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Ungarn: Tauziehen um Informationen
Die Medienlandschaft wirkt gespalten: Immer mehr TV-Sender und Zeitungen rücken in die Nähe der Regierung, glaubwürdige Informationen bleiben auf der Strecke. Nur wenigen Internet-Portalen gelingt es gegenzusteuern.
Text Zsolt Bogar, Redakteur, Programs for Europe
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Im August erschien die ungarische Ausgabe des Modemagazins ELLE mit drei verschiedenen Titelseiten: Allen gemeinsam waren homo- oder bisexuelle Paare in intimen Momenten. Ziel der Redaktion war es, die Vielfalt von Liebesbeziehungen abzubilden. Das Magazin reagierte damit auf das kürzlich verabschiedete ungarische LGBTQ-Gesetz, das die Propagierung von Homosexualität und Geschlechtsumwandlungen bei Minderjährigen verbietet.
Die Frauenzeitschrift erntete für die Titelseiten ein großes und überwiegend positives Echo. Die Tatsache, dass in dieser Ausgabe keine Werbung erschien, mag ein Beleg dafür sein, dass das Gesetz Inserenten verunsichert hat, sich zu dieser auch gesellschaftspolitischen Frage zu positionieren.
Seit der Verabschiedung des LGBTQ-Gesetzes Anfang Juni 2021 gab es in den ungarischen Medien viele Proteste. Vor allem TV-Sender, Streamingdienste und Verlagshäuser, die Millionen Menschen in Ungarn erreichen, reagierten besorgt. Zahlreiche Kunstschaffende und Größen aus dem Sport schlossen sich den Protesten an. Diese erreichten schließlich bei der Fußball-EM (im Zeichen der Regenbogenfarben) ein Publikum weit über die Landesgrenzen hinaus.
Medienhäuser, die nicht das Narrativ der Regierung vermitteln, legten großen Wert darauf, Journalismus nicht mit politischem Aktivismus zu verwechseln. Zum einen wollen sie journalistische Regeln und Werte achten. Zum anderen müssen sie seit Jahren mit dem Vorwurf der Regierung umgehen, Verursacher für Fake News oder sogar Agenten der George-Soros-Stiftung zu sein. Deswegen sind die noch vorhandenen unabhängigen Medienhäuser sehr auf Objektivität bedacht: bei der Berichterstattung alle relevanten Aspekte zu beleuchten, Politiker zu befragen und Informationen von öffentlichem Interesse zu nutzen. Das größte Problem: Die Regierung verschweigt ihrer Ansicht nach Informationen und antwortet nicht auf kritische Fragen.
Unabhängige Medien und auch Nichtregierungsorganisationen, die sich mit Menschenrechten beschäftigen, stehen in Ungarn schon länger unter Druck. Öffentlichrechtliche Medien werden zu Handlangern der Regierung, regionale Zeitungen und lokale Radiosender landesweit in den Dienst der Regierungspropaganda gestellt. Die größte ungarische Tageszeitung Népszabadság existiert nicht mehr, die zwei größten Nachrichten-Portale im Internet, Origo und Index, wurden von regierungsnahen Unternehmern übernommen. Zudem deckte die Medieninitiative Pegasus im vergangenen Juli auf, dass kritische Journalisten in Ungarn über deren Mobilfunkgeräte ausgespäht wurden.
Ministerpräsident Viktor Orbán verweist oft auf die vielen oppositionellen Zeitungen in Ungarn, die in einer Diktatur so nicht erscheinen würden. Das Problem ist jedoch nicht, dass es im Land an kritischen Stimmen mangelt, sondern vielmehr, dass der Zugang zu glaubwürdigen Informationen für breite Schichten der Bevölkerung nicht gewährleistet wird. Kritische Informationen erreichen vor allem nicht die konservativen Fidesz-Wähler in ländlichen Regionen. Diese nutzen hauptsächlich öffentlich-rechtliche Medien, regionale Zeitungen sowie lokale Fernsehprogramme, die regierungsnah sind. Hinzu kommt, dass die Gesellschaft politisch so tief gespalten ist, dass der Medienkonsum und die Frage, welchen Medien man Glauben schenkt, vor allem mit den parteipolitischen Präferenzen zusammenhängt: Jeder verfolgt die ihm politisch nahestehenden Medien.
Vor diesem Hintergrund sei die Erfolgsgeschichte von Telex.hu erwähnt: Das Portal wurde vor einem Jahr von den ehemaligen Journalisten und Redakteuren der Onlinezeitung Index.hu gegründet, nachdem das Portal von einem regierungsnahen Geschäftsmann übernommen und der Chefredakteur entlassen worden war. Telex.hu wird vollständig von den Nutzern finanziert – Mitte August erreichte das Medium mehr als 860.000 Leser täglich. Deutlich weniger, als das Portal Index erzielt.
Diese „Erfolgsgeschichte“ macht indes auch einen Teil der Probleme deutlich, die kritischer Journalismus in Ungarn aufwirft. Vielen Medien bleibt der Zugang zu Informationen einfach verwehrt. Hinzu kommt, dass relevante und objektive Berichterstattung breite Schichten der Gesellschaft nicht mehr erreicht.
Zsolt Bogar
ist freier Journalist und Medienberater. Er arbeitet unter anderem für DW Magyar. Zwischen 2011 und 2016 hat er für die ungarische Online-Zeitung hvg.hu berichtet. Zuvor war er leitender Redakteur beim Nachrichtensender MR1-Kossuth Radio. Dort war Bogar entlassen worden, nachdem er gegen das neue Mediengesetz der Orbán-Regierung protestiert hatte. Bei einem Migrationsprojekt der Friedrich-Ebert-Stiftung in Ungarn wirkte Bogar als Medienexpert mit.
youtube.com/DWmagyar