Apr — Jun 2022 No 87
Zeitschrift für Stadtforschung
dérive
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ISSN 1608-8131 9 euro
Sampler ARTS-BASED RESEARCH MEDELLÍN SOZIALER WOHNBAU RAUMSTADT ÖFFENTLICHE KUNST STADTSTRASSE MASSENMOTORISIERUNG
Editorial Vor einigen Tagen hat die ukrainische Architektin und Architekturhistorikerin Ievgeniia Gubkina auf Einladung von Claiming*Spaces und der IG Architektur in Wien einen Vortrag über ihre Heimatstadt Charkiw gehalten (»Ukrainian heritage of leftist urbanism under Russian threat«). Wie viele andere musste sie aus der Stadt fliehen. Im persönlichen Gespräch nach dem Vortrag hat sie betont, wie wichtig es für sie und viele ihrer Kolleg*innen ist, weiter als Wissenschaftler*innen tätig sein zu können: zu forschen, zu unterrichten, zu publizieren, Vorträge zu halten … Es liegt also auch an uns, diesen verbrecherischen Krieg nicht nur zu verurteilen, sondern dort, wo es uns möglich ist, zu helfen, zu unterstützen, solidarisch zu sein. Wenn alles klappt, werden wir in der nächsten Ausgabe das überarbeitete Manuskript des überaus informativen und aufschlussreichen Vortrags von Ievgeniia Gubkina veröffentlichen. Das vorliegende Heft ist eine Sampler-Ausgabe, es gibt also keinen Schwerpunkt, sondern einen Strauß ganz unterschiedlicher Beiträge, die von der informellen Stadtentwicklung in Medellín bis zum Antiurbanismus im Austrofaschismus reichen. Die meisten davon haben ihren Ursprung in aktuellen Aktionen, Forschungsprojekten, Kongressen und auch Ausstellungen. Das Heft beginnt mit einem Interview zu KlimaAktivismus und Initiativen für eine Mobilitätswende mit Lucia Steinwender von den Initiativen System Change not Climate Change und LobauBleibt sowie der Verkehrswissenschaftlerin Barbara Laa, die bei Platz für Wien aktiv ist. Anlass für das Interview waren die monatelangen Baustellenbesetzungen bei der sogenannten ›Stadtstraße‹ in Wien Aspern, die für uns aus mehreren Gründen interessant sind. Einerseits natürlich wegen der Themen Mobilitätswende und Klimakrise, andererseits aber auch wegen Fragen rund um Strategien des Wandels und des Umgangs mit Protest seitens der Stadt Wien. Das Gespräch verbindet die Themen unseres letzten urbanize!-Festivals (Strategien des Wandels) und des kommenden (Around the Corner! Polyzentrale Stadtstrukturen für die öko-soziale Transformation) und setzt eine Auseinandersetzung fort, die wir letztes Jahr mit der Schwerpunktausgabe Mobilität und Stadt planung aufgegriffen haben. Das urbanize!-Festival findet dieses Jahr vom 05. bis 09. Oktober in Wien statt. Das erwähnte Schwerpunktheft ist zwar bereits vergriffen, aber weiterhin als PDF erhältlich. Im zweiten Beitrag geht es um eine »urbanistische Provokation«, wie Autor Andre Krammer es beschreibt. Verantwortlich für diese Provokation ist das von Friedrich Kiesler in den 1920er Jahren entwickelte Konzept der Raumstadt, das in einer Zeit, als Le Corbusiers Plan Voisin die Welt erblickte, als eine Anomalie gelten musste. Ein »Denkanstoß, der erst in der Nachkriegszeit Widerhall finden sollte« und über den noch bis 27. Mai 2022 eine äußerst sehenswerte Ausstellung (Raumstadt / City in Space) in den Räumen der Friedrich Kiesler Stiftung in Wien gezeigt wird.
Eine weitere Ausstellung war Ausgangspunkt für einen Beitrag in diesem Sampler: Visiting: Inken Baller & Hinrich Baller. Berlin 1966–89 im Deutschen Architektur-Zentrum Berlin (DAZ). Jochen Becker schreibt über die beiden mittlerweile über 80-jährigen Architekt*innen, die während ihrer gemeinsamen aktiven Phase die Geister schieden, dass die Ausstellung »ein neues Entdecken« ihres Schaffens ermöglicht und so manche – inklusive der Autor selbst – ihre frühere Geringschätzung revidieren müssen. Den Beteiligten des transdisziplinären Kunst- und Kulturprojekts CONTRAMIRADAS verdanken wir einen Artikel über informelle Stadtproduktion in der Peripherie Medellíns. Das Projekt »beleuchtet die sozioökonomischen Auswirkungen der Stadtentwicklung Medellíns auf marginalisierte Bevölkerungsgruppen dreier beispielhaft ausgewählter Stadtviertel mit niedrigem sozioökonomischem Status«. Um die Entwicklungen besser zu verstehen, werfen die Autor*innen auch einen Blick zurück in die Geschichte der Siedlungsprozesse in Medellíns Peripherie. Wie es sozial- und geisteswissenschaftlicher Forschung gelingen kann, »Einschränkungen des traditionellen Spektrums der wissenschaftlichen Erkenntnisproduktion zu überwinden«, ist Thema des Beitrags Arts-Based Research in der Stadt forschung, der Ergebnisse des gleichnamigen, von der Sektion Stadtforschung der Österreichischen Gesellschaft für Soziologe veranstalteten Kongresses, präsentiert. Matthias Marschik gewährt uns erneut einen Blick in seine Forschungen zur Wiener Stadtgeschichte. Auch diesmal, wie schon bei seinem Beitrag über das Moped in dérive 82, geht es um Massenmotorisierung. »Weil Wien in den 1930er Jahren der individuellen Motorisierung anderer Metropolen hinter herhinkte«, wurde mittels motorsportlicher Events versucht, Begeisterung für die Motorisierung anzufachen. Eine wichtige Rolle spielten dabei Rennsportveranstaltungen auf der Wiener Höhenstraße, die sowohl von den austrofaschistischen als auch von den nationalsozialistischen Machthabern in Szene gesetzt wurden. Ursula Maria Probst bringt für diese Ausgabe eine neue Folge ihre Interviewserie zu Kunst im öffentlichen Raum. Mit ihrer Gesprächspartnerin Elisabeth Fiedler, Leiterin des Instituts für Kunst im öffentlichen Raum Steiermark, spricht sie über den öffentlichen Raum als Verhandlungsraum. Das Kunstinsert stammt diesmal von Manaf Halbouni, der in seiner Arbeit rund um den fiktiven General Yusef Hadid eine retro fiktionale Historie konzipiert hat, die die tatsächlichen geopolitischen Machtverhältnisse auf den Kopf stellt. Am 04. März dieses Jahres ist der ebenso kluge wie liebenswürdige und engagierte US-amerikanische Stadtforscher Peter Marcuse im Alter von 93 Jahren verstorben. Anlässlich eines Wienbesuchs führten wir 2014 für Radio dérive ein Interview mit ihm. Im Gedenken an ihn haben wir es vor Kurzem auf Radio Orange neuerlich ausgestrahlt. Die Sendung kann auf unserer Website (derive.at/radio) nachgehört werden.
