Deutsche Oper Berlin: Magazin (Saison 16/17, März – Juli 2017)

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Deutsche Oper Magazin März – Juli 2017 Saison 16 / 17


Inhalt

Impressum

4 Die richtige Mischung finden Donald Runnicles im Gespräch über Britten, Wagner und seine Arbeit an der Deutschen Oper Berlin 8 Venedig sehen und sterben Über den Mythos der Lagunenstadt als Ort von Tod und Verfall 14 Familie auf Zeit Drei Mitglieder des Ensembles im Portrait 20 Der lange Schatten der Tataren Autokratische Herrschaft in Russland und ihre Tradition 26 Symbol der Liebe Roberto Alagna und Aleksanda Kurzak in Donizettis LIEBESTRANK 28 Die Katze im Sack Manuel Nawri erklärt, wie man gute Neue Musik erkennt 30 Repertoire-Tipps und Service

Das Deutsche Oper Magazin ist eine Beilage der Tageszeitung Der Tagesspiegel Berlin © 2017 Herausgeber Deutsche Oper Berlin Vermarktungs GmbH Richard-Wagner-Straße 10 10585 Berlin Redaktion Dramaturgie / verantwortlich: Jörg Königsdorf [ Deutsche Oper Berlin ] Ulrich Amling [ Der Tagesspiegel ] Gestaltung Jens Schittenhelm Fotos [Cover, Seite 12/13 u. 24/25] Satoshi Fujiwara Produktion Möller Druck Die Rechtschreibung folgt den Vorlagen.


© Bettina Stöß

Zugegeben: auf den ersten Blick sind die drei älteren Herren, die im Zentrum unserer nächsten Neuproduktionen stehen, nicht gerade die idealen Opernhelden. Ein depressiver Schriftsteller, ein paranoider Seemann und ein neurotischer Tyrann sind so ziemlich das Gegenteil von den schneidigen Liebhabern und zartfühlenden Heldinnen, die mit ihren Spitzentönen das Publikum in Ekstase versetzen. Und doch haben sowohl Gustav von Aschenbach in Brittens TOD IN VENEDIG als auch Wagners Fliegender Holländer und Mussorgskijs Boris Godunow eine Qualität gemeinsam, die sie zu faszinierenden Objekten für das Musiktheater macht. Jeder der drei hat eine Vergangenheit, die ihn prägt und die bei all seinen Handlungen und Entscheidungen mitschwingt und mitklingt. Und anders als bei den meisten großen Liebenden der Opernliteratur, deren ganze Existenz im Augenblick der erfüllten Liebe aufgeht, ist es bei diesen Helden mit Erfahrung gerade ihr Umgang mit dem Ge- und Erlebten, der sie für uns menschlich werden lässt. Ob es Aschenbachs selbstquälerischer Kampf gegen das eigene Verlangen ist, ob das Leiden des Holländers an der Unerfüllbarkeit seines idealisierten Frauenbilds oder die Schuldgefühle angesichts der begangenen Taten, die den Zaren Boris umtreiben – bei jedem der drei ist dieses Hadern mit dem eigenen Leben zum zentralen Thema geworden. Und sie alle sind einsame Helden, bei denen der Monolog als zentrale Äußerung den Gefühlsaustausch des Duetts ersetzt hat und die sich weit mehr durch ihr Sein als durch ihr Handeln definieren. Und damit sind sie denn – auf den zweiten Blick – doch echte Opernhelden: Charaktere, die den Komponisten faszinierende Möglichkeiten bieten, musikalische Psychogramme in ihrer ganzen Komplexität aus Bewusstem und Unbewusstem, aus Traum und Erinnerung zu formen. Seit Wagner sind solche seelischen „Tiefenbohrungen“ immer mehr zum zentralen Thema der Oper geworden – kein Wunder, dass auch die Gewinner des Kompositionswettbewerbs NEUE SZENEN, den die Deutsche Oper Berlin und die Hochschule für Musik Hanns Eisler nunmehr zum dritten Mal ausgeschrieben haben, das gestellte Thema „Die Durchbohrung der Welt“ in der menschlichen Psyche verortet haben. Und echte Liebe gibt’s bei uns natürlich auch: In Donizettis LIEBESTRANK stehen bei uns im Mai mit Roberto Alagna und Aleksandra Kurzak sogar zwei Sänger auf der Bühne, die nicht nur in der Oper, sondern auch im richtigen Leben ein Paar sind. Über all das können Sie auf den folgenden Seiten lesen. Wir freuen uns auf Ihren Besuch

Jörg Königsdorf Chefdramaturg der Deutschen Oper Berlin

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Liebe Freundinnen und Freunde der Deutschen Oper Berlin,


Die richtige Mischung finden Donald Runnicles dirigiert Brittens TOD IN VENEDIG und Wagners DER FLIEGENDE HOLLÄNDER. Darüber und über seine Arbeit an der Deutschen Oper Berlin spricht er mit Frederik Hanssen und Ulrich Amling Herr Runnicles, vor Ihnen liegt die Partitur Ihrer nächsten Premiere: TOD IN VENEDIG von Benjamin Britten. Ein Kammerspiel nach Thomas Manns Novelle, in der der Schriftsteller Aschenbach die Schönheit sucht und den Tod findet. Ist dieses Werk richtig aufgehoben auf der großen Bühne der Deutschen Oper Berlin?

© Simon Pauly

Aus meiner Erfahrung, aktuell zum Beispiel mit Mozarts COSI FAN TUTTE, kann ich sagen: Die Bühne ist nicht zu groß für dieses Stück. Im Gegenteil: Ich finde die Akustik an diesem Haus ideal für kammermusikalische Akzente. Spannend finde ich, wie klassisch Brittens Partitur letztlich ist. Für Aschenbachs Selbstgespräche nutzt er die einfache Begleitung eines „Fortepianos“ wie bei Gluck und Mozart. Brittens letzte Oper gehört genauso wie Mozart an die Deutsche Oper Berlin. Unsere Bühne bietet auch mehrere Möglichkeiten, mit Fernchören und Bühnenmusik rein akustisch aus dem Off zu arbeiten. Ich werde das Stück höchstwahrscheinlich zunächst größer im Orchester besetzen und proben, bei Gelegenheit gehe ich dann in den Zuschauerraum und höre mir das an. Mag sein, dass ich dann sage: Da sind zwei Bässe zu viel. Aber lieber so, als hinterher festzustellen, es sind zwei Bässe zu wenig. In Brittens letzter Oper läuft alles auf die Hauptrolle Aschenbach zu. Hier mussten Sie gegenüber Ihrer ursprünglichen Planung umdenken. Wie kam das? Es kam überraschend. Ich kenne Richard Croft, der den Aschenbach singen sollte, seit langem. Er ist ein zuverlässiger, gewissenhafter Künstler. Während des Studierens der Rolle aber hat er als sehr versierter Britten-Sänger feststellen müssen, dass er sich mit der Figur des alternden Schriftstellers Aschenbach nicht identifizieren kann. Mir ist es lieber, wenn ein Sänger


