b – N° 9 / Das Magazin des Balletts am Rhein

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MAGAZIN DES BALLETTS AM RHEIN SPIELZEIT 2018  / 19

MARTIN SCHLÄPFER: VON DER MAGIE DER RÄUME    –    AMERICAN MODERN DANCE    –    ROBERT BINET: EIN KANADIER TANZT DURCH DIE WELT    –    MARTIN CHAIX: „ICH LIEBE DEN SPITZENSCHUH“    –     BEN J. RIEPE & ALEXANDER BASILE: ENVIRONMENT    –    JEAN-MICHAËL LAVOIE: FREUDE AN ZEITGENOSSENSCHAFT    –    b.33 – b.36: FOTOGRAFIEN VON GERT WEIGELT    –    TANZ 3.0    –    REID BARTELME: SCHÖNHEIT UND HUMOR    –    JULIE THIRAULT: VON DER TÄNZERIN ZUR BALLETTMEISTERIN    –    YOUNG MOVES 2018    –    DAS BALLETT AM RHEIN DÜSSELDORF DUISBURG



Editorial

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Was sind die Themen, die Tanzschaffende im Jahr 2018 bewegen? In Essays und Gesprächen eröffnet das Magazin des Balletts am Rhein b – No 9 un­ terschiedliche Perspektiven: Der Philosoph unter den Choreographen, Martin Schläpfer, nimmt uns mit hinein in seine Gedanken über die Magie der Räume S. 4. Mitten in der Avantgarde der zweiten Hälfte des 20. Jahr­ hunderts sind mit dem Tod von Trisha Brown im März 2017 sowie von Paul Taylor im August 2018 die Fragen nach dem Weiterleben und Bewahren des choreographischen Erbes angekommen. Von diesen – und den vier Ikonen des American Modern Dance S. 12 Mark Morris, Trisha Brown, Merce Cunningham und Paul Taylor – handelt ein Gespräch mit Patricia Lent vom Merce Cunningham Trust sowie dem ehemaligen Paul Taylor-Tänzer Richard Chen See. Mit Robert Binet S. 18 und Martin Chaix S. 24 entdeckt die jüngste Choreographen-Generation das klassische Ballett als Tanzkunst des 21. Jahrhunderts für sich und der Dirigent Jean-Michaël Lavoie betont seine Freude an der Zeitgenossenschaft S. 40. Schönheit und Humor S. 80 – mit diesen beiden Worten umschreibt der New Yorker Künstler Reid Bartelme, was ihn aktuell im Kostümdesign interessiert. Die Verbindungen von Computertechnologien und Tanz untersucht Tanz 3.0 S. 72 am Beispiel von Merce Cunningham und William Forsythe. Ben J. Riepe setzt dagegen seine Erforschungen von Environment S. 30 mit dem Fotografen Alexander Basile und Mitgliedern des Balletts am Rhein jenseits der Opernhausbühne fort. Einen breiten Raum nimmt das Ensemble des Balletts am Rhein ein – die 42 Tänzerinnen und Tänzer, die in Gert Weigelts fotografischem Rück­ blick auf die Spielzeit 2017/18 in den Programmen b.33 bis b.36 S. 44 sowie Young Moves S. 92 zu sehen sind und uns in einem großen Spektrum an Ge­ danken, Erfahrungen und Vorlieben persönliche Einblicke in das geben, was das Ballett am Rhein 2018/19 S. 98 auch ausmacht. Ex-Tänzerin Julie Thirault S. 86 berichtet dagegen von ihrem Wechsel in den Beruf der Ballett­ meisterin. Wir wünschen Ihnen viel Freude mit diesem Begleitheft zu unserer Spielzeit 2018/19! //


Essay

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Von der Magie der Räume /

I —VII

und anderen Gedanken


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Martin Schläpfer

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Text / Martin Schläpfer

Fotos / Markus Feger


Essay

„Heute ist der 20. August, 19.24 Uhr. Ich muss einen Text schreiben …“

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Martin Schläpfer

I Heute ist der 20. August, 19.24 Uhr. Ich muss einen Text schreiben. Der Abgabetermin rückt näher, und noch immer bin ich ohne Thema – geschweige denn, dass ich ein Ziel oder eine Richtung für den Artikel vor Augen hätte. So war es vor der Sommerpause, so ist es kurz vor Spielzeitbeginn immer noch. Ich schreibe gerne. Aber ich tue es selten – weil mir die Zeit dazu fehlt, aber auch, weil in mir zu wenig Bedürfnis ist, mich der „Welt“ mit­ zuteilen. Wenn ich es aber dennoch tue, wurde ich meistens darum gebeten. Vielleicht ist es nicht zwingend notwendig, für ein Ballettmagazin über Tanz und Kunst zu schreiben? Vielleicht ist es auch möglich, ohne ein klares Ziel vor Augen mit dem Schreiben zu beginnen, sich einfach hinzusetzen und es zu tun – etwas entstehen zu lassen. Etwas, das nicht diesen oder jenen Anspruch erfüllen muss. Dazu möglichst wenig von mir selbst zensiert ist, aber etwas aussagt, was mich – offensichtlich unbewusst verdrängt – doch beschäftigt, weil es in mir erst durch den simplen Akt des Schreiben-Müssens nach oben gespült wird. „Es muss entstehen, darf nicht forciert werden“ – erst vor ein paar Tagen hat dies der Architektenkünstler Gio­ van Luigi Dazio bei einem gemeinsamen Trota alla Ticinese-Essen zu mir gesagt. Mich hat dieser Satz sehr berührt. Und sofort tauchten die fünf- bis sechswöchigen, viel zu kurzen, sehr harten und als „hangover“ lange später noch in meinem Körper herumgeis­ ternden Kreations- und Produktionszeiten für meine abendfüllenden Ballette wie 7, Petite Messe solennelle oder gar Schwanensee vor mir auf. Wie wäre es wohl, wenn ich auch einmal etwas wirklich entstehen lassen

9 könnte? Ich habe keine Ahnung. Schön wäre es, zu versuchen, diesen „Zustand“ des NichtForcierens wenigstens in diese Schreibauf­ gabe einfließen zu lassen. Wie gut dazu, wenn dabei alles möglichst ehrlich und „angstfrei“ aufs Papier käme, ohne zu viel: „Wie es denn wohl wirken mag?“, „Ob man das so sagen darf, so sagen solle?“, „Was es wohl auslöst: Freude, Kopfschütteln oder gar einen Shitstorm?“ In einer Zeit, in der fast alles viermal umge­ dreht wird und schön zahm in Form gegossen daherkommen muss, einer Zeit, in der Aus­ einandersetzungen und Spannungen in Ge­ sprächen und Diskussionen schon als verita­ ble Konflikte gelten, die – da kaum mehr ausgehalten und ausgetragen – nicht neutrali­ siert werden können und sich so zu Unlösba­ rem multiplizieren, wäre das nicht einmal wenig. Mir hat einmal ein Künstler, den ich inhaltlich zuvor im Ballettsaal kritisiert hatte, im nachträglichen Gespräch eröffnet, dass man mit mir nicht vernünftig reden könne. Dabei wollte ich einfach vermeiden, dass wir alles sofort weichspülen, man so tut, als sei gar nichts gewesen, es womöglich ein Missver­ ständnis sei und man sofort alles wieder mit Harmonie einpinselt, damit uns ja nichts emotional gegenseitig zu tangieren vermag. Man löst so zwischenmenschlich gar nichts – außer, dass eben nichts nie weh tut und man schön, ohne an etwas arbeiten zu müssen, wieder aus­ einandergehen kann bis zum nächsten Mal, wenn man zum gleichen Thema garantiert wieder aufeinandertreffen wird. Dieses „Spiel“ kann endlos weitergeführt werden. Es ist sehr populär geworden. Dabei ist dieses zugegebe­ nermaßen praktische, inzwischen links und rechts von mir äußerst inflationär gebrauchte Wunderwort „Missverständnis“ in den meis­ ten Fällen nichts anderes als eine Ausflucht vor notwendiger Auseinandersetzung – und damit der Tod jeder Kunstarbeit. Angst erlebt jeder Mensch anders, je nach­ dem, wie er konditioniert, erzogen oder durchs Leben gegangen, was ihm widerfahren und ob er fähig ist, sich und andere ehrlich anzu­ schauen, oder alles, was Mühe macht, zu ver­ drängen versucht, was Ängste schlussendlich nur intensiviert. Es gibt sie nicht, diese eine Angst, die für alle gilt. Es ist immer so, dass Angst vollkommen individuell erlebt wird. Es gibt so viele unterschiedliche Ängste und Angstformen, wie es Menschen auf diesem Planeten gibt. Meine Angst ist nicht die mei­ nes Mitmenschen. Und wer und was in mir Angst auslöst, hat nie etwas mit dem Gegen­ über oder der Situation zu tun, sondern nur mit mir.

„… hinten im Zimmer spielt Christophe Rousset Bachs ‚Wohltemperiertes Klavier‘.“

II Hinten im Zimmer spielt Christophe Rousset Bachs Wohltemperiertes Klavier. Natürlich CD. Was für ein konsequentes Instrument das Cembalo doch ist! Vom Wesen her ist es so schnörkellos – wirft es auch noch so viele ba­ rocke Verzierungen innerhalb von Sekunden in den Raum, kommt noch so verkappt, ka­ tholisch-barock verschleiert daher. Es bleibt eine völlige Reduktion übrig, ein kahler, pro­ testantischer Sakral-Raum. Eigentlich ist es unglaublich, dass ein Instrument perfekt das Innere und Äußere einer Zeit widerzuspie­ geln vermag, all ihre Widersprüche und His­ torie integriert und nicht nur Musik macht! Dazu der Charakterkopf Christophe Rousset – seine Kunst, sein Können. Ich hätte ihn schon immer gerne kennenlernen wollen. Einmal habe ich ihn dirigieren gesehen. Am Theater an der Wien. Es war Rameaus Castor et Pollux … faszinierend. Ein großes Ballett nur zu Cembaloklängen, mit ihm – wie toll, wie radikal wäre das!


Essay

V Die Kunst der Fuge wurde zu Bachs Zeiten wahrscheinlich nie zusammenhängend ge­ spielt, geschweige denn aufgeführt – vielleicht als Hausmusik, aber nur in „Splittern“. Ob man es glauben mag oder nicht: Bachs Musik galt als affektiert. Er stand nicht mehr auf der Höhe seiner Popularität in einer sich rasant verändernden Zeit … 2002, als ich für das bal­ lettmainz die Kunst der Fuge kreierte, war es für mich bereits Thema, alle Fugen nur zur Cembalo-Version zu choreographieren. Ich erinnere mich gut, wie ich Monate lang ver­ schiedene Fassungen aufnahm und endlos mit der Reihenfolge spielte. Schlussendlich erschien es mir dann doch sinnlicher, man mag vielleicht sagen: barocker, all diese groß­ artigen Einspielungen der Fugen und Kon­ trapunkte durch Streich-, Saxophon- und Flötenquarttete mit Klavier- und Cembalo-Klän­ gen zu mischen. Die Zerbrechlichkeit und Durchsichtigkeit, aber auch Flüchtigkeit die­ ser in ihrer komplexen Polyphonie nie durch­ gängig zu ergründenden Stücke waren für mich in dieser Version stimmig aufgefangen, die Diversität der Einspielungen schlussend­ lich das Richtige gegenüber diesen meister­ haften Miniaturen. Heute dagegen würde ich mein 100-minütiges Ballett ganz dem Cem­ balo widmen. Dies mit Christophe Rousset tun zu dürfen, wäre ein Traum.

VI Derzeit lodert überall die Gender-Debatte wieder so stark auf, als würde etwas noch nie Dagewesenes erst jetzt erkämpft und ange­ sprochen. Ich denke, dass das Weibliche und das Männliche keine allgemeingültigen „Empfindungs-Standards“ sind. Ich bin ein Mann, weil ich nun mal die geschlechtstypi­ schen Merkmale besitze, aber wie es sich allge­ mein für alle Männer anfühlt, Mann zu sein, weiß ich nun wirklich nicht. Wie ich mich

12 fühle, weiß ich nur in mir drinnen. Ob das, was ich fühle oder denke zu fühlen aber eine sogenannt männliche Form von Gefühl und Empfinden ist, oder nur ein menschlichindividuell Schläpferisches, ist unmöglich zu beantworten, weil ich gar nicht wissen kann, wie es sich anfühlt, männlich zu sein. Was möglicherweise männlich ist oder sein könnte, existiert nur in meinen konditionierten soziogesellschaftlichen Vor­stellungen, meinem Denken über andere Männer und eine soge­ nannte Männlichkeit. Jeder andere Mann fühlt sein Männlich-Sein anders. Ich glaube, man ist zuerst und primär man selbst, ganz individuell, ein Mensch – nicht primär Mann, nicht primär Frau, nicht heterosexuell oder schwul. Man kann zum Beispiel das „SchwulSein“ zu einem Lebensinhalt hochstilisieren, aber das bedeutet noch lange nicht, dass man bei sich selbst als Mensch angekommen ist, bei einer Essenz über unser Sein. So gibt es und gab es sie noch nie – diese Männlichoder Weiblichkeit.