Stand with Ukraine! Christoph Laimer
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Produktive
VERUNSICHERUNG und UTOPISCHER
ÜBERSCHUSS seit 2000
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Zeitschrift für Stadtforschung
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Inhalt 01 Editorial CHRISTOPH LAIMER 04—09 » Wenn wir etwas ändern wollen, dann braucht es diesen Ungehorsam« Ein Gespräch über schöne Papiere, geräumte Protestcamps und missachtete Petitionen BARBARA LAA, LUCIA STEINWENDER 10—13 Die Raumstadt als Möglichkeitsraum Anmerkungen zum Nachwirken einer urbanistischen Provokation von Friedrich Kiesler ANDRE KRAMMER 14—20 Stadtproduktion in der Peripherie Medellíns Auswirkungen von Infrastrukturmaßnahmen auf marginalisierte Bevölkerungsgruppen MANUEL OBERLADER, SIMÓN PALACIO, EMILY HART, ANDRÉS F. RUIZ RUEDA, BERNADETTE COOTE, CLAUDIA MARCELA GIL FRANCO, MARÍA ISABEL MESA RÍOS 21—24 »Wir sind die Architekten für die Situationen, wo die Sonne von unten scheint.« Inken & Hinrich Ballers sozialer Wohnbau zwischen Sonderabschreibungen und Sondergenehmigungen JOCHEN BECKER 25—31 Das Röhren der Moderne Ein Wiener Umweg zur Vollmotorisierung MATTHIAS MARSCHIK
Kunstinsert 32—36 Manaf Halbouni General Yusef Hadid 37—42 Arts-Based Research in der Stadtforschung Perspektiven, Potenziale, Partizipation PHILIPP SCHNELL, GUNNAR GRANDEL, GERRIT HÖFFERER, XIAN ZHENG 43—47 Öffentlicher Raum ist Verhandlungsraum ELISABETH FIEDLER, URSULA MARIA PROBST Besprechungen 47—54 Genossenschaftliche Wohnungswirtschaft und Sozialpolitik S. 48 Von der Architekturbetrachtung zur Architektur als kulturpolitisch-gesellschaftliche Kraft S. 49 Eine überfällige Aufarbeitung S. 51 Gegen Geographie S. 53 Das Zürcher Labitzke Areal – eine Stadtutopie? S. 54 60 IMPRESSUM – dérive – Radio für Stadtforschung Jeden 1. Dienstag jeden zweiten Monat von 17.30 bis 18 Uhr in Wien auf ORANGE 94.0 oder als Webstream http://o94.at/live. Sendungsarchiv: https://derive.at/radio
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LUCIA STEINWENDER & BARBARA LAA / CHRISTOPH LAIMER & ELKE RAUTH
»Wenn wir etwas ÄNDERN wollen,
dann braucht es diesen Ein Gespräch über schöne Papiere, geräumte Protestcamps und missachtete Petitionen Zivilgesellschaftliches Engagement für die Mobilitätswende und mehr Flächengerechtigkeit sowie die Klimabewegung haben in den letzten Jahren in Wien stark zugenommen. Durch die Auseinandersetzung um den Bau der sogenannten ›Stadtstraße‹ hat sich ein lokaler Anlassfall zu einem Brennpunkt der Debatte um Klimakrise und Mobilität entwickelt. Christoph Laimer und Elke Rauth haben mit der Verkehrswissenschaftlerin und Sprecherin der Initiative Platz für Wien Barbara Laa und Lucia Steinwender, einer der Sprecher*innen von LobauBleibt und System Change not Climate Change, über diese Auseinandersetzung, zivilgesellschaftliches Engagement, Protestformen und das schwierige Verhältnis zur Wiener Stadtpolitik gesprochen.
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dérive No 87 — SAMPLER
dérive: Ihr seid beide Vertreter*innen von Klimaschutz- und Mobilitätswende-Initiativen. Die Stadt Wien hat im Jänner 2022 einen Klimafahrplan veröffentlicht, in dem es um Park raummanagement genau so geht wie um den Ausbau des öffentlichen Verkehrs, die Stadt der kurzen Wege und eine Radwegoffensive. Werden wir damit die Klimaziele erreichen? Barbara Laa: Nein – das ist die kurze Antwort. Es ist natürlich erfreulich, dass sich etwas tut und ein paar der Dinge, die angekündigt wurden, sind wirklich neu und ein Schritt in die richtige Richtung. Aber es reicht noch bei Weitem nicht. Was fehlt, sind konkrete Maßnahmen, die beziffert sind. Also: Wie viele Kilometer an Radwegen werden gebaut? Wie viele Parkplätze an der Oberfläche kommen wirklich weg? Das greifbar und nachverfolgbar zu machen, traut sich die Stadt bislang nicht. Das zieht sich seit Jahren durch die Strategiepapiere der Stadt, weswegen wir als Platz für Wien gesagt haben: Unsere Forderungen sind ganz konkret, damit wir sagen können, letztes Jahr sind nicht 30 Kilometer gebaut worden, sondern nur 2 und das reicht einfach nicht. Mein größter Kritikpunkt am Klimafahrplan – vor allem im Verkehrs bereich – ist daher, dass sehr schwammig formuliert wird und die Maßnahmen auch für die Bezirke nicht bindend sind, wo die eigentliche Entscheidungsmacht sitzt. Lucia Steinwender: Daran anschließend erklärt sich auch, warum dieser sehr konkrete Kampf um die Lobau-Autobahn so wichtig ist: Diese schönen Papiere mit ihren Versprechungen, die oft ganz weit in die Zukunft reichen, bringen
Mobilitätswende, Zivilgesellschaft, Klimaaktivismus, Lobau, Stadtpolitik, Stadtstraße, Protest, Repression, Verkehr, Wien
UNGEHORSAM«
ANDRE KRAMMER
Die Raumstadt
als Möglichkeitsraum Anmerkungen zum Nachwirken einer urbanistischen Provokation von Friedrich Kiesler
I Aus Not entsteht die neue Form der Stadt: die Landstadt: weil die Trennung zwischen Land und Stadt aufgehoben ist; die Zeitstadt: weil die Zeit der Maßstab ihrer Raumorganisation ist; die Raumstadt: weil sie frei im Raume schwebt, dem Terrain entsprechend föderativ dezentralisiert ist; die automatische Stadt: weil die tägliche Bewirtschaftung des Lebens mechanisiert ist. (…) Auszug aus dem Manifest, das Friedrich Kiesler 1925 seinem Raumstadt-Modell beilegte (Kiesler-Privatstiftung 2022)
Kielser-Raumstadt-1925. Zur Verfügung gestellt von der Friedrich Kiesler Stiftung 2022
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Raumstadt, Planung, Moderne, Utopie, Möglichkeitsraum, Aneignung, Prozess, ville spatiale, Friedrich Kiesler, Yona Friedman
Vitalbau – Raumstadt – Funktionelle Architektur
MANUEL OBERLADER ET AL.
