölkerung zuständig fühlt. Das erstreckt sich von den Bereichen Ernährung, Hygiene sowie Gesundheitsvorsorge und Zuwanderung bis hin zur Medizin und dem Einsatz psychotroper Substanzen. Im Sinne der Biomacht ist es, Leben zu optimieren, zu steigern, zu regulieren. Während, so Foucault, die Gesellschaften früher bestrebt waren, »leben zu lassen und sterben zu machen«, hat sich dieses Verhältnis im Zeitalter der Biomacht umgedreht. Es geht nun darum, »leben zu machen und sterben zu lassen«. Der Mensch wird zum Schöpfer.56
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Die heutigen Ausprägungsformen dieser Art der Optimierung ziehen sich, wie bereits erwähnt, durch alle Lebensbereiche: Sie reichen von einer Impfpflicht, der biometrischen Erfassung des Organhandels über die Schönheitschirurgie bis hin zum Diätenwahn, zum Bild des Jungenmädchen und zur Immigrationspolitik. Ein neuer Trend, der diese Form der Herrschaft über den eigenen Körper auf die Spitze treibt, wäre das sogenannte »Self-Tracking«, bei dem Menschen freiwillig ihre eigenen Körperfunktionen akribisch genau dokumentieren und auswerten. Suboptimale Vorgänge im eigenen Körpersystem sollen nicht nur überwacht, sondern freilich auch verbessert werden.57 Durch die Disziplinierung des Körpers – eben wie zum Beispiel mittels Self-Tracking und »Self-Enhancing« sowie durch die Regulierung der Bevölkerung – entstehen neue Rechte wie beispielsweise das Recht auf Leben, das Recht auf Gesundheit oder das Recht auf Sexualität.
Neue Kämpfe werden heute ausgetragen: die der Friedensbewegungen, die der Frauenbewegung, die der Schwulenund Lesbenbewegung, um nur einige zu nennen. Bestimmte politische und soziale Gruppierungen versuchten und versuchen, sich gegen das Regieren einer biopolitischen Instanz durch das Individualisieren zu wehren. Sie treten vehement für das Recht auf Anderssein (sei es nun im Bereich Körper, Geschlechtsentwurf, Rassenentwurf ) ein – aber auch gegen das, was das Individuum isoliert oder von der Gemeinschaft abspaltet. Als Widerstand gegen die Naturalisierung der Macht soll beispielsweise eine Lebenskunst entworfen werden, wie sie in der griechischen Antike existiert hat. Menschliche Existenz soll als Kunstwerk verstanden werden, die »Ästhetik der Existenz« wird zum Parameter der Lebensführung.58 Wie bei allen fragwürdigen Strömungen gibt es also auch gegen die Vorherrschaft der Biomacht inzwischen spannende
Bewegungen in den Bereichen Kunst, Kultur und Wissenschaft, die sich mit biopolitischen Vorgängen befassen, sie durchleuchten sowie sie zu stören versuchen.59 Eine Möglichkeit, wie sich reagieren lässt, wäre das Biohacking. MedienaktivistInnen benutzen nun vermehrt »unreine« Theorien, indem sie die Sprache der Wissenschaft infrage stellen, eine Art und Weise des Ausdrucks suchen, die sich von der institutionell abgesicherten Sprache abhebt. Denn die Ausübung von Biomacht zeichnet sich auch dadurch aus, dass ExpertInnenwissen sich meist bestimmter Codes bedient, die der allgemeinen Gesellschaft nicht zugänglich sind. Jedoch geht es besagten MedienaktivistInnen nicht darum, ExpertInnenwissen vorzukauen bzw. für die Allgemeinheit so zu verpacken, dass es dieser verständlich wird. Vielmehr soll es Laiengruppen ermöglicht werden, sich biotechnologisches Wissen als Allgemeingut aneignen zu können.60
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an der ETH Zürich, informiert über nie dagewesene Möglichkeiten in der Robotik und grenzt sie stark von dystopischen Cyborg-Fantasien ab. Doch nicht nur WissenschaftlerInnen und PhilosophInnen kommen hier zu Wort. Freilich darf auch eine Künstlerin nicht fehlen. So spricht die Drehbuchautorin, Regisseurin und Produzentin Lynn Hershman Leeson darüber, dass sie in ihren Werken versucht, gegen eine Welt zu agieren, in der immer mehr Unterdrückung und Angst herrschen. Ihr geht es darum, die Gesellschaft und ihre Auswirkungen mit frischem Blick zu sehen und spezielle Kernthemen in Sprachen der Kunst, des Films oder anderer Medien zu übersetzen. Etwas, das Sibylle Berg mit diesem Buch zweifelsohne auch für die Literatur geleistet hat. Vielleicht sollte man das Werk allerdings nicht unbedingt bei Amazon kaufen. Wie auch immer: Sibylle Berg, du gibst uns Hoffnung. Bleib so, schreib so, sei weiterhin unsere
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Schamanin des Wortes, und stell bitte weiterhin viele Fragen! Denn wie immer endet auch dieser Text im Sinne des Ausblicks mit einem Doppelpunkt.
: VAMPIRE, FREAKS UND NERDS LETZTE ERKENNTNIS
Bio Macht Miss Data? Better stay dada: take your time take your blood associate dissociate untot aber dafür Heldin: innen und außen nie in Zellen gegen Incel God die männliche Verdrehung: Leben Geben Leben :
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