VII Ich werde häufig gefragt, ob meine Arbeit politisch sei. Ich würde hier nicht sofort abwinken und „Nein“ rufen, wie dies viele Bal­ lett-Schaffende gegenüber den sogenannten anderen Tanz-Schaffenden gerne und oft aus Sicherheit tun, um ja nicht missverstanden zu werden oder gegenüber dem Kodex der Jahrhunderte lang gewachsenen Ballettkunst als „Verräter“ zu erscheinen. Ich spüre, was sie mit einem „Nein“ verteidigen wollen: Un­ sere konditionierte Vorstellung vom Ballett als eine apollinische, schöne, poetische, auf Harmonie und Ausgleich bedachte Kunst. Und gerade im Deutschland des 20. und 21. Jahrhunderts hatte und hat sie es schwer – mit ein paar Ausnahmen wie John Cranko in Stuttgart, John Neumeier in Hamburg, Tat­ jana Gsovsky in Berlin, Konstanze Vernon in München und Erich Walter für allerdings nur recht kurze Zeit in Düsseldorf. Die eigentli­ chen „Stars“ in der deutschen Tanzlandschaft waren und blieben: Mary Wigman, Harald Kreutzberg, Kurt Jooss, Pina Bausch … und – ohne dass ich dabei ihre Kämpfe gegenüber den etablierten Opern­betrieben um gleichberechtigte Strukturen und Finanzierungsmo-

delle kleinreden oder gar ignorieren würde – die Freie Szene. Sasha Waltz, an der Berliner Schaubühne groß geworden, ist heute die Vertreterin des als spe­zifisch deutsch gelten­ den, durch Kurt Jooss initiierten und durch das Genie Pina Bausch endgültig ausgestalte­ ten Tanztheaters. Das Performative und Ex­ pressive des Tanztheaters, scheinbar näher am sogenannten realen Leben stehende, eher Seiende, was sich auf erste Sicht mit der kom­ plexen Historie Deutschlands ohne Scheu­ klappen beschäftigt und sich aus einem eher liberalen Bürgertum nährt, setzte sich hier stärker durch als die Ballettkunst, welche ein­ mal als rein höfische Kunst begonnen hat und noch heute primär in jenen Ländern und Großstädten blüht, die einen royalistischen oder höfischen Hintergrund hatten oder noch haben. Natürlich gibt es Ausnahmen. Und dass die akademische Balletttechnik ein euro­ päisches Kulturphänomen ist, bestreitet zwar niemand. Aber dass sie – inklusive des Spit­ zenschuhs – genauso expressiv und zeitgenössisch sein kann wie der Ausdruckstanz, das Performative oder gar das Tanztheater – das muss man in Deutschland immer noch beweisen. Für mich ist jeder Künstler, der in einer spe­ zifischen, nämlich seiner Zeit versucht, Werke zu kreieren, ein politischer Mensch – auch derjenige (oder diejenige natürlich), der sagt, Politik interessiere ihn nicht und es gehe nur darum, möglichst gute Ballette zu machen. Wo und wie man schlussendlich die Bewe­ gungen und Beben einer Zeit, die immer changierenden Atmosphären und Situationen ab­ liest, ist sekundär. Solange man sie abliest – ob übers Zeitunglesen, Denken, über die Be­ obachtung der Natur oder der Mitmenschen, direktes politisches oder soziales Engage­ ment. Es ist, um im Bild zu sprechen, egal, wie man den aufkommenden Sturm, den Wetter­ wechsel oder die Katastrophe erkennt – ob am fernen Horizont, am Geruch in der Luft, an der Unruhe der Tiere oder an den sich leicht verändernden Bewegungen des Schil­ fes im seichten Wasser. //

Martin Schläpfer / leitet seit 2009 das Ballett am Rhein. Für sein umfangreiches Schaffen mit zahlreichen Preisen geehrt und 2018 mit dem Bundesverdienstorden ausgezeichnet,

zählt er derzeit zu den innovativsten und erfolgreichsten Choreographen und Ballettdirektoren. 2020 übernimmt er die Direktion des Wiener Staatsballetts.


Martin Schläpfer

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„Ich werde häufig gefragt, ob meine Arbeit politisch sei. Ich würde hier nicht sofort abwinken und ‚Nein‘ rufen.“


Interview

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American Modern

Mit Merce Cunninghams (1919  –  2009) „Night Wandering“ zeigt das Ballett am Rhein ein frühes Werk aus den 1950er Jahren voller Intensität und Schlichtheit, Paul Taylor (1930  –  2018) ist dagegen mit „Offenbach Overtures“ von seiner humorvollen Seite zu erleben.


American Modern Dance

Ein Gespräch mit Patricia Lent und Richard Chen See

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Interview / Anne do Paço

Fotos / Annie Leibovitz, Paul B. Goode, Marc Ginot, Amber Star Merkens

Dance


Interview

„Als ich die Bandbreite, die seine Stücke auszeichnet, erkannte, begann ich auch zu verstehen, wie tief Paul Taylor in die Welt, in der er lebte, hineinschaute.“ Was macht Paul Taylors Kunst so einzigartig? / Richard Chen See  Ich habe meine Tänzer-Ausbildung und -Kar­ riere nicht in den USA begonnen. Paul Taylors Stücke waren für mich typisch amerikanisch, womit ich die Verwurzelung in lang gepflegten Traditionen verbinde, in denen immer aber die Entste­ hungszeit mitschwingt. Für mich war Taylor ein Genie im Erschaf­ fen von „Gesellschaften“, in denen sich der Zuschauer wiederfin­ den kann, und dies mit einer breiten Palette an Emotionen. Seine dunkelsten Werke besitzen eine makabre Schönheit, seine humor­ vollsten sind von stechender Ironie. Für Taylor war ein Tänzer auf der Bühne nie die Verkörperung einer abstrakten Idee. Seine Werke sind Metaphern für ureigene menschliche Emotionen. Zu­ gleich diente ihm Bewegung aber auch dazu, Musik auf seine un­ nachahmliche Weise zu punktieren. Hatten Sie – über Ihre Zusammenarbeit mit Cunningham bzw. Taylor hinaus – persönliche Verbindungen zu den Choreographen des b.40Programms? / Patricia Lent  In den 1970er Jahren, als junge Balletttänzerin mit großem Interesse am Modern Dance, sah ich die Paul Taylor Dance Company auf einem Gastspiel in der Washington DC-Re­ gion, wo ich aufgewachsen bin, ich nutzte aber auch Gelegenhei­ ten, Classes zu besuchen. Über die Jahre habe ich Taylors Werke immer wieder gesehen – und war mit einer ganzen Reihe seiner Tänzer befreundet, ihn selbst habe ich aber persönlich nicht kennen gelernt. Trisha Brown habe ich einige Male getroffen – aber ich kannte sie nicht gut. Ich bewundere ihr Werk zutiefst, finde es enorm einnehmend und bewegend, ihren Stücken, aber auch ihr selbst beim Tanzen zuzusehen. In den letzten Jahren war ich im­ mer wieder im Kontakt mit den Kollegen, die sich nun um ihr Erbe kümmern. Wir unterstützen uns gegenseitig beim Steuern der Zu­ kunft. Mark Morris und ich sind die gleiche Generation. Ich kenne ihn seit vielen Jahren, auch wenn wir nicht enge Freunde sind. Als Mitglied des von Morris und Mikhail Baryshnikov gegründeten White Oak Dance Project hatte ich auch die Gelegenheit eines sei­ ner Stücke zu tanzen. / Richard Chen See  Mark Morris bin ich oft auf dem Flur begeg­ net, als er gelegentlich Paul Taylors Studios in SoHo für seine Com-

18 pagnie mietete. Als Tänzer schätzte ich die Einzigartigkeit seiner künstlerischen Visionen und seines Ensembles sehr. Merce Cun­ ninghams und Trisha Browns Kunst lernte ich zunächst über Re­ zensionen und Essays kennen. Zu Zeiten, als Videos noch nicht wie heute verbreitet waren, wusste ich lange von ihnen, bevor ich die Chance erhielt, eine Vorstellung zu sehen und mich dann auch als Tänzer ihrer Bewegungssprache anzunähern. Als Zuschauer faszinierte mich, dass ich mich in beiden Fällen nach Verlassen des Theaters sehr lebhaft erinnerte, wie individuell sich die Tänzer bewegten – aber zugleich von der eigentlichen Choreographie kaum etwas bei mir hängen geblieben war. Cunninghams Ensemble tanzte mit einer geradezu kristallinen Qualität, Browns Tänzer bewegten sich wie Menschen auf der Straße, aber mit einer flie­ ßenden Mühelosigkeit. Als Tänzer liebte ich die Strenge und zu­ gleich die großen Herausforderungen der Cunningham Technik, obwohl sie sich in meinem Körper nie wirklich natürlich anfühlte. In der für Trisha Browns ästhetische Praxis so zentralen ReleaseTechnik heimisch zu werden, fiel mir als klassischer Balletttänzer sehr schwer, auch wenn ich einen Großteil meiner Karriere der Suche nach jener natürlichen Erscheinung, die Trisha Browns Tänzer so wunderbar vermittelten, widmete. Obwohl ich erst auf halbem Weg in meiner 30-jährigen Karriere zu Paul Taylor kam, waren meine Begabungen doch mit seinem choreographischen Stil und seiner Ästhetik aufs Schönste kompatibel.

Patricia Lent, Sie waren Mitglied der Cunningham Dance Company, heute studieren Sie seine Werke ein, unterrichten, veranstalten Workshops, sind Trustee und Director of Licensing des Cunningham Trusts. Wie mit seinem Schaffen umgegangen werden soll, hat Cunningham bereits zu seinen Lebzeiten geregelt und entschieden, dass seine Company ein Jahr nach seinem Tod aufgelöst wird. Was macht den Cunningham Trust heute zu einem so erfolgreichen Modell? / Patricia Lent  Bevor Merce Cunningham starb, sprachen wir darüber, wie er über Aufführungen seiner Werke durch andere Tänzer und Compagnien dachte. Damals sagte er zu mir: „Solange Menschen daran interessiert sind, meine Werke zu tanzen und anzuschauen, solange bin ich daran interessiert, dass sie aufgeführt werden.“ Von dieser Aussage lasse ich mich in meiner Arbeit für den Trust leiten. Es ist Teil unseres Auftrags, Menschen einzula­ den, Cunninghams Werke zu tanzen und anzuschauen. Dabei ist uns bewusst, dass die Stücke anders aussehen, als in ihren Auf­ führungen der Cunningham Dance Company. Doch statt diese Unterschiede als Schwäche oder als Grund zu betrachten, ein Stück nicht mehr herauszugeben, fördern wir die Auseinander­ setzung anderer Tänzer und Compagnien mit Cunninghams Schaffen, respektieren ihre Arbeit und ermutigen dazu, das Werk zu leben und es zu ihrem eigenen zu machen. Cunningham hat nie von uns verlangt, wie jemand anderes zu tanzen, sondern uns stets aufgefordert, wir selbst zu sein. Als Trust bemühen wir uns, diese Einladung, aber auch Herausforderung an nachfolgende Generationen weiterzugeben und unterstützen Aufführungen von Cunninghams Werken auf verschieden Weise: Neben den Ein­ studierungen, die wir lizensieren, und Workshops, die wir anbie­ ten, stellen wir ehemaligen Mitgliedern der Compagnie auch die Ressourcen zur Verfügung, um Choreographien zunächst im Studio zu rekonstruieren und so studieren zu können. Wir sind überzeugt, dass der Weg einer Choreographie aus einem Video zurück in den Körper des Tänzers ein ebenso wesentlicher wie wertvoller ist, und stellen fest, dass immer neue, unerwartete Mög­ lichkeiten entstehen, ein Werk der Öffentlichkeit wieder zugänglich zu machen.


American Modern Dance Paul Taylor hatte zu Beginn dieses Jahres einen Nachfolger bestimmt – und ist inzwischen leider auch verstorben. Wie sieht die Zukunft der Institution Paul Taylor American Modern Dance aus? / Richard Chen See  Die Paul Taylor Dance Foundation wurde vor langer Zeit gegründet, um die Compagnie, ihre Schule und die ge­ samte Zukunft der Institution zu regeln. Es war ein aufregendes Unternehmen für Paul Taylor, seinen Nachfolger zu bestimmen, solange er selbst noch seine Compagnie leitete. Michael Novak hat nun die schwierige Aufgabe übernommen, das Vermächtnis weiter zu pflegen und auf ihm aufzubauen. 2014 entschied sich Taylor, die Institution in Paul Taylor American Modern Dance umzubenennen und für die Zukunft zu öffnen, indem er – neben seinen eigenen – auch Werke anderer Choreographen, die er für zentral hielt und die heute nur noch selten gezeigt werden, zu prä­ sentieren begann, sowie Uraufführungen in Auftrag gab. Gleich­ zeitig behielt er jedoch die Tradition der Taylor Dance Company bei, Tänzerinnen und Tänzer zu engagieren, die speziell für seine Tanzkunst trainiert und gecoacht werden. Wenn er glaubte, dass andere ein Werk, das ihm zu zeigen am Herzen lag, besser tanzen könnten als sein eigenes Ensemble, lud er sie als Gast-Compag­ nien ein. Den Fokus seiner Arbeit legte Taylor immer auf die Ge­ genwart: die aktuellen Tänzerinnen und Tänzer, die künstlerischen und administrativen Mitarbeiter, die ihn gerade umgaben. Die organisatorische Kultur ermöglicht aber den Tänzern der Haupt­ compagnie und des 1993 gegründeten Nachwuchsensembles Tay­ lor 2 auch den Austausch mit Alumni, deren Mitgliedschaft teils bis in die 1950er Jahre zurückreicht. In vielerlei Hinsicht sind wir eine große Familie – verbunden durch Paul Taylor und seine Kunst. Jeder, der für das Ensemble arbeitet, tut dies, weil er Paul Taylor und seine Kunst liebt. Wie würden Sie die aktuelle New Yorker Tanzszene beschreiben? Sehen Sie dort junge Künstler, die dem Tanz neue Impulse geben, wie einst Paul Taylor und Merce Cunningham? / Richard Chen See  Ich denke, dass die Tanzszene von New York City zurzeit ein fruchtbarer Boden für junge, experimentierfreu­ dige Künstler ist. Historisch gesehen hat der Tanz in den USA im­ mer durch Tanzschaffende überlebt, die hungrig waren, ihre eigene Stimme zu entwickeln. New York ist ein einzigartiger Knoten­ punkt für Künstler aus den USA und der gesamten Welt. Über das ganze Jahr gibt es Tanzvorstellungen der unterschiedlichsten Art. Um ehrlich zu sein: es fällt mir schwer, einen Namen hervorzuhe­ ben, von dem ich denke, dass er unseren heutigen Tanz revolutio­ nieren wird. Ich sehe viele Arbeiten, die sich mit der alten Frage, was es bedeutet ein „Animal rationale“ zu sein, beschäftigen – auf der Suche nach einer kulturellen Identität aus der Perspektive eines von globalen Einflüssen geprägten Bewegungsvokabulars. Hinzu kommen Trends, dass Choreographen wieder öfters im Musiktheater arbeiten, wie einst u.a. Jerome Robbins oder Agnes de Mille, und ortsspezifische Live-Performances vermehrt in Mu­ seen und Galerien stattfinden, statt in verlassenen Gebäuden oder an den Rändern des urbanen Lebens. Ich bin sehr glücklich, im­ mer wieder Aufführungen zu erleben, die mich überraschen und inspirieren, an die Zukunft des Tanzes zu glauben. / Patricia Lent  Es gibt viele Menschen, die diese Frage besser be­ antworten könnten als ich. Ich machte meine professionelle Tän­ zerkarriere in den 1980er und 1990er Jahren. Dann habe ich zehn Jahre als Grundschullehrerin in Lower Manhattan gearbeitet und lebe nun in Upstate New York. Meine Berührungspunkte mit der