Stadtproduktion in der PERIPHERIE Medellíns
Auswirkungen von Infrastrukturmaßnahmen auf marginalisierte Bevölkerungsgruppen
Die Stadt Medellín, eines der wichtigsten Wirtschaftszentren Kolumbiens und das Zentrum der politischen Entscheidungsfindung des Bundesstaates Antioquia, erlebte in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, ähnlich zahlreichen anderen lateinamerikanischen Städten, massive Migrationsbewegungen aus ländlichen Gebieten. In Medellín wurde dieses Wachstum durch den mehr als 50 Jahre andauernden bewaffneten Konflikt stark beschleunigt. Der Konflikt, in den Guerilla, paramilitärische Einheiten, staatliche Sicherheitskräfte (Polizei, Streitkräfte Kolumbiens, Inlandsgeheimdienst), Drogenmafia und zahlreiche andere bewaffnete Gruppierungen involviert waren,
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Informalität, Infrastruktur, Bandenkriminalität, Armut, Verdrängung, Migration, Paramilitär, Selbstverwaltung, Modernisierung, Medellín
»Die Metroseilbahn bedeutet mehr Sicherheit, besonders für Frauen. Aber sie hat mich auch von meinen Nachbarn getrennt, verursacht Lärm und schränkt die Aussicht ein. Nachts ist die Gegend rund um die Station ein toter Ort geworden.« (Lina, Mutter und Bewohnerin des Barrios El Pinal, Metrostation Linie M, 2020). Foto — Juan Londoño.
kostete zwischen 1958 und 2012 etwa 218.000 Menschen das Leben und führte zu massiver Vertreibung (5,8 Millionen Binnenvertriebene), sozialer Fragmentierung und räumlicher Segregation (Vieira 2008; Centro Nacional de Memoria 2012). Medellín war auf das beispiellose Wachstum nicht vorbereitet und weder in der wirtschaftlichen Lage noch aus politischen Gründen bereit, die Nachfrage nach Wohnraum und öffentlichen Dienstleistungen zu decken, was zu einem hohen Grad an städtischer Armut und Gewalt führte. Die Zuwander*innen errichteten informelle Siedlungen an den zuvor unbewohnten Hängen der Stadt. Aufgrund der topographischen Herausforderungen des Geländes waren viele dieser Gemeinden räumlich isoliert, ohne Zugang zu kritischer Infrastruktur aus den Sektoren Energie, Wasser, Gesundheit, Verkehr oder Arbeitsplätzen und Bildungseinrichtungen. Anstelle der erhofften sozialen und wirtschaftlichen Verbesserungen waren die Migrant*innen erneut prekären und informellen Bedingungen ausgesetzt. Diese bildeten den Nährboden für lokale Drogendealer, bewaffnete Gruppierungen und Milizen, die die Abwesenheit von staatlichen Institutionen ausnutzten. So formte sich der informelle Urbanisierungsprozess Medellíns in den 1970er Jahren aus verschiedenen Phänomenen im Zusammenhang mit dem bewaffneten Konflikt (Alcaldía de Medellín 2006; Ballesteros et al. 2009; Ortiz 2012; Correa 2009). Die Suche der Menschen nach würdigen Lebensbedingungen betrifft aber nicht nur grundlegende öffentliche Dienstleistungen, sondern auch die soziale und regulatorische Anerkennung durch den Staat. Laut Torres (2009) kann diese auch erst zu einem späteren Zeitpunkt ermöglicht werden: »Ein illegal besetztes Land kann später legalisiert und mit Dienstleistungen versorgt werden, wodurch ein informeller Wohnungsmarkt in einen formellen umgewandelt wird«. Ausgehend von diesen Praktiken der Wohnungssuche und des Grundstückserwerbs nehmen die Entstehung peripherer Stadtteile
JOCHEN BECKER
»Wir sind die Architekten für
die Situationen, wo die Architektur, West-Berlin, Sozialer Wohnbau, Kreuzberg, 1968, Denkmalpflege, IBA-Alt, behutsame Stadterneuerung, Denkmalpflege
Sonne von unten scheint.«
Inken & Hinrich Ballers sozialer Wohnbau zwischen Sonderabschreibungen und Sondergenehmigungen
Institut für Philosophie, FU Berlin; Architekur: Hinrich und Inken Baller (Baujahr 1981). Foto — ufoufo
Haltbarkeit haben Gebäude nicht nur in der Solidität ihrer Bausubstanz, sondern auch im Sinne der Akzeptanz oder durch ihren Reibungs- und Provokationsgehalt. Nach Jahren und Dekaden lohnt es sich, diese noch einmal am Gebauten, entlang der Diskurse, aber auch der eigenen Vor-Urteile zu überprüfen. Anlass dazu bietet ein voluminöses Buch und eine luftige Ausstellung: Visiting Inken Baller & Hinrich Baller, organisiert vom Architekt*innenkollektiv urban fragment observatory. Die Re-Visit der einen ist ein erstmaliger Besuch für die anderen. Generationell mag es Aufmerksamkeits- und Wissensunterschiede geben, doch die Qualitäten des Gebauten bleiben generationsübergreifend erkennbar. In Berlin (West) wird kaum ein Gast oder Einheimischer, der noch die Mauer gesehen hat, nicht zugleich auch