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sagt, es tut mir leid, das spricht mich nicht an, als wenn er sich einfach krank meldet. Wenn er selbst nicht daran glaubt, kann er dem Regisseur Graham Vick bei den Proben auch nichts anbieten. Wir haben das große Glück, mit Paul Nilon einen Sänger gefunden zu haben, der die Partie schon gesungen hat und der genau das richtige Alter hat für diese Obsession: „Ich bin noch jung, ich bin noch schön!“ Paul Nilon wird während des ganzen Arbeitsprozesses hier sein, wir freuen uns darüber. Brittens Opernschaffen einen Zyklus zu widmen, war Teil Ihrer Pläne, als Sie 2009 an der Deutschen Oper als Generalmusikdirektor anfingen. Warum ist er für Sie so wichtig? Die Opern eines der großartigsten Komponisten des 20. Jahrhunderts gehören nach Berlin. Wir haben unseren Britten-Schwerpunkt über Jahre hinweg angelegt und die Resonanz des Publikums hat uns sehr ermutigt. Nicht nur bei PETER GRIMES, sondern auch bei BILLY BUDD und DIE SCHÄNDUNG DER LUCREZIA. Neben einem PETER GRIMES oder BILLY BUDD ist TOD IN VENEDIG intellektueller angelegt und an und für sich viel intimer. Es ist mit Abstand sein autobiografischstes Werk. Der Komponist Benjamin Britten hat sich mit dem Schriftsteller Gustav von Aschenbach identifiziert. Und genau wie Aschenbach stellt Britten immer wieder die Frage nach der eigenen Relevanz und Inspira­tion. Das ist umso verständlicher, weil er im Jahrzehnt vor TOD IN VENEDIG vor allem in England als nicht modern genug abgelehnt wurde. Und natürlich geht es auch um seine eigene Sexualität, zu einer Zeit, als Homosexualität tabu war. Alles kommt hier zusammen: Der schwerkranke Britten wusste, TOD IN VENEDIG wird seine letzte Oper. Bildet TOD IN VENEDIG den Schlussstein Ihres Britten-Zyklus? Nein. Ich würde z. B. sehr gerne den SOMMERNACHTSTRAUM machen, aber dafür muss man das richtige Team finden. Für das Haus wäre es großartig – und es gäbe ein Leben nach dem Tod [lacht]. Wir planen das WAR REQUIEM in einer szenischen Fassung. Das könnte wunderbar werden, besonders mit unserem Chor. Sie haben gerade Mozarts ENTFÜHRUNG AUS DEM SERAIL und COSI FAN TUTTE mit jungen Regisseuren herausgebracht, die ihre erste Oper inszeniert haben. Was waren Ihre Erfahrungen dabei? Sicher war vieles kontrovers und provokant. Musiktheater ist auch dazu da, um Neues und Relevantes auszuprobieren. Was wurde hier

© Bettina Stöß

schon alles ausgebuht, auch Inszenierungen eines gewissen Götz Friedrich. Für mich war die Arbeit mit vielen neuen Einsichten in DIE ENTFÜHRUNG verbunden, und ich hatte die Möglichkeit, mit meinem Orchester intensiv am Schwierigsten zu arbeiten – und das ist ja Mozart. Es hat bei Mozarteinstudierungen gerne Barockbögen ausprobiert, sich in die Ästhetik hineingearbeitet. Es kommen stilistische Fragen wie vibrato, non vibrato, Naturtrompeten, Naturpauken. Die Neugier auf den vermeintlich authentischen Klang – das prägt. Dazu dieses aufeinander hören, so dass Kammermusik im Graben entstehen kann. Musiktheater genieße ich als Gesamtkunstwerk – Licht, Bühnenbild, Kostüm, alles, was dazu gehört. Deshalb bin schon bei der Bauprobe dabei und frage z. B. auch: Woraus bestehen diese Wände? Wenn der Regisseur Samt will, weiß ich gleich, dass es klingt, als singe man in eine Kleenex Box. Wie lange muss eine Inszenierung eigentlich halten, muss sie ewig gespielt werden können? Der von mir hoch verehrte Götz Friedrich würde sicher darüber lachen, dass sein RING immer noch gespielt wird. Natürlich wäre es ideal, wenn man jede Inszenierung 10 Jahre oder länger zeigen könnte. Andererseits gibt es Stücke, von denen wir wissen, dass wir sie nicht jede Spielzeit bringen werden. Als wir hier anfingen, mussten wir das Repertoire wieder aufbauen: Produktionen, die man später innerhalb von vier Tagen im Repertoire wiederaufnehmen kann. Daneben haben wir eine TOSCA-Inszenierung von 1969 im Repertoire – warum nicht? Sängerinnen und Sänger lieben diese Produktion, und das Bühnenbild mit seinem Panorama der Engelsburg

im dritten Akt ist immer noch großartig. Letztlich kommt es darauf an, die richtige Mischung zu finden. Ich halte es für einen großen Vorteil des deutschen Theatersystems, dass hier die Freiräume für künstlerische Wagnisse größer sind. In den USA gibt es keine Subventionen. DER FLIEGENDE HOLLÄNDER ist zweifellos eine Oper, die das Haus füllen soll. Mit Christian Spuck haben Sie einen Regisseur engagiert, der bislang hauptsächlich als Choreograf gearbeitet hat. Ist das nicht auch ein Wagnis? Es sind die spannendsten Momente im Theater, wenn man nicht genau weiß, wie sich eine Inszenierung während des Arbeitsprozesses entwickeln wird. Bei FAUSTS VERDAMMNIS, Spucks erster Arbeit an der Deutschen Oper Berlin, mussten wir beispielsweise erst einmal ganz grundsätzliche Fragen beantworten: Ist das überhaupt eine Oper – oder eher ein Oratorium? Kann man das überhaupt inszenieren – oder ist das Stück nicht doch im Konzertsaal besser aufgehoben? Christian Spuck hat auf diese Fragen sehr überzeugende Antworten gefunden. Außerdem war die Probenarbeit mit ihm vom ersten Tag an eine Wonne. Vor allem mit dem Chor kam er wunderbar zurecht – und unser Chor ist sehr anspruchsvoll. Alle hörten zu, folgten Spucks Anweisungen und am Ende der Probe gab es immer wieder Applaus. Das kommt selten vor. Diese Arbeit war für mich sehr beglückend. Danach haben wir gleich überlegt: Was machen wir als nächstes? Wir wollten einen neuen FLIEGENDEN HOLLÄNDER haben. Und letztlich ist der HOLLÄNDER zu einem nicht unwesentlichen Teil eine große Choroper.

