b – N° 3 / Das Magazin des Balletts am Rhein

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Magazin des Balletts am Rhein SPIELZEIT 2012/13

NO 3

MARTIN SCHLÄPFER: VERKNÜPFUNGEN —— SOLO FÜR ZWEI —— IM PARK MIT DEN FIGUREN —— RÜCKBLICK b.10 — b.12 —— AUF EINEN KAFFEE MIT MARTIN CHAIX —— MUSIZIEREN FÜR DEN TANZ: NATASHA KORSAKOVA —— HE’ S A N ARTIST —— DIE SPR ACHE DES TÄNZERS VERSTEHEN —— SWEET ESCAPE —— SCHUL-PATENPROJEKT b.10 —— BALLETT AM RHEIN

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Um zwei bedeutende Künstler der britischen Tanzszene erweitert das Ballett am Rhein in der Spielzeit 2012/13 sein Repertoire: Frederick Ashton und Antony Tudor – Anlass genug, mit Ballettdirektor Martin Schläpfer in seine Zeit an der Royal Ballet School London zurückzuschweifen und vielen Ballettlegenden des 20. Jahrhunderts in seinen persönlichen Erinnerungen zu begegnen; Anlass genug aber auch, Tänzerin Camille Andriot und Ballettmeisterin Antoinette Laurent über ihre Arbeit an ­Ashtons Five Brahms Waltzes in the Manner of Isadora Duncan zu befragen und mit der Geigerin Natasha Korsakova aus der Perspektive einer Musikerin einen Blick auf Tudors Jardin aux lilas zu werfen. Der Bühnenbildner Florian Etti teilt seine Gedanken zu Martin Schläpfers Tanzkunst mit uns, weitergeführt wird aber auch die Rubrik „Auf einen Kaffee mit …“, in der wir diesmal den Tänzer und Choreographen Martin Chaix treffen. Lernen Sie einige Compagniemitglieder in den kleinen Porträts, die Marquet K. Lee geschrieben und Virginia Segarra Vidal fotografiert hat, von einer an­ deren Seite kennen; vertiefen Sie sich mit unseren Ballettpianisten in die Besonderheiten der Tanzbegleitung; folgen Sie dem Fernsehregisseur Roger Bisson während der Aufzeichnungen des Deutschen Requiems in den Ü-Wagen des ZDF; lassen Sie sich von der Begeisterung anstecken, die einige Jugendliche während eines Ballettworkshops für den Tanz entwickelten und erfahren Sie, was Claire Verlet bewegt hat, Martin Schläpfer und das Ballett am Rhein an das berühmte Théâtre de la Ville in Paris einzuladen. Mit drei Ballettpremieren und Martin Schläpfers Interpretation von Jean-Phi­ lippe Rameaus Oper Castor et Pollux hat uns die vergangene Spielzeit Tanzkunst in ­ihren vielfältigsten Facetten vor Augen geführt. Eine Auswahl aus Gert Weigelts Fotografien hält diese so flüchtige Welt für Sie fest. Herzlich bedanken möchten wir uns bei den Ballettfreunden der Deutschen Oper am Rhein, ohne deren Unterstützung die Ausgabe dieses Magazins nicht möglich gewesen wäre. Wir wünschen Ihnen viel Freude beim Lesen – und freuen uns auf den Besuch unserer Vorstellungen in Düsseldorf und Duisburg, aber auch in Barcelona, Bonn, Gütersloh und Paris!

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INhALT 6

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VERKNÜPFUNGEN

b.10 – b.12

martin Schläpfer in london

impressionen aus der Spielzeit 2012/13

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SOLO FÜR 2 aus der arbeit an Frederick ashtons Five Brahms Waltzes

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AUF EINEN KAFFEE MIT MARTIN CHAIX

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IM PARK MIT DEN FIGUREN Florian Etti über martin Schläpfer

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MUSIZIEREN FÜR DEN TANZ Geigerin natasha Korsakova im Gespräch

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BALLETT AM RHEIN


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HE’S AN ARTIST

SCHUL-PATENPROJEKT b.10

Zur Entstehung einer Fernsehproduktion

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ALS MUSIKER DIE SPRACHE DES TÄNZERS VERSTEHEN Die Pianisten des Balletts am Rhein

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DAS Ballett am RheiN DÜSSELDORF DUISBURG 96

NEWS, RUBRIKEN 78

SWEET ESCAPE

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IMPRESSUM

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TEXT — Martin Schläpfer

Es ist das erste Mal in meiner Tätigkeit als Ballettdirektor, dass ich ein Werk von Sir Frederick Ashton ins Repertoire aufnehmen werde. Dass eine englische Größe wie die Ballerina Lynn Seymour mit dem Ballett am Rhein arbeitet. So schien es mir angebracht, über meine Zeit, dieses eine Jahr, in dem ich Student an der Royal Ballet School sein durfte, zu schreiben — nachzudenken. ————

ver– knüp „Rückschauen“ sind immer leicht „gefährlich“, neigt man doch zur Verklärung, zur Verbiegung der Tatsachen – has a tendency to a slight or less slight alienation of the truth. Aber sie sind auch wichtig. Man erfährt, wenn vielleicht im Wesentlichen auch nur für sich selber, dass das, was war, auch noch heute gilt – lebt – lebendig ist; wichtiger noch: weiter lebt. Das Heute ist aus dem gemacht, was war. Vergangenheit ist wie die Zellstruktur eines lebenden Körpers. Zellen sterben nicht, sondern erneuern sich – bauen, bildlich gesprochen, somit un­ entwegt am „Heute“ mit. Natürlich sterben wirkliche Zellen ab, aber die neuen wären ohne das Absterben der alten nicht denkbar, könnten nicht entstehen und sich nicht auf einen Weg begeben, leicht sich verändernd, Neues – immer sich dem Jetzt und dessen Anforderungen anpassend – suchend und wachsen lassend. Vergangenheit ist der Boden, auf dem die Wiesen blühen, ist das riesige, hoch aufgetürmte Riff, auf dem, ganz an der Peripherie, auf einer dünnen Minischicht, das Leben in all seiner Vielfalt pulsiert – eben das „Heute“ passiert, aber gleich im nächsten Moment wieder überdeckt wird, schon zur Vergangenheit gehört. Zukunft existiert gar nicht – beziehungsweise ist von uns nicht zu erfassen, sondern nur abstrakt andenkbar. Vielleicht ist sie intuitiv für ein paar Auserwählte erahnbar – aber wichtig ist sie damit noch nicht geworden. Es ist nur wichtig, oder wäre es, was wir jetzt mit unserem menschlich so fragmentarischen Wissen entscheiden, damit gewisse Dinge, die lenkbar wären, in Zukunft hoffentlich nicht mehr eintreten werden. Solange wir Menschen nicht in größeren Verbindungen denken, Vergangenheit nicht als etwas behandeln, das nur früher war – vorbei ist –, sondern durch Bildung, Kunst sowie Ethik am Leben und in Erinnerung gehalten werden muss, werden wir wohl kaum je innerlich wachsen können, als gesamte, verantwortungsbewusste Menschheit, welche auf diesem Planeten nicht Macht hat und ist, sondern eben nur Gast ist. Wie lange noch? Das liegt in unserer Hand. Unser Umgang mit dem Gewesenen, der Historie, der Tradition – unserer Kultur –, aber damit auch dem Heute, zeigt, dass wir jetzt im Moment genau nur das sind, was wir aus diesem gelernt haben. Beziehungsweise: So sehr wir mit der Vergangenheit kritisch umgehen müssen, sollten wir auch erkennen, dass sie das, was sie war, oft sein musste, damit wir endlich aufwachen und weiter kommen können.

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Was ich persönlich lieber Kunstversuch als Kunst nenne, hilft und half in diesem Prozess immer wesentlich mit, ist aber eben nicht an und für sich konkret messbar, wie es ökonomischer Fortschritt in abertausend Statistiken ist. Deshalb wird dieser in einer ökonomischen Krise wie in Blütezeiten der Wirtschaft – wenn in diesen auch aus anderen Gründen heraus – immer wieder hinterfragt, nicht mehr genügend finanziert, wie alles, was nicht primär pseudomännlich, protzig, mit einem messbaren Sieg oder mit Erfolg auftritt. Frauen sind nicht a priori weiblicher als Männer. Mit „männlich“ meine ich Machtverliebtheit, mit „weiblich“ eine demütige Kraft, die erahnt, dass wir nicht sehr wichtig sind, aber das, was und wie wir etwas tun, eben schon. „Männlich“ ist das, was uns die Illusion von Kontrolle vorgaukelt, uns glauben macht, alles sei machbar, lösbar, erreichbar. Yin-Yang, Verschmelzung der Pole, geistige Nahrung, der Versuch, Transzendentes zuzulassen, nicht Erklärbares, vielleicht der Mut, Gott an­ zudenken – auch wenn es nicht vorstellbar scheint, dass es ihn gibt –, verändert uns, macht uns zu mehr und macht uns mehr ganz, verlangsamt uns, schickt uns auf einen inneren Weg, damit wir ­äußerlich nicht immer den gleichen „shit“ machen.

fungen Die Höhe der Finanzierungsstufen für Kunst spiegelt immer auch das geistige und empathische Niveau einer menschlichen Gesellschaft wider. So ist die Krise des Euro als Währung sicherlich gravierend – aber auch, und vor allem, eine ideelle Krise der Idee Europa und seiner wirklichen, bindenden Inhalte jenseits der Währungsunion. Die erneuten Sparrunden an Kultur, Bildung und ihrer In­ stitute, die auch vor der Deutschen Oper am Rhein nicht Halt gemacht haben, einhergehend mit der Hinterfragung ihrer Notwendigkeit, das immer alarmierender werdende Herausschieben von Maßnahmen für den Umweltschutz und das Überleben unseres Planeten – dies alles sind deutliche Zeichen der globalen ideellen Krise. Es sind Zeichen für einen anhaltenden Glauben an die Kontrollierbarkeit der Welt durch uns Menschen, an die Machbarkeit. Das Erkennbare und Messbare wird zum Gott erklärt, zur Allmacht, einer Macht, die als Gegenpol keine Demut mehr kennt. Kunstversuche möchten das Andere wichtig nehmen, sind andere Entwürfe für einen anderen Fortschritt. Schafft man sie ab oder stranguliert sie durch Unterfinanzierung, geht erneut eines der Korrektive für unsere urbane Gesellschaft verloren. Wohin das führen wird, muss jedem denkenden Menschen klar sein. Zu viele nennen so etwas aber Fortschritt. Ich bin dankbar, nicht nur in meinem Beruf arbeiten zu dürfen, sondern auch darüber, dass noch genug Menschen, darunter auch Politiker, trotz aller Fehlentwicklungen in unserer Gesellschaft und auf unserem Planeten an die große Wichtigkeit von Kunst glauben und auch bereit dazu sind, diese gebührend zu finanzieren.