einen Baller-Bau in Erinnerung haben: Im Grau des Nachkriegsalltags blitzten sie wie bauliche und visuelle Hämmer. Sie waren auch bei Laien in aller Munde und extrem beliebt ebenso bei denjenigen, denen wir unter Hundertwasser-Verdacht automatisch den FSK-Song Ab nach Indien hinterhersangen. Im Gespräch mit Kolleg*innen meiner Alterskohorte stellt sich bei der Revision der Gebäude des vormaligen Architektur-Paars Inken und Hinrich Baller ein neues Entdecken ein: Ja, früher fand man das etwas arg Versponnene, geradezu expressiv Hippieske, vielleicht auch etwas Liebliche unangemessen – und als New-Wave-sozialisierte Person ganz sicher nicht cool: Vor-Wende-Berlin eben. Doch erkennt man nicht in angesagten Bandlhuber-Gebäuden genau diese spirreligen Geländer wieder, bei Innenausstattungen der Kulturbauten von ifau mit Jesko Fezer und selbst in den Fensterfronten des Kanzleramtes taucht diese prägnant türkisene Farbgebung auf. Ja sind nicht frei gestaltbare Grundrisse für dauerflexibilisierte Individuen up to date, und könnte man nicht die weit auskragenden und vollgerankten Balkon-Betonschalen von damals gegen Betonwürfel oder Cremeboxen der aktuellen Baumoden in Stellung bringen? Betrachte ich die zahlreich beigestellten alten Fotos, so merke ich, wie wenig gut die Autos vor den Neubauten gealtert sind, während die Bauten heute genau richtig wirken (sieht man von der fehlenden thermischen Dämmung oder regenerativen Heiz-, Strom- und Wassermodellen ab, die damals noch nicht so ausgereift waren, bis hin zur wenig behinderten- und altengerechten Wendeltreppen, die andererseits viel Platz sparten). Forever young Umso erstaunlicher ist es, dass die Architekt*innen Inken und Hinrich Baller knapp oder deutlich über 80 Jahre alt werden mussten, um eine erste Werkübersicht in der Hand zu
Jochen Becker — »Wir sind die Architekten für die Situationen, wo die Sonne von unten scheint.«
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MATTHIAS MARSCHIK
Das Röhren
der MODERNE Ein Wiener Umweg zur Vollmotorisierung Motorsport, Austrofaschismus, Nationalsozialismus, Wien, Massenmotorisierung, Antiurbanismus, Propaganda
Regime im Oktober 1936 nur halbherzig gelang, erweiterten die Nationalsozialisten zu einer spektakulären Inszenierung.
Die Praxis der Höhenstraße: Ein exklusiver Blick über Wien für wenige privilegierte Automobilisten. Quelle — VGA, Wien.
In Wien nahm die Automobilisierung einen seltsamen Umweg über ein Kopfsteinpflaster, das weitab von der Stadtmitte verlegt wurde und scheinbar nirgendwohin führte: Die Wiener Höhenstraße. So gering die Bedeutung des realen Bauwerks war, war ihr symbolischer Wert doch enorm: Weil Wien in den 1930er Jahren der individuellen Motorisierung anderer Metropolen hinterherhinkte, wurden im Wienerwald zumindest politische Versprechen der Modernisierung inszeniert: Motorsportliche Events sollten dazu beitragen, Bilder von Aufschwung und Massenmotorisierung hervorzurufen. Was freilich dem austrofaschistischen
Automobil in Wien In Wien – und in Österreich – folgte die beginnende individuelle Motorisierung zunächst generellen europäischen Mustern: Sie begann in den Stadtzentren, an den Schaltzentren politischer und ökonomischer Macht, sowie in den noblen Vororten, wo jene Klassen wohnten, die sich schon früh ein Auto leisten konnten. Und sie setzte sich auf den großen Ausfallstraßen fort, die in jene Gegenden führten, deren Eroberung die neue Freiheit der Kraftfahrzeuge ermöglichte. Die oberen Zehntausend dominierten den innerstädtischen Verkehr, unternahmen Ausflüge, veranstalteten Rennen, organisierten sich in exklusiven Vereinen und forderten nicht ohne Erfolg die Bevorzugung des Automobils und den Ausbau des Wegenetzes. Zugleich begannen Kommunen und Private, Lastwagen zur Güter-, Autobusse und Taxis zur Personenbeförderung zu nutzen. Im Ersten Weltkrieg wurde die kleine private Autoflotte den Bedürfnissen eines zunehmend auto-mobilen Heeres zur Verfügung gestellt. Der Wiener Sonderweg begann in der wirtschaftlich prekären Nachkriegszeit, er war geprägt von der spezifischen Situation einer schrumpfenden Metropole sowie durch die Verkehrspolitik des Roten Wien. Zwar konnte sich die Oberschicht in den Jahren der Hyperinflation Automobile anschaffen, doch wurde Wien eine Stadt des öffentlichen Verkehrs, primär der Straßenbahn. Die Verkehrspolitik war nicht auf Autos fokussiert. Wien war keine ›rastlose Metropole‹ wie Berlin. Im internationalen Vergleich hinkte Wien hinterher, so kamen 1929 in Wien 109 Personen auf ein Auto, in Berlin waren es 44. Österreichweit stieg der Automobilbesitz (PKW und LKW) von 4.000 (1919) auf 20.000 (1930) und 45.000 (1938). Dazu kamen allerdings noch 60.000 Motorräder. Eine Verkehrszählung auf der Wiener Lastenstraße (›Zweier-Linie‹) ergab im Jahr 1932 pro Tag 6.682 PKW, 3.767 Lastkraftwagen, 3.280 Motorräder und die enorme Zahl von 2.884 Straßenbahnen.