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Sie haben eine „klassische“ Karriere gemacht, vom Assistenten zum Musikchef. Heute werden sehr junge Dirigenten oft gleich ganz nach oben katapultiert. Kann das überhaupt funktionieren? Für ein Repertoirehaus ist es wichtig, jungen Dirigentinnen und Dirigenten Herausforderungen zu geben. Wohlwissend, dass etwas schief gehen kann. Mein erster Chef in Mannheim war Hans Wallat, von dem ich viel gelernt habe. Dort habe ich einige Produktionen ohne Orchesterprobe übernommen. Das war nur möglich, weil ich zuvor szenische und musikalische Proben am Klavier begleitet hatte. Wenn man bei der Aufführung ans Pult geht, weiß man natürlich, dass man während einer Aufführung nicht reden kann. Das muss alles durch Augenkontakt und präzise Lesart funktionieren. Als GMD der Deutschen Oper Berlin ist es mein Wunsch, junge Dirigenten als Assistenten ans Haus zu holen und ihnen die Chance zu geben, Vorstellungen unseres Repertoires zu dirigieren. Bei der Auswahl dieser Assistenten wird das Orchester eingebunden, alle Kandidaten absolvieren ein Vordirigat. Es soll schließlich „unser Assistent“ werden. Einer meiner Assistenten, Ido Arad, zum Beispiel dirigiert Proben und achtet für mich auf die Balance zwischen Orchestergraben und Bühne vom Zuschauerraum aus. Er hat DIE HUGENOTTEN mit einstudiert, dem Dirigenten Michele Mariotti assistiert, Proben geleitet und dann auch Aufführungen dirigiert. Genauso Daniel Cohen, der andere Assistent. Ich bin stolz auf sie. Oft treffen wir uns nach einer Vorstellung. Es gibt gelungene und manchmal weniger gelungene. Wichtig ist, selbstkritisch zu sein und sich immer wieder zu fragen, was man besser machen kann. Wagners RING DES NIBELUNGEN hat sich als Schicksalsstück Ihrer Karriere erwiesen. Wie kam das? Schon als Jugendlicher war ich vom RING fasziniert. Ich habe RHEINGOLD 1971 im allerersten schottischen RING gehört. Zu der Zeit studierte ich Klavier und habe mich überwiegend mit Chopin und Beethoven beschäftigt. Voller Begeisterung kaufte ich mir einen Klavierauszug von RHEINGOLD und versuchte, Wagner auf dem Flügel nachzuspielen. So begann eigentlich meine Liebe zu der Musik von Richard Wagner und zur Oper. Mein Vater, ein Kirchenmusiker, konnte dies überhaupt nicht nachvollziehen. Ich aber war infiziert. Durch diese Musik bin ich der, der ich bin. Ich ging ans Nationaltheater Mannheim, und so fing meine Karriere an. Dort hatte ich die Möglichkeit, das gesamte Wagner-Repertoire zu spielen und zu dirigieren. Nicht viel später wurde ich Wolfgang Wagner als Assistent bei James Levine und Götz Friedrich für PARSIFAL 1982 ­in Bayreuth vorgeschlagen. GMD in Freiburg

Wenn der Regisseur Samt will, weiß ich gleich, dass es klingt, als singe man in eine Kleenex Box.

­ urde ich durch mein Vordirigat des FLIEGENw DEN HOLLÄNDERS, in San Francisco war es dann der RING. Ich fühle mich sehr privilegiert: Ich liebe diese Musik und dirigiere sie in der ganzen Welt. Der RING ist für ein Opernhaus die ultimative Herausforderung. Deshalb freue ich mich auf einen neuen RING an der Deutschen Oper Berlin. Es ist höchste Zeit, dieses unerschöpfliche allegorische Spiel neu zu beginnen. Wir haben so lange mit einer Neuinszenierung gewartet, weil Götz Friedrichs RING so ikonisch ist. Wir standen in Demut vor ihm – solange, bis wir den richtigen Regisseur und die richtige Besetzung gefunden hatten. Im April dirigieren Sie zwei letzte Zyklen des „Friedrich-RING“. Mit welchen Gefühlen nehmen Sie Abschied? Es ist kein trauriger Abschied, aber nostalgisch stimmt er mich schon. Dieser RING war immerhin mein „Einstand“, als ich 2007 an der Deutschen Oper Berlin einsprang. Ich habe es damals gemacht, obwohl mir abgeraten wurde: schwieriges Haus, die kulturpolitische Situation … Ich hab’s dennoch gemacht und ein unglaubliches Haus erlebt. Wir haben sehr frühzeitig den Abschied vom „Friedrich-RING“ bekannt gegeben – und erlebten eine Nachfrage, bei der wir auch mehr Aufführungen hätten spielen können. Die Tickets gingen weg wie „warme Semmeln“. Jetzt nehmen wir Abschied von dieser Ikone, und viele Freunde aus der ganzen Welt kommen, um sie noch einmal zu sehen. Nach wie vor gilt dieser RING als eine der wichtigsten Deutungen dieses Werks.

Nach der GÖTTERDÄMMERUNG beginnt bei Götz Friedrich das Spiel von vorn. Und die Deutsche Oper Berlin schmiedet bereits einen neuen RING. Was steht uns bevor? Wir haben schon vor drei Jahren angefangen, den neuen RING zu planen, und freuen uns enorm, dass der Regisseur Stefan Herheim mit uns arbeiten wird. Wir haben lange um ihn geworben. Er ist ein herausragender Regisseur. Wir sind natürlich auch längst dabei, die besten Sängerinnen und Sänger zu engagieren. Unser neuer RING wird auch zyklisch zu sehen sein, bevor es an der Staatsoper dann eine neue Inszenierung gibt. Wenn wir nun zum letzten Mal den „Friedrich-RING“ spielen, wissen wir, dass wir 2020 erneut mit Es-Dur beginnen und in Des-Dur aufhören – und dazwischen eine Welt entdecken. Ulrich Amling, Frederik Hanssen

Ulrich Amling lebt als Kulturjournalist in seiner Heimatstadt Berlin. Im Feuilleton des Tagesspiegels ist er Redakteur mit dem Schwerpunkt Klassik, dazu verantwortlich für Ticket und Spielzeit, außerdem Weinexperte. Frederik Hanssen, geboren 1969 in Berlin, studierte Musikwissenschaft und französische Philologie in Berlin, Mailand und Clermont-Ferrand. Seit 1997 ist er Redakteur für klassische Musik im Feuilleton des Tagesspiegels.