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1977/78 durfte ich ein Jahr lang an der Royal Ballet School (Upper School: Direktion Barbara Fewster) in London Tanz studieren. Ermöglicht wurde mir dies durch ein Stipendium des Prix de Lausanne. Die Upper School der Royal Ballet School lag damals noch direkt hinter der Tube Station von Barons Court – einer Station der Piccadilly Line – und war nicht sonderlich luxuriös. Diese Räumlichkeiten waren das „probende“ Zuhause des Royal Ballet und dessen Upper School (Upper School steht für die letzten drei von insgesamt neun Studienjahren für angehende Balletttänzer. Die Lower School nannte sich White Lodge). Ich wohnte in einem Hyelm Youth Hostel in Hampstead für 20 Pfund die Woche. Ein paar Duschen pro Stockwerk – kleinste Zimmer und grässlichstes Essen. Zuerst teilte ich ein Zimmer mit Raymond Ho, einem chinesischen Wirtschafts- und Ökonomie-Studenten. Später, nach langer Wartezeit, konnte ich in einen der begehrten Single Rooms wechseln. Für einen Schweizer ­Jungen war das alles ein Schock – im Guten wie im Schlechten –, notwendig in jedem Fall. Ich weiß noch gut, wie ich mir jeden Samstagabend im Swiss Centre beim Leicester Square den Bauch „voll gehauen“ habe: Züri Geschnet­ zeltes mit Röschti oder Raclette. Jedes Mal brauchte es für mich große Überwindung und eine lange Zeit des Hin- und Hergehens, bis ich mich getraute, ins Swiss Centre hineinzugehen und mich in eines der Restaurants zu setzen.

royal ballet school In der weltberühmten Ballettschule wurde ich in die siebte Klasse eingeteilt. Ronald Emblen war mein Hauptlehrer. Ein kleiner, putziger, etwas cholerischer, aber sehr engagierter Mensch und herausragender Darsteller der Mutter in Ashtons La fille mal gardée – dies natürlich nach Stanley Holden, für den die Rolle kreiert wurde. Die ganze Originalbesetzung von Fille war großartig: Nadia Nerina als Lise, David Blair als Colas und der legendäre Alexander Grant als Alain. Trotzdem habe ich Mister Emblen intuitiv nie wirklich respektieren können. Und sehr wahrscheinlich habe ich ihn auch ziemlich genervt mit meiner sturen, etwas hinterwäldlerischen Art und Weise, mich gegen Neues und Anderes im Unterrichtsstoff zu sträuben – allerdings auch eingeimpft von meiner fantastischen ersten Ballettlehrerin Marianne Fuchs, die mich oft vor dem „English Style of Dancing“ in langen, wöchentlich stattfindenden Telefonaten warnte, vielleicht teilweise berechtigt und in gewissen Dingen heute für mich auch verständlich, aber doch auch des Öfteren zu Unrecht. History of Dance durfte ich bei Joan Lawson studieren. Einer Legende. I loved her. Ich arbeite heute noch mit ihren Büchern und Texten. Cecchetti-Technik wurde von Richard Glasstone eingedrillt. I hated Cecchetti Classes, aber sicherlich hätte man, wäre man reifer gewesen als ich es damals war, Fantastisches aus dieser Technik ziehen können. Ich gehe davon aus, dass die ungewöhnlichen Bewegungsnuancen, die in Sir Frederick Ashtons Choreographien vorkommen – gerade was épaulement und die battus angeht – nicht unwesentlich von der Cecchetti-Technik beeinflusst sind. Pas de deux-­ Unterricht erhielt ich bei Walter Trevor.

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Manchmal, an Nachmittagen, habe ich mich zusätzlich in die Over Sea Class geschlichen und zwischen die japanischen Mädchen gestellt, da mich die Lehrerin dieser Klasse, Maryon Lane, sehr mochte und mich immer mittrainieren ließ. Häufig wurde ich aber doch von Gwyneth, die die Präsenzlisten verwaltete, wieder rausgeworfen. Maryon Lane war klein, und gab deshalb wohl immer nur in High Heels Stunde. Ich fand das irre. Sie hatte wunderbare Füße und Beine und hatte etwas sehr Edles an sich, eine Kultur eben, die sehr wahrscheinlich weltweit wirklich nur Künstler des Royal Ballet in dieser Form gehabt haben. Diese Kultur barg auch die Gefahr in sich, in eine etwas arrogant wirkende Noblesse hinüberzukippen – und entbehrte sicherlich immer in der Tendenz ein Quantum an Körperlichkeit, war aber eben doch einzigartig in der Welt des Balletts. Svetlana Beriosova einmal durch die Korridore des Gebäudes wandeln zu sehen genügte, um gefangen genommen zu sein. Sie war „top of the top“ wie Seymour und Sibley – und vielleicht noch Fonteyn, wer es denn so sehen möchte. Natürlich war es sehr hart für mich, nach nur knapp zwei Jahren Ballettunterricht im kleinen St. Gallen in diese riesige Schule und diese Weltstadt geworfen zu werden. Ich war total naiv, kaum der Sprache des Englischen mächtig und wurde von den Boys meiner Klasse häufig, wenn auch von ihnen sicherlich liebevoll gemeint, gehänselt. Unterstützt wurde dies auch dadurch, dass im Englischen alles meistens mehrere Bedeutungen hat, die Atmosphäre in diesem Alter eh schon „sexuell“ aufgeladen ist – und ich, als Beispiel, eine Rolltreppe mit „rolling stairs“ übersetzte. Den Rest kann man sich denken. Aber es war gleichzeitig einfach nur wunderbar. Ich wollte tanzen. Alles andere war mir schlussendlich egal. Jeden Abend bin ich in die leeren Studios der Schule gegangen und habe – bis mich der Hausmeister wegschickte – geübt, kopiert, gedacht – angespornt vor allem durch das Fakt, regelmäßig wunderbare Tänzer, nicht nur auf der Bühne in den Vorstellungen in Covent Garden sehen zu dürfen, sondern auch durch ein Guckloch in den Ballettsaaltüren, was bei der täglichen Probenarbeit verboten war.

maryon lane Nach drei Monaten wurde ich ins Abschlussjahr versetzt – in die Graduate Class – auch wenn mir klar gemacht wurde, dass ich als Schweizer nie beim Royal Ballet werde tanzen dürfen, da ich weder einen britischen Pass, noch einen der Commonwealth Staaten besaß. Damals war das noch so. Nurejew war die große Ausnahme. Natürlich vergleiche ich mich nicht mit dem großen Nurejew. Den wenigen Mitgliedern der Graduate Class war es vorbestimmt, ins Royal Ballet aufgenommen zu werden – oder zumindest ins Sadler’ s Wells Royal Ballet, der zweiten Company, falls man für die Main Company nicht genügte. Wer von den Studenten das nicht schaffte – und dies waren die meisten –, wurde zum Vortanzen in die Welt geschickt. Viele der Graduate-Abschlussschüler waren schon in die Vorstellungen der Company integriert. Der regelmäßige, viele Stunden andauernde Unterricht der anderen Stufen fiel dadurch für mich plötzlich weg. Nach den morgendlichen Trainings hatte ich frei, habe auf den Abend gewartet, um für mich alleine zu arbeiten und zu üben. Rückblickend weiß ich, dass mich das mehr gelehrt hat, als tausend begleitete Trainingseinheiten. Dann fuhr ich mit der Northern Line nach Hause, aß schnell bei Pizza Land immer die gleichen beiden Kuchen: Green Pepper sowie Cheese and Tomato – und ging häufig danach in den Hamstead Heath Park spazieren, nachts – nie habe ich daran gedacht, dass das gefährlich sein könnte. Terry Westmoreland war nun mein Hauptlehrer. Leider starb er viel zu früh an Aids. Später, als ich schon Tänzer in Basel war, bin ich ihm nochmals kurz beim NDT, wo er als Gastlehrer tätig war, begegnet. Es waren dort höchstens drei bis vier Tänzer in seinem Training, was mich sehr traurig machte. What a great teacher! What a joy to be able to study with him. Maßgeblich beeinflusst durch die dänische Bournonville-Schule, waren seine Lektionen ein völlig neu zu entdeckendes Terrain für mich. Barbara Budden war seine Pianistin, a genius on the piano, jazzig, synkopisch – voller Rumbas und Sambas, modern – so hat sie uns, zusammen mit Terry, zu körperlichen Höchstleistungen verführt. Terry Westmoreland hat mich nicht nur gefördert, sondern ich durfte, wenn er die Company unterrichtete, auch an diesem Training teilnehmen, nach der Graduate Class, die morgens um neun Uhr stattfand. Die Studios waren eiskalt im Winter, die Heizkörper sprangen erst kurz vor dem Klassenbeginn an und knallten mit der Musik zusammen lustig vor sich hin.

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Mein Idol des Royal Ballet aber war die Ballerina Lynn Seymour, damals knapp um die 40 Jahre alt and in her prime as an artist. Ich wusste genau, in welcher Ecke vom großen Studio sie an der Stange stand: Wenn man sich den Ballettsaal als großes aufgestelltes Rechteck denkt, so stand sie oben links in der Ecke. Ich habe mich so früh als möglich zum Einwärmen dahin positioniert, etwas hinter ihrem Platz, und trotz meiner enormen Scheu sicher gestellt, dass sich kein anderer Tänzer des Royal Ballet dazwischen drängen konnte. Wenn sie in den Saal kam, war ich im Himmel. She always had new pointe shoes on – shiny, was eher zum Look des New York City Ballet gehörte – und heavy black painted eye lids, was in mir wildeste Fantasien über ihr Leben auslöste. Häufig trug sie ein schwarzweiß gestreiftes T-Shirt, darüber ein Ganzkörpertrikot, gestrickt aus dünner Wolle in Flaschengrün, und darüber wiederum Plastiksweatpants als Shorts – und um den kleinen Kopf einen Turban gewickelt, etwas, was sie bis zum heutigen Tag für die meisten Proben beibehalten hat. Aber natürlich kam sie nicht immer zu Terrys Classes. Es gab mehrere Trainings, die simultan stattfanden – in anderen Ballettsälen oder auch in der Stadt in den diversen Dance Centres. Erst viele Jahre später habe ich das verstanden, als ich monatelang in New York in den Open Classes von David Howard, Maggie Black u. a. trainierte, wo Stars wie Baryshnikov, Harvey, Kistler ein- und ausgingen: also auch nicht immer companyintern trainierten.

lynn seymour Ich liebte Lynn Seymour – vergötterte sie, kopierte ihre musikalischen Phrasierungen. Sogar diesen berühmten, leicht hysterisch anmutenden „tripple focus“ für eine zweifache Pirouette (eigentlich nicht richtig, aber ich fand ihn jenseitig und so dramatisch) versuchte ich nachzuahmen. Es war eine unglaubliche Zeit für das Royal Ballet. Und 1977/78 ein Glücksjahr für mich als Studierenden. Für Lynn Seymour wurden in dieser Spielzeit Hauptrollen kreiert: In Kenneth MacMillans Mayerling tanzte sie die Mary Vetsera mit David Wall, der den Kronprinzen Rudolf von Habsburg darstellte – und es entstand für sie das Meisterwerk A Month in the Country von Sir Frederick Ashton zu Musik von Chopin, arrangiert für Orchester von John Lanchbery. Hier war Anthony Dowell ihr Partner, der später in dieser Spielzeit zum American Ballet Theatre wechselte. In seiner Abschiedsvorstellung durfte ich in Fokines Firebird, den Ann Jenner tanzte, eines der vielen Monster sein. Ich „schwamm“ vollkommen durch die komplexe StrawinskyPartitur und starb auf der Bühne fast vor Angst. Auch in MacMillans Anastasia durfte ich mehrmals im 1. Akt mitwirken und war total schockiert, als mein Idol in den Gassen fluchte, was es nur hergab, weil sie ihre Rollschuhe nicht schnell genug umgebunden kriegte. I had no idea at that time what a stress fast costume or others changes backstage could be. Ich liebte MacMillans Choreographien mehr als alles andere – so gefühls­ betont schienen sie mir, so sinnlich und dramatisch: Mayerling, Anastasia, Romeo and Juliet, Manon, Elite Syncopations. Heute ist es mir natürlich klar, warum Sir Frederick Ashtons Ballette eine ganz andere Klasse sind. Er ist ein Großer – und MacMillan eben nicht. Aber man muss Ashtons Werke lesen können – etwas über Tanz wissen, bis man dies bewusst erkennt. Für mich ist Ashton wie Mozart, MacMillan wie Verdi – but a lesser Verdi. Lynn Seymour sah ich in Stücken von Robbins und Tetley; als Carabosse in Dornröschen, auch zweimal als Aurora zusammen mit Nurejew, der sie allerdings ärmlich partnerte. Die Company war voller Persönlichkeiten und großer Tänzer: Merle Park, Jennifer Penney, Monica Mason, Laura Connor, Leslie Collier, Ann Jenner, Alfreda Thorogood – whom I loved –, Stephen Jefferies, David Wall, Wayne Eagling, Dereck Deane, Anthony Dowell, Wayne Sleep … Ich sah Eva Evdokimova in Giselle in der English National Opera gastieren – mit Peter Schaufuss als Albrecht. She was amazing in this role. Das Stuttgarter Ballett gab eine „London Season“, konnte mich trotz Haydée, Keil, Madsen und Cragun aber nicht wirklich erwärmen, so fixiert war ich auf das Royal Ballet. Hans van Manen kreierte Four Schumann Pieces für die Company.