Matthias Marschik — Das Röhren der MODERNE
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Kunstinsert Manaf Halbouni General Yusef Hadid Am 21. Februar, kurz vor dem Einmarsch der russischen Truppen in der Ukraine, hielt Wladimir Putin eine großangelegte, absurde Rede, in die er historische Mythen integrierte, die der Ukraine ihre Existenz aberkennen. Diese Rede war Ausgangspunkt des verbrecherischen Krieges gegen die Ukraine. Seit einigen Jahren arbeitet Manaf Halbouni an der Kunstfigur des Generals Yusef Hadid: Dieser wurde 1874 geboren und nach militärischen Erfolgen in Turkmenistan gegen chinesische Truppen 1919 mit der 6. Arabischen Armee nach Europa entsannt, um dieses zu befreien. (Auf der gegenüberliegenden Seite sieht man General Halbouni und die militärstrategische Karte seines Feldzugs.) Halbouni konzipiert für diese Arbeit einen retrofiktionalen Kontext mit diesem entsprechenden historischen Entwicklungen. Ausgangspunkt dafür ist die Gründung der Vereinten arabischen Staaten im Jahre 1845 als moderne Demokratie, durch deren Existenz sich ganz andere geopolitische Machtverhältnisse ergeben hätten. Diese prägen auch die Gegenwart und somit das Aussehen von New Gaza (ehemals New York), in das auch der Trumptower und das House of Peace integriert sind (siehe Mittelseite unten und letzte Seite). Aus Wiener Perspektive ist die dritte Belagerung der Stadt im Jahre 1851 der entscheidende Wendepunkt, der das Habsburgerreich schon weit früher implodieren ließ. Tatsächlich hätte die zweite Belagerung Wiens bei einem osmanischen Sieg 1683 die politische Landkarte eine ganz andere Entwicklung nehmen lassen. Das rivalisierende Verhältnis zwischen Arabern und Osmanen hatte eine große Bedeutung für das Aussehen Europas. Der Osten stand unter omanischem Einfluss, der Westen unter arabischem. General Hadid zog noch weiter in den Norden und so finden sich nach seinem Feldzug Moscheen in Lübeck, Dresden und Berlin. Mit der Figur des Yusuf Hadid stellt Manaf Halbouni vielschichtige Projektionen eurozentristischer Sehgewohnheiten und den damit verbunden Dispositiven der Macht in Frage. Der in Damaskus geborene Künstler Manaf Halbouni lebt seit 2008 in Dresden. Er ist der Sohn einer deutschen Mutter und eines syrischen Vaters. Seine Kindheit hat er großteils bei seinen Großeltern in Syrien verbracht und Deutschland immer nur im Sommer besucht. Manaf Halbouni würde gerne wieder nach Syrien zurückkehren, was auf Grund der politischen Lage derzeit jedoch nicht möglich ist. Obwohl er 2014/15 nicht selbst Teil der Fluchtbewegung aus Syrien war, beschäftigt er sich in seinen Arbeiten häufig mit diesem Thema, wobei Fragen zu Identitäten über kontextuelle Verschiebungen im Vordergrund stehen. Die Auseinandersetzung mit beiden Kulturen und dessen Beobachtung waren für den Künstler auch im Sinne der eigenen Identität sehr wichtig. Von großer Bekanntheit ist sein Monument aus drei vertikalen (Aleppo-)Autobussen vor der Frauenkirche in Dresden, welches in weiterer Folge vor dem Brandenburger Tor zu sehen war. Auch hier bediente sich Manaf Halbouni wie bei diesem Kunstinsert im Vorfeld der Montage. Manaf Halbouni hat bei Eberhart Bosslet an der Hochschule für Bildende Künste in Dresden studiert. Seine Arbeiten sind regelmäßig in zahlreichen Ausstellungen zu sehen, 2015 unter anderem bei der Biennale in Venedig. Seit 13.04.2022 ist er im Kunstverein Tiergarten in Berlin und in der Predigerkirche des Thüringer Museums Eisenach mit Leuchten Sollst du 03.04.–26.06.2022 vertreten. Im Herbst nimmt er an der Industrial Art Biennial (IAB) in Istrien/Kroatien teil.
Barbara Holub / Paul Rajakovics
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http://w w w. industrialartbiennale. eu/the-4th-industrialart-biennial-begins-onseptember-17-2022/ http://website. kunstverein-tiergarten.de/ ausstellungen/kommendeausstellungen/
PHILIPP SCHNELL, GUNNAR GRANDEL, GERRIT HÖFFERER, XIAN ZHENG
Arts-Based
Research in der Stadtforschung Wissenschaft, Kunst, Forschung, Methoden, Erkenntnis, Erfahrung, Arts-Based Research, Artistic Research, Stadtforschung, Labor, Verständnis, Kommunikation
Perspektiven, Potenziale, Partizipation
Detail der Bundesschule Seestadt Aspern; Abb. aus dem Forschungsprojekt Künstlerisch-ästhetische Raumforschung mit Schüler*innen von Gerrit Höfferer; Foto — Louis Posch
Die Grenzen des ehemaligen Gegensatzpaares Kunst und Wissenschaft sind brüchig geworden: In den Künsten hat sich ›Artistic Research‹ in den vergangenen Jahren fest etabliert, während sich auch in den Sozialwissenschaften ›Arts-Based Research‹ seinen Platz erkämpft. Doch waren, insbesondere in Stadtforschung und Urbanismus, Kunst und Wissenschaft nicht schon immer nur schwer trennbar, und wurden darüber hinaus bewusst verschränkt? Man denke hier etwa an die Situationist*innen und den ›dérive‹ als Namensgeber dieser Zeitschrift. Umso mehr lohnt es sich, ›Arts-Based Research‹ und seine Potenziale für die Stadtforschung zu erkunden. Aus diesem Anlass organisierte die
Sektion Stadtforschung der Österreichischen Gesellschaft für Soziologie im Frühjahr 2021 eine Online-Tagung. Die Beiträge zeigten eine faszinierende Breite an methodischen und konzeptionellen Zugängen sowie verschiedenste Verbindungen zwischen Wissenschaft und Kunst, die auf unterschiedliche Weise urbane Räume erschließen, transformieren oder kritisch reflektieren können. In diesem Beitrag wollen wir zunächst ›Arts-Based Research‹ kurz vorstellen, um dann unterschiedliche Herangehensweisen kunstbasierter Forschung aufzuzeigen und ihre Potenziale zu erkunden. Dafür reflektieren wir Projekte, die wir selbst bei der Tagung vorgestellt haben, entlang dieses Begriffs.