19 New Yorker Tanzszene bestehen vor allem durch meine Arbeit für den Merce Cunningham Trust. Die Tanzszene hat sich heute sehr verändert. Ich komme aus einer Zeit, in der es viele kleine American Modern Dance Compagnien gab, geleitet von Choreo­ graphen. Wir trainierten als Ensemble stets zusammen, tourten mit Repertoire-Programmen durch die ganze Welt. Heute gibt es nur noch wenige dieser ganzjährig arbeitenden Ensembles. Junge Tänzer arbeiten meist frei, von einem Projekt zum nächsten mit verschiedenen Choreographen ohne eigene Compagnien. Aber auch von ihnen wird eine wunderbare Arbeit geleistet, mit großer Freude am Experiment und an der Innovation. Ich bin zuversicht­ lich, dass dies auch in Zukunft so bleiben wird.

Wir erleben derzeit zahlreiche gesellschaftliche und politische Umbrüche. Haben sich die Atmosphäre und das Arbeitsklima in den letzten Jahren in den USA verändert? / Richard Chen See  In den USA erhält Kunst so gut wie keine staatliche Unterstützung und die daraus entstehenden Kämpfe sind nicht selten die Katalysatoren für kreativen Output. Ich liebe die Idee, dass alle Künste – nicht nur der Tanz – das gesellschafts­ politische Klima widerspiegeln, in dem sie entstehen. Zumindest trifft dies auf die kürzlich in den USA entstandenen Arbeiten zu, die ich gesehen habe. Sie scheinen mir mit größerem Ernst die Meinungsfreiheit zu vertreten oder zu verteidigen. Als ein Einwan­ derer aus einem „Dritte-Welt-Land“ war ich immer stolz auf die Freiheit der Kunst in den USA. Bisher hat sich das Land als Gan­ zes stets für Menschenrechte und Wahlfreiheit eingesetzt. Es macht mich sehr traurig, dass wir heute selbst in kosmopolitischen Städ­ ten wie New York immer öfter einem aufgeheizten Fanatismus begegnen. Innerhalb der Künstler Community wird unsere Indi­ vidualität und Einzigartigkeit weiterhin geschätzt. In den USA als Tanzkünstler zu überleben, scheint mir nicht schwieriger als frü­ her zu sein – allerdings braucht es einen entschieden wachsamen Blick auf die Führung des Landes. //

Patricia Lent / war Mitglied der Merce Cunningham Dance Company (1984–1993) sowie des White Oak Dance Project (1994–1996). Seit Ende der 1980er Jahre gibt sie Workshops in Cunningham Technik und Repertoire und studiert die Werke des Choreographen ein. 2009 wurde sie Trustee des Cunningham Trusts, für den sie heute als Director of Licensing tätig ist und mehr als hundert Projekte mit internationalen Tanzcompagnien, Museen und Ausbildungsstätten initiierte und betreute.

Richard Chen See / studierte klassischen, modernen und afrokaribischen Tanz in Jamaica und England. Er tanzte im Northern Ballet Theatre, Oakland Ballet und ODC San Francisco. Von 1993 bis 2008 war er Mitglied der Paul Taylor Dance Company und studierte bereits in dieser Zeit auch die Werke Taylors ein. Heute ist er weltweit als Repetitor, Lehrer und Coach tätig. Als FulbrightStipendiat lebt und arbeitet er seit September 2018 für mehrere Monate in Indien.


Portrait

Ein Kanadier tanzt durch die Welt /

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Robert Binet

Text / Alban Pinet

Fotos / Rick Guest & Olivia Pomp sowie Karolina Kuras

Der Choreograph Robert Binet

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Robert Binet bei einer Probe mit Mitgliedern des National Ballet of Canada.

Portrait

„Das Ballett zählt bis heute zu den am stärksten von starren Geschlechterrollen beeinflussten Kunstformen. Die Beziehungen, die dort gezeigt werden, sind überwiegend heterosexuell, die Frauen selten stärker als die Männer.“


Robert Binet Anforderungen konfrontiert und musste meine eigenen Grenzen testen.“ Aber er machte mit – und lernte, wie man Bewegung und Raum analysiert, theoretische Überle­ gungen in Worte fasst und neue Werkzeuge kennen, um Bewegungskonzepte zu entwer­ fen. Die Begegnung mit Wayne McGregor war für Robert Binet eine große Inspiration – und brachte ihn schließlich zu der Entschei­ dung, nicht sofort nach Kanada zurückzukehren, sondern bei „dem Guru des britischen Tanzes“ weiter zu studieren und mehr: Mc­ Gregor, der von der Arbeit des jungen Man­ nes keineswegs unbeeindruckt geblieben war, setzte bei der Direktion des Londoner Royal Ballet die Einrichtung der neuen Stelle eines Choreographic Apprentice durch und ermöglichte Robert Binet auf diese Weise nicht nur einen 18-monatigen Aufenthalt in England, sondern auch eine enge Anbindung an das Royal Ballet. „Das war eine sehr berei­ chernde Zeit“, verrät Robert Binet: „Ich er­ hielt die Gelegenheit, für das Royal Ballet zu arbeiten, aber zugleich auch meine internatio­ nalen Aufträge zu erfüllen. Bei Wayne Mc­ Gregor lernte ich, über Bewegung und Kunst nachzudenken und konnte seine Arbeit an Carbon Life – ein Stück mit Popmusik und Rockstars – sowie an seinem ersten Hand­ lungsballett Raven Girl intensiv studieren.“ Nach fast zwei Jahren beim Royal Ballet ge­ lang es Karen Kain dann aber doch, Robert Binet nach Kanada zurückzuholen: mit dem Auftrag, ein neues Ballett für ihre Compagnie zu kreieren, sowie der Ernennung zum Choreographic Associate des kanadischen Nationalballetts. „Beschäftigt sich Wayne McGregor vor allem mit der Erfindung neuer Bewegungen und der Neubestimmung des Körpers in Bewegung, so ist John Neumeier stark von der Macht der Emotionen und Handlungen fasziniert“, umreißt Robert Binet, was ihn an seinen beiden Mentoren be­ sonders interessiert hatte und was ihm nun zu einer fruchtbaren Basis für die Entwick­ lung seiner eigenen Vision einer zeitgenössi­ schen Tanzkunst wurde. Sein Herz gehört dabei weiterhin dem klassischen Ballett – für Robert Binet ganz und gar keine starre oder gar altmodische Formensprache, sondern eine Kunst, die er weiterdenken möchte. Up­ daten sozusagen. Denn: „Es gibt keine andere Tanzform, die es einem Menschen ermöglicht, seinen Körper bis zu den Fußspitzen zu kontrollieren und in einem derartigen Reichtum Nuancen zu kreieren. Ballett lässt jeden Zen­ timeter des Körpers ausdrucksstark werden. Für mich ist es die Basis, mich als Künstler mit dem Körper zu beschäftigen – vergleich­ bar der Grammatik oder Orthographie beim Schreiben“, so Robert Binet. Als Kanadier

25 fühlt er sich aber auch von der Kraft des kana­ dischen Tanzerbes getragen – auch wenn es dabei in große Fußstapfen zu treten gilt von weltweit gefeierten Künstlern wie Peggy Baker und James Kudelka, Marie Chouinard oder Crystal Pite: „Sie sind quasi die Götter der ka­ nadischen Tanzszene“, so Robert Binet, der überzeugt davon ist, dass es aber auch in sei­ ner Verantwortung liegt, die Ballettkunst weiterzuentwickeln. Einer seiner ersten Versuche, neue Wege zu eröffnen, fand 2016 mit The Dreamers Ever Leave You statt, das in einer großen Halle auf drei verschiedenen Bühnen präsentiert wurde und von Landschaftsmalereien und einem Gedicht des kanadischen Künstlers Lawren Harris inspiriert ist. Während der Auffüh­ rung kann der Zuschauer selbst entscheiden, wie lange er der Choreographie zuschauen möchte – 20 Minuten sind ebenso möglich wie zwei Stunden. Er kann seinen Fokus auf eine der Bühnen richten oder auf alle drei den Blick werfen, eine distanzierte Perspek­ tive einnehmen oder durch die Tänzer hin­ durchlaufen. Mit diesem für ein Ballett eher ungewöhnlichen künstlerischen Setting ge­ lang Robert Binet eine „immersive“ Choreo­ graphie, die mit ihrer Interaktivität heutige, von den neuen Medien stark geprägte Ver­ haltensweisen reflektiert, sind wir alle doch längst „Meister der Medien und entscheiden selbst, was wir uns anschauen und konsumieren“. In seinem TED-Talk thematisierte Robert Binet die Herausforderungen der Traditio­ nen, denen die klassische Ballettwelt immer noch stark verbunden ist: „Das Ballett zählt bis heute zu den am stärksten von starren Ge­ schlechterrollen beeinflussten Kunstformen. Die Beziehungen, die dort gezeigt werden, sind überwiegend heterosexuell, die Frauen selten stärker als die Männer. Dass die klassi­ sche Technik vorsieht, dass Frauen meist von Männern getragen werden, bestätigt dieses Rollenbild, das mit einer heutigen Gesell­ schaft, in der die Grenzen zwischen den Ge­ schlechtern zunehmend verschwimmen und die Geschlechterrollen immer mehr umde­ finiert werden, kaum noch kompatibel ist.“ Rollen neu zu definieren und die entsprechenden Ausdrucksmittel zu finden, spielt eine zentrale Rolle in Robert Binets kreativen Prozessen – Fragestellungen, die ihre Berüh­ rungspunkte beim Ballett am Rhein in einem reichen Repertoire aus Werken von u. a. Hans van Manen, Mats Ek und Martin Schläpfer finden. Entsprechend ist es wohl kaum ein Zufall, dass sich Martin Schläpfer nach einer Begegnung mit Robert Binet im Winter 2017 in Toronto so sehr für den jungen Künstler

zu interessieren begann, dass er ihm eine Uraufführung mit dem Ballett am Rhein an­ bot. „In Toronto habe ich ihm beim Arbeiten zusehen dürfen“, berichtet Martin Schläpfer: „Wach, klar, schnell, gewinnend, unprätentiös, brillant, involviert, freundlich, fordernd. Sofort hatte ich das Gefühl, dass sich hier vor meinen Augen der mögliche Anfang einer großen neoklassischen ChoreographenKarriere abzeichnet.“ Hört man Robert Binet sprechen, könnte man beinahe vergessen, dass er noch nicht einmal dreißig Jahre alt ist. „Meine Freizeit ist aber von ganz normalen ‚jugendlichen‘ Aktivitäten getaktet. Ich schaue Filme auf Netflix, treffe mich mit Freunden, genieße die Kunstwelt in Kanada und lasse mich davon inspirieren.“ Enge Freundschaften pflegt er u. a. mit der Dramatikerin Rosamund Small oder der Mu­ sicalkomponistin Britta Johnson. Lachend fügt er dann hinzu: „Wenn ich in neuen Städ­ ten bin, suche ich auch sofort nach guten Res­ taurants. Ich habe ständig Appetit und liebe die koreanische Küche.“ Geradezu bescheiden betont Robert Binet, dass er seine ungewöhnliche Karriere der großzügigen Unterstützung seiner Mentoren Mavis Staines, Karen Kain, John Neumeier und Wayne McGregor zu verdanken habe und dass er immer wieder auf Menschen traf, die seinen Weg förderten, ihn zugleich aber auch forderten und auf diese Weise seinem Traum näher brachten. Liest man Rezensio­ nen seiner Werke, so steht ein junger Künstler, der es längst an die internationale Spitze geschafft hat, vor einem. Doch für Robert Binet ist eines sicher: „Kunst bedeutet stets das Überschreiten von Grenzen auf eine höhere Ebene hin. Ich selbst als Künstler muss meine eigenen Grenzen überwinden, weiter gehen, immer und unaufhaltsam.“ //

Robert Binet / stammt aus Toronto. Er war Choreographic Apprentice des Royal Ballet London, seit 2013 ist er als Choreographic Associate für das National Ballet of Canada tätig. Weitere Arbeiten entstanden u. a. für das New York City Ballet, Royal Ballet London, Ballet Moscow, das Junge Ensemble

von Het Nationale Ballet Amsterdam, Estonian National Ballet, Ballet Black und Bundesjugendballett Hamburg. Er wurde mit dem Peter Dwyer Award ausgezeichnet und war 2017 Protégé für das kanadische Governor General’s Performing Arts Awards Mentorship Programme.