Tod in Venedig Benjamin Brittens letzte, auf Thomas Manns Novelle basierende Oper ist zugleich seine persönlichste. In der Gestalt des Dichters Gustav von Aschenbach und seinem Ringen sowohl mit den eigenen unterdrückten Trieben als auch mit ihrer Sublimierung durch die Kunst spiegelt sich die eigene Lebenssituation des todkranken Komponisten. Darüber hinaus ist TOD IN VENEDIG aber auch eine Hommage Brittens an die Oper selbst und ihre 400-jährige Geschichte.

Weitere Vorstellungen: 22., 25. März; 23., 28. April 2017 Musikalische Leitung Donald Runnicles, Inszenierung Graham Vick, Bühne, Kostüme Stuart Nunn, Licht Wolfgang Göbbel, Choreografie Ron Howell, Chöre Raymond Hughes, Dramaturgie Curt A. Roesler Mit Paul Nilon, Seth Carico, Tai Oney, Alexandra Hutton, Katherine Manley, Meechot Marrero, Lisa Mostin, Joanna Foote, Maja Lange, Abigail Levis, Irene Roberts, Judit Kutasi, Alexandra Ionis, Michelle Daly, Jean Broekhuizen, Andrew Dickinson, James Kryshak, Robert Watson / Paul Kaufmann, Gideon Poppe, Attilio Glaser, Matthew Peña, Samuel Dale Johnson, Dong-Hwan Lee, John Carpenter, Alexei Botnarciuc, Philipp Jekal, Stephen Barchi Chor und Orchester der Deutschen Oper Berlin Präsentiert von Siegessäule sowie taz.die tageszeitung

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Tod in Venedig B. Britten 19. Mär. 2017


Venedig sehen und sterben Oper, Film und Literatur haben den Mythos der Lagunenstadt als Ort von Tod und Verfall geprägt

Der frühere Bürgermeister von Venedig, Massimo Cacciari, als studierter Philosoph ein literarisch hochgebildeter Mensch, hat vor einigen Jahren ein trotziges neues Schlagwort verkündet: „Thomas Mann vergessen!“ Oder genauer gesagt: Nicht mehr länger die Lagunenstadt stets und ständig mit Verfall, Krankheit und Tod in Verbindung bringen – wie es durch Thomas Manns Novelle „Der Tod in Venedig“ für Besucher aus nördlichen Gefilden geradezu sprichwörtlich geworden ist. Dass für diese unheilvolle Symbolik ein Landsmann Cacciaris, der Regisseur Luchino Visconti, nicht weniger verantwortlich war, blieb unerwähnt; dabei haben sich erst durch dessen Verfilmung der Mann‘schen Novelle ein für allemal auch die Bilder im visuellen Gedächtnis eingebrannt, die den morbiden Charme der Serenissima beschwören. Abzusehen war das alles nicht, als Thomas Mann im Frühsommer 1911 mit seiner Frau Katia erholungsuchend nach Venedig reiste und im exklusiven Hotel des Bains auf dem Lido abstieg. Venedig war – seit seinem ersten Besuch als 21-Jähriger – Manns erklärte Lieblingsstadt geworden; wie überhaupt die „besseren Kreise“ aus den Ländern Mitteleuropas nur allzu gern hierher kamen – vor allem zum Kuren auf dem Lido. Doch zugleich beschrieb Mann die Lagunenstadt als „das Excentrischste und Exotischste, was ich kenne“. Kein Wunder, denn schon damals, Ende des 19. Jahrhunderts, wirkte das besondere Flair Venedigs auf Künstler, Weltenbummler

und Zivilisationsflüchtlinge aus dem Norden auf mehrfache Weise faszinierend. Wer am Bahnhof S. Lucia den Zug verließ und am Canal Grande den Vaporetto bestieg, der tauchte ein in eine gänzlich entschleunigte Welt, wo die Sinne wieder Zeit hatten, all das Schöne um sich herum, die Pracht der Paläste, die Eleganz der Gondeln zu genießen. Nur dass die Schönheit gewaltig blätterte. Das hatte schon Lord Byron bemerkt, der um 1830 nach Venedig kam: „Still rudert, ohne Sang, der Gondolier, / Die Prachtpaläste bröckeln hin ins Meer, / Und selten schallt Musik mehr im Revier.“ Und auch der deutsche Romantiker und passionierte Italienreisende August von Platen dichtete in einem seiner „Sonette aus Venedig“: „Es scheint ein langes, ew’ges Ach zu wohnen / In diesen Lüften, die sich leise regen, / Aus jenen Hallen weht es mir entgegen, / Wo Scherz und Jubel sonst gepflegt zu thronen.“ Einst – und damit meinte Platen das 18. Jahrhundert – hatten hier tatsächlich „Scherz und Jubel“ triumphiert; der venezianische Karneval war zum Inbegriff der moralischen Zügellosigkeit geworden. Heerscharen von Kurtisanen boten sich den vielen Gästen aus fremden Ländern an. Und in keiner anderen Stadt als Venedig hätte Casanova derartig leicht seine erotischen Eroberungen adeliger Damen, koketter Dienstmädchen oder lüsterner Nonnen machen können. Mit dieser Form der Dekadenz war es jedoch spätestens

mit dem gewaltsamen Ende der Republik Venedig durch Napoleon 1797 vorbei; an ihre Stelle trat jene Form von Dekadenz, die sich aus den bröckelnden Fassaden der Paläste und dem fauligen Geruch der Kanäle speiste. Hinzu kam das stille Wasser der Lagune, das durch seine Spiegelungen der Serenissima etwas Zwei-Gesichtiges, wenn nicht gar Zwei-Deutiges gab – insgesamt also eine Mischung aus Trauer, Ekel und Faszination, zwischen denen sich die Poeten unter den Venedig-Reisenden hin- und hergerissen sahen. Und zu denen gehörten Henry James und Hermann Hesse ebenso wie Rainer Maria Rilke, Hugo von Hofmannsthal und Friedrich Nietzsche. Auch Thomas Mann ließ sich „infizieren“, so dass aus der [wahren] Begegnung mit einem bildhübschen polnischen Jüngling eine [fiktive] Novelle erwuchs, in der das Cholera-verseuchte Venedig die perfekte Kulisse für eine menschliche Tragödie bietet: die Verführung des hochgeehrten Poeten Gustav von Aschenbach durch das Dionysische, wie es sich in der rauschhafterotischen Zuneigung zu dem hübschen Tadzio widerspiegelt. Dass dieser Aschenbach nicht nur den Vornamen, sondern auch die Gesichtszüge des just 1911 in Wien verstorbenen Komponisten Gustav Mahler trägt, ist typisch für Manns Arbeitsstil, aus Mosaiksteinen der realen Welt seine poetische Fiktion zu weben. Ganz sicher hatte er dabei jedoch auch eine andere Venedig-Reminiszenz im Hinterkopf: jene an den