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Alles das war da, um mir zu zeigen, was es sein könnte, Künstler zu sein. Ich glaube, es ist wichtig für junge Tänzer gute Lehrer zu haben – aber es ist wichtiger noch, dass ­jemand da ist, der einem tüchtig in die eigene Glut bläst, damit das Feuer zu brennen beginnt. Das ist meine Kritik und Enttäuschung an all diesen Pädagoginnen und Pädagogen mit Diplom, die gut arbeiten – aber kein Künstlertum haben. Lieber nicht so richtig, aber mit Passion und Magie, als richtig und brav. Es gab auch Schmerzliches. Ich wurde für die Hauptrolle in Diversions für die jähr­ liche Schulvorstellung besetzt, eine Sensation für mich! Doch ich fiel nach zwei Tagen raus, weil ich unfähig war, zu tanzen und gleichzeitig die komplizierten Rhythmen zu zählen. Das blieb etwas, was ich auch in späteren Jahren als erfahrener Tänzer nur mit Mühe und Not integrieren konnte. In meinem Abschlusszeugnis der Royal Ballet School stand dann auch: „He should have a great future ahead of him, although musicality is not always certain.“

ninette de valois Es gibt Lehrer wie Peter Appel und David Howard, die in mir das Feuer für die Ballettkunst immer wieder neu entfachen; es gab Tänzerinnen wie Lynn Seymour oder Gelsey Kirkland – so unterschiedlich die beiden auch sind –, die das bis heute tun, mich durch meine Erinnerung an sie inspirieren; es gibt Choreographen, die mir immer neue Kraft geben – wie Hans van Manen, aber auch viele andere Menschen und Künstler. Ich hatte Glück – ich habe Glück. Hans sagte einmal zu mir: „Schau immer gut rechts und schau immer gut links – das ist schon genug ‚Lehrer‘!“ Eine Anekdote zum Abschluss. Als ich ‘79 oder ‘80 in London im Old Vic in Maina Gielguds Steps, Notes and Squaks ein längeres Solo tanzte, kam nach der Vorstellung Ninette de Valois, die Gründerin des Royal Ballet auf Krücken und mit einer Nackenbinde am Hals zu mir in meine Garderobe hinaufgeklettert. Ich bin ihr nie begegnet als Student – ab und zu mag sie damals durch eines der Glasfenster in einen Ballettsaal ­geschaut haben. Ich wusste von Barbara Fewster, die mir viele Jahre später, nach einigen Whiskeys gestand, dass sie total unter ihrer Knute stand, dass Ninette de Valois permanent in der Schule präsent war. De Valois hat mich nicht nur erkannt – sie wusste genau, wer ich war, und hat es auf sich genommen, trotz körperlicher Beschwerden und ­eines hohen Alters, mich unbedingt zu sehen, um mir gratulieren zu können. Ich war schließlich ein Student ihrer Schule gewesen. This is a director. This is passion that lasts beyond time.  ———

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Lynn Seymour und Camille Andriot während der Proben zu Frederick Ashtons »Five Brahms Waltzes«


FÜR

SOLO

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INTERVIEW — Ulrike Wörner  FOTOS — Gert Weigelt

Sie war die Muse von Frederick Ashton und Kenneth MacMillan, hat mit ihrem Stil ganze Tänzergenerationen geprägt und ein Buch mit ihren Memoiren veröffentlicht: Lynn Seymour. In Erinnerung an Isadora Duncan schuf Frederick Ashton für sie »Five Brahms Waltzes in the Manner of Isadora Duncan«, welche in der heutigen Fassung 1976 urauf­ geführt wurden. Nun ist Lynn Seymour für die Einstudierung dieser Choreographie beim Ballett am Rhein zu Gast. Ulrike Wörner sprach mit Ballettmeisterin Antoinette Laurent und Tänzerin Camille Andriot über die Eindrücke der ersten Probenphase und Spekulationen darüber, was folgt. ————

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Wie ist es für euch, mit dieser lebenden Legende zu arbeiten? Ulrike Wörner

Es ist sehr unterschiedlich zu dem, was ich sonst von Gästen gewöhnt bin. Lange vor der ersten Probe, als ich Lynn Sey­ mour noch nicht einmal kennengelernt habe, hatte ich schon Textmaterial über ihre Er­ fahrungen mit Frederick Ashton sowie über Isadora Duncan erhalten. Die erste Proben­ phase fand ja sehr früh, mehr als ein hal­ bes Jahr vor der Premiere, statt. Auch das ist außergewöhnlich, aber für diese Choreogra­ phie enorm wichtig. Lynn Seymour unterrich­ tet auf eine Art und Weise, die mir viel Frei­ heit einräumt. Sie gibt eher Direktiven, wie sie sich an die Schritte erinnert oder was Fre­ derick Ashton über diese sagte. Es braucht ­daher Zeit, die Bewegungen zu verinnerli­ chen und schließlich zu einer inneren Frei­ heit im Umgang mit ihnen zu gelangen. Man muss versuchen, frei und authentisch zu sein, wenn man dieses Stück tanzt. Es soll wirken, als improvisiere man, obwohl das nicht der Fall ist. Die innere Verfassung darf in die In­ terpretation einfließen, wodurch sie jedes Mal ein bisschen anders ist. Würde man das Stück vier Wochen vor der Premiere lernen und dann jeden Tag üben, würde es zu me­ chanisch werden. Camille Andriot

Es war sehr interessant für mich zu erleben, wie Lynn Seymour einstu­ diert. Sie legt großen Wert auf die Hände, will Finger sehen. Auch die Länge der Beine ist sehr wichtig: „Deine Füße haben Augen“, sagte sie zum Beispiel, „sie müssen sehen, wo­ hin sie gehen“. All das ändert natürlich das ­Bewusstsein und die Art und Weise, wie man sich im Raum bewegt. Ich denke, es wird sehr spannend werden, wenn Lynn Seymour für die nächste Probenphase kommt. Dieser Frei­ heit, von der sie immer spricht, steht nämlich eine ganz konkrete Vorstellung davon, wie der Tanz auszusehen hat, gegenüber. Es gibt gewisse Dinge, von denen sie ganz genau weiß, wie sie sie haben möchte, obschon sie gleich­ zeitig sagt, dass es jedes Mal anders ausse­ hen soll. Diesen Pfad zwischen Entsprechung und freier Interpretation als Tänzerin her­ auszufinden ist sehr anspruchsvoll. Zudem ist dieses Stück eine konditionelle Herausfor­ derung. Als ich eine Aufnahme der Choreo­ graphie sah, habe ich diesen Aspekt total un­ terschätzt, weil es so „einfach“ und „gelöst“ wirkt – weit gefehlt!

Antoinette Laurent

Ulrike Wörner  Lynn Seymour nennt es den MiniMarathon …

Wir sind eher gewöhnt in ex­ treme, gestreckte Positionen zu gehen. Bei den Five Brahms Waltzes haben die Gliedmaßen Antoinette Laurent

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diese Grundspannung nicht, sondern werden oft geschwungen oder dürfen „durchhän­ gen“. Das erfordert zum Teil mehr Kraft, weil man nicht einen Punkt hat, an den man ge­ langt und „nur“ zu halten braucht, sondern die ganze Zeit Kraft aufwenden muss.

und wieder fange, außerdem gibt es einen Schmetterling, den ich beobachte. Für den zweiten Walzer aber werde ich bestimmt et­ was Eigenes entwickeln müssen. Ich habe ver­ standen, was sie darüber gesagt hat, aber um das wirklich spüren zu können, muss ich ei­ nen ei­genen Zugang finden – hoffentlich ge­ Ulrike Wörner  Camille, jeder dieser Walzer relingt es mir! Diese Stimmungen sind leicht präsentiert eine eigene Stimmungslage. wieder­zuerkennen, da sie in uns allen inne­ Wie hast du diese für dich gefunden? Be- wohnen, urmenschliche Gefühle wie Freude, ziehst du dich vor allem auf Dinge, die Lynn Angst oder Wut thematisieren. Seymour dir gesagt hat oder versuchst du, eigene Bilder zu finden? Camille Andriot Manches werde ich von ihr übernehmen. Im ersten Satz zum Beispiel gibt es ja eine ganz konkrete Situation: Ich fahre mit der Hand durch den Sand und spiele mit einem kleinen Stein, den ich hochwerfe

Die Art und Weise, wie Weiblichkeit und Freiheit thematisiert werden, erinnert mich sehr an die Sufragetten, eine Frauenbewegung zu Beginn des 20. Jahrhunderts in England und Amerika. Das Kos­ tüm, welches in Anlehnung an Isadora Dun­ can ohne Strumpfhosen, Korsett und Schuhe Antoinette Laurent

auskommt, vermittelt ja auch das Gefühl von Freiheit.  Ich sehe die Five Brahms Walt­ zes als Portrait einer Frau, die losgebunden von Zwängen und Ängsten ihre Gefühle zeigt. Camille Andriot

Dieser Aspekt ändert sich natürlich im Laufe der Rezeption. Zu Isadora Duncans Zeit und auch noch in der Ent­ stehungszeit der Choreographie Mitte der 1970er Jahre war es als Frau nicht selbstver­ ständlich, Gefühle auszuleben. Heute stellt sich das natürlich ganz anders dar, weswe­ gen eine gewisse Gefahr besteht, dass dieses Stück in Kitsch umschlägt. Die Rosenblät­ ter, der Schal, die Posen – all das kann leicht klischeehaft wirken, wenn es nicht authen­ tisch getanzt ist. Antoinette Laurent

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Im pArk mIT DEN fIgurEN GEDANKEN ZU MARTIN SCHLÄPFERS CHOREOGRAPHIEN TEXT & ZEIChNuNgEN — Florian Etti