Interview

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Ich liebe den Spitzenschuh /

Interview / Anne do Paço

Fotos / Agathe Poupeney

Der Choreograph Martin Chaix

Der Franzose Martin Chaix ist beim Ballett am Rhein kein Unbekannter: Seit 2009 war er Tänzer der Compagnie und stellte sich 2013 mit dem Stück „We were right here!!“ in Düsseldorf auch als Choreograph vor. Inzwischen hat er mit verschiedenen Ensembles in Europa, Korea und Japan gearbei­ tet. Mit der Uraufführung Atmosphères kehrt er in der Premiere b.39 zum Ballett am Rhein zurück. //


Martin Chaix

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Martin Chaix während der Proben zu „Tribulations“ mit Tänzerinnen des Ballet du Rhin.

Interview

Schläpfer, der ja für den modernen Spitzentanz ein ganz eigenes Statement gesetzt hat, hat mir gezeigt, wie offen und vielfältig man mit dem Spitzenschuh umgehen kann, dass er ein Werkzeug ist, das man mit anderen Mitteln ohne weiteres verbinden und mischen kann. Ich finde es großartig, wie er in manchen Stücken seine Spit­ zen-Tänzerinnen gleichzeitig auch barfuß, in Schläppchen oder auch Stiefeln tanzen lässt.

Das Choreographieren war für dich von Anfang deiner Tänzerkarriere an ein Wunsch? Genau, während meines ersten Engagements wurde mir dies klar. Ich bin sehr introvertiert, mich in einer größeren Gesellschaft zu bewegen, fällt mir schwer. Ich habe viele Ängste. Kunst ist eine Möglichkeit, mich auszudrücken. Als ich mich nach meiner ersten Choreographie für das Pariser Ballett auf der Bühne des Am­ phithéâtre in der Opéra Bastille verbeugte, spürte ich: Choreo­ graphie ist das, was ich wirklich machen möchte. Das Pariser En­ semble ist riesig, die Hierarchie sehr streng – und total einengend. Es hat etwas gedauert, bis ich mich dort zurecht und als Tänzer einen Platz fand. Das Repertoire unter Brigitte Lefèvre war dage­ gen sehr vielseitig – und ich tanzte vor allem in den zeitgenössischen Werken. Das mochte ich. Doch zugleich liebte ich die Neoklassik und es wurde mir immer klarer: ich muss hier weg. In Leipzig habe ich mich dann sofort wohlgefühlt – und so hat sich in Deutsch­ land für mich eine Zukunft aufgetan.

Als Tänzer geht man in eine Schule und wird dort ausgebildet. Hattest du als Choreograph einen bestimmten Mentor? Nein, überhaupt nicht. Natürlich ist man zunächst von all dem geprägt, was man selbst getanzt hat. Das ist ganz normal, das sind die ersten Schritte. Aber man muss erkennen, woher man kommt und darf keine Angst davor haben, wenn man nicht gleich zu Be­ ginn als etwas Besonderes erkannt wird, sondern bereit sein, sich auf einen Prozess einzulassen: den Prozess, sich selbst zu finden. Dies zu verstehen und zu akzeptieren, bedeutete für mich einen großen Schritt …

… eine Aufgabe auch für die Tanzdirektoren und Festival-Kuratoren – und nicht zuletzt für ein Publikum, das ein Ensemble über einen längeren Zeitraum begleitet und Bindungen schafft: jungen Künstlerinnen und Künstlern die Zeit und das Vertrauen zu schenken, in größeren Zusammenhängen zu denken und, wenn man einen Choreographen mit aufbauen möchte, ein neues Werk immer auch als Schritt auf einem Weg zu sehen und nicht nur als Event. Was ist schon neu, was ist authentisch, echt, ehrlich? Ist nicht fast alles eine neue Fassung oder ein Weiterdenken dessen, was es schon gab? Oder baut zumindest darauf auf? Für mich hängt die Frage, was Kunst ist, sehr mit dem Leben zusammen. Wir alle sind Pro­ dukte unserer Eltern, unserer Lehrer, unserer Umwelt. In meinen Bewegungen, meinem Denken, meinen Reaktionen, spiegelt sich immer meine eigene Geschichte… Ist das in der Kunst nicht auch so?


Martin Chaix Meine Zeit in Paris empfand ich als sehr hermetisch, die Welt dieser Compagnie war für mich eine völlig geschlossene, was jenseits von ihr stattfand, wusste ich nicht. Das Werk Hans van Manens etwa war mir völlig unbekannt, bevor ich nach Düsseldorf kam. Ist das nicht erschreckend? Aber als ich mein erstes van Manen-Stück sah, wurde mir sofort die Verbindung zu einer gan­ zen Tanz-Epoche klar: Ich kannte Jiří Kylián aus Paris; ich kannte auch Sol León und Paul Lightfoot, wusste aber nicht, woher ihre Art zu arbeiten kam. Natürlich basiert Hans van Manen wiederum auf George Balanchine – aber sind dies nicht alles Energien, die sich im Tanz über die Zeiten hinweg verbinden?

Wie gehst du an ein neues Stück heran? Woraus beziehst du deine erste Inspiration? Fast immer aus der Musik. Durch Martin Schläpfer habe ich ge­ lernt, wie inspirierend es sein kann, mit zeitgenössischer Musik zu arbeiten und diese nicht einfach nur zu benutzen – wie das so viele Tanzschaffende tun –, sondern sich mit ihr auseinanderzu­ setzen, sie hören zu lernen. In Split habe ich die Sinfonietta für Streichorchester von Krzysztof Penderecki vertanzt – und bleibe für Atmosphères an diesem Komponisten dran, suchte aber zu seinem Intermezzo noch zwei Gegenpole, die ich schließlich in György Ligetis Atmosphères und als Kontrast im zweiten Satz von Ludwig van Beethovens Klaviersonate Pathétique fand. Dieses Adagio ist sehr sensibel, sehr fragil und ich möchte mit dieser Mu­ sik in eine große Intimität hineingehen. Bei beiden Choreogra­ phien war ich in der Musikwahl ganz frei. Tribulations sollte sich dagegen mit Musik von Johann Sebastian Bach auseinandersetzen – so die Idee Bruno Bouchés, des Direktors des Ballet du Rhin, für das gesamte Programm des Abends. Die Musik steht für mich an erster Stelle – aber sie muss für mich eine Bedeutung haben, ich brauche eine innere Beziehung. Tribulations war meine erste Ar­ beit als freier Choreograph in meinem Heimatland Frankreich. Ich wählte Bachs Klavierkonzert d-Moll BWV 1052, mit dem sich für mich viele Erinnerungen verbinden, hatte doch zu dieser Musik Claude Bessy, die damalige Direktorin der Pariser École de danse, eine Choreographie kreiert, welche das erste Werk war, das ich tanzte.

Bei „We were right here!!“ hatte dieser Satz, den du – von irgend­ jemandem auf eine Wand in unserem alten Balletthaus in Niederkassel gekritzelt – entdeckt hattest, dir den Titel geschenkt. Ja genau! Und auch für Atmosphères gibt es einen „Auslöser“. Zum einen hat die Wahl der Musik, wie schon gesagt, für mich sehr viel mit Martin Schläpfer und dem Ballett am Rhein – diesem beson­ deren Ort hier – zu tun. Aber es geht auch noch um etwas anderes: Im Mai 2019 ist der 20. Todestag meines Vaters. Er ist 1999 gestorben, ein Monat vor meinem Vortanzen für die Pariser Oper. Das war keine leichte Zeit für mich. Er spielte wunderbar Klavier, bewunderte Glenn Gould. Wenn ich als Kind ins Bett ging, spielte er für mich: Bach, Beethoven, Chopin. Beethovens Pathétique liebte er besonders. Zugleich war er aber auch ein leidenschaftli­ cher Amateurfotograf. Diese Erinnerungen kamen mir wieder hoch, als ich mich an die Konzeption meines Stückes machte – und so entstand auch die Idee, für den Bühnenentwurf mit einem eigenen Foto zu arbeiten. Doch es geht mir nicht darum, ein Stück über meinen Vater zu machen. Diese Assoziationen haben für mich im Hintergrund eine Bedeutung und werden sich in Atmo­ sphères auf einer allgemeingültigeren Ebene treffen.

31 Wie würdest du deine Arbeit mit den Tänzerinnen und Tänzern charakterisieren. Natürlich kommt es vor, dass ich in einer Probe alles vorgeben muss, und es ist ein Unterschied, ob ich mit einer großen Gruppe oder solistisch arbeite. Aber grundsätzlich ist das Choreographie­ ren für mich wie eine Diskussion, wie die Verabredung zu einem Gespräch. Oft bereitet man sich vor und weiß genau, worüber man sprechen möchte – dann entwickelt sich ein Gespräch in eine ganz andere Richtung. Man folgt ihr, ohne aber das eigene Ziel aus den Augen zu verlieren. Es kommt aber auch auf den Gesprächs­ partner an: Wie aktiv ist er? Bringt er sich ein oder hört er nur zu? Verführt er mich dazu, etwas anders zu sehen? Ich versuche sehr intensiv zu spüren, wie sich ein aktuelles Umfeld auf meine Arbeit auswirkt: Komme ich in einen Ballettsaal, in dem alle reden oder jemand schläft, kann das ebenso Auswirkungen auf mein Stück haben, wie wenn alle bereits hochkonzentriert auf mich warten. Aus der Stimmung, die ich an den Orten, an denen ich arbeite, vorfinde, schöpfe ich sehr viele Energien.

Kannst du dich darauf verlassen, dass deine große Offenheit gegenüber dem Kreationsprozess funktioniert oder kennst du auch die Angst, dass sich eine Beziehung zu den Künstlern nicht herstellen lässt? Ich habe immer wieder große Angst davor, die Tänzerinnen und Tänzer nicht erreichen zu können. Es ist ein großes Risiko, derart offen an die Arbeit zu gehen. Man steht vor vielen unterschiedli­ chen Menschen, muss einen Zeitplan einhalten. Doch ich würde es nicht anders machen. Vor einer Probe höre ich immer Musik. Das ist wie ein Ritual. Aber ich schreibe auch sehr viel, notiere meine Ge­ danken und überlege sehr genau, worüber ich mit den Tänzern sprechen möchte. Oft gehe ich in den Ballettsaal und weiß gar nicht, wie sich ein Probentag entwickelt. Ich habe meine Grund­ konzeption, aber im Detail geht es mir dann nicht um konkrete Schritte, sondern um eine Art „state of mind“. Jeder Schritt, jede Position muss für mich eine bestimmte Farbe, eine bestimmte Energie haben. Eine Arabesque ist nicht einfach nur eine Arabesque. Ich will wissen, was dahinter steht und in welchem Kontext sie erscheint. Der Ursprung einer Bewegung ist für mich sehr wichtig. Dahin kehre ich immer wieder zurück. Wir bewegen uns, weil wir leben möchten. Das ist der zentrale Punkt für mich. Bewegung als Ursprung der Kunst. //

Martin Chaix / erhielt seine Ausbildung an der Ballettschule der Pariser Oper und tanzte im Ballet de l’Opéra National de Paris, im Leipziger Ballett sowie im

Ballett am Rhein. Seit 2015 ist er als freischaffender Choreograph in Deutschland, Frankreich, Kroatien, Japan und Südkorea tätig.


Ben J. Riepe

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Environment

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ENVI RON MENT Konzept & KostĂźme /

Ben J. Riepe Konzept & Fotos /

Alexander Basile


Ben J. Riepe

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Environment

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ENVIRONMENT Choreographieren ist für ihn mehr als das Erfinden von Schritten und Bewegungen im Raum und der Zeit. Der Düsseldorfer Künstler Ben J. Riepe denkt in seinen Werken andere mögliche Parameter stets mit und bringt sie in ein schwebendes Verhältnis: „Mich interessiert es, wenn Dinge zu changieren beginnen: mal die eine Ebene, dann die andere die Führung übernimmt. Ein Stoff kann etwas sein, was einen Körper bedeckt, er kann einen Körper aber auch zur Skulptur machen, so wie ich auch einen bloßen Körper als ein skulpturales Objekt betrachten oder aber den Menschen, das Subjekt, das in dem Körper beheimatet ist, zeigen kann.“ Immer wieder stellt Ben J. Riepe sein Œuvre aber auch in neue Beleuchtungen, Zusammenhänge oder Räume, in denen er bereits Vorhandenes fort-, um- oder überschreibt – wie hier nun sein für das Ballett am Rhein entstandenes Stück „Environment“: Zusammen mit dem Kölner Fotografen und Filmemacher Alexander Basile und den rätselhaften Figuren seiner „Environment“-Welt – verkörpert von Tänzerinnen und Tänzern des Balletts am Rhein – erkundete Ben J. Riepe im Juli 2018 jene Umgebungen des Düsseldorfer Opernhauses, die sich jenseits der Bühne eröffnen.  //


Ben J. Riepe

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Environment

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Interview

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Freude an Zeitgenossenschaft /


Jean-Michaël Lavoie

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Der frankokanadische Dirigent Jean-Michaël Lavoie im Gespräch Interview / Anne do Paço

Fotos / Nicolas Joubard


Interview Nachdem Sie die Düsseldorfer Symphoniker erstmals in b.30 des Balletts am Rhein dirigiert haben, werden Sie 2018 für einen Ballettabend mit Uraufführungen von Robert Binet, Natalia Horecna und Remus Şucheană zurückkommen … … ich liebe den zeitgenössischen Tanz und die Arbeit mit den Tän­ zerinnen und Tänzern auf der Bühne. Ich bin immer wieder fas­ ziniert, mit welcher Kunstfertigkeit sie sich bewegen!