Was ist Arts-Based Research? ›Arts-Based Research‹ bezeichnet Forschung in den Sozial- und Geisteswissenschaften, die auf die Künste zurückgreift, um Einschränkungen des traditionellen Spektrums der wissenschaftlichen Erkenntnisproduktion zu überwinden. Der kunstbasierten Forschung wird dabei insbesondere zugeschrieben, subjektive und körperliche Erfahrung sowie ästhetische, emotionale oder affektive Aspekte besser oder anders zugänglich machen zu können – oder wie es Tom Barone und Elliot Eisner (2011, S. 13) beschreiben: »[…] science states meaning, art expresses it. […] The meanings of poetry transcend, what literal language provides. […] The range of
Philipp Schnell, Gunnar Grandel, Gerrit Höfferer, Xian Zheng — Arts-Based Research in der Stadtforschung
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URSULA MARIA PROBST IM GESPRÄCH MIT ELISABETH FIEDLER
Öffentlicher RAUM ist Kunst im öffentlichen Raum, Graz, Einwanderung, Geschichtspolitik, Denkmalsturz, Nationalsozialismus. Transdisziplinarität
VERHANDLUNGSRAUM Seit elf Jahren ist Elisabeth Fiedler Chefkuratorin von Kunst im öffentlichen Raum Steiermark (KIÖR). In intensiver Zusammenarbeit mit regionalen und internationalen Künstler*innen, Literat*innen und Architekt*innen und durch die Erarbeitung neuer Konzepte ist es ihr gelungen, für KIÖR ein nachhaltiges Profil zu entwickeln. Das Institut für Kunst im öffentlichen Raum wurde 2006 vom damaligen Landeskulturreferenten auf Basis des Steiermärkischen Kunstund Kulturfördergesetzes gegründet und an die Universalmuseum Joanneum Gmbh assoziiert. Kunstprojekte im analogen und digitalen öffentlichen Raum zu initiieren und zu realisieren, zählt ebenso zum Aufgabenfeld wie die Umsetzung ortsbezogener Arbeiten. Die Verhandlung gesellschaftlicher Fragen und die Erarbeitung von Erinnerungskultur aus neuen gegenwärtigen Blickwinkeln sowie die Förderung interdisziplinärer Kunstformen, in die Forschung und Agrikultur einfließen, zählen heute zu den Schwerpunkten.
Catrin Bolt, Lauftext, 2013/21; Foto — UMJ, Peter Pataki
Ursula Maria Probst — Öffentlicher RAUM ist VERHANDLUNGSRAUM
Ursula Maria Probst: Das Institut für Kunst im öffentlichen Raum Steiermark blickt auf eine 16-jährige Geschichte zurück. Was bildete den Anlass für die Gründung, wo lagen die Schwerpunkte und wo liegen sie heute? Elisabeth Fiedler: Es brauchte einen neuen Ansatz. Da ›Kunst am Bau‹ nicht mehr existent war und einige Jahre keine Projekte ausgeführt worden waren, gründete der damalige Kulturreferent unter Berücksichtigung neuer Ideen des Kunsthistorikers und Kurators Werner
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Besprechungen Solidarität unter Nicht-Gleichen Gerald Kössl
Joscha Metzgers Buch Genossenschaften und die Wohnungsfrage geht der Frage nach, welche Rolle Wohnungsgenossen schaften im heutigen Feld der sozialen Wohnungswirtschaft in Deutschland und insbesondere in Hamburg spielen. Auf den Punkt gebracht könnte man sagen behan delt das Buch die Frage, inwiefern Genos senschaften dazu beitragen, die kapitalisti sche Ordnung zu überwinden oder den Fortbestand derselben zu ermöglichen. Damit verbunden ist die Frage, ob Woh nungsgenossenschaften heute einen Beitrag zur Dekommodifizierung des Wohnens leisten können und wollen. Der Autor zieht zur Beantwortung dieser Frage sowohl historische als auch empirische Ergebnisse heran, die im Rahmen einer qualitativen Forschung erhoben wurden. Den methodischen und analytischen Rahmen bildet dabei Pierre Bourdieus Theorie des Feldes, was auch den Unterti tel des Buches »Konflikte im Feld der Sozia len Wohnungswirtschaft« erklärt. Bourdieus konzeptioneller Rahmen ermöglicht es Metzger, die Positionen und Logiken der interviewten Akteur*innen (Vorstände von Genossenschaften, Genos senschaftsmitglieder, Vertreter*innen von
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politischen Parteien) bzw. deren Strategien in eine soziologische Gesellschafts- und Handlungstheorie einzubetten. Lohnend ist dabei auch Metzgers Blick in die Vergan genheit und seine Einordnung der Sozialen Wohnungswirtschaft in die drei Phasen Paternalismus, Fordismus und Postfordis mus, wobei jede Phase von einer bestimm ten Orthodoxie (i. e. vorherrschenden Gewissheiten) beherrscht war bzw. ist. Die Schilderung der Gründungsphase der ersten Genossenschaften im 19. Jahr hundert macht deren Ursprünge im libera len und christlich-sozialen Milieu deutlich. Deren Ziel war nicht die Überwindung der damaligen industriellen Ordnung, sondern die »Besserstellung individueller Marktfä higkeit durch den Zusammenschluss in der Gruppe« bzw. der Selbsthilfe, wie es die Idee des Liberalen Schulze-Delitzsch war. Erst die Genossenschaften der 1920er Jahre hatten dann auch klassenkämpferi sche Ziele. Die zweite wesentliche histori sche Phase der sozialen Wohnungswirt schaft in Deutschland ist jene des Fordismus der Nachkriegszeit. Diese Phase war vor allem von einer großmaßstäbigen Versor gung breiter Bevölkerungsschichten durch gemeinnützige Wohnbaugesellschaften geprägt. Diese breite Orientierung schaffte einen Ausgleich zwischen unternehmeri scher Wirtschaftlichkeit und ausreichender Wohnversorgung. Seit den 1980er Jahren kamen die Fundamente des Fordistischen Regimes zunehmend unter Druck. Im Rahmen des Neoliberalismus bzw. des Postfordismus fand eine neue Ausver handlung über die Rolle von Staat, Markt und Individuum statt. Selbstverwaltungsori entierte Ansätze und mitunter auch stadt politische Entscheidungen über die Errich tung von Großwohnsiedlungen im Stadtumland stellten zunehmend auch die gemeinnützige Wohnungswirtschaft in Frage. Der Skandal um das gemeinnützige Unternehmen Neue Heimat, welcher den Vorständen eine Bereicherung auf Kosten des Unternehmens vorwarf, führte dann in weiterer Folge zur folgenreichen Abschaf fung der Wohnungsgemeinnützigkeit in Deutschland.