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BALLETT AM RHEIN


Es ist nahezu unmöglich, etwas über die Choreogra­ phien martin Schläpfers zu schreiben, ohne in die lan­ desübliche lobhudelei zu verfallen. Selbst wenn ein solches Schreiben auf irgendeine Weise raffiniert auf inhalte einginge, deren doch ziemlich scharfe Kontu­ ren genügend Stoff für einen solchen artikel böten, lauern eben überall diese tretminen. auch ließe sich der eine oder andere Roman über die Beschaffenheit und Heterogenität des Ensembles anfertigen. oder wie sich diese Beschaffenheit des Ensembles zu martin Schläpfers Choreographien und deren inhalten ver­ hielte. nicht zuletzt ist die Wahl der musik, deren Fragmenthaftigkeit, respektive Komplexität in dieser Fragmenthaftigkeit, ebenfalls eine weitreichende ästhe­ tische Entscheidung und somit ein gewichtiges Thema. Wo verlaufen die linien zwischen abstraktem Bewe­ gungsablauf und konkreter mini­Situation, Gefühl ver­ bunden mit tänzerpersönlichkeit, Beziehungsdarstel­ lung, menschenportrait, der Konfiguration des Raums zwischen den menschen?

als die anfrage kam, etwas für diese Stelle zu schrei­ ben, begann in meiner Fantasie der gleiche Prozess wie beim Studium eines Theatertextes, einer oper oder eines Ballettstoffes für ein Bühnenbild. aus dem vagen, ungeordneten Pool von Erinnerung, Gedanken, Ge­ fühlen spülten sich vier Blickwinkel als instrumente an die oberfläche: • Paul Gsells Gespräche mit Auguste Rodin • Rainer Maria Rilkes Archaischer Torso Apollos • André Bretons Idee der „konvulsivischen Schönheit“ • der „Steppunkt – point de capiton“ bei Jacques lacan und Slavoj Žižek

Dies sind nur einige Themen, die sich wunderbar aus­ breiten ließen, deren Zuspitzung zu etwas führte, ein Bild ergäbe, das in solch einem magazin durchaus am richtigen Platz wäre. ich möchte trotzdem einen ande­ ren Weg beschreiten und erst in zweiter linie Streif­ züge durch oben benannte Gebiete wagen, sofern es einem laien überhaupt zusteht. in den Gesprächen mit auguste Rodin formuliert Paul Gsell die Frage, wie es kommt, dass diese Stein­ und Erzmassen sich wirklich zu bewegen scheinen, das aus­ sehen agierender Wesen haben, sich höchst leiden­ schaftlichen Kraftanstrengungen hingeben. Rodins antwort vergleicht die in einer Fotografie festgehaltene Bewegung mit der Bewegung seiner Figuren und ent­ zieht der Fotografie dabei den anspruch auf Wahrheit, auf realistische Beschaffenheit, trotz aller mechani­ schen objektivität: „… der Künstler ist wahr und die Fotografie lügt; denn in Wirklichkeit steht die Zeit nicht still; und wenn es dem Künstler gelingt, den Eindruck einer mehrere au­ genblicke lang sich abspielenden Gebärde hervorzu­ bringen, so ist sein Werk ganz sicher minder konventi­ onell, als das wissenschaftlich genaue Bild, worin die Zeit brüsk aufgehoben ist …“ 19


Diese Form des Einfangens von Zeit und Bewegung, das ausweiten des augenblicks auf mehrere augenbli­ cke in einem und das oszillieren darin, empfinde ich bei vielen Figuren aus martin Schläpfers Balletten. Eine weitere Schraubendrehung in diese Richtung er­ gibt sich aus der Art seines Ensembles. Dieses hat quasi kein Corps de Ballet, sondern fast nur individualisten, die darüber hinaus ihrer eigenen Psychologie folgend besetzt werden. Es gibt da bestimmte Bewegungsab­ läufe, in denen das Individuum des Tänzers quasi herum läuft und diese Bewegung dadurch zu einer Par­ titur mit vielen Ebenen aufschlüsselt. in analogie zu Rodins Figuren dreht dieser tänzer sich in der Cho­ reographie und erzeugt somit diese Expressivität, diese realere Realität. Buchstäblich einen Steinwurf von Ro­ din entfernt lässt Rilke im Frühsommer 1908 in Paris den archaischen torso apollos sprechen:

Das hier vorgestellte objekt, der torso, kann entziffert werden und ist somit Sprache. Die lenden lächeln, er­ zählen von etwas, der torso glüht wie ein Kandelaber, flimmert wie Raubtierfelle, und keine Stelle sieht den Betrachter nicht an. Die Körper von martin Schläpfer müssen nicht etwas darstellen, sie sind durch ihre Beseeltheit, durch ihre individualität schauende Körper, sprechende entziffer­ bare Kathedralen, eröffnete Räume in den Bewegun­ gen, diese Körper beobachten uns während des tanzes und greifen nach uns.

„Wir kannten nicht sein unerhörtes Haupt, darin die augenäpfel reiften. aber sein torso glüht noch wie ein Kandelaber, in dem sein Schauen, nur zurückgeschraubt, sich hält und glänzt. Sonst könnte nicht der Bug der Brust dich blenden, und im leisen Drehen der lenden könnte nicht ein lächeln gehen zu jener mitte, die die Zeugung trug. Sonst stünde dieser Stein entstellt und kurz unter der Schultern durchsichtigem Sturz und flimmerte nicht so wie Raubtierfelle;

Einige Jahre nach Rilke lässt André Breton Nadja mit dem Schlachtruf enden: „Die Schönheit wird konvulsi­ visch sein, oder sie wird gar nicht sein.“

und bräche nicht aus allen seinen Rändern aus wie ein Stern: denn da ist keine Stelle, die dich nicht sieht. Du musst dein leben ändern.“

„Die Schönheit ist das Unerwartete“, und die Steigerung, die konvulsivische Schönheit („beauté convulsive“), meint im Dienste der leidenschaft die Zündung des erregenden poetischen Funkens. Erotisch, berstend und magisch in analogie zum Geschlechtsakt, so an­ dré Breton in L’ Amour Fou. Das Bild der Konvulsivität bietet sich bei martin Schläp­ fers Choreographien an, weil es den moment einer Sprengkraft bezeichnet, das kurze atemholen vor einer erlösenden Erschütterung, dem auseinanderfliegen zuvor zusammen gefügter Elemente. Das heißt, der Übergang oder der Ursprung einer Bewegung liegt nicht außerhalb, sondern im tänzer selbst, er eröffnet einen innenraum, seine Büchse der Pandora, und ent­

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BALLETT AM RHEIN


lässt die gegensätzlichen Einzelteile in den tanzraum, um in diesem andere teile von anderen tänzern wie­ der in sich aufzunehmen und so den tanzraum mit Spannungsfeldern aufzuladen. nicht allzu weit – ein bis zwei traumdeutungen – von André Bretons Schlachtruf entfernt steht ein Begriff aus Jacques Lacans Psychoanalyse: der „Steppunkt – point de capiton“, die wörtliche Bedeutung ist Polster­ knopf. Vom möbelmacher eingesetzt wird damit die amorphe masse der Füllung strukturiert. Slavoj Žižek verwendet diesen Begriff auf ein Ereignis, einen wirk­ lich schöpferischen akt, der nicht nur das Feld künf­ tiger möglichkeiten gestaltet, sondern seine eigenen Vorläufer erzeugt.

Die vier Betrachtungsweisen sind assoziationen, die erst einmal ohne Zusammenhang auftauchten. Erst beim weiteren nachdenken und Formulieren wurde mir klar, dass sie zusammengehören. Beschreiben sie doch eine Grammatik, einen dramaturgischen aufbau dieser Choreographien, die, pathetisch ausgedrückt, aus der Singularität des tänzermenschen entstehen, diesen behaupten und als künstlerisches Thema aus­ weiten. mit der Vorliebe für musik, die im weitesten Sinne dem Kreis der Romantik angehört, selbst in einer zeitgenössischen ausformulierung, gibt martin Schläpfer ein klares Bekenntnis zu einer mythischen aufwertung des individuums, das leidet, sich freut und gerade in seiner Vergänglichkeit ein Zentrum im Schöpfungsbericht einnimmt. ———

florian Etti studierte Sprachen und Kunst an der Freien Universität und der hochschule der Künste Berlin sowie Bühnenbild bei rolf Glittenberg in Köln. Seit vielen Jahren schafft er Bühnenbilder für die großen opernund Schauspielhäuser im deutschsprachigen raum und arbeitet eng mit dem Choreographen heinz Spoerli zusammen. Für Martin Schläpfer kreierte er die Bühne zu Ein Deutsches requiem – eine Zusammenarbeit, die 2013 ihre Fortsetzung mit der Uraufführung nacht umstellt findet. Außerdem wird 2013 seine Bühne zu Burkhard C. Kosminkis interpretation von Wagners Tannhäuser an der Deutschen oper am rhein zu sehen sein.

in Lontano von martin Schläpfer zum Beispiel gibt es Figurengruppen, die über die normale Zeitschiene der musik hinaus sich gestalten, strukturieren, erfin­ den, obwohl sie entweder schon passiert oder noch gar nicht aufgetaucht sind. Dieser Figurenpark, der dabei entsteht, ruft Echos in der musik hervor, die beim bloßen Hören nicht so ohne weiteres anwesend sind. Dieses Vor und Zurück auf der Zeitschiene, diese Gleichzeitigkeit von Gewesenem und Kommen­ dem in allen Schattierungen, lässt einen nicht mehr an Bewegungsabfolgen denken, sondern an einen Figurenpark. Die ganze Choreographie ist simultan, kein tanz, der zu seinem Ende hin rennt, sondern ein Gewebe, eine Struktur, ein Bild, eine Situation, ein Denken. 21


b.10 CASTOR ET POLLUX

b.12 Von George Balanchines »Agon« bis zu Uraufführungen von Antoine Jully und des Choreographenduos Uri Ivgi & Johan Greben spannte sich der Spielplan 2011/12 des Balletts am Rhein. Werke von Jiří Kylián und Nils Christe waren ebenso zu erleben wie Hans van Manens anrührender Pas de deux »The Old Man and Me«, für den Martin Schläpfer als Tänzer auf die Bühne zurückkehrte. Als Choreograph eröffnete der Direktor des Balletts ­ am Rhein mit »Drittes Klavierkonzert«, »Tanzsuite«, »Violakonzert« und »Lontano« einen vielschichtigen Blick in sein Schaffen und seine künstlerische Entwicklung. Mit JeanPhilippe Rameaus »Castor et Pollux« präsentierte er sich erstmals auch als Regisseur und Choreograph einer Oper. Auf den folgenden Seiten laden wir Sie zu einem Rückblick auf die vergangene Spielzeit ein. Gert Weigelt hat die schönsten Momente eines ganzen Jahres voller Tanz für Sie festgehalten. ————

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b.10 / DRITTES KLAVIERKONZERT —— MARTIN SCHLÄPFER Yuko Kato, Ann-Kathrin Adam, Martin Schirbel, Louisa Rachedi, Alexandre Simões



b.10 / DRITTES KLAVIERKONZERT —— MARTIN SCHLÄPFER Yuko Kato, Remus Şucheană links UND RECHTS


b.10 / TANZSUITE Louisa Rachedi, Pontus Sundset, Helge Freiberg,

—— MARTIN SCHLÄPFER Yuko Kato, Camille Andriot, Christine Jaroszewski, Marlúcia do Amaral links Christine Jaroszewski rechts



b.10 / TANZSUITE —— MARTIN SCHLÄPFER Ensemble



Auf einen Kaffee mit Martin Chaix INTERVIEW — Ulrike Wörner  FOTOS — Gert Weigelt, Felix Aarts