Stellt das Dirigieren eines Ballettes besondere Anforderungen an einen Dirigenten, jenseits der Frage nach dem richtigen Tempo, das für die Tänzerinnen und Tänzer ja sehr wichtig ist? Die Herausforderungen sind mit dem Dirigieren einer Oper ab­ solut vergleichbar, ist man bei beiden doch das Bindeglied zwi­ schen Bühne und Orchestergraben. Aber es gibt auch Unterschiede: Der Dirigent gibt den Tänzern nur sehr selten Einsätze, ist also nicht für die Synchronisierung des Bühnengeschehens durch seine Gestik zuständig, sondern seine Verantwortung liegt viel­ mehr darin, den Musikern die wesentlichen Impulse zu geben – bedenkend, dass jedes musikalische Detail für den Zusammen­ halt der Tänzer auf der Bühne wesentlich sein kann.

Wir haben uns vor einiger Zeit durch die Choreographin Natalia Horecna kennengelernt, die für b.37 mit „The Way Ever Lasting“ nun erneut ein Stück für das Ballett am Rhein kreiert. Natalia Horecna ist eine Künstlerin mit einem völlig freien Geist. The Way Ever Lasting ist unsere dritte Zusammenarbeit: Auf Enlightened Child mit John Neumeiers Bundesjugendballett und dem Ensemble Resonanz, das wir nicht nur in Hamburg, sondern auch auf Gastspielen gezeigt haben, folgte 2017 mit dem Ballett am Rhein Wounded Angel. Ich fühle mich Natalias künstlerischen Visionen sehr verbunden. Wir haben dies nie direkt diskutiert – sie und ich –, aber wenn ich sie bei der Arbeit beobachte, spüre ich, wie sehr es ihr darum geht, verdrängte Wahrheiten aufzuspüren und durch den Tanz zu zeigen, was es heißt, in unserer Welt frei zu sein.

Welchen musikalischen Hintergrund haben Sie? Ich bin ein Einzelkind und niemand sonst in meiner Familie macht Musik. Ich habe Klavierspielen gelernt und bald schon an Wettbewerben und Radio Recitals in Kanada teilgenommen sowie als Teenager Sänger begleitet und gecoacht. Ich began ziemlich früh aber auch mit dem Dirigieren: zwischen meinem 12. und 17. Lebensjahr, als Dirigent eines Kinderchores. Allerdings wusste ich zu dieser Zeit noch nicht, dass ich Dirigent werden würde. Dies wurde mir erst mit 19 Jahren klar, nachdem ich Yannik Nézet-Séguin mit dem Orchestre Métropolitain Montréal bei der Arbeit an Ludwig van Beethovens Missa solemnis erlebt hatte. Ich sprang damals für einen erkrankten Probenpianisten ein – und habe mich in diese Art, Musik zu machen, buchstäblich verliebt.

Sie haben dann in Paris mit Pierre Boulez gearbeitet. Boulez zählte zu den großen Persönlichkeiten des 20. Jahrhunderts – als Komponist wie als Dirigent – und war äußerst einflussreich. Welche Bedeutung hatte diese Begegnung für Ihre künstlerische Entwicklung? Pierre Boulez hatte sehr großen Einfluss auf mich – wie auf zahlrei­ che andere Künstler auch. Das Besondere an meiner Geschichte

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„Ich denke, dass die Zukunft sehr vielversprechend aussieht. Es gibt viele interessante Komponisten, die viele neue Dinge zu sagen haben.“ mit ihm ist, dass ich die Gelegenheit erhielt, intensiv mit jener großartigen Institution, die er gegründet hat, zu arbeiten: dem Ensemble intercontemporain. Nach einer internationalen Audi­ tion, deren zweite Runde aus einer Diskussion zwischen Boulez und mir über Fragen der Gestik des Dirigierens und der Interpre­ tation bestand, wurde ich einstimmig zum Associate Conductor des Ensembles gewählt. Ich habe zwei Nächte nicht geschlafen. Diese Ernennung hat mein Leben tiefgreifend verändert. Und was zunächst als zweijähriger Aufenthalt in Paris geplant war, wurde zu acht Jahren Leben in Europa. Boulez hat mich in der Entwick­ lung meiner Karriere immer unterstützt. Ihn in Proben und Kon­ zerten beobachten und erleben zu dürfen, war für mich wahrscheinlich die beste Erbschaft, die ich je machen konnte.

Woher kommt Ihr besonderes Interesse an der zeitgenössischen Musik? Sich mit zeitgenössischer Musik zu beschäftigen, war für mich im­ mer eine selbstverständliche Sache. Schon als junger Pianist habe ich es geliebt, das zeitgenössische Repertoire zu üben und aufzu­ führen – habe mich freier gefühlt bei der Interpretation. Als Diri­ gent finde ich es äußert interessant, mit Komponisten zusammenzuarbeiten, ihnen Fragen stellen, ihnen zuhören zu dürfen, bei dem, was sie zu sagen haben. Man hat eine große Verantwortung, wenn man neues Repertoire dirigiert. Dies ist es, was mich besonders an der Arbeit auf diesem Gebiet interessiert.

2017 wurden Sie Professor an der Université de Montréal und Direktor des Atelier de Musique contemporain, seit 2018 leiten Sie außerdem das Ars Nova-Ensemble im französischen Poitiers. Was sind Ihre Pläne für diese Institutionen bzw. Ensembles? Ich verstehe meine Position in Montréal als ein zentrales Engage­ ment für die nächste Generation. Ich möchte all das, was ich be­ kommen habe und erleben durfte zurückgeben und sicher gehen, dass ich meine Passion für die zeitgenössische Musik teilen und vermitteln kann. Ich bin für die Programme der zeitgenössischen Konzertreihe verantwortlich und außerdem Director of Research für Doktoranden. Als Leiter des Ars Nova-Ensembles in Frank­ reich eröffnet sich mir dagegen eine völlig neue Perspektive. In


Jean-Michaël Lavoie

45 den 55 Jahren seiner Geschichte, bin ich erst der dritte Direktor – das ist eine sehr große Ehre. Wir haben große Pläne für dieses his­ torische Ensemble, das Marius Constant vor mehr als einem hal­ ben Jahrhundert gegründet hat: Wir werden in dieser Spielzeit in ganz Frankreich präsent sein und mit einem neuen Tanzprojekt in Montréal gastieren. Außerdem sind Auftritte in Buenos Aires, Genua und Rom geplant. Ich habe für Ars Nova eine künstlerische Konzeption entwickelt, die eigentlich ganz einfach ist: Wir möchten den Kreationsprozess sichtbar machen. Wir arbeiten mit Künstlern aus den Bereichen Tanz, Theater, Film etc. zusam­ men, die eine eigene Sichtweise auf zeitgenössische Musik haben. Wichtig ist uns aber auch, den Begriff „Öffentlichkeit“ in einem sehr weiten Sinne zu überdenken. Das Publikum ist jeder da drau­ ßen und vor allem: alle, die uns nicht kennen. Hier gibt es sehr viel zu tun!

Wie würden Sie die aktuelle zeitgenössische Musikszene beschreiben? Ich denke, dass die Zukunft sehr vielversprechend aussieht. Es gibt viele Komponisten, die neue Dinge zu sagen haben. Ich bin fest davon überzeugt, dass wir am Beginn einer neuen Ära stehen. Ich freue mich sehr auf die Zusammenarbeit mit Künstlern, die das Konzept der „écriture“, der „Handschrift“, hinterfragen. Die Entwicklung der modernen Technologien zeigt ihre Wirkung auch im Bereich der Komposition und viele Komponisten verstehen sich als „Compositeurs à l‘image“ – sind genauso exzellent im Sounddesign wie in der Programmierung von Bildern. Aber auch die Definition von Urheberschaft wandelt sich. Kollaborative Prozesse verändern das binäre Konzept von Komposition und Performance. Politische und soziokulturelle Themen werden wieder direkter angesprochen, aktuelle Fragen zu der Welt, in der wir leben.

Was darf das Publikum in Düsseldorf von der musikalischen Seite des Ballettprogramms b.37 erwarten? Wir bieten Musik von sehr unterschiedlichen, äußerst interessan­ ten Komponisten: Nico Muhly (USA), Peter Breiner (Slowakei), Claude Vivier (Kanada), Bohuslav Martinů (Tschechien) – und Johann Sebastian Bach. Die Düsseldorfer Symphoniker können sowohl im großen sinfonischen Format als auch in konzertanten und solistischen Werken glänzen. //

Jean-Michaël Lavoie / startete im Alter von 28 Jahren seine internationale Karriere und dirigierte seither zahlreiche renommierte Orchester und Ensembles in mehr als 40 Städten. Nach seinem Studium in Montréal war er von 2009 bis 2010 Assistant Conductor des Ensembles intercontemporain. 2010 debütierte er als

Dudamel Conducting Fellow bei Los Angeles Philharmonic und 2011 in der Scala di Milano. Seit 2017 ist er Professor an der Fakultät für Musik der Université de Montréal und Direktor des Atelier de Musique Contemporaine. 2018 übernahm er außerdem die Leitung des französischen Ensembles Ars Nova.


Ballett am Rhein

b.33 – b.36 /

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Rückblick

„So unverwechselbar, so durchdacht, um Qualität bemüht, statt um Trends oder überholte Traditionen, abgestandene Coolness oder oberflächliches Entertainment“ – resümiert die Tanzkritikerin Melanie Suchy im Spielzeit­ heft von tanznetz.de, was sie am Ballett am Rhein fasziniert. Ihr Fazit zur Saison 2017/18: „Sensationell“. Auf dem Programm standen Uraufführungen von Martin Schläpfer, Ben J. Riepe und Remus Şucheană, aber auch ein vielfältiges Repertoire mit Werken von George Balanchine, Kurt Jooss, Hans van Manen, Ohad Naharin und Marco Goecke. – Ein fotografischer Rückblick von Gert Weigelt. //


b.33 / STRAVINSKY VIOLIN CONCERTO —— GEORGE BALANCHINE © THE GEORGE BALANCHINE TRUST Marcos Menha, Claudine Schoch


b.33 / ROSES OF SHADOW —— MARTIN SCHLÄPFER Chidozie Nzerem, Marlúcia do Amaral LINKS Chidozie Nzerem, Yuko Kato RECHTS OBEN Alexandre Simoes, Ann-Kathrin Adam RECHTS UNTEN



b.34 / APPENZELLERTÄNZE —— MARTIN SCHLÄPFER Boris Randzio LINKS OBEN Pedro Maricato, Claudine Schoch LINKS UNTEN Eric White, Doris Becker, Tomoaki Nakanome, So-Yeon Kim

RECHTS



b.34 / LE SPECTRE DE LA ROSE —— MARCO GOECKE Bruno Narnhammer, Mariana Dias LINKS UND RECHTS UNTEN Mariana Dias RECHTS OBEN




b.34 / DER GRÜNE TISCH —— KURT JOOSS © THE JOOSS ESTATE Chidozie Nzerem (Der Tod), Marlúcia do Amaral (Das junge Mädchen) LINKS Michael Foster (Der alte Soldat), Marlúcia do Amaral (Das junge Mädchen) Michael Foster (Der alte Soldat), Chidozie Nzerem (Der Tod) RECHTS UNTEN

RECHTS OBEN



b.35 / DECADANCE —— OHAD NAHARIN Sonia Dvořák, Yoav Bosidan, Alexandre Simões LINKS OBEN Norma Magalhães, Virginia Segarra Vidal, Pedro Maricato, Brice Asnar, Arthur Stashak, Cassie Martín Camille Andriot, Yoav Bosidan, Rashaen Arts RECHTS

LINKS UNTEN


b.35 / ABENDLIED —— REMUS ŞUCHEANĂ Camille Andriot, Cassie Martín, Sonia Dvořák Eric White RECHTS

LINKS




b.36 / SCHWANENSEE —— MARTIN SCHLÄPFER Chidozie Nzerem (Zeremonienmeister), Virginia Segarra Vidal (Siegfrieds Mutter), Marcos Menha (Siegfried) Sonny Locsin (Rotbart), Camille Andriot (Odile), Daniel Vizcayo (Siegfrieds Freund), Alexandra Inculet, Irene Vaqueiro (Hofstaat), Rubén Cabaleiro Campo (Siegfrieds Freund) LINKS UNTEN Sonny Locsin (Rotbart), Young Soon Hue (Odettes Stiefmutter) RECHTS

LINKS OBEN


b.36 / SCHWANENSEE —— MARTIN SCHLÄPFER Marlúcia do Amaral (Odette), Marcos Menha (Siegfried) LINKS Feline van Dijken, Alexandra Inculet, Elisabeta Stanculescu, Kailey Kaba, Claudine Schoch (Schwanen-Frauen) RECHTS OBEN Cassie Martín (Odette), Rashaen Arts (Siegfried) RECHTS UNTEN



Essay

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Text / Alban Pinet

Fotos / Synchronous Objects Project, The Ohio State University & The Forsythe Company

Tanz und Technologie bei Merce Cunningham und William Forsythe


Cunningham und Forsythe

Betrachtet man den Tanz von oben, werden Muster durch Videoverarbeitung beleuchtet, die flĂźchtige Ausrichtungen, KurvenausbrĂźche, Gruppen von Interaktionen sowie horizontale und vertikale Flows offenbaren.