9 8 Szene aus Luchino Viscontis „Tod in Venedig“

© akg-images


Szene aus Nicholas Roegs „Wenn die Gondeln Trauer tragen“

abgöttisch verehrten Richard Wagner, der hier 50 Jahre zuvor den rauschhaften 2. Akt seines TRISTAN komponiert hatte und 1883 im Palazzo Vendramin gestorben war. Eine Steilvorlage bot dieser Bezug zu Gustav Mahler für Luchino Visconti, der in seinem Film „Morte a Venezia“ von 1971 die geniale Idee hatte, aus dem Dichter Gustav von Aschenbach einen Komponisten zu machen und zugleich Mahlers Musik als sinfonischen Soundtrack zu verwenden. Vor allem das harfenumspielte Adagietto aus der fünften Sinfonie vermischt sich hier kongenial mit den schwülen Bildern einer Stadt, deren Ruhe allzu trügerisch ist. Nur wenig später kam ein weiterer Venedig-Film in die Kinos, der die Schraube des Morbid-Unheimlichen noch weiter dreht. In Nicolas Roegs „Don’t look now“ geht es um düstere Todesvisionen, unheimliche Unglücksfälle und eine alte Lady mit dem zweiten Gesicht: ein poetisch angehauchter Horrorthriller, der ohne die Kulisse nebelverhangener Kanäle, düsterer Durchgänge und verlassener Kirchen kaum seine suggestive Wirkung entfacht hätte. Der deutsche Filmtitel „Wenn die Gondeln Trauer tragen“ verweist auf ein weiteres Symbol Venedigs, jenes dunkelschwarze Gefährt, dessen ambivalenter Bestimmung schon Platen ein kurzes Epigramm gewidmet hatte: „Liebendem Paar wohl dient zum Verstecke die venetische Gondel, / doch beim Leichengepräng dient sie zur Bahre dem Sarg.“ Gondel und Tod, das gehört ikonografisch untrennbar zusammen. Mark Twain hat es mit sehr viel drastischeren Worten als „tintenschwarzes, verschossenes altes Kanu mit einem mitten aufgesetzten Leichenwagenaufbau“ bezeichnet. Dem von der Antike geprägten Dichter Aschenbach kommen dagegen die Vergleiche mit der Barke des Fährmanns Charon in den Sinn, der die Toten über den Fluss Lethe in die Unterwelt befördert – so wie in Venedig

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die Verstorbenen mit der Gondel zur Friedhofsinsel San Michele gebracht werden. Bei Benjamin Britten, der in erstaunlicher zeitlicher Parallele zu den beiden Filmen 1970 mit der Arbeit an DEATH IN VENICE [deutsch: TOD IN VENEDIG] begonnen und drei Jahre später die Partitur fertiggestellt hat, sind all diese Bilder Venedigs zusammengeflossen. Die verlorene Unschuld, die Suche nach Schönheit, die Verführung durch das Chaos – deutlicher als alle anderen hat der Komponist allerdings noch eine weitere Facette berührt, die in der Faszination Venedigs immer mitgeschwungen hat: die Homosexualität. Trunken von der Schönheit und erotischen Freizügigkeit dieser Stadt, hatte August von Platen hier der Männerliebe ebenso gehuldigt wie später der Märchendichter Hans Christian Andersen. Und wo Thomas Mann seine eigene Betroffenheit noch durch antikische Verkleidung kaschierte, unterstrich Benjamin

Britten die wohlbekannten Parallelen zu seiner eigenen Lebenserfahrung. Die verführerische Gefahr junger Männer, als Thema in seinem privaten Leben wie in seinem musikalischen Oeuvre eine prägende Konstante, erlebt in TOD IN VENEDIG ihre letzte, abgeklärt-künstlerische Deutung. Doch im wahren Leben schafft Britten die Befreiung von den Dämonen: Gewidmet ist die Oper niemand anderem als seinem lebenslangen Partner, dem damals 63-jährigen Tenor Peter Pears. Michael Horst

Michael Horst arbeitet als Musikjournalist und Autor für Radio und Printmedien in Berlin. 2012 erschien in der Reihe „Opernführer kompakt“ des Henschel-Verlags, Leipzig, sein Band über Puccinis TOSCA; im März 2015 folgte in derselben Reihe ein Band über Puccinis TURANDOT.


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Der fliegende Holländer R. Wagner 7. Mai 2017 Der Fliegende Holländer Der Titelheld von Richard Wagners erster künstlerisch vollgültiger Oper ist ein Verfluchter, ein Getriebener, ein Außenseiter. Der mysteriöse Holländer sucht verzweifelt nach der ihn erlösenden Frau. Ist ­Senta die richtige? Eine Fahrt zwischen Traumbildern und Fantastik, Obsession und Projektion – mit dem Ziel der Erlösung durch die Liebe im Tod.

Weitere Vorstellungen: 11., 16., 20. Mai; 4., 10. Juni 2017 Musikalische Leitung Donald Runnicles, Inszenierung Christian Spuck, Bühne Rufus Didwiszus, Kostüme Emma Ryott, Chöre Raymond Hughes, Dramaturgie Dorothea Hartmann Mit Tobias Kehrer, Ingela Brimberg, Thomas Blondelle, Rebecca Raffell, Matthew Newlin / Gideon Poppe [20. Mai; Juni], Samuel Youn Chor und Orchester der Deutschen Oper Berlin Präsentiert von taz.die tageszeitung, kulturradio vom rbb und Wall AG



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Familie auf Zeit Seth Carico, Irene Roberts und Thomas Blondelle sind im Ensemble der Deutschen Oper Berlin – und heben ab zu großen Rollen

© Simon Pauly

Der Bassbariton Seth Carico stammt aus Chattanooga, Tennessee, und kam 2010 als Stipendiat an die Deutschen Oper Berlin. Er ist seit 2012/2013 festes Ensemblemitglied. Zu seinen wichtigsten Partien gehören Leporello in DON GIOVANNI, Figaro in DIE HOCHZEIT DES FIGARO, Dulcamara in DER LIEBESTRANK und Kassandra