»We were right here!!« ist der Titel des Stücks, mit dem sich Martin Chaix beim Ballett am Rhein als Choreograph vorstellt. Seit 2009 dort als Tänzer engagiert, bezieht er sich mit dieser Uraufführung auf das Ballettstudio als tägliche Umgebung, wo er den titelgebenden Ausspruch an eine Wand geschrieben entdeckt hat. Am Tag nach unserem Interview leiht mir Martin Chaix »Dialogue avec la gravité« von Ushio Amagatsu aus, welches er im Gespräch erwähnt hatte. Darin sein Lesezeichen: eine Einladung zur Ver­ nissage einer Fotoausstellung. Lesen, Musik hören, Tanzen, Ausstellungen besuchen, Choreographieren, Fotografieren – Martin Chaix scheint von einem Orbital kreativen Inund Outputs umgeben zu sein. Egal ob mit seinem Kopfhörer beim Aufwärmen vor dem Training, mit seiner Fotokamera bei Bühnenproben oder im Flur mit einem Buch unter den Arm geklemmt. Bei einer Tasse Kaffee im sonnigen Vorgarten des Balletthauses versuche ich mich zum Kern des Orbitals durchzufragen. ————

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MUSIZIEREN FÜR DEN TANZ

INTERVIEW — Anne do Paço  FOTO — Marco Cambiaghi

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Sie ist eine ausgezeichnete Geigerin, liebt die Musik, die Literatur, die Mode, das Engagement für Kultur, Gesellschaft und Umwelt – und den Tanz. Natasha Korsakova ist im Ballettabend b.14 mit Ernest Chaussons »Poème« in Antony Tudors Ballett »Jardin aux lilas« zu erleben. Anne do Paço traf die vielseitige Künstlerin im August 2012 zu einem Gespräch. ————

Anne do Paço  Für eine Geigerin, die vor allem auf dem Konzertpodium als Solistin zu Hause ist, ist es eher ein ungewöhnliches Projekt, in einem Ballettabend mitzuwirken. Deine Zusammenarbeit mit Martin Schläpfer geht bereits in die Spielzeit 2007/08 des ballettmainz zurück. Damals engagierte er dich für den Violinpart in Ernest Chaussons Poème – eine Komposition, die die musikalische Basis für Antony Tudors Ballett Jardin aux lilas ist. Es folgte beim Ballett am Rhein 2009/10 Philip Glass’ Violinkonzert für Paul Lightfoots und Sol Leóns Signing Off. Nun kehrst du für die Neueinstudierung von Jardin aux lilas ins Theater Duisburg zurück. Was bedeutet es dir, für den Tanz zu spielen?

cherseits beide Opernsänger. Meine Ur-Großeltern habe ich leider nicht kennengelernt, aber auch sie waren Musiker – und ein, wenn auch nicht ganz direkter Vorfahre war der Komponist Nikolaj Rimski-Korsakow. Seine Welt war für mich allerdings etwas weiter weg. Ich habe schon sehr früh mit dem Vio­ lin- und Klavierspiel angefangen. Aber auch sonst habe ich viel Glück gehabt mit der Kunst. Mein Großvater hat mich in die Welt der Malerei eingeführt, meine Großmutter in die der Oper. Natürlich hat aber auch die Schule – ein Musikgymnasium – zu meiner Ausbildung beigetragen.   Hast du heute auch noch einen Lehrer, von dem du dich regelmäßig beraten lässt? Anne do Paço

Ich bin als Mensch und Mu­ sikerin sehr offen, insbesondere für Neues – und für den Tanz zu spielen war für mich wirklich etwas Neues.

Wenn ich einen Rat brau­ che, hole ich mir diesen bei Uto Ughi, der für mich ein Idol, aber auch ein guter Freund ist.

Anne do Paço

Könntest du dir vorstellen, öfters mit Choreographen zusammenzuarbeiten?

Warum hast du dich entschieden, nach Deutschland zu gehen?

Ich glaube schon! Ich habe die Begeisterung für den Tanz und – wenn ich das so sagen darf – nun ja auch die Er­ fahrung. Schauen wir mal. Ich hoffe jeden­ falls, dass Jardin aux lilas nicht mein letztes Tanzprojekt bleibt.

Das ist eine lustige Sache. Als ich zehn Jahre alt war, sagte ich: „Ich gehe nach Deutschland“. Ich war noch nie dort ­gewesen. Meine Eltern waren immer sehr viel unterwegs – heute in Frankreich, mor­ gen in Belgien, übermorgen in Deutschland, Italien … Ich wusste über diese Länder schon als Kind sehr viel, obwohl ich nie dort war, denn mit meinen Eltern mitzureisen, wäre nicht nur zu teuer, sondern damals in der So­ wjetunion auch schwierig gewesen, obwohl wir dort nicht eingesperrt waren. Meine Mut­ ter hat einen griechischen Pass und wir hätten jederzeit ausreisen können, doch wir sind geblieben – bis zu dem Zeitpunkt, als mein Vater leider viel zu früh verstarb. Danach ha­ ben wir Moskau in die verschiedensten Rich­ tungen verlassen. So kam ich schließlich doch noch nach Deutschland. Es hätte auch Frank­ reich oder Finnland oder irgendein anderes Land sein können. Aber nachdem mich mit zehn Jahren keiner erst genommen hat, habe ich mit 18 das gemacht, wovon ich als Kind träumte. Ich fand tolle Gasteltern und in Ulf Klausenitzer einen fantastischen Lehrer. Ich kam natürlich mit einer sehr guten Ausbil­ dung. Was ich hier aber vertiefen konnte, war Mozart zu interpretieren – und natürlich auch Beethoven und Brahms. Das fehlte mir noch.

Natasha Korsakova

Natasha Korsakova

Anne do Paço

Mozart ist mein Musik-Gott. Offiziell sollte ich nur ein Jahr hierbleiben, doch es kam anders … Anne do Paço  Bist du vorher schon einmal mit Ballett in Berührung gekommen?

Natasha Korsakova Ich habe sehr viele Ballett­ vorstellungen gesehen, vor allem als Kind. Ich selber habe aber nie gut getanzt. Anne do Paço Du hast selbst auch eine Tanz­ ausbildung absolviert?

Ja, denn Ballett war ein Pflichtfach in der Schule, zweimal in der Woche sogar! Ich war leider nie besonders gut. Aber das Bolschoi-Theater war eine mei­ ner großen Leidenschaften. Mit meiner Groß­ mutter bin ich oft in die Oper gegangen, aber auch ins Ballett. Schließlich wurde mir der Tanz jedoch immer weniger wichtig. Die Be­ gegnung mit dem ballettmainz war für mich die Wiederentdeckung des Balletts. Natasha Korsakova

Chausson schrieb sein Poème für den Konzertsaal. In Tudors Choreographie wird es musikalische Grundlage eines Handlungsballetts … Anne do Paço

Natasha Korsakova

Du wurdest in Moskau in eine Musikerfamilie hineingeboren und bist dort auch aufgewachsen. Später bist du nach Deutschland gekommen und hast in Nürnberg bei Ulf Klausenitzer und in Köln bei Saschko Gawriloff Geige studiert. Anne do Paço

Meine musikalischen Wur­ zeln liegen definitiv in meiner Familie. Ich habe fünf Generationen von Musikern hin­ ter mir – wurde also geradezu in diese At­ mosphäre hineingeworfen. Mein Vater war der bekannte russische Geiger Andrej Kor­ sakov, meine Mutter ist Griechin und eine wunderbare Pianistin. Sie ist mit meinem Vater als Kammermusikpartnerin aufgetreten, war aber auch als Solistin aktiv. Meine Großeltern waren ebenfalls Musiker: mein Großvater väterlicherseits Konzertmeister des Staatlich-Sinfonischen Rundfunk- und Fernsehorchesters Moskau und meine Groß­ mutter Pianistin; meine Großeltern mütterli­ Natasha Korsakova

Natasha Korsakova

… das Poème eignet sich f­antastisch für den Tanz. Ich weiß leider kaum etwas über seine Entstehung, es gibt keine Quellen und auch kaum anderes Mate­ rial, das man befragen kann, aber ich habe mir diese Komposition schon immer als eine lei­ denschaftliche und sehr tragische Geschichte vorgestellt, die aber zu einem Happy End fin­ det. Da kannte ich Tudors Ballett noch gar nicht. Als Martin Schläpfer mich als Solistin anfragte, war mein erster Gedanke: Was für eine Geschichte erzählt uns Tudor? Als ich dann zu einer ersten Probe in den Ballettsaal kam, spürte ich sofort, dass die Musik und der Tanz perfekt zusammenpassen. Nach all den Vorstellungen, die ich dann in Mainz ­gespielt habe, kann ich mir das Poème ohne Ballett gar nicht mehr vorstellen. Wenn ich es heute im Konzert aufführe, fehlt etwas. Natasha Korsakova

Anne do Paço  Die Rolle der Violine ist in Tudors Choreographie entsprechend der Entstehungszeit des Stückes im Jahre 1936 eine klassische: die Begleitung der Tänzerinnen und Tänzer zusammen mit dem Orchester.

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Heute kennen wir ganz andere Verbindungen zwischen Musik und Tanz, in denen Musiker direkt auch in das Bühnengeschehen integriert werden. So etwas war zu Tudors Zeiten wahrscheinlich gar nicht denkbar. Donald Mahler, der seit 1956 zahlreiche Rollen in Balletten Tudors tanzte und nun auch die Einstudierung von Jardin aux lilas mit dem Ballett am Rhein leiten wird, hat sich damals in Mainz aber entschieden, dich nicht aus dem Orchestergraben spielen zu lassen, sondern auf der Vorbühne zu positionieren, was einen direkteren Kontakt zu den Tänzern ermöglicht.

» Meine musikalischen Wurzeln liegen definitiv in meiner Familie. Ich habe fünf Generationen von Musikern hinter mir – wurde also geradezu in diese Atmosphäre hin­ eingeworfen. Mit meiner Großmutter bin ich oft in die Oper gegangen, aber auch ins ­Ballett. Schließlich wurde mir der Tanz jedoch immer weniger wichtig. Die Begegnung mit dem ballettmainz war für mich die Wiederentdeckung des Balletts. «

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b–No 3  Ballett am Rhein

In der Kadenz ist die Vio­ line mit Caroline ganz alleine, sie und ich. In anderen Passagen ist sie dann wiederum stärker eingebunden auch in die Ensembles, die Szenen mit den Freunden. In der Mitte der Komposition gibt es einen Teil mit Doppelgrif­ fen, der schließlich zum Kulminationspunkt führt, bei dem alle Beteiligten gemeinsam auf der Bühne sind. In solchen Momenten ist auch das Violinsolo mittendrin. Ich würde also nicht sagen, dass sie nur einer be­ stimmten Figur zugeordnet ist. Natasha Korsakova

Anne do Paço  Worin liegt die besondere Herausforderung, ein Ballett zu begleiten? Muss man dabei auf anderes achten, als wenn man Solistin auf dem Konzertpodium ist?