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Essay

80 Cueing-System: Standbild aus dem Kommentarvideo, das das komplexe System der Einsätze in „One Flat Thing, reproduced“ veranschaulicht.

Animation der Spurenformen der Tänzer in „One Flat Thing, reproduced“ übertragen in einen 3D-Raum.


Cunningham und Forsythe

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Aus der Perspektive eines Tänzers: Noah Gelber über die Arbeit mit William Forsythe Acht Jahre lang war Noah Gelber Mitglied in William Forsythes Ballett Frankfurt, erarbeitete sich in dieser Zeit große Teile des Forsythe-Repertoires und wirkte u. a. bei der Aufnahme der CD-ROM Improvisation Technologies (1999) mit. Mit dem Ballett am Rhein studierte er 2015 Forsythes workwithinwork ein. Er bezeichnet Forsythes Choreogra­ phien als komplexe analytische und intermediale Kunstwerke, die in sich schon die Möglichkeit einer digitalen Entwicklung tragen. In die­ sem Interview eröffnet er uns die Perspektive eines Darstellers auf die Arbeit mit dem Choreographen, die Anwendungen von digitalen Objekten und den Nutzen von Improvisation Technologies.

Inwiefern waren Sie in die Entwicklung der CD-ROM „Improvisation Technologies“ involviert? Ich war damals Mitglied des Ballett Frankfurt und William Forsythe wählte mich als einen der vier tanzenden „Botschafter“ für die CD-ROM aus. Diese wurde entwickelt, um neue Tänzer möglichst schnell und umfassend in seine improvisatorischen Technologien einzuführen, die er mit uns in einem langen und aufwändigen Pro­ zess entwickelt hatte. Eines der Ballette, die ich im ersten Jahr meines Engagements tanzte – Die Befragung des Robert Scott (1985) –, bestand nur aus strukturierten Improvisationsfugen und ich musste schnell sehr viel lernen. Ich hatte zum Beispiel ein Solo, das immer mit dem gleichen musikalischen Zeichen begann, jedoch – wie eine Art „Kommentar“ – reflektieren sollte, was ich bis zu meinem Einsatz von den Improvisationen meiner Kollegen gesehen hatte. Jede Aufführung war wie ein leeres Blatt, das erst allmählich gefüllt wurde. Wenig später besetzte mich Forsythe dann in seiner Uraufführung Alie/na(c)tion. Es war meine erste Kreation mit ihm und ein ebenso faszinierender wie extrem kom­ plexer Prozess.

Wie gestaltete sich dieser Prozess? Wochenlang schauten wir uns Videos an und entzifferten, was wir auf dem Bildschirm sahen, um eine Tanzsprache zu entwickeln, die nicht nur Bewegung für Bewegung die Aufnahmen reflektiert, sondern wahrhaftig wirken sollte. Wir legten verschiedene Fort­ bewegungsmodi und Regeln über deren Anwendung, die von unse­ rer Nähe zu anderen Objekten oder Tänzern abhängig war, fest, machten uns mit den Symbolen der Laban-Notation bekannt, stellten uns ein auf dem Boden gezeichnetes Gitter vor und über­ setzen dieses dann assoziativ in den Raum. Von Computern zufallsartig generierte Zeiten und Orte diktierten uns die Bewe­

gungsmuster – sie waren unsere „Reiseführer“ für das Stück. Die Arbeit war überwältigend. Ich war erst 21 Jahre alt und hatte noch nie eine solche Erfahrung gemacht. Es öffneten sich mir völlig neue Wege, um mich dem Tanzen ebenso instinktiv wie intellek­ tuell zu nähern.

Waren Sie über das Ergebnis dieser intermedialen Choreographie überrascht? Verblüfft wäre eher das richtige Wort. Die Herausforderung war bereichernd und machte mich süchtig nach mehr.

Hat sich Ihr Blick auf das Choreographieren dadurch verändert? Auf jeden Fall! Bevor ich beim Ballett Frankfurt anfing, hatte ich zwar schon Bücher über das Choreographieren gelesen und an zwei Seminaren teilgenommen, aber meine Perspektive war doch limitiert: Die Qualität einer Choreographie schien mir von der Schönheit der Tänzer und ihrer Virtuosität abhängig, von anspre­ chenden Linien, der Betonung des Körperbaus und der Tanztech­ nik. Immer wieder hatte ich aber auch mit Choreographen gear­ beitet, deren kreative Prozesse völlig unlogisch und mühsam langsam abliefen und deren Stücke zu tanzen eine Qual war. Die Arbeit mit Forsythe – auf intellektueller wie physischer Ebene – übertraf alle meine bisherigen Erfahrungen, alles was ich zu wis­ sen meinte. Seine Improvisation Technologies, die in der Ent­ wicklung der CD-ROM gipfelten, waren eine unschätzbare Schule, in der ich lernte, Choreographien zu lesen, sie strukturell, kontextuell und konzeptuell wahrzunehmen und inhaltlich zu bewerten. Für diese Jahre mit William Forsythe bin ich sehr dankbar. //


Interview

Schönheit und Humor / Ein Gespräch mit dem Kostümbildner Reid Bartelme

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Reid Bartelme

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Interview / Alban Pinet

Fotos / Jeremy Jacob & Robert Altman

2010 trafen wir uns zum ersten Mal, als unsere jeweiligen Compagnien im National Center of Performing Arts in Beijing gastierten. Reid Bartelme tanzte mit der Lar Lubovitch Com­ pany, während ich mit dem Hamburg Ballett tourte. Zu diesem Zeitpunkt hatte Reid bereits eine neue Karriere begonnen. Er war Student am Fashion Institute of Technology in New York. Acht Jahre später stehen wir kurz davor, uns wieder zu treffen: Reid Bartelme, der jetzt als freischaffender Kostümdesigner erfolg­ reich ist, entwirft gemeinsam mit seiner Kol­ legin Harriet Jung die Kostüme für Robert Binets Ballett New World, das im November 2018 in der Ballett am Rhein-Premiere b.37 seine Uraufführung erleben wird. Time to catch up. //


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Russell Janzen und Reid Bartelme in „Something About Night“ von Lar Lubovitch, Guggenheim Museum New York (April 2018).

Interview

„Lebensfreude und Queerness werden gefeiert. Die Kunstwelt in New York sieht derzeit eher naiv und bunt als raffiniert aus. Es gibt ein Gefühl von Freiheit, das sich auch in der Arbeit von Harriet und mir widerspiegelt.“


Reid Bartelme Interessiert dich gerade ein Designer besonders? Ja, der katalanische Designer Josep Font, der zuletzt Creative Director des Labels Delpozo war. Er hat eine sehr spezifische Vorstellung von Frauentracht. Man kann eine erstaunliche Konse­ quenz durch alle Jahreszeiten hindurch in seiner Kleidung beobachten. Er geht mit einer überraschenden Fantasie an die Arbeit mit einem ungewöhnlichen Sinn für Farbe und Dekors. Ich bleibe neugierig auf Raf Simons Arbeit für Calvin Klein und interessiere mich sehr für seine früheren Arbeiten bei Dior und Jil Sander. In jeder Kollektion zeigt er etwas Unerwartetes, das sein Kunst­ universum widerspiegelt.

Gibt es ein Detail, das in euren Kostümen immer wieder auftaucht? Ich weiß es nicht wirklich ... Harriet und ich haben das Gefühl, dass wir in Kapiteln arbeiten. Oft sind wir von etwas geradezu besessen und versuchen es dann, in alles hineinzulegen. Wir hatten eine Transparenz-Phase, dann eine Farb-Phase, in der wir alles erforschen wollten, was Farbe auf der Bühne bedeutet und wie man dieses Konzept an eine Grenze bringen kann. Unsere Ästhetik wurzelt in einem historischen Wissen über Mode und Tanz. Für uns ist es aber in erster Linie wichtig, dass die Kleidung den Men­ schen gut steht. Sollte eine Person in ihrem Kostüm nicht gut aus­ sehen, dann sind wir nicht dagegen, es zu ändern.

Ihr werdet die Kostüme für „New World“ von Robert Binet entwerfen. Wie ist es zu dieser Zusammenarbeit gekommen? Robert hat uns für dieses Projekt kontaktiert und ein Konzept präsentiert, welches uns fasziniert hat. Der Spannungsbogen des Stückes ist ziemlich abstrakt. Seine Choreographien entwickeln sich metaphorisch. Der Rahmen seiner Ideen ist großzügig: eine Geschichte, eine Mythologie, eine Kraft, die über das Reale hin­ ausgeht. In diesem Sinne werden wir eine große Freiheit in unse­ rer Arbeit genießen dürfen.

Ihr designt auch für Drag Queens, habt zum Beispiel ein Schlangentrikot für Jack Ferver kreiert. Nähert ihr euch dem Design von Drag Costumes mit der gleichen Professionalität wie anderen Aufträge oder geschieht es eher aus Spaß? Auch das sind Projekte, die uns als Künstler wichtig sind: der spe­ zifische Ausdruck einer Idee im Gegensatz zu Kleidungsstücken, die nur einem Projekt dienen. Für diesen Schlangenanzug hatten wir eine solche Idee, die wir dann unbedingt umsetzen wollten. Jack Ferver wurde für einen Preis nominiert und bat uns, diesen Schlangenanzug für die Zeremonie tragen zu dürfen. Das Trikot machte schnell die Runde und wir entschieden uns, eine ganze Menagerie solcher Tiertrikots zu entwerfen. Die Schlange bildete schließlich nur ein Stück in einer Serie von sechs Tieren. Später nahm Jack an der von Harriet und mir im New Yorker Guggen­ heim veranstalteten Performance Works & Process teil und schuf einen Monolog, in dem jedes Trikot ein anderes Kapitel bildete.

Du arbeitest unglaublich vielseitig. Neben dem Tanzen hast du Podcasts kreiert, aber auch ein Einhorn-Kostüm und Badeanzüge entworfen. Wie sind diese Projekte entstanden? Das Einhorn-Kostüm heißt eigentlich mein kleines Pony. Es war für Jacks letzte abendfüllende Arbeit. Er hatte vier schwule Dar­ steller. Die Frage, die er an jeden von uns stellte, lautete: „Was hast

87 du in deiner Kindheit am meisten verehrt?“ Die anderen Künstler antworteten mit Judy Garland, Brian Boitano, Martha Graham und Cat Woman. Ich hatte nicht verstanden, dass er nach einer Person fragte und antwortete „Mein kleines Pony“. Er kreierte dann Soli um diese Charaktere herum. Zum Badeanzug: Harriet und ich hatten die Kostüme für Justin Pecks Ballett Scherzo Fantastique für das New York City Ballet entworfen, während das Bühnenbild von Jules de Balincourt geschaffen wurde. Er erfand eine surrea­ listische Waldlandschaft mit wilden Farben. Wir waren davon fasziniert und beschlossen, einen Druck aus Aquarellstreifen zu entwickeln: Wir stapelten sie, druckten sie auf Uniformen, trugen Fransen und Blumen auf, die gleichzeitig surrealistisch und ab­ strakt erschienen. Wir waren so begeistert davon, dass wir unserer Idee auch ein Leben jenseits dieses Balletts geben wollten.

Wenn du mit drei Wörtern beschreiben könntest, wie die Kunstwelt für dich aussehen sollte? Schönheit, Genauigkeit und Humor. Ich denke, eine Art freudiger Eklektizismus ist gerade jetzt relevant. Es ist wichtig zu erkennen, dass Kunst NICHTS sein MUSS.

Hast du das Gefühl, Kunst sollte mehr eine idealistische Vision der Welt sein, weniger aber ein Kommentar dazu? Ich denke, sie kann beides sein. Es ist fragwürdig, ob Menschen in unserer Position, die unglaublich verwöhnt sind, aufrichtige Kom­ mentare zu den in der Welt auftretenden Problemen verfassen können. Wenn du ein Choreograph oder Designer bist, der arbei­ tet und dafür bezahlt wird, hast du keine wirklichen Probleme. Deine Beziehung zu Politik und zum Welttrauma ist sehr porös und bestenfalls peripher. In dieser Situation in seinen eigenen Stücken die Lage der Welt zu kommentieren, erscheint mir wahn­ sinnig. Aber wenn du es als deine Pflicht siehst, ein Stück über Flüchtlinge zu machen … Los, mach das! Kunst ist für jeden verfüg­ bar und einige Menschen werden sich damit auseinandersetzen und daraus etwas lernen können. Ich will diesen Tanz nicht sehen, aber fühle dich frei. Wenn du aber eine Choreographie über deine eigenen Erfahrungen entwickelst, dann würde ich in der ersten Reihe sitzen und mitjubeln. //

Reid Bartelme / war zehn Jahre als Tänzer tätig, bevor er am New Yorker Fashion Institute of Technology Modedesign studierte. Mit Harriet Jung begründete er 2011 das Label Reid & Harriet Design. Kostümentwürfe entstanden für Justin Peck, Trey McIntyre, Kyle Abraham, Pam Tanowitz, Jack Ferver und Matthew Neenan sowie für Compagnien wie u. a. das American

Ballet Theatre, New York City Ballet, San Francisco Ballet, National Ballet of Canada, Pacific Northwest Ballet, Pennsylvania und Austin Ballet, Hubbard Street Dance Chicago und Le Ballet du Grand Théâtre de Genève. 2017 erhielten Reid Bartelme und Harriet Jung ein Stipendium am NYU Center for Ballet and the Arts. //


Interview

„Transition ist ein wichtiges Thema im Tanz. Wechsel sollten nicht über Nacht passieren, sondern lange, vorsichtig und gut vorbereitet werden. Als sich abzuzeichnen begann, dass Julie Thirault ihre Tänzerkarriere beenden wird, haben Remus Şucheană und ich schon bald darüber zu sprechen begonnen, wie es mit dieser wunderbaren Künstlerin, die nicht nur mein Werk ausgezeichnet kennt, sondern auch so gut zu arbeiten weiß, große Erfahrung hat und intelligent und wach ist, weiter­ gehen könnte. Uns war schnell klar, dass sie eine ideale Ballettmeisterin wäre.“ / Martin Schläpfer

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Julie Thirault

Julie Thirault

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Von der Tänzerin zur Ballettmeisterin

Interview / Anne do Paço & Alban Pinet

Fotos / Gert Weigelt

Für Julie Thirault war die Schwanensee-Vorstellung am 12. Juni 2018 ein Abend der großen Emotionen: sie feierte ihren Abschied von der Tanz­ bühne. Seit 2002 zählte die Französin zu den prägenden Tänzerinnen von Martin Schläpfers Compagnien – zunächst in Mainz, ab 2009 im Ballett am Rhein. Zur Spielzeit 2018/19 wechselt sie nun die Seite von der Ballerina zur Ballettmeisterin. Kurz nach ihrer Abschiedsvorstellung trafen Anne do Paço und Alban Pinet die Künstlerin zu einem Resümee und Ausblick. //


Interview

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Was ist für dich das Besondere an den Werken dieses Choreographen? Seine unglaubliche Musikalität und sein Spiel mit den Kräften und Beziehungen zwischen Frauen und Männern, seine klaren Linien, die Spannungsbögen. Auch wenn Hans van Manen leider nie etwas für mich choreographiert hat, so hatte ich beim Tanzen seiner Werke doch immer das Gefühl, sie seien für mich entstan­ den. Ich fühle mich in ihnen vollkommen zuhause.