Manchmal werden gerade die größten Überraschungen aus der Not geboren. Als die Bühne der Deutschen Oper Berlin 2014 wegen Renovierungsarbeiten nicht zur Verfügung stand, wich Regisseur David Hermann auf das Deck des Parkhauses aus und inszenierte dort, zwischen steil aufragenden Betonwänden, Iannis Xenakis’ Atriden-Tragödie ORESTEIA. Die Produktion wurde ein riesiger Erfolg, nicht zuletzt wegen Seth Carico. Der Bassbariton sang Kassandra, die bekanntlich alles Unheil für Troja kommen sieht. Der Tagesspiegel schrieb damals: „Carico, anzuschauen wie ein heiliger Sebastian, vollbringt vokale Bravourstücke, die zugleich emotional anrühren.“ Heute sagt der 35-Jährige aus Tennessee, der vor sieben Jahren ins Ensemble der Deutschen Oper kam, dass er ohne die Unterstützung eben jenes Ensembles die Rolle womöglich gar nicht angenommen hätte. Denn er stand damals vor einer schwierigen Wahl: einen der Geharnischten in der ZAUBERFLÖTE zu singen, also mitzumachen bei einer der populärsten Opern überhaupt vor Tausenden von Menschen in der Waldbühne – oder eine höllisch schwere Partie in einem zeitgenössischen Stück, bei dem völlig unklar ist, ob und wie es beim Publikum ankommt. Erst nach einigen hilfreichen Gesprächen, vor allem mit seinem erfahrenen Sängerkollegen Burkhard Ulrich, stand seine Entscheidung.

in O ­ RESTEIA, für die er für den Deutschen Theaterpreis „Der Faust“ nominiert wurde. Gastspiele führten ihn zum Teatro Regio Torino, den BBC Proms in London und an die Staatsoper Hamburg.

Es war eine mit Tragweite. ORESTEIA hat Caricos Leben verändert. Nicht nur, weil er für ­einen


15 14 Seth Carico in DON GIOVANNI

Faust-Preis nominiert wurde. „Die Deutsche Oper wusste jetzt auch, dass man mir solche schwierigen Rollen anvertrauen kann“, sagt er. Und das kommt ihm sehr entgegen. Denn eigentlich liebt Carico Experimente, entlegene Grenzgänger-Rollen, überhaupt Risiko, physisch wie emotional. Wie in DON GIOVANNI, wo er als athletischer Leporello über die Bühne rennt und turnt. Oder als Versace-Mörder Andrew Cunanan in der Trance-Pop-Oper GIANNI von Brandt Brauer Frick in der Tischlerei. In Brittens TOD IN VENEDIG, seiner nächsten Premiere im März, wird er gleich sieben Rollen übernehmen. Carico testet leidenschaftlich gerne neue Sachen aus, aber gerade deshalb sind ihm Rückhalt und Sicherheit, wie sie große Ensembles bieten, so wichtig. Dazu zählt er nicht nur die Sängerinnen und Sänger, sondern alle, die an einer Produktion beteiligt sind: Dramaturgen, Regieassistenten oder Sound Director wie bei GIANNI. Sie sind die Basis, von der aus solche Experimente überhaupt erst möglich werden. Das Ensemble: eine Spezialität der deutschsprachigen Länder, die anderswo, in Italien oder Frankreich etwa, nicht existiert oder nur in Ausnahmefällen, etwa an der Comédie Française. Der Grund ist natürlich ein historischer: die reichhaltige, weltweit einmalige Theaterlandschaft in Deutschland, die aus gutem Grund 2014 in das bundesweite Verzeichnis des immateriellen Kulturerbes aufgenommen wurde, entstand als willkommener Nebeneffekt der Jahrhunderte

© Bettina Stöß

alten Zerstückelung in teils winzige, teils größere Herrschaftsterritorien. Jedem Fürst sein Theater, und jedem Theater seine eigene Truppe, die zur Keimzelle der Ensembles wurden, wie es bis heute an deutschen Theatern Standard ist. Denn nur mit ihnen lässt sich das so genannte Repertoiresystem verwirklichen, bei dem in dichter Folge jeden Abend ein anderes Stück gezeigt wird. In Ländern mit Stagione-System kann sich dagegen kein dauerhaftes Ensemble bilden. Die Theater spielen hier ein einziges Stück mehrere Wochen lang durch, danach reisen die meisten Beteiligten wieder ab. Das Ensemble der Deutschen Oper Berlin ist mit rund 30 Sängerinnern und Sängern [plus acht Stipendiaten] das größte in Berlin. Es ermöglicht dem Haus, Neben- und Hauptrollen aus den eigenen Reihen zu bestücken und dann zum Beispiel eine Grand Opéra wie Meyerbeers DIE HUGENOTTEN stemmen zu können, die kleine-

re Häuser schnell an ihre Grenzen bringt. Dass die Deutsche Oper trotzdem für Hauptrollen regelmäßig auch gastierende Sängerstars wie Anja Harteros als Tosca oder Klaus Florian Vogt als Lohengrin verpflichtet, ist kein Widerspruch dazu, sondern macht die Attraktivität des Hauses aus. Ensemblesänger können in diesem Umfeld wachsen und reifen. Berühmtestes zeitgenössisches Beispiel einer solchen Künstlerin, die ihre Weltkarriere in einem Ensemble gestartet hat, ist natürlich Anna Netrebko, die Mitte der neunziger Jahre beim Petersburger Mariinski-Theater entdeckt wurde. „Einem Ensemble anzugehören ist eine großartige Gelegenheit, Renommee aufzubauen“, sagt Seth Carico. Und Zugang zu finden zum Wissens- und Erfahrungsschatz der erfahrenen Mitglieder. Bariton Markus Brück zum Beispiel ist für Carico nicht nur Freund, sondern auch Vertrauter, Mentor und Stimmlehrer, „der für mich wichtigste Mensch im Ensemble der Deutschen Oper.“

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„Denn der Götter Ende dämmert nun auf.“ Zum letzten Mal: Wagners DER RING DES NIBELUNGEN in der legendären Inszenierung von Götz Friedrich 1. – 17. April 2017


© Bettina Stöß


Die Mezzosopranistin Irene Roberts stammt aus Nordkalifornien. Seit der Spielzeit 2015 / 2016 ist sie Ensemblemitglied der Deutschen Oper Berlin und war hier bislang unter anderem als Cherubino in DIE HOCHZEIT DES FIGARO, Siebel in FAUST, Urbain in DIE HUGENOTTEN und in der Titelpartie in CARMEN zu erleben. ­ In ihrer Paraderolle kehrte sie auch an die San Francisco Opera zurück, wo sie in ­einer Neuproduktion von HOFFMANNS ­E RZÄHLUNGEN debütiert hatte. An der Metropolitan Opera New York sang sie ­bereits Partien in DIE HOCHZEIT DES ­FIGARO und PARSIFAL.