Natasha Korsakova  Es gab zunächst einige Dis­ kussionen über dieses Thema, aber wenn man das Ballett kennt, geht es eigentlich gar nicht anders. Bei Signing Off von Paul Lightfoot Natasha Korsakova Der Unterschied lag für und Sol León stand ich bei den Musikern im mich vor allem im Tempo. Als ich das Stück Orchestergraben, was für Philip Glass’ Vio­ einstudiert habe, habe ich es viel schneller linkonzert auch besser ist, da man als So­ gespielt, so wie es für Konzertaufführungen list hier vom ersten bis zum letzten Takt mit ­üblich ist. Dies passte jedoch mit der Cho­ dem Orchester einen gemeinsamen Rhyth­ reographie nicht zusammen. Während der mus finden muss. Die Musik erinnert ein Proben habe ich im Beobachten des Tanzes wenig an eine Maschine, die nicht mehr zu dann aber sehr schnell das richtige Tempo bremsen ist, wenn sie einmal ins Laufen gera­ gefunden, und plötzlich stimmte es dann auch ten ist. Chaussons Poème ist von ganz ande­ für mich. Donald Mahler liebt die Aufnahme rem Charakter – und auch meine Rolle in dem von Fritz Kreisler – da sind unsere Geschmä­ Ballett. Im Orchestergraben mit dem Rücken cker vielleicht ein bisschen verschieden, aber zur Bühne hätte ich überhaupt keinen Kon­ es ist eine sehr besondere Aufnahme, so wie takt zu den Tänzern, was hier aber sehr wich­ Kreisler ja auch eine besondere Persönlich­ tig ist, denn immer wieder begleitet die Gei- keit und ein besonderer Musiker war. Bei ge ganz direkt den Tanz wie zum Beispiel in der Einstudierung in Mainz hatten wir diese der Kadenz. Da treffe ich mit der Tänzerin ­Aufnahme nicht, weil sie eine absolute Rarität der Caroline zusammen, gehe mit ihr, passe ist. Inzwischen hat er sie mir aber geschickt. mich an und reagiere auf sie. Meine Rolle ist Es ist schon unglaublich, wie anders man das die einer Beobachterin: Ich schaue zu und Stück spielen kann! nehme gleichzeitig daran teil, ich gehöre zu Anne do Paço Es gibt heute sehr viele ausgeder Geschichte und stehe doch außerhalb.

Tudor erzählt uns die Geschichte einer unglücklichen Liebe: Eine junge Frau – Caroline – liebt einen jungen Mann, muss aber aus gesellschaftlichen Gründen einen anderen heiraten. Ihr Freundeskreis setzt sich aus verschiedensten Persönlichkeiten zusammen, die das Geschehen auf ihre Weise kommentieren oder auch vorantreiben, wie z. B. die eifersüchtige und intrigante Nebenbuhlerin oder die mitfühlende Freundin. Die Geschichte spielt in einem romantischen Fliedergarten, der in spannungsvollem Kontrast zu dem Zerbrechen einer ganzen Welt steht. Dazu Chaussons hoch­ romantische, sehr expressive, schwelgerische, sehnsüchtige Musik, aus der sich die Violine als Solistin immer wieder in einem geradezu sprechenden Tonfall herauslöst – fast an eine Gesangsszene erinnernd. Hat Tudor das Soloinstrument einer bestimmten Figur zugeordnet oder wie hat er es eingesetzt? Anne do Paço

zeichnet ausgebildete Musiker, und es ist nicht einfach, sich als Solistin durchzusetzen. Wie positioniert man sich als junge Musikerin?

Bei mir ist dies eine Mi­ schung aus Planung und Zufällen – vielen glücklichen Zufällen. Ich bringe natürlich die Erfahrungen meiner Eltern und meine eige­ nen mit. Dann hatte ich ein paar gute Agenten. Sich auf dem internationalen Markt durchzu­ setzen ist in der Tat nicht einfach – anderer­ seits ist die Welt auch sehr groß. Im Moment bin ich in Italien und den USA sehr präsent. Ich gebe zu, dass ich gerne mehr in Deutsch­ land spielen würde. Insofern freue ich mich auch sehr auf die Vorstellungen mit dem Bal­ lett am Rhein und den Duisburger Philhar­ monikern. Was mir Sorgen macht, sind die immer stärker werdenden Diskussionen über Einsparungen im Kulturbereich. Man muss doch einfach nur all das sammeln, was ich von Menschen, die nach einem Konzert zu Natasha Korsakova


mir kommen, immer wieder erfahren darf: Wie glücklich sie sind! Musik ist auch eine Art Medizin. Sie kann sicher nicht jeden hei­ len, aber sie trägt unendlich viel Positives zu unserem Leben bei. Ich könnte mir niemals einen anderen Beruf vorstellen.

Das klingt nach viel Arbeit und aufregenden Tagesabläufen. Für einen Künstler ist es ja immer auch wichtig, das richtige Maß zwischen Auftritten und Arbeitsphasen zu finden. Wie gestaltest du einen Tag, gibt es da Rituale, die du einhältst?

Anne do Paço Du bist eine Künstlerin, die sich auch in zahlreichen anderen gesellschaftlichen und kulturellen Bereichen vernetzt: Du bist Testimonial der italienischen Mode-Designerin Laura Biagiotti und trägst bei deinen Auftritten Kleider aus ihren Kollektionen, außerdem bist du Kulturbotschafterin der italienischen Fondazione Sorella Natura – eine Stiftung, die sich für die Entwicklung der Kultur und der Umwelt auf der Basis der Gedanken des Franz von Assisi einsetzt …

Es kommt darauf an. Wenn ich, wie im Moment, zu Hause bin, versuche ich täglich einen Spaziergang am Rhein oder Sport zu machen. Das gibt mir eine Gesamt­ energie. Dann ist es mir sehr wichtig, mit meinen Freunden in Kontakt zu bleiben, die überall auf der Welt verstreut sind. Eine kleine Runde via Facebook ist für mich inzwischen eine schöne Gewohnheit. Aber ich reise auch sehr viel, um meine Familie, meinen Freund, so oft es geht zu besuchen. Auf Konzertreisen ist dagegen alles auf den Kopf gestellt, jeder Tag anders. Dann habe ich meine Geige dabei und das ist mein Ritual. Mitte Oktober bin ich auf einer USA- und Mexiko-Tournee und spiele jede Woche ein anderes Violinkonzert. In sol­ chen Phasen sind die Tage ganz aufs Üben aus­ gerichtet. Wenn aber zwischen den Konzerten Pausen sind, dann kann ich mir schon erlauben, ein paar Tage auch ganz ohne Geige zu sein.

Natasha Korsakova  Franz von Assisi und seine Zeit faszinieren mich schon sehr lange. Ein Mitglied von Sorella Natura kam vor etwa ei­ nem Jahr auf mich zu und konnte mich für deren Anliegen begeistern, denn die Stiftung macht sehr viele Projekte für Kinder und Ju­ gendliche: Kunst, Musik und Umweltschutz. Nächstes Jahr werde ich zusammen mit mei­ nem Violinpartner Manrico Padovani – der auch in einer der Jardin aux lilas-Vorstel­ lungen im Theater Duisburg zu erleben sein wird – für Sorella Natura eine ganze Reihe von Konzerten in italienischen Schulen ge­ ben und mit den Schülern über die Musik und die Komponisten sprechen. Was die Verbindung zu Laura Biagiotti angeht, war etwas Glück im Spiel. Ihre Familie zählt zu den Freunden meiner Eltern und irgendwann kam ihre Tochter Lavignia auf mich zu, die mein Geigenspiel mochte, und meinte, ich sei der richtige Typ für die BiagiottiKollektion. Das war für mich natürlich sehr schmeichelhaft, denn ich bin ja nicht nur Geigerin, sondern auch Frau. Auf der Bühne gehören schöne Konzertkleider ein­ fach dazu. Auch das Publikum erwartet ja et­ was Besonderes. Ob es schlicht ist oder weib­ lich verspielt – ich versuche manchmal auch, den Stil der Kleider der Musik anzupassen.

Anne do Paço

Natasha Korsakova

Donald Mahler hat sich sehr gefreut, als er hörte, dass du Jardin aux lilas wieder begleiten wirst. Wie war dein Kontakt zu ihm? Anne do Paço

Wir hatten beim ballettmainz eine wunderbare Zeit miteinander. Neben den Proben und Aufführungen von Jardin aux lilas war das schönste Erlebnis für mich eine Walzerstunde mit Donald. Ich – als sehr mittelmäßig begabte Tänzerin – mit dieser Ballettlegende! Ich habe ihn einfach gefragt, ob er mir einen Walzer zeigen könne. Und dann ist er mit mir in den Ballettsaal gegan­ gen und hat mir Schritt für Schritt beige­ bracht. Das werde ich nie vergessen. Wir müs­ sen das nun unbedingt auffrischen. Ich werde ihm gleich heute Abend noch schreiben!  ——— Natasha Korsakova

» Man muss doch einfach nur all ­ das sammeln, was ich von Menschen, die nach einem Konzert zu mir kommen, immer ­wieder erfahren darf: Wie glücklich sie sind! Musik ist auch ­ eine Art Medizin. Sie kann sicher nicht jeden heilen, aber sie trägt unendlich viel Positives zu unserem Leben bei. Ich könnte mir niemals einen anderen Beruf ­vorstellen. «

Darüber hinaus hast du aber auch eine Affinität zur Literatur, in einem kleinen österreichischen Verlag sind zwei Kurzgeschichten von dir erschienen … Anne do Paço

Natasha Korsakova  Ja, das ist lange her. Aber es gibt ein neues Projekt, über das ich ei­ gentlich noch nicht sprechen wollte, da die letzten Schritte noch nicht getan sind … Ich habe einen Kriminalroman geschrieben und eine Agentur ist an der Veröffentlichung sehr interessiert. Vielleicht habe ich gute Neuigkeiten, wenn die Jardin aux lilas-Vorstellun­ gen laufen.

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SWEET TEXT — Marquet K. Lee  FOTOS — Virginia Segarra Vidal

At Ballett am Rhein we are 48 dancers who are able to say that we work in a profession about which we are truly passionate. This passion took some away from home at a young age in order to further their training, in conservatories and boarding schools. It eventually took them to other countries with unfamiliar cultures and languages. It is this very passion that ignites the stages of Düsseldorf and Duisburg time and time

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ESCAPE again, to much acclaim. As individuals who possess this perpetual passion, a career in dance is never a matter of question. The connection to dance that we find in early adolescence slowly grew in our hearts from a small hobby to an unquestionable commitment. Dance has and will always come first. ————

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For me, I have found that there are two aspects of being a professional dancer: the work in the studio and the work on stage. Though the work on the stage is what you, the audience, most know us by; the work in the studio is where 70% of our lives lie. In the studio, it is part of our job to ask more of ourselves physically and mentally. We push ourselves to be quicker, louder, stronger, slower, lighter, higher, lower, smaller, bigger, quieter … the list goes on. The constant quest for perfection through what appear as contradictory ideas is enough to drive man crazy and I personally struggled with this a lot in my first year. It came to a point where I think I might have gone into a bit of a self diagnosed depression because I was simply overwhelmed with all I wanted for myself, all everyone wanted from me, and the lack of attainments I was able to note. Then one day, I decided that I needed to escape. I needed to be able to focus on something else for a few hours a week to reenergize myself. I have always loved photography and graphic design so I began to take more photos and spend time editing them. Sometimes I would feel guilty about needing to “escape” from time to time, but after talking to six other dancers in the company, I found that this need is more common than I would have thought. Martin Chaix, a fourth season dancer with Ballett am Rhein, also finds solace behind the camera lens. The art of photography was always around him as a child, though he never knew it would become one of his passions. “In my family, both my grandfather and my father were photographers. Just as a hobby, but they really wanted to have a professional approach. When I got my first camera I sort of stepped into this enthusiasm.” Chaix likes the instant gratification of photography. “With digital photography you take a photo and you see it. That is something that we come to accept doesn’  t happen in dance. In dance you will always have to rely on the opinions and taste of others. Choreographers, balletmasters, audience and critics see the product, but with my photography I can be my own audience. I set my standard.” He finds photography to be a more forgiving art form than dance. “I can take as many photos as I want until I have something I am happy with.”