dérive No 87 — SAMPLER
Das neue (neoliberale) Paradigma war dem Autor zufolge jenes der gemischten Quartiere und funktionierenden Nachbar schaften. Der (Fordistische) Ansatz der Dekommodifizierung von Wohnraum mittels Gemeinnützigkeit und Belegsbin dung wurde dabei aufgegeben. An dessen Stelle tritt die ›Aktivierung‹ der Bewoh ner*innen (Selbsthilfe) bzw. der Versuch, kaufkräftigere Haushalte dazu zu bewegen, in bisher benachteiligte Gebiete zu ziehen. Mit dem Ende der Wohnungsgemeinnüt zigkeit 1989 kam es in den 1990er Jahren in Folge zu einer Vielzahl von Privatisierun gen ehemals gemeinnütziger Wohnungs unternehmen. Diese Vorgänge verhalfen auch mittlerweile bekannten und vielkriti sierten Unternehmen wie Deutsche Wohnen und Vonovia zu beträchtlichen Wohnungsbeständen. Diese historischen Entwicklungen treffen, wie Metzger in seinem Buch dar stellt, zum Großteil auch auf die Stadt Hamburg zu. Während große Teile Ham burgs noch in den 1970er Jahren von Deindustrialisierung, Bevölkerungsverlust und Suburbanisierung gekennzeichnet waren, sind diese Quartiere heute von Reurbanisierung, Bevölkerungszunahme, Gentrifizierung und rasch steigenden Mieten betroffen. Vor allem seit dem Beginn der 2000er Jahre verstärkte sich der Aufwärtstrend bei den Mieten. Besonders stark ausgeprägt war dieser Umschwung in Hamburgs Osten zu erleben. Die Wohnungskrise ist präsenter denn je und kann auch von Seiten der Politik nicht mehr geleugnet werden. Neben der Beschreibung der Akteur*innen kommt auch das breite Spek trum an wohnungspolitischen Interventio nen nicht zu kurz, mit denen versucht wird, die Wohnungskrise in den Griff zu bekom men. Diese reichen von der Mietpreis bremse, der Kappungsgrenze bei Miets teigerungen bis hin zur Sozialen Erhaltungsverordnung für bestimmte Quar tiere, welche Mietsteigerungen oder auch die Umwandlung einer Wohnung von Miete auf Eigentum genehmigungspflichtig macht. Das Buch macht aber auch deutlich,
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dérive Nr. 1 (01/2000) Schwerpunkte: Gürtelsanierung: Sicherheitsdiskurs, Konzept – und Umsetzungskritik, Transparenzbegriff; Institutionalisierter Rassismus am Beispiel der »Operation Spring« dérive Nr. 2 (02/2000) Schwerpunkte: Wohnsituation von MigrantInnen und Kritik des Integrationsbegriffes; Reclaim the Streets/ Politik und Straße dérive Nr. 3 (01/2001) Schwerpunkt: Spektaktelgesellschaft dérive Nr. 4 (02/2001) Schwerpunkte: Gentrification, Stadtökologie dérive Nr. 5 (03/2001) Sampler: Salzburger Speckgürtel, Museumsquartier, räumen und gendern, Kulturwissenschaften und Stadtforschung, Virtual Landscapes, Petrzalka, Juden/Jüdinnen in Bratislava dérive Nr. 6 (04/2001) Schwerpunkt: Argument Kultur dérive Nr. 7 (01/2002) Sampler: Ökonomie der Aufmerksamkeit, Plattenbauten, Feministische Stadtplanung, Manchester, Augarten/Hakoah dérive Nr. 8 (02/2002) Sampler: Trznica Arizona, Dresden, Ottakring, Tokio, Antwerpen, Graffiti dérive Nr. 9 (03/2002) Schwerpunkt in Kooperation mit dem Tanzquartier Wien: Wien umgehen dérive Nr. 10 (04/2002) Schwerpunkt: Produkt Wohnen dérive Nr. 11 (01/2003) Schwerpunkt: Adressierung dérive Nr. 12 (02/2003) Schwerpunkt: Angst dérive Nr. 13 (03/2003) Sampler: Nikepark, Mumbai, Radfahren, Belfast dérive Nr. 14 (04/2003) Schwerpunkt: Temporäre Nutzungen dérive Nr. 15 (01/2004) Schwerpunkt: Frauenöffentlichkeiten dérive Nr. 16 (02/2004) Sampler: Frankfurt am Arsch, Ghetto Realness, Hier entsteht, (Un)Sicherheit, Reverse Imagineering, Ein Ort des Gegen dérive Nr. 17 (03/2004) Schwerpunkt: Stadterneuerung
Bestellungen via Bestellformular auf www.derive.at oder an bestellung(at)derive.at. Alle Inhaltsverzeichnisse und zahlreiche Texte sind auf der dérive-Website nachzulesen.
dérive Nr. 18 (01/2005) Sampler: Elektronische Stadt, Erdgeschoßzonen, Kathmandu, Architektur in Bratislava dérive Nr. 19 (02/2005) Schwerpunkt: Wiederaufbau des Wiederaufbaus dérive Nr. 20 (03/2005) Schwerpunkt: Candidates and Hosts dérive Nr. 21/22 (01-02/2006) Schwerpunkt: Urbane Räume – öffentliche Kunst dérive Nr. 23 (03/2006) Schwerpunkt: Visuelle Identität dérive Nr. 24 (04/2006) Schwerpunkt: Sicherheit: Ideologie und Ware dérive Nr. 25 (05/2006) Schwerpunkt: Stadt mobil dérive Nr. 26 (01/2007) Sampler: Stadtaußenpolitik, Sofia, Frank Lloyd Wright, Banlieus, Kreative Milieus, Reflexionen der phantastischen Stadt, Spatial Practices as a Blueprint for Human Rights Violations dérive Nr. 27 (02/2007) Schwerpunkt: Stadt hören dérive Nr. 28 (03/2007) Sampler: Total Living Industry Tokyo, Neoliberale Technokratie und Stadtpolitik, Planung in der Stadtlandschaft, Entzivilisierung und Dämonisierung, Stadt-Beschreibung, Die Unversöhnten dérive Nr. 29 (04/2007) Schwerpunkt: Transformation der Produktion dérive Nr. 30 (01/2008) Schwerpunkt: Cinematic Cities – Stadt im Film dérive Nr. 31 (02/2008) Schwerpunkt: Gouvernementalität dérive Nr. 32 (03/2008) Schwerpunkt: Die Stadt als Stadion dérive Nr. 33 (04/2008) Sampler: Quito, Identität und Kultur des Neuen Kapitalismus, Pavillonprojekte, Hochschullehre, Altern, Pliensauvorstadt, Istanbul, privater Städtebau, Keller, James Ballard dérive Nr. 34 (01/2009) Schwerpunkt: Arbeit Leben dérive Nr. 35 (02/2009) Schwerpunkt: Stadt und Comic dérive Nr. 36 (03/2009) Schwerpunkt: Aufwertung dérive Nr. 37 (04/2009) Schwerpunkt: Urbanität durch Migration