Irene Roberts in DIE HUGENOTTEN

Nicht jeder denkt wie Carico. Irene Roberts, Amerikanerin auch sie, nimmt kein Gefälle wahr zwischen denen, die neu ins Ensemble kommen, und denen, die schon lange dabei sind. „Wir fühlen uns hier alle gleich“, sagt die Mezzosporanistin, das Wort „equals“ benützend. Roberts stammt aus Nordkalifornien, sang 2012/13 an der Met in New York und kam 2015 ins Ensemble der Deutschen Oper. „Ich habe mich hier von Anfang an unglaublich willkommen gefühlt“, erzählt sie. An der Bandbreite ihrer Rollen lässt sich gut ablesen, wie junge Sänger in einem Ensemble an den Herausforderungen wachsen können: Sie war als Fenena in NABUCCO zu hören und als Page in DIE HUGENOTTEN, hat aber auch Hauptrollen wie Carmen und Rosina im BARBIER VON SEVILLA gesungen. Experte in Sachen Ensemble ist auch Thomas Blondelle. Denn er kennt schon zwei. Bevor der belgische Tenor 2009 an die Deutsche Oper kam, war er am Staatstheater Braunschweig beschäftigt. „Ich hatte die Wahl“, scherzt er, „ob ich im Brüsseler Opernstudio von La Monnaie den dritten Baum links singen wollte – oder in Braunschweig Alfredo. Anfangs war das fast zu viel. Ich wurde regelrecht auf die Bühne geschmissen.“ Aber die Erfahrungen, die er damals gemacht hat, waren unschätzbar wertvoll. Alle drei greifen zu ähnlichen Worten, um das EnsembleFeeling zu beschreiben: „Familie“ [Seth Carico], „sich auf der Bühne wohlfühlen“ [Irene Roberts], „Zuhause fühlen“ [Thomas Blondelle]. Emotional

© Bettina Stöß

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sehr positiv besetzte Begriffe, die eine Korona aus Wärme, Geborgenheit und Sicherheit ausstrahlen. „Ich schwärme überall auf der Welt vom ­Ensemblegedanken“, erzählt Blondelle. Dabei weiß er natürlich aus eigener Anschauung, dass die Theaterarbeit an einem eher kleineren Ort wie Braunschweig auch hart sein kann. Andererseits ist man dort, anders als in einer Metropole wie Berlin, viel eher Teil der Stadtgesellschaft. Publikum und Sänger begegnen sich beim Bäcker, halten ein Schwätzchen miteinander, was auch Sinn der Sache ist. Theater braucht Identifikation, und die wird vor allem dann ermöglicht, wenn sich Publikum und Künstler kennen. Das nur nebenbei an die Adresse derjenigen Kultusminister, die in der Zusammenschweißung von teilweise 100 Kilometer entfernten Häusern zu einem Theaterverbund den Heilsbringer für ihren Landeshaushalt sehen wollen.

Trotz aller Vorteile streben viele Sänger alles an, nur nicht, in ein Ensemble zu gehen. Wenn Thomas Blondelle überall erzählt, wie großartig die Ensembleidee sei, muss man ehrlicherweise auch erwähnen, dass ihm oft die Antwort „Das ist doch fürchterlich“ entgegenschlägt. Es ist wohl eine Frage des individuellen Charakters: Wer gerne ungebunden ist und ins Freie, Offene strebt, wird sich ungern in die Ketten eines Ensembles legen lassen. Wie die meisten Biografien ist auch eine Sängerkarriere von der Abwägung, vom Austarieren zweier Prinzipien geprägt: Freiheit und Sicherheit. Die Deutsche Oper ermöglicht es ihren Ensemblemitgliedern deshalb – ja, sie ermuntert sie geradezu –, immer wieder auswärts Engagements anzunehmen, sofern die Planung des Hauses das zulässt. „Man bekommt so die Möglichkeit, sich zu dehnen und zu strecken“, sagt Seth Carico.


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Der belgische Tenor Thomas Blondelle gab 2003 als Hans Scholl in DIE WEISSE

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ROSE am Théâtre Royal de la Monnaie in Brüssel sein Operndebüt sang er erstmals 2009 an der Deutschen Oper Berlin, der er seither als Ensemblemitglied angehört. Er übernahm hier etliche große Rollen seines Fachs wie den Tamino in DIE ZAUBER­ FLÖTE, den Prinz en in DIE LIEBE ZU DEN DREI ORANGEN und den Male chorus in DIE SCHÄNDUNG DER LUCRETIA. Er ­gastierte unter anderem am Grand T ­ héâtre de la Ville de Luxembourg, an der Vlaamse Opera, der Opéra National du Rhin in Strasbourg sowie am Staats­t heater ­Wiesbaden.

Thomas Blondelle in DIE SCHÄNDUNG DER LUCRETIA

Thomas B ­ londelle singt zur Zeit, neben Berlin, sogar in zwei weiteren Städten: in Wiesbaden als Belmonte [DIE ENTFÜHRUNG AUS DEM SERAIL] und in Stuttgart als Erik im FLIEGENDEN HOLLÄNDER] – eine Rolle, die er auch bei der Premiere in Berlin im Mai singen wird. Gastauftritte sind seiner Meinung nach eine Win-Win-Situation: „Wenn ich zum Beispiel in New York auftrete und im Programmheft steht, dass ich dem Ensemble der Deutschen Oper Berlin angehöre, dann fällt dieser Glanz ja auch auf das Haus zurück“, sagt er. Wer sich entschieden hat, in ein Ensemble gehen zu wollen, sollte sich fragen: Bin ich der Typ dazu? Welche Charakterzüge muss ich mitbringen? „Ein großes Ego ist definitiv nicht hilfreich“, meint Irene Roberts. Eher das Gegenteil sei angebracht: Eine Portion Bescheidenheit [„Humility“], der Wille, hart zu arbeiten, keine Primadonna sein zu wollen – und sich gegenseitig zu unterstützen. Thomas Blondelle sekundiert: Kollegialität ist für ihn das zentrale Wort. Dazu gehört natürlich, als Vertretung einzuspringen, wenn jemand, aus welchen Gründen auch immer, ausfällt. Ein Ensemble ist kein statisches Gebilde. Es fluktuiert, nach ein paar Jahren werden Festverträge geändert, oft in Gastverträge. Vier Sänger im Ensemble der Deutschen Oper sind inzwischen unkündbar. Wie sehen das die Jüngeren: Ist die Arbeit im Ensemble ein Finalpunkt, © Simon Pauly