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Virginia Segarra Vidal is in her second season with Ballett am Rhein and also would call herself a photography hobbyist. “I recei­ ved a ‘Fisheye’ camera from Lomography as a present, and started using film again after years of only shooting in digital. I had a few photography lessons at University, when I studied ‘Comunicación Audiovisual’. Later, when I was injured I had a lot of free time and I became more interested in finding out about different types of films and cameras.” It has since become Virginia’ s way of forgetting about the day’ s worries. “No matter what I feel, no matter how my day has been or how my worries have been consuming me, after a while I forget about everything and I only see – and then somehow my thoughts seem clearer.” Though she rarely takes photos of dance, she still finds it influences the way she takes photographs. “When it comes to the composition and lighting of a shot, the frame is like a stage. I always try to find a balance and relationship between everything that appears in the picture.”

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I n f os  &  Ka r ten

↗ Düsseldorf: Tel. + 49 (0) 211. 89 25 - 211  ↗ Duisburg: Tel. + 49 (0) 203 . 9 40 77 77

Gene r alintendant

www.ballettamrhein.de

Prof. Christoph Meyer  Ballettdi r e k to r   &   C h e f c h o r eo g r a p H   Martin Schläpfer

B A L L E T T

a m

R h e i n

Spielzeit  2012/13 — PR E M I E R E N

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Ein Deutsches Requiem Martin Schläpfer —

The leaves are fading – Pas de Deux Antony Tudor

„We were right here!!“ Martin Chaix Uraufführung

Afternoon of a Faun Jerome Robbins

15.09.2012  ↗  Theater Duisburg 14.12.2012 ↗  Opernhaus Düsseldorf (WA)

b.13 Concerto Barocco George Balanchine Kleines Requiem Hans van Manen UNGARISCHE TÄNZE Martin Schläpfer Uraufführung —

10.11.2012 ↗  Opernhaus Düsseldorf

Five Brahms Waltzes in the Manner of Isadora Duncan Frederick Ashton Jardin aux lilas Antony Tudor Johannes Brahms – Symphonie Nr. 2 Martin Schläpfer Uraufführung — 02.02.2013  ↗  Theater Duisburg

Rebound – ToPPle – Splash Antoine Jully Uraufführung Pond Way Merce Cunningham CROP Amanda Miller Uraufführung Inclination Regina van Berkel Uraufführung —

12.04.2013 ↗  Opernhaus Düsseldorf

Without Words Hans van Manen Nacht umstellt Martin Schläpfer Uraufführung —

05.07.2013 ↗  Opernhaus Düsseldorf


DAS BALLETT AM RHEIN DÜSSELDORF DUISBURG

Das Ballett am Rhein Düsseldorf Duisburg wurde 2009 von seinem Direktor und ­Chefchoreographen Martin Schläpfer neu formiert und zählt inzwischen zu den führenden Ballettcompagnien. Nachdem bereits eine Umfrage der Deutschen Bühne das Ensemble 2010 auf den 1. Platz setzte, kürte die Zeitschrift tanz in ihrer internatio­ nalen Kritikerumfrage Martin Schläpfer zum „Choreographen des Jahres 2010“ und nominierte das Ballett am Rhein mehrfach als „Kompanie des Jahres“: „Hier reift ein Ballett zu Weltformat“ urteilte Nicole Strecker zuletzt im Jahrbuch tanz 2012. 48 Tänzerinnen und Tänzer aus rund 20 Nationen sind in dem ausschließlich aus Solistinnen und Solisten bestehenden Ensemble vertreten, das in über 70 Vorstellungen pro Spielzeit auf den beiden Bühnen der Deutschen Oper am Rhein im Opernhaus Düsseldorf und dem Theater Duisburg zu erleben ist. Gastspiele führten die Compa­ gnie bisher ins Het Muziektheater Amsterdam, die Oper Köln, zum Mährischen Ballettherbst Brno, nach Friedrichshafen sowie ins Theater Gütersloh. In dieser Spielzeit folgen acht Vorstellungen im Théâtre de la Ville Paris sowie Auftritte im Gran Teatre del Liceu Barcelona, Theater Bonn und erneut in Gütersloh. Mit großem Erfolg bei Publikum und Presse entwickelte Martin Schläpfer für das zuletzt von den Direktoren Erich Walter, Paolo Bortoluzzi, Heinz Spoerli und Youri Vàmos geleitete Ensemble eine neue Repertoirepolitik, die von einer breiten stilistischen Vielfalt geprägt ist: In meist mehrteiligen Ballettabenden bringt er wichtige Meisterwerke des 20. Jahrhunderts von Choreographen wie George Balanchine, Kurt Jooss, Antony Tudor, Frederick Ashton, Jerome Robbins, Merce Cunningham, Hans van Manen, Twyla Tharp, Mats Ek, Jiří Kylián und Nils Christe zur Aufführung und setzt zugleich mit eigenen Choreographien und Arbeiten jüngerer Künstlerinnen und Künstler wie Paul Lightfoot und Sol León, Teresa Rotemberg, Regina van Berkel, Amanda Miller, Uri Ivgi und Johan Greben, Antoine Jully und Martin Chaix einen deutlichen Schwerpunkt im Bereich des zeitgenössischen Tanzes. In seinen eigenen Arbeiten knüpft Martin Schläpfer auf der Suche nach einer „Ballettkunst für das 21. Jahrhundert“ immer wieder an die Formen der abstrakten Neoklassik an, um diese jedoch für die Gegenwart auf seine ganz eigene Weise ­weiterzudenken. Als Interpreten stehen dem Ballett am Rhein mit den Düsseldorfer Symphonikern und Duisburger Philharmonikern zwei hochkarätige Klangkörper zur Verfügung, die für einzelne Projekte durch die Mitwirkung von Instrumental- und Gesangssolisten oder den Chor der Deutschen Oper am Rhein noch ergänzt werden können. In ­Generalmusikdirektor Axel Kober und den Kapellmeistern Christoph Altstaedt und Wen-Pin Chien konnte Martin Schläpfer für die musikalische Einstudierung und ­Leitung seiner Ballettabende – neben verschiedenen Gästen – äußerst profilierte ­Dirigentenpersönlichkeiten aus dem Ensemble der Deutschen Oper am Rhein als Partner gewinnen. 91


am Rhein

Ballett

Le Das Théâtre de la Ville in Paris ist einer der wichtigsten Schauplätze für zeitgenössischen Tanz in Europa. Vom 28. November bis 5. Dezember 2012 zeigt das Ballett am Rhein dort in acht Vorstellungen Martin Schläp­ fers Choreographien Forellenquintett und Neither. Claire Verlet, die Künstlerische Di­ rektorin der Sparte Tanz des renommier­ ten Theaterhauses, berichtet, wie sie Martin Schläpfer kennenlernte und was sie zur Ein­ ladung des Balletts am Rhein bewog: „Ich hörte zum ersten Mal von Martin Schläpfer durch Bettina Masuch, als diese Kuratorin am HAU in Berlin war und ich als Programmdirektorin am Centre natio­ nal de la danse in Paris arbeitete. Wir interessierten uns beide für die Verbindungen, die zwischen großen Ballettcompagnien und zeitgenössischen Kultur-Zentren wie unseren entwickelt werden können und waren beide von der Verantwortung überzeugt, die inter­ nationale Repertoire-Compagnien neben der Pflege des klassischen Erbes auch gegenüber der Kreation von Neuem haben. Projekte, die wir diskutierten, waren zum Beispiel Hymnen nach Stockhausens Originalstück von 1968, neu choreographiert von Lia Rodriguès und Didier Deschamps für das Ballet de Lorraine, die Arbeiten von Rachid Ouramdane oder Christian Rizzo für das Ballet de Lyon, aber auch die Wiederbelebung von Meisterwerken wie Dance von Lucinda Childs für das Ballet du Rhin oder The show must go on von Jérôme Bel für das Ballet de Lyon. Zu dieser Zeit war Martin Schläpfer noch nicht in Düsseldorf. Bettina Masuch wies mich aber immer wieder darauf hin, dass er dabei sei, einen ganz eigenen, unverkennba­ ren Stil zu entwickeln – und ich behielt dies im Hinterkopf. Als ich 2008 unter dem neuen


Martin Schläpfer: Ein Deutsches Requiem 16. und 17. Juni 2013 – Opernhaus Bonn Tickets unter: + 49 (0) 228 . 77 80 08 www.theater-bonn.de

THEATER BONN

Martin Schläpfer: Ein Deutsches Requiem 12. und 13. Mai 2013 – Theater Gütersloh Tickets unter: + 49 (0) 5241. 211 36 36 www.theater-gt.de ——

THEATER GÜTERSLOH

Martin Schläpfer: Kunst der Fuge 9. und 10. Februar 2013 – Gran Teatre del Liceu Tickets unter: + 34 (0) 93 . 274 64 11 www.liceubarcelona.cat ——

GRAN TEATRE DEL LICEU BARCELONA

Martin Schläpfer: Forellenquintett / Neither 28., 29. und 30. November, 1., 3., 4. und 5. Dezember 2012 – Théâtre de la Ville Tickets unter: + 33 (0) 1 . 42 74 22 77 www.theatredelaville-paris.com ——

THÉÂTRE DE LA VILLE PARIS

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Gastspiele des Balletts am Rhein 2012/13

Paris

à

en Tournée

­ irektor Emmanuel Demarcy Mota die Ver­ D antwortung für die Sparte Tanz am Théâtre de la Ville übernahm, fuhr ich mehrmals nach Düsseldorf, um mir verschiedene Programme anzusehen. Unsere Tanzabende im Théâtre de la Ville sind der Idee der Autorenschaft verpflichtet, wir suchen nach der singulären ‚Stimme‘, einer persönlichen Vision. Auch wenn wir eine Repertoire-Compagnie ein­ laden, zeigen wir in der Regel einen gesam­ ten Abend mit Stücken eines Choreographen und werben mit seinem Namen – und we­ niger mit der Compagnie als solcher. In die­ sem Sinne wollte ich ein komplettes Programm in der Handschrift von Martin Schläpfer prä­ sentieren. Seine Choreographie Neither erkannte ich sofort als ein Meisterwerk. Das sensible Eingehen auf Morton Feldmans Musik, die Ausstattung, die Choreographie und das Vo­ kabular des Tanzes – all das trägt zu einer per­ fekten Balance zwischen Form und Inhalt bei. Die Erkenntnis der Einsamkeit in der Masse und die Melancholie der Farben erinnerten mich an die besten Bilder Picassos aus dessen Blauer und Rosa Periode. Dazu wählte ich das Forellenquintett, das nicht nur einen Ge­ gensatz bildet, sondern sich durch eine ganz eigene, anziehende Fremdheit auszeichnet. Das Ballett am Rhein nach Paris einzu­ laden lag für uns zunächst nicht unbedingt auf der Hand. Zum einen kommen deut­ sche Ensembles nur selten nach Paris, noch nicht einmal die bekanntesten wie das Ham­ burg oder Stuttgarter Ballett. Zweitens gibt es in Frankreich ebenfalls sehr gute Compa­ gnien. Und nicht zuletzt verfügen wir mit dem Ballet de l’ Opéra de Paris über eines der besten Ballettensembles der Welt. Das Ballett am Rhein und Martin Schläpfer sind im Moment in Frankreich noch gänzlich ­unbekannt. Es ist eine großartige Heraus­ forderung für uns, diese Tür für den Choreo­ graphen und sein Ensemble zu öffnen. Dies soll uns gelingen!“ (Foto: Michel Chassat)  ——