dérive Nr. 38 (01/2010) Schwerpunkt: Rekonstruktion und Dekonstruktion dérive Nr. 39 (02/2010) Schwerpunkt: Kunst und urbane Entwicklung dérive Nr. 40/41 (03+04/2010) Schwerpunkt: Understanding Stadtforschung dérive Nr. 42 (01/2011) Sampler dérive Nr. 43 (02/2011) Sampler dérive Nr. 44 (03/2011) Schwerpunkt: Urban Nightscapes dérive Nr. 45 (04/2011) Schwerpunkt: Urbane Vergnügungen dérive Nr. 46 (01/2012) Das Modell Wiener Wohnbau dérive Nr. 47 (02/2012) Ex-Zentrische Normalität: Zwischenstädtische Lebensräume dérive Nr. 48 (03/2012) Stadt Klima Wandel dérive Nr. 49 (04/2012) Stadt selber machen dérive Nr. 50 (01/2013) Schwerpunkt Straße dérive Nr. 51 (02/2013) Schwerpunkt: Verstädterung der Arten dérive Nr. 52 (03/2013) Sampler dérive Nr. 53 (04/2013) Citopia Now dérive Nr. 54 (01/2014) Public Spaces. Resilience & Rhythm dérive Nr. 55 (02/2014) Scarcity: Austerity Urbanism dérive Nr. 56 (03/2014) Smart Cities dérive Nr. 57 (04/2014) Safe City dérive Nr. 58 (01/2015) Urbanes Labor Ruhr dérive Nr. 59 (02/2015) Sampler dérive Nr. 60 (03/2015) Schwerpunkt: Henri Levebvre und das Recht aus Stadt dérive Nr. 61 (04/2015) Perspektiven eines kooperativen Urbanismus dérive Nr. 62 (01/2016) Sampler dérive Nr. 63 (02/2016) Korridore der Mobilität dérive Nr. 64 (03/2016) Ausgrenzung, Stigmatisierung, Exotisierung dérive Nr. 65 (04/2016) Housing the many Stadt der Vielen dérive Nr. 66 (01/2017) Judentum und Urbanität dérive Nr. 67 (02/2017) Nahrungsraum Stadt dérive Nr. 68 (03/2017) Sampler dérive Nr. 69 (04/2017) Demokratie dérive Nr. 70 (01/2018) Detroit dérive Nr. 71 (02/2018) Bidonvilles & Bretteldörfer dérive Nr. 72 (03/2018) Warsaw dérive Nr. 73 (04/2018) Nachbarschaft dérive Nr. 74 (01/2019) Sampler dérive Nr. 75 (02/2019) Sampler dérive Nr. 76 (03/2019) Stadt – Land dérive Nr. 77 (04/2019) Wohnungsfrage dérive Nr. 78 (01/2020) Willkommen im Hotel dérive Nr. 79 (02/2020) Protest dérive Nr. 80 (03/2020) Pandemie dérive Nr. 81 (04/2020) Demokratische Räume dérive Nr. 82 (01/2021) Sampler dérive Nr. 83 (02/2021) Mobilität und Stadtplanung dérive Nr. 84 (03/2021) Place Internationale dérive Nr. 85 (04/2021) Strategien des Wandels dérive Nr. 86 (01/2022) Kunst und Peripherie dérive Nr. 87 (02/2022) SAMPLER
Impressum dérive – Zeitschrift für Stadtforschung Medieninhaber, Verleger und Herausgeber: dérive – Verein für Stadtforschung Mayergasse 5/12, 1020 Wien Vorstand: Michael Klein, Christoph Laimer, Elke Rauth ISSN 1608-8131
Palacio, Ursula Maria Probst, Elke Rauth Andrés F. Ruiz Rueda, Philipp Schnell, Lucia Steinwender, Xian Zheng Anzeigenleitung & Medienkooperationen: Helga Kusolitsch, anzeigen(at)derive.at Website: Artistic Bokeh, Simon Repp
Offenlegung nach § 25 Mediengesetz Zweck des Vereines ist die Ermöglichung und Durchführung von Forschungen und wissenschaftlichen Tätigkeiten zu den Themen Stadt und Urbanität und allen damit zusammenhängenden Fragen. Besondere Berücksichtigung finden dabei inter- und transdisziplinäre Ansätze. Grundlegende Richtung dérive – Zeitschrift für Stadtforschung versteht sich als interdisziplinäre Plattform zum Thema Stadtforschung.
Grafische Gestaltung: Atelier Anna Liska Lithografie: Branko Bily Coverfoto: Medellín, 2021; Foto: Felipe Bedoya, mit freundlicher Genehmigung des Contramiradas-Projektes Hersteller: Resch Druck, 1150 Wien
Redaktion Mayergasse 5/12, 1020 Wien Tel.: +43 (01) 946 35 21 E-Mail: mail(at)derive.at
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dérive – Radio für Stadtforschung Jeden 1. Dienstag jeden zweiten Monat von 17.30 bis 18 Uhr in Wien live auf ORANGE 94.0 oder als Webstream http://o94.at/live. Sendungsarchiv: http://cba.fro.at/series/1235
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Chefredaktion: Christoph Laimer Redaktion/Mitarbeit: Thomas Ballhausen, Andreas Fogarasi, Elisabeth Haid, Judith Haslöwer, Barbara Holub, Michael Klein, Andre Krammer, Silvester Kreil, Karin Lederer, Erik Meinharter, Sabina Prudic-Hartl, Paul Rajakovics, Elke Rauth, Manfred Russo Autor*innen, Interviewpartner*innen und Künstler*innen dieser Ausgabe: Jochen Becker, Bernadette Coote, Elisabeth Fiedler, Claudia Marcela Gil Franco, Rudi Gradnitzer, Gunnar Grandel, Emily Hart, Manaf Halbouni, Gerrit Höfferer, Gerald Kössl, Andre Krammer, Barbara Laa, Peter Leeb, Matthias Marschik, Maik Novotny María Isabel Mesa Ríos, Manuel Oberladerm Simón
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dérive No 87 — SAMPLER
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»Früher fand man »das etwas arg »Versponnene, gerade »zu expressiv Hippieske, »vielleicht auch etwas »Liebliche unangemes »sen – und als New»Wave-sozialisierte »Person ganz sicher »nicht cool.« Jochen Becker auf S. 21 über die Architektur von Inken & Hinrich Baller. Informalität, Bandenkriminalität, Geschichtspolitik, Denkmalsturz, Graz, Motorsport, Austrofaschismus, Nationalsozialismus, Propaganda, Wissenschaft, Kunst, Architektur, West-Berlin, 1968, Denkmalpflege