Ist das nicht wunderschön? Man kommt als neues Mitglied in ein Ensemble wie das damalige ballettmainz hinein und findet dort etwas, was einen über so viele Jahre trägt. Ja! Und es war eigentlich ein Zufall, denn ich dachte überhaupt nicht daran, in einer so kleinen Compagnie vorzutanzen. Ich kam aus Paris, habe an der Ballettschule des Balletts der Pariser Oper meine Ausbildung gemacht, dann im Semperoper Ballett getanzt. Freunde von mir lebten in dieser Zeit in Mainz und als ich sie ein­ mal dort besuchte, nutzte ich die Gelegenheit, mit dem ballett­ mainz zu trainieren. Auf diese Weise habe ich Martin Schläpfer kennengelernt. Und als ich dann auch noch eine Vorstellung sah – es war sein Ballett Vespers –, da dachte ich: „Wow, was ist das denn!?“ So etwas hatte ich noch nie gesehen, und was ich in diesen wenigen Tagen erlebte, entsprach so sehr meinen Vorstellungen, wie ich gerne arbeiten wollte, dass ich mich sehr freute, schließlich Mitglied des ballettmainz zu werden.

Du hast Martin Schläpfer nun 16 Jahre lang begleitet. Hat er sich und hat sich eure Zusammenarbeit mit dem Wechsel nach Düsseldorf und Duisburg verändert? Oh la la, das ist eine sehr schwierige Frage. Er ist zum einen der gleiche geblieben, aber natürlich hat er sich auch verändert, seine Stücke haben sich verändert, die neue Compagnie hat ihn verän­ dert, denn in der Kunst hängt doch so vieles immer auch davon ab, mit wem man arbeitet. In Mainz waren wir ein sehr kleines Ensemble. Er hat fast jede Probe, sehr viele Trainings geleitet, war immer da. Wenn ein neuer Tänzer kam, wurde der regelrecht in die Compagnie hineingezogen. Er hat uns sogar privat unterrich­ tet, mit uns an unseren Körpern gearbeitet. Er choreographiert auf der akademischen Basis, aber sehr physisch. Er zieht seine Be­ wegungen oft über Grenzen hinaus, alle Muskeln werden bei ihm gefordert. Es geht ihm nie nur um eine Bewegung an sich, sondern immer um den Zusammenhang, in dem sie steht und einen inne­ ren Text. Ich denke, dass es wesentlich ist, von Martin Schläpfer auch trainiert zu werden, wenn man seine Stücke tanzt, täglich mit ihm zu arbeiten. Sein Training ist wirklich ein sehr spezielles – und das versuche ich auch immer wieder den jüngeren Tänzerinnen und Tänzern zu vermitteln! Was mich bis heute an der Zusam­ menarbeit mit ihm zutiefst fasziniert: Er geht – mit sich selbst, aber auch seinen Tänzern – an die Extreme. Das ist genau das, was ich mag. Warum mache ich sonst diesen Beruf? Warum sonst sollte ich tanzen? Man darf nie zufrieden sein. //

Julie Thirault in Hans van Manens „Without Words“ und „Compositie“ (links), als Alte Mutter in Kurt Jooss’ „Der Grüne Tisch“ sowie in Martin Schläpfers „Symphonie g-Moll“.


Julie Thirault

93 „Ich bin auf Julie Thirault in Mainz über mei­ nen damaligen Ballettmeister Didier Chape aufmerksam geworden und brauchte zunächst etwas Zeit, um das Besondere an ihr zu ent­ decken und schließlich zu jener intensiven Zusammenarbeit zu finden, auf die wir heute zurückschauen. Ihr Tanzen war durchdrun­ gen von einem ganz eigenen Schmelz, einer Weichheit und Elastizität, aber auch einer Beseelung und einem Glühen, abgeleitet aus der Phrasierung, dem Reagieren auf die Musik und die Choreographie. Sie verfügte über ein unglaubliches Gespür für eine Linienfüh­ rung im Körper. Was ihr durch Gegenzüge, Rotationen und Spiralen zu erzeugen gelingt, wirkt nie von außen aufgesetzt, sondern hat immer mit natürlichen Gesetzmäßigkeiten zu tun. Sie beherrschte diese perfekte Balance von Leichtigkeit und Widerstand, Komplexi­ tät und Einfachheit, Drama und Abstraktion, Klassizismus und Contemporary – und dafür hat auch Hans van Manen sie so sehr geliebt.“ / Martin Schläpfer

„Es ist nicht selbstverständlich, dass Tänzer über einen sehr langen Zeitraum derart inspi­ riert und inspirierend und zugleich genau und zuverlässig arbeiten, wie ich das bei Julie Thirault erlebt habe. Zugleich bringt sie durch ihre Ausbildung in Paris und die Zusammen­ arbeit mit vielen verschiedenen Choreographen eine ganz eigene Farbe mit in unser Team. Natürlich muss man als Ballettmeister andere Qualitäten haben als als Tänzer, man muss sich auch für das Choreographieren interes­ sieren – ein Werk verteidigen können. Ich glaube, dass Julie Thirault hierfür die Richtige ist.“ / Remus Şucheană

Julie Thirault / studierte an der Ballettschule der Pariser Oper, wo sie auch ihre ersten Bühnenerfahrungen sammelte. Sie tanzte als Gast am Théâtre de Bordeaux und in Wiesbaden sowie als Solistin im Semperoper Ballett Dresden. 2002 wurde sie Mitglied des ballettmainz, 2009 wechselte sie mit Martin Schläpfer zum Ballett am Rhein Düsseldorf Duisburg. Zu ihrem Repertoire gehören zahlreiche

Uraufführungen Martin Schläpfers sowie Choreographien von u. a. Balanchine, Bruce, Christe, Cranko, Ek, Jooss, Kylián, León & Lightfoot, Limón, van Manen, Neumeier, Robbins, Scholz und Tudor. Im Juli 2018 beendete sie ihre Tänzerkarriere. Sie studiert Benesh Notation in London und ist seit dieser Spielzeit für das Ballett am Rhein als Ballettmeisterin tätig.


Ballett am Rhein

Young Moves

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Plattform Choreographie des Balletts am Rhein

Tanzwelten erfinden, Wege suchen, die eigenen Ideen zu entwickeln, mit Tänzerinnen und Tänzern, Bühnen- und Kostümbildnern zu erarbeiten und schließlich auf der großen Bühne zu präsentieren: all dies ermöglicht die Plattform „Young Moves“ einmal pro Spielzeit dem choreographischen Nachwuchs des Balletts Rhein. Im Juli 2018 stellten Feline van Dijken, Sonia Dvořák, Virginia Segarra Vidal und Eric White ihre ersten eigenen Choreo­ graphien im Theater Duisburg vor. Gert Weigelt hat sie fotografiert. //


YOUNG MOVES / TEMET NOSCE —— FELINE VAN DIJKEN Filipe Frederico, Claudine Schoch, Friedrich Pohl, Alexandra Inculet Norma Magalhães, Bruno Narnhammer UNTEN

OBEN


YOUNG MOVES / OUR DISCONTENT —— SONIA DVOŘÁK Ensemble OBEN Helen Clare Kinney UNTEN


YOUNG MOVES / POSIDONIA —— VIRGINIA SEGARRA VIDAL Yoav Bosidan, Alexandra Inculet, Boris Randzio OBEN Ensemble UNTEN


YOUNG MOVES / RHAPSODY ON A THEME —— ERIC WHITE Aleksandra Liashenko, Chidozie Nzerem OBEN Sonny Locsin, So-Yeon Kim UNTEN


Premieren b.36 Martin Schläpfer Schwanensee Sa 15.09.2018, Opernhaus Düsseldorf (Reprise) Fr 28.09.2018, Theater Duisburg

b.37 Robert Binet New World (UA) Natalia Horecna The Way Ever Lasting (UA) Remus Şucheană Fantaisies (UA) Fr 23.11.2018, Opernhaus Düsseldorf

b.39

Gastspiele

Hans van Manen Dances with Piano (DEA) Martin Chaix Atmosphères (UA) Martin Schläpfer 44 Duos (UA)

TEATRO REAL MADRID Martin Schläpfer Ein Deutsches Requiem

Fr 12.04.2019, Opernhaus Düsseldorf

OPER KÖLN Marco Goecke Le Spectre de La Rose

b.40

Do 01. & Fr 02.11.2018

Mark Morris Pacific Trisha Brown Locus Merce Cunningham Night Wandering Paul Taylor Offenbach Overtures

THEATER GÜTERSLOH Martin Schläpfer Konzert für Orchester Mönche und Nonne Remus Şucheană Romanze Fantaisies

Sa 08.06.2019, Opernhaus Düsseldorf

b.38 Remus Şucheană Sinfonie Nr. 1 (UA) William Forsythe One Flat Thing, reproduced Martin Schläpfer Ulenspiegeltänze (UA) Sa 09.02.2019, Theater Duisburg

Tickets Tel.: + 49 (0) 211.89 25 21 1 ballettamrhein.de

Fr 12. – So 14.10.2018

Young Moves 2019 Plattform Choreographie Helen Clare Kinney, Brice Asnar, So-Yeon Kim, Michael Foster (UA) Fr 05.07.2019, Opernhaus Düsseldorf

Silvestergala

Mi 05. & Do 06.12.2018

NATIONAL KAOHSIUNG CENTER FOR THE ARTS WEIWUYING / Taiwan Martin Schläpfer 7 Sa 02. & So 03.03.2019

THE NATIONAL TAICHUNG THEATRE TAICHUNG / Taiwan Martin Schläpfer 7

Martin Schläpfer Marsch, Walzer, Polka Remus Şucheană Romanze Martin Schläpfer Mönche und Nonne Jerome Robbins The Concert

Sa 09. & So 10.03.2019

Mo 31.12.2018, Opernhaus Düsseldorf

Sa 15.06.2019

LUDWIGSBURGER SCHLOSSFESTSPIELE Mark Morris Pacific Martin Schläpfer 44 Duos


Bruno Narnhammer *D

an hl c ts eu

d

Als ich fünf Jahre alt war, waren all die Mäd­ chen in meiner Straße im Ballett. Einmal ging ich dann zu einem Tag der offenen Tür in die Ballettschule mit – und so begann ich zu tan­ zen. Als ich schließlich eine Audition für die Heinz-Bosl-Stiftung in München gewann, wohin ich über 100 Kilometer zu fahren hatte, wurde der Tanz Teil meines Lebens. Die Münchner Schule unter der Leitung von Kon­ stanze Vernon und meine Lehrer Gabriela Nicolescu, Joachim Metz and Alexander Pro­ kofjew, aber auch die Arbeit als professionel­ ler Tänzer unter Youri Vámos haben mich sehr geprägt. Ich liebe die Stücke von Mats Ek, seine Sprache und die Art, durch Bewe­ gung Geschichten zu erzählen. Wenn ich an Bernarda Alba auch nur denke, habe ich sofort Gänsehaut. //

Chidozie Nzerem SA *U

Meine Mutter Joyce Nzerem führte meine Schwestern und mich schon als Kinder in die verschiedenen Künste ein. Meine erste Giselle sah ich auf einem Gastspiel von Arthur Mit­ chells Dance Theatre of Harlem in meiner Heimatstadt San Francisco. Das Ensemble war hauptsächlich mit schwarzen Tänzern be­ setzt. Mitchell bat alle Kinder auf die Bühne zu kommen und zu tanzen – und so wurde ich im Alter von vier Jahren entdeckt und er­ hielt – wie auch meine Schwestern – ein Sti­ pendium für die San Francisco Ballet School.

Die beiden herausragendsten Choreographien, die ich tanzen durfte, waren Kurt Jooss’ Der Grüne Tisch und Martin Schläpfers Roses of Shadow. Beide Stücke sind physisch und psychisch ungemein fordernd. Aber ich denke, dass es mir gelungen ist, zu vermitteln, was die Choreographen wollten. Wenn ich tanze, versuche ich, ein Stück innerlich mit einem persönlichen Erlebnis zu koppeln, das mir dann ermöglicht, mich mit dem Publikum durch meine Emotionen zu verbinden. Ich bin Martin Schläpfer und Remus Şucheană sehr dankbar für das außergewöhnlich ab­ wechslungsreiche Repertoire, das wir jede Spielzeit erarbeiten und präsentieren dürfen. //

Virginia Segarra Vidal

en ni a p *S

Boris Randzio

h ic e r er st Ö *

Das erste Balletttraining, das ich als Neunjäh­ riger machte, wurde von einem Pianisten live begleitet und da dachte ich mir: „Zu dieser Musik zu tanzen, dass das möglich ist! Das ist ja wundervoll!“ Dann habe ich Les intermittences du cœur von Roland Petit gesehen. So wurde ich Tänzer. Bis heute mag ich es, beim Tanzen mit der Musik eins zu werden, ohne zu denken. Alles ist schön: Zu zweit, alleine oder in der Gruppe zu tanzen – im Idealfall aber tanzt man immer mit allen zusammen, selbst wenn man gerade alleine ist. Ein Erleb­ nis, das mich ganz besonders berührte, war die Aufführung von Martin Schläpfers Ein Deutsches Requiem in Tel Aviv. //

Das Tanzen erlaubt mir, in Regionen vorzu­ dringen, die ich im normalen Leben nie betre­ ten könnte. Auf der Bühne zu sein – diesem wunderschönen, magischen Ort – und die Zu­ schauer mitzunehmen in diese anderen Wel­ ten, die wir kreieren, sie teilhaben zu lassen an dem, was wir fühlen: das ist für mich der Grund, warum ich tanze. //

Marié Shimada ap *J

an

Wenn ich tanze, fühle ich mich ganz bei mir selbst. Einer meiner Cousins ging ins Ballett und nahm mich manchmal in die Class und in die Schulvorstellungen mit. Das gefiel mir – und ich begann mit sechs Jahren auch zu tan­ zen. Während eines Sommerkurses an der Königlichen Ballettschule in Antwerpen lernte ich dann die großen Unterschiede zwischen meinem Heimatland Japan und Europa ken­ nen – wie viel hier für die Kunst getan wird! – und studierte schließlich in den Niederlanden und Frankreich. //


Alexandre Simões r *B

en li i as

Daniel Smith an *K

Ich war immer sehr scheu. Zu tanzen hat mir geholfen, aus meiner Schale auszubrechen. Als Kind hatte ich Schmetterlinge im Bauch, wenn ich eine Ballettvorstellung sah und wollte unbedingt Teil dieser magischen Welt sein. Wenn man dann älter wird, wird einem klar, dass die Karriere eines Tänzers schwierig und fordernd ist. Unsere tägliche Arbeit ist sehr anstrengend. Unsere Lehrer sind die Men­ schen, die wir am häufigsten sehen. Oft gelingt es ihnen, unseren Tanz und unsere Persön­ lichkeiten zu entwickeln, manchmal führen sie uns aber auch vor Augen, wie man nicht sein möchte. Heute kann ich aber trotzdem sagen: Ich tanze, weil ich es liebe – und weil ich daran glaube, dass Kunst zu schaffen ein großartiger Weg ist, etwas zu unserer Gesell­ schaft beizutragen. Als Kind habe ich es geliebt, Videos mit Mikhail Baryshnikov anzuschauen. Als ich dann aber nach Europa kam, hat sich mir eine völlig neue Welt aufgetan. Birgit Keil war meine erste Direktorin und für viele Jahre eine groß­ artige Inspiration. Aber auch Elisabeth Losca­ vio und Silvia Azzoni vom Hamburg Ballett haben mich sehr geprägt. Ich habe eine klassi­ sche Ausbildung, aber seit ich unter Martin Schläpfer tanze, habe ich auch in zeitgenössi­ schen Stilen zahlreiche Erfahrungen gemacht. Jeder neue Choreograph hinterlässt ein klei­ nes Stück von sich in einem und es ist eine große Ehre mit verschiedenen Meistern und jungen Choreographen arbeiten zu dürfen, von denen mich Marco Goecke, Ohad Naharin und Mats Ek vielleicht am meisten inspiriert haben. In Düsseldorf bin ich Pina Bausch und dem NDT näher gekommen – und darf hier Werke sehen, für die ich keine Worte habe. Mit Martin Schläpfer ein neues Ballett zu erarbeiten, ist immer eine großartige Er­ fahrung. Aber zwei seiner Werke sind für mich Herzstücke: Der Pas de deux Quartz, den er für seine große Muse Kirsty Ross in Mainz zum Abschied schuf, sowie das Trio Mönche und Nonne, das er für Marlúcia do Amaral, Marcos Menha und mich hier in Düsseldorf kreierte. //

Daniel Vizcayo a

ad

Ich würde mich als mitfühlend, kreativ, frei­ denkend, gesellig und witzig beschreiben. Ich liebe zum einen Stücke, die genau definiert und sehr musikalisch sind, aber auch die kör­ perliche Freiheit und das Organische sowie Theatralisches, dem ich durch meine Persön­ lichkeit und meinen Humor Farbe und Leben verleihen kann. Ich bin gerne offen für Neues, zugleich versuche ich aber auch, dem zu ver­ trauen, was ich als Künstler und Mensch bin. //

Arthur Stashak

en ni a p *S

Ich komme aus Madrid, wo ich meine Tanzausbildung am Real Conservatorio gemacht habe. Neun Jahre lang habe ich dann aus­ schließlich mit einem einzigen Choreographen gearbeitet: Thierry Malandain. Beim Ballett am Rhein erfahre ich nun, wie Stücke unter­ schiedlicher Choreographen und Stile mit meinem Körper zu sprechen, Gefühle zu we­ cken und in meinem Tanz aufzublühen beginnen – und so das Publikum mit mir. //

Eric White SA *U

SA *U

Ich bin sehr neugierig und liebe es, verschie­ dene Tanzstile zu erforschen. Meine beson­ dere Stärke liegt im Impro des Modern Dance. Auch wenn die klassische Technik die Grund­ lage ist, auf der ich arbeite und mich weiter entwickele, interessiert und inspiriert mich die heutige Avantgarde besonders: Sie wird den Tanz weiterbringen und das Publikum auch in Zukunft begeistern. //

Für mich ist Tanz die ultimative Feier des Lebens. Ich kann mir nichts Schöneres vorstel­ len, als daran Teil zu haben – sei es auch nur für eine noch so kurze Zeit. Eines meiner Lieblingsstücke ist Nussknacker – vielleicht kann man nur als Amerikaner wirklich verstehen, was ich damit meine. Aber Martin Schläpfers 7 zu tanzen, war eine Erfahrung, wie ich sie noch nie gemacht hatte. Für die Art und Weise, wie sich das Stück für mich auf einer sehr persönlichen Ebene im Verlauf der Vorstel­ lungen immer weiter entwickelte, habe ich bisher keinen Vergleich. Besonders geprägt hat mich ein lieber Freund – ein Choreograph und Tänzer, der aber vor allem ein Freund ist. Er hat mich so vieles gelehrt und bis heute großen Einfluss auf mich. Das ist eine wun­ derschöne Geschichte. Fragt mich einfach irgendwann mal danach! //


Impressum Künstlerisches Team 2018 / 19 Chefchoreograph und Künstlerischer Direktor Martin Schläpfer Ballettdirektor Remus Şucheană Persönliche Referentin der Ballettdirektion Elisabeth Beckmann Betriebsdirektor Oliver Königsfeld Leitende Dramaturgin Anne do Paço Dramaturgie und Produktion Alban Pinet Pressesprecherin Monika Doll Technische Koordination Barbara Stute Sekretariat Sabine Chaumet, Sabine Dollnik FSJ Kultur Olivia Benning Fotograf Gert Weigelt Ballettmeister*innen Kerstin Feig, Callum Hastie, Antoinette Laurent, Uwe Schröter, Julie Thirault Gasttrainingsleiter*innen Sylviane Bayard, Johnny Eliasen, Young Soon Hue, Giovanni Di Palma, Christiana Stefanou Repetitor*innen Eduardo Boechat, Christian Grifa, Hiroko Ishigame Choreograph*innen Brice Asnar, Robert Binet, Trisha Brown, Martin Chaix, Merce Cunningham, William Forsythe, Michael Foster, Marco Goecke, Natalia Horecna, So-Yeon Kim, Helen Clare Kinney, Hans van Manen, Mark Morris, Jerome Robbins, Martin Schläpfer, Remus Şucheană, Paul Taylor Choreographische Einstudierung Rachel Beaujean, Julie Cunningham, Tina Fehlandt, Thierry Guiderdoni, Ayman Harper, Ben Huys, Diane Madden, Giovanni Di Palma, Fabio Palombo, Richard Chen See Bühnen- und Kostümbildner *innen Christiane Achatzi, Reid Bartelme, Marcus Spyros Bertermann, Martin Chaix, Keso Dekker, Mylla Ek, Florian Etti, William Forsythe, Stephen Galloway, Shizuka Hariu, Harriet Jung, Santo Loquasto, Aleksandar Noshpal, Martin Pakledinaz, Darko Petrovic, Robert Rauschenberg, Stefanie C. Salm, Irene Sharaff, Michaela Springer, Saul Stein­ berg, Hélène Vergnes, Catherine Voeffray, Thomas Ziegler

108 Licht Stefan Bolliger, Kévin Briard, Bert Dalhuysen, Thomas Diek, Beverly Emmons, William Forsythe, Floriaan Ganzevoort, Udo Haber­ land, James F. Ingalls, Franz-Xaver Schaffer, Jennifer Tipton, Volker Weinhart Tänzerinnen Ann-Kathrin Adam, Marlúcia do Amaral, Camille Andriot, Doris Becker, Wun Sze Chan, Mariana Dias, Feline van Dijken, Sonia Dvořák, Eleanor Freeman, Alexandra Inculet, Yuko Kato, So-Yeon Kim, Helen Clare Kinney, Marjolaine Laurendeau, Aleksandra Lia­ shenko, Norma Magalhães, Anne Marchand, Cassie Martín, Asuka Morgenstern, Virginia Segarra Vidal, Marié Shimada Tänzer Rashaen Arts, Brice Asnar, Orazio Di Bella, Yoav Bosidan, Rubén Cabaleiro Campo, Michael Foster, Filipe Frederico, Philip Handschin, Vincent Hoffman, Sonny Locsin, Pedro Maricato, Marcos Menha, Tomoaki Nakanome, Bruno Narnhammer, Chidozie Nzerem, Boris Randzio, Alexandre Simões, Daniel Smith, Arthur Stashak, Daniel Vizcayo, Eric White Dirigenten Christoph Altstaedt, Lukas Beikircher, WenPin Chien, Axel Kober, Jean-Michaël Lavoie, Marc Piollet, Aziz Shokhakimov Gesangs- & Instrumentalsolist *innen Alina Bercu (Klavier), Fabian Clasen (Schlag­ zeug), Franziska Früh (Violine), Hiroko Ishigame (Klavier), Doo-Min Kim (Violoncello), Dragos Manza (Violine), Schaghajegh Nosrati (Klavier), Matan Porat (Klavier), Catherine Ribes (Violine), Richard Šveda (Bariton), Nikolaus Trieb (Violoncello), Adela Zaharia (Sopran) Orchester / Chor Düsseldorfer Symphoniker Duisburger Philharmoniker Coro y Orquesta Titulares del Teatro Real Madrid The National Symphony Orchestra of Taiwan Ballettschule des Balletts am Rhein Direktor Remus Şucheană Pädagogen Young Soon Hue, Yunij Helena Kwon, Remus Şucheană, Eva Zamazalová Repetitor*innen Eduardo Boechat, Hiroko Ishigame, Yuko Moriya, Igor Tetelbaum

Spielzeit 2018/19 Herausgeber Deutsche Oper am Rhein Theatergemeinschaft Düsseldorf Duisburg gGmbH Generalintendant Prof. Christoph Meyer Geschäftsführende Direktorin Alexandra Stampler-Brown Chefchoreograph und Künstlerischer Direktor Martin Schläpfer Ballettdirektor Remus Şucheană Redaktion Anne do Paço (verantwortlich), Alban Pinet Mitarbeit Elisabeth Beckmann Corporate Design und Gestaltung Markwald Neusitzer Identity www.mnidentity.de Lithographie und Druck Druckerei Preuß GmbH, Ratingen Redaktionsschluss 27. September 2018 – Änderungen vorbehalten! Die Interviews mit Patricia Lent und Richard Chen See, Robert Binet, Jean-Michaël Lavoie, Norah Zuniga Shaw und Reid Bartelme sowie die Statements der Tänzerinnen und Tän­ zer des Balletts am Rhein wurden von Anne do Paço und Alban Pinet aus dem Englischen und Französischen übersetzt. Urheber, die nicht zu erreichen waren, werden zwecks nachträglicher Rechtsabgleichung um Nachricht gebeten. Nachdruck nur nach vorheriger Einwilligung. Alle Rechte vorbehalten. Umschlag: Polish Pieces – Hans van Manen Außen: Ensemble / Innen: Julie Thirault, Rashaen Arts / Fotos: © Gert Weigelt


Unsere Initiative:

Kundennähe und Spezialkompetenz. Als Spitzeninstitut für die rund 1.000 Genossenschaftsbanken in Deutschland fungiert die DZ BANK als Impulsgeber für die gesamte Genossenschaftliche FinanzGruppe Volksbanken Raiffeisenbanken. Zusammen verbinden wir regionale Kundennähe mit globaler Finanzmarktexpertise und bieten ein flächendeckendes Allfinanzangebot, sehr hohe Bonität und individuelle Lösungen für den Mittelstand. Alles rund um unsere Produkte erfahren Sie unter dzbank.de


ballettamrhein.de

Sponsor Deutsche Oper am Rhein & Ballett am Rhein


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