TANZKONGRESS

„Große Bühne für den Tanz“ Vom 6. bis 9. Juni wird Düsseldorf Schauplatz des Tanzkongresses 2013

Im Jahr 2006 legte die Kulturstiftung des Bundes den Grundstein für eine neue Reihe von Tanzkongressen, die dem zeitgenössischen Tanz in Deutschland ein großes, umfassendes Forum bieten sollten und bereits heute zu einer höchst lebendigen Tradition geworden sind. Dabei haben auch die deutschen Tanzkongresse des 21. Jahrhunderts historische Vorbilder. Während der Weimarer Republik trafen sich bedeutende Tanzschaffende dieser Zeit, darunter Legenden wie Rudolf von Laban, Gret Palucca und Mary Wigman, zu selbst organisierten Tänzerkongressen. Sie propagierten im Zuge der Lebensreform­ bewegung moderne Ideen vom Körper und verkündeten eine neue Epoche des Tanzes. Die Tanzkongresse der Kulturstiftung des Bundes 2006 in Berlin und 2009 in Hamburg waren sich dieses historischen Kontextes natürlich bewusst, konzentrierten ihre Fragestellungen aber ganz und gar auf direkte zeitgenössische Zusammenhänge. 2006 lautete das Motto „Wissen in Bewegung“, 2009 rückten die Themen Tanz und Politik in den Mittelpunkt. Jeweils bis zu mehrere Tausend Künstler, Wissen­ schaftler, Pädagogen und ein tanzinteressiertes Publikum versammel­

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ten sich, um aktuelle Fragen des Tanzes zu diskutieren, neue Me­ thoden physisch zu erproben oder Vorstellungen und Werkstattpräsentationen u. a. von William Forsythe, Susanne Linke, Vladimir Malakhov, Alain Platel, Sasha Waltz und John Neumeier zu verfolgen. Im Jahr 2013 wird nun vom 6. bis 9. Juni die nordrhein-westfälische Landeshauptstadt Düsseldorf zum Schauplatz des Tanzkongresses, mit Spiel- und Tagungsstätten auf dem Areal um das tanzhaus nrw und das Capitol Theater. Auch diesmal ist der Tanzkongress nicht als eine statische Folge von Vorträgen angelegt. In einer Art Labora­ torium für den Tanz sind – ergänzend, unterbrechend, aufbauend –


TANZKONGRESS

unterschiedlichste Formate vorgesehen: Gespräche, Übungen, Salons, Workshops, Lecture Performances. Das inhaltliche Spektrum reicht von kulturell-politischen über ästhetische, physische bis hin zu öko­ nomischen Fragen. Im Mittelpunkt stehen die gewaltigen Verände­ rungsprozesse in diesen globalen Zeiten und ihre Auswirkungen auf die Kunst des Tanzes, die Tänzer und die Choreographen. Welche künstlerischen Fragestellungen ergeben sich für die Tanz­ schaffenden als Reaktion auf die weltweiten Umwälzungen und welche künstlerischen Formen folgen daraus? Inwieweit beeinflussen world wide web und social media die Choreographen in ihrer Arbeit? Welche neuen Recherchefelder ergeben sich an der Schnittstelle von wissen­ schaftlicher und künstlerischer Forschung?

Der Tanzkongress 2013 wird wie seine Vorgänger dem Tanz in Deutschland eine große Bühne sein. Zugleich dürfte überdeutlich hervortreten, dass nur im internationalen Kontext ein Diskurs auf der Höhe der Zeit möglich ist. Aber gerade dies sollte dem zeitge­ nössischen Tanz Inspiration und Zuversicht geben, denn viele Tänzer und Choreographen leben und arbeiten schon längst in weltweiter Nachbarschaft. (Fotos: Anja Beutler)  —— Weitere Informationen finden Sie unter www.tanzkongress.de Eine Veranstaltung der Kulturstiftung des Bundes in Kooperation mit tanzhaus nrw, Capitol ­Theater Düsseldorf, Deutsche Oper am Rhein Düsseldorf Duisburg, Düsseldorfer Schauspielhaus, FFT Düsseldorf. Mit Unterstützung durch das Kulturamt der Landeshauptstadt Düsseldorf.

Im Hinblick auf den älteren Tänzer oder den „differently abled body“ ist zu fragen, welche ästhetischen Möglichkeiten Menschen mit unter­ schiedlichen physischen und neuronalen Voraussetzungen entwickeln. Wie können die Förderpolitik und die Strukturen für den Tanz ver­ bessert werden? Welche Modelle eines anderen, gemeinsamen Arbei­ tens gibt es? Wie wird Bewegung weitergegeben und welche Strate­ gien der Rekonstruktion gibt es? Die Deutsche Oper am Rhein, das tanzhaus nrw, das Düsseldorfer Schauspielhaus und das Forum Freies Theater flankieren diese Dis­ kussionsprozesse zwischen Praktikern und Theoretikern mit einem exklusiv für diesen Anlass ausgesuchten Programm, das von Ballett über Zeitgenössischen Tanz bis hin zu interaktiven Performances reicht. Das Ballett am Rhein ist mit Aufführungen der Programme b.14 und b.15 im Programm des Kongresses vertreten. Zum Abschluss organisiert die Bundesdeutsche Ballett- und Tanztheaterdirektoren Konferenz (BBTK) in der Deutschen Oper am Rhein unter dem Titel Poeten, Virtuosen, Charaktere einen Abend mit herausragenden Tänzerpersönlichkeiten aus den verschiedensten Staats- und Stadt­ theater-Ensembles.

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Künstlerisches Team 2012 /13 Ballettdirektor und Chefchoreograph

Martin Schläpfer

Persönliche Referentin des Ballettdirektors

Karin Bovisi

Ainara García Navarro, Christine Jaroszewski, Yuko Kato, So-Yeon Kim, Anne Marchand, Nicole Morel, Carly Morgan, Louisa Rachedi, Claudine Schoch, Virginia Segarra Vidal, Daniela Svoboda, Julie Thirault, Anna ­Tsybina, Irene Vaqueiro

Betriebsdirektor

Oliver Königsfeld Dramaturgin

Anne do Paço

Produktion /  Dramaturgieassistenz

Ulrike Wörner Sekretariat

Sabine Chaumet, Sabine Dollnik Ballettmeister

Kerstin Feig, Callum Hastie, Antoinette Laurent, Uwe Schröter

Christian Bloßfeld, Andriy Boyetskyy, Paul Calderone, Jackson Carroll, Martin Chaix, Florent Cheymol, Helge Freiberg, Philip Handschin, Antoine Jully, Marquet K. Lee, Sonny Locsin, Marcos Menha, Bruno Narnhammer, Bogdan Nicula, Chidozie Nzerem, Sascha Pieper, Boris Randzio, Martin Schirbel, Alexandre Simões, Remus Şucheană, Pontus Sundset, Maksat Sydykov, Jörg Weinöhl Dirigenten

Repetitoren

Gesangs- und Instrumentalsolisten

Frederick Ashton, George Balanchine, Regina van Berkel, Martin Chaix, Merce Cunningham, Antoine Jully, Hans van Manen, Amanda Miller, Jerome Robbins, Martin Schläpfer, Antony Tudor Choreographische Einstudierung

Jean-Pierre Frohlich, Donald Mahler, Patricia Neary, Kirk Peterson, Lynn Seymour, Mea Venema, Andrea Weber

Christoph Altstaedt, Dante Anzolini, Wen-Pin Chien, Axel Kober

Joop Caboort, David Covey, Bert Dalhuysen, Thomas Diek, Dietmar Janeck, John B. Read, Jean Rosenthal, Franz-Xaver Schaffer, Seth Tillett, Volker Weinhart Sachika Abe, Ann-Kathrin Adam, Marlúcia do Amaral, Camille Andriot, Aisha L. Arechaga, Doris Becker, Wun Sze Chan, Mariana Dias, Feline van Dijken, Carolina Francisco Sorg, Cristina García Fonseca,

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b–No 3  Ballett am Rhein

GESCHÄFTSFÜHRENDER DIREKTOR

Jochen Grote

BALLETTDIREKTOR

Martin Schläpfer REDAKTION

Karin Bovisi, Anne do Paço, Ulrike Wörner MITARBEIT

Katja Goepel Anne do Paço

ANZEIGENBETREUUNG

Stefani Schmoll

Chor

REDAKTIONSSCHLUSS

Chor der Deutschen Oper am Rhein Orchester

Düsseldorfer Symphoniker, Duisburger Philharmoniker BALLETTSCHULE DES BALLETTS AM RHEIN Direktion

Martin Schläpfer Carolina Francisco Sorg, Paul Haze, Young Soon Hue, Martin Schläpfer, Remus Şucheană, Victoria Wohlleber, Eva Zamazalová Repetitoren

TÄNZERINNEN

Prof. Christoph Meyer

CORPORATE DESIGN UND GESTALTUNG

Pädagogen Lightdesign

Deutsche Oper am Rhein Theatergemeinschaft Düsseldorf Duisburg gGmbH

Franziska Früh (Violine), Egor Grechishnikov (Violine), Sylvia Hamvasi (Sopran), Stephen Harrison (Klavier), Natasha Korsakova (Violine), Anke Krabbe (Sopran), Dragos Manza (Violine), Manrico Padovani (Violine), Laimonas Pautienius (Bariton), Emilian Piedicuta (Violine), Dmitri Vargin (Bariton), Dirk Wedmann (Klavier)

Bühnen- und Kostümbildner

Felix Aarts, Keso Dekker, Florian Etti, Suzanne Gallo, Dietmar Janeck, Antoine Jully, Roy Lichtenstein, Amanda Miller, Jean Rosenthal, Sabine Schnetz, Irene Sharaff, Seth Tillett, Regina van Berkel, Catherine Voeffray, Thomas Ziegler

HERAUSGEBER

VERANTWORTLICH

Johnny Eliasen, Young-Soon Hue, Monique Janotta, Sighilt Pahl, Kirk Peterson, Andrea Weber

Choreographen

Spielzeit 2012/13

GENERALINTENDANT TÄNZER

Gasttrainingsleiter

Dominic Faricier, Christian Feiler, Andy Higgs

Impressum

Dominic Faricier, Christian Feiler, Andy Higgs, Igor Tetelbaum

Markwald & Neusitzer Kommunikationsdesign www.markwaldundneusitzer.de LITHOGRAPHIE UND DRUCK

WAZ-Druck, Duisburg

25. Oktober 2012, Änderungen vorbehalten! Auflage: 2.000 Bildnachweis S. 94 / 95: Erwin Heinle / Fritz Leonhardt: Türme aller Zeiten – aller Kulturen. Stuttgart 1997 Urheber, die nicht zu erreichen waren, werden zwecks nachträglicher Rechteabgleichung um Nachricht gebeten. Nachdruck nur nach vorheriger ­Einwilligung. Alle Rechte vorbehalten.

Umschlag: NEITHER – MARTIN SCHLÄPFER Ensemble (außen); Anna Tsybina, Pontus Sundset (innen vorne); Chidozie Nzerem, Marlúcia do Amaral (innen hinten); Fotos: Gert Weigelt


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www.ballettamrhein.de

Sponsor des Balletts am Rhein D端sseldorf Duisburg


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