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Belarus: Die Telegram-Revolution
Die Menschen in Belarus gehen seit Monaten auf die Straße. Die Proteste gegen Machthaber Alexander Lukaschenko organisieren sie vor allem über den Messenger-Dienst Telegram. Über nachbarschaftlichen Zusammenhalt in turbulenten Zeiten in der belarussischen Hauptstadt Minsk.
Text Nicholas Connolly, Kyiv Bureau Chief, DW
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„Ich hatte meine Nachbarn noch nie zuvor getroffen, jetzt kennen wir unsere Namen und winken uns auf der Straße zu“, sagte mir eine Frau an einem Septemberabend im Hof ihres Minsker Wohnkomplexes. Ein DJ spielte 80er-Jahre-Hits für sechs- bis 60-jährige Tänzerinnen und Tänzer, während Dutzende auf dem Kinderspielplatz herumstanden, Tee tranken und über Politik redeten. Mittlerweile kennen sich diese Nachbarn gut und gehen gemeinsam auf die Straße.
Was sie zusammengebracht hatte, war ihre Ablehnung der manipulierten Präsidentschaftswahl. Was sie seither verbindet, ist der Informationsaustausch über die App Telegram Messenger. In der Telegram-Gruppe – eine von Dutzenden in ganz Minsk – geht es nicht nur darum, die neuesten politischen Nachrichten zu verbreiten. Die App ermöglicht es, improvisierte Versammlungen im Hof zu organisieren, Demonstrierende helfen sich hier gegenseitig, wenn einer von ihnen auf der Flucht vor der Polizei in verschlossenen Treppenhäusern von Minsk Schutz sucht.
In diesen Gruppen geht es nicht darum, lediglich Artikel und Videos weiterzuleiten: Sie ermöglichen den Teilnehmenden den Austausch über die künftige Gestaltung ihres Landes, in dem sie leben wollen.
Nur wenige Meter von den Familien und den tanzenden Kindern entfernt standen bewaffnete Polizisten in Sturmhauben und bewachten eine Mauer, an der immer wieder Protestmalereien von den Behörden entfernt worden waren, die aber am nächsten Morgen wieder in frischem Glanz erschienen. Die Nachricht von der Hartnäckigkeit der Bewohnerinnen und Bewohner verbreitete sich in ganz Belarus, und bald wurde ihr Innenhof als „Platz des Wandels“ bezeichnet. Tagelang stand die Polizei rund um die Uhr Wache, bevor sie beschloss, ihre Taktik zu ändern.
Als der Anwohner Stepan Latypov gerade dabei war, das Wandbild zu übermalen und er Polizisten, die ihn daran hindern wollten, bat sich auszuweisen, schlugen sie ihn vor den Augen der Nachbarschaft und nahmen ihn in Gewahrsam. Mithilfe der lokalen Telegram-Gruppe konnten Latypovs Nachbarinnen und Nachbarn Geld sammeln und moralische Unterstützung organisieren.
In einem autoritären Regime wie Belarus sollte das Internet immer der Ort sein, an dem man abweichende Stimmen hören kann. Das ist an sich nichts Neues. Der Weg der belarussischen Oppositionsführerin Swetlana Tichanowskaja in die Politik begann mit dem Blog ihres inhaftierten Ehemanns, der eine Anhängerschaft von Hunderttausenden mobilisierte, indem er die Probleme der einfachen Leute in einer von Nachrichten über den Präsidenten dominierten Medienlandschaft ansprach.
Viele dieser Protest-Bilder stammen von Nexta, einem von Oppositionellen getragenen Medium. Menschen aus Belarus berichten im polnischen Exil über Geschichten, die von den der Regierung nahestehenden Medien ignoriert werden. Messenger-Apps wie Telegram ermöglichen es den Bürgern, ihre eigene Agenda zu bestimmen. Und zwar anonym und mit sehr geringem Aufwand. Die belarussische Bevölkerung macht mit dem Telegram-Dienst auf Schwierigkeiten im Land aufmerksam, mit denen sie im Alltag konfrontiert sind.
„Ehrliche Menschen“ ist der Name einer Telegram-Gruppe, die Menschen zusammenbringt, die zum Beispiel einen neuen Arbeitsplatz suchen. Aber es sind nicht nur Arbeitssuchende. Es sind Menschen, die in den letzten Monaten aus Protest gegen das harte Vorgehen der Regierung gegen friedliche Demonstranten ihre oft gut bezahlten Regierungsjobs aufgegeben haben. Unter den Menschen, die jetzt eine neue Karriere suchen, sind Lehrkräfte, Polizisten und bekannte Gesichter aus dem staatlichen Fernsehen. Die Einstellung dieser Personen im heutigen Belarus könnte für private Arbeitgeber staatliche Repressalien nach sich ziehen. Aber es ist ein Schritt, den viele belarussische Unternehmen gleichwohl gehen.
Zum Redaktionsschluss dieser Publikation (25. November) sitzt Stepan Latypov noch immer im Gefängnis. Aber das Wandbild, das er zu verteidigen versuchte, ist wieder da. Und die Belarussen, die seit langem für ihre Zurückhaltung und Vorsicht gegenüber Fremden bekannt sind, reden mehr miteinander als zuvor, sowohl per Telegram als auch offline.
Nicholas Connolly
ist Leiter des DW-Büros in Kiew und berichtet seit 2017 als Korrespondent für DW News aus Mittel- und Osteuropa. Er hat von der Krim und aus dem Donbass berichtet und zahlreiche Reportagen von Polen bis Georgien gemacht. Zuletzt verbrachte Connolly den Sommer in Minsk und begleitete die Proteste gegen den umstrittenen Staatschef Alexander Lukaschenko. Er studierte Geschichte und Slawistik an der Universität Oxford und arbeitete als freier Journalist in der Region, bevor er 2015 zur DW kam.