© Marcus Lieberenz

an dem man, einmal erreicht, möglichst lange festhält? Oder eine Stufe hin zu Höherem? Drei Sänger, drei Meinungen: Seth Carico erklärt mit überzeugend aufgerissenen Augen: „Ich würde liebend gerne mein ganzes Leben an diesem Haus verbringen.“ Irene Roberts hingegen ist sich ziemlich sicher: Nach vier bis fünf Jahren hat sie im Ensemble alles gelernt, was es zu lernen gibt. Dann möchte sie weiterziehen, was in ihrem Fall heißt: Zurück nach Amerika, wo ihre Familie lebt. Und Thomas Blondelle? Der formuliert es eher diplomatisch: „Ich möchte vor allem ein guter Sänger werden.“ Wo, das lässt er offen. Für sein aktuelles Heimathaus, die Deutsche Oper, hat er jedenfalls ein dickes Lob parat, genauer gesagt für ihr Publikum. Das würde nämlich auch bei eher unbekannten Fünf-Stunden-Stücken wie den HUGENOTTEN begeistert mitgehen und zugleich so aufmerksam sein, dass man als Sänger ständig wachsam und selbstkritisch bleiben müsse. Definitiv ein guter Grund, möglichst lange in Berlin zu bleiben. Udo Badelt

Udo Badelt, Kulturjournalist, studierte Germanistik und Geschichte in Düsseldorf und Berlin. Volontariat bei der Märkischen Oderzeitung in Frankfurt [Oder]. Er arbeitet regelmäßig für den Berliner Tagesspiegel und die Fachzeitschrift „Opernwelt“.


Boris Godunow Mussorgskij 17. Jun. 2017 Boris Godunow Politische Prozesse um die Macht und Ohnmacht individuellen Handelns stehen im Zentrum von Modest Mussorgskijs einziger vollendeter Oper BORIS GODUNOW. Von äußeren Feinden bedrängt, scheitert die Herrschaft des Zaren Boris letztlich an dessen Gewissensnot über die Ermordung des jungen Zarewitsch, die ihn einst auf den Thron brachte.

Weitere Vorstellungen: 23., 27. Juni; 1., 4., 7. Juli 2017 Musikalische Leitung Kirill Karabits, Inszenierung Richard Jones, Bühne Miriam Buether, Kostüme Nicky Gillibrand, Chöre Raymond Hughes, Dramaturgie Sebastian Hanusa Mit Ain Anger, Alexandra Hutton, Ronnita Miller, Burkhard Ulrich / Clemens Bieber [4., 7. Juli], Markus Brück / DongHwan Lee [Juli] , Ante Jerkunica, Robert Watson, Ievgen Orlov / Alexei Botnarciuc [23. Juni; 4., 7. Juli], Annika Schlicht, Jörg Schörner, Matthew Newlin, Andrew Harris, Stephen Bronk, Samuel Dale Johnson Chor und Orchester der Deutschen Oper Berlin Eine Koproduktion mit dem Royal Opera House Covent Garden, London Präsentiert von taz.die tageszeitung sowie kulturradio vom rbb


BORIS GODUNOW ist ein Stück über das russische Volk und seine Herrscher. Marina Dawydowa wirft einen Blick auf das Entstehen der russischen Autokratie

In jedem Lehrbuch zur russischen Geschichte findet sich die Formulierung: „Der Weg von den Warägern zu den Griechen“. Sie ist leicht zu entschlüsseln. Die aristokratische Obrigkeit des Alten Russland [oder genauer: der Alten Rus] stammte vor allem von Skandinaviern ab, von den sogenannten Warägern. Sie lebten an der Ostseeküste und nutzten bereits am Ende des ersten Jahrtausends die Wolga und den Dnepr für engen Handel mit Byzanz. Im 9. und 10. Jahrhundert, als das russische Staatswesen gerade erst entstand, war das mächtige Imperium am Bosporus bereits eines der hoch entwickelten Länder der Erde, und sein Einfluss auf den jungen russischen Staat erwies sich als äußerst nützlich: Die Alte Rus war ein durchaus fortschrittliches Land, und die Orientierung nach Byzanz sowie die Einführung des Christentums als Staatsreligion im Jahr 988 verhinderten seine Abschottung gegenüber der westlichen Welt. Denn trotz der Kirchenspaltung von 1054 blieb der Kontakt zwischen der orthodoxen und der römisch-katholischen Kirche sehr eng. Ab Mitte des 13. Jahrhunderts jedoch nahm die russische Geschichte einen grundlegend anderen Verlauf. Die Truppen des mongolischen Herrschers Batu Khan führten einen ausgedehnten Feldzug gegen Russland. Mit diesem Überfall begann das sogenannte tatarisch-mongolische Joch, das fast zweieinhalb Jahrhunderte andauerte. Ein Großteil des Landes wurde niedergebrannt und immer wieder ausgeraubt. Noch folgenreicher als die Zerstörung aber war die Ausprägung ei-

BORIS GODUNOW, Szene aus der Produktion

© Ivor Kerslake

des Royal Opera House Covent Garden und der Deutschen Oper Berlin

nes bestimmten politischen Machtbewusstseins in dem Teil des Landes, der lange Zeit unter der Mongolenherrschaft stand – das der absoluten autoritären Herrschaftsform.

Autoritäre Herrschaft nach asiatischem Muster In den nordwestlichen Teilen des Landes, die nicht von der „Goldenen Horde“ besiegt werden konnten oder nach vergleichsweise kurzer Zeit wieder zurückerobert wurden [Pskow, Nowgorod, das Territorium des heutigen Litauen, die Ukraine, Weißrussland], konnte sich die autoritäre Herrschaftsform nicht durchsetzen. Die Bürger von Nowgorod und Pskow empfanden sich weiterhin als Subjekte der Politik, alle wichtigen Fragen wurden auf Volksversammlungen entschieden, der sogenannten Wetsche. Mitte des

15. Jahrhunderts, als die Mongolenherrschaft allmählich zu Ende ging, gehörten zu Russland jene Länder, die sich um das erstarkte Moskau gruppiert hatten, eine zuvor unbedeutende Siedlung im Zentrum des osteuropäischen Tafellands. Das Moskauer Großfürstentum hatte die russischen Fürstentümer im Kampf gegen die Unterdrücker vereint, nach dem Sieg über die Goldene Horde aber deren Herrschaftsform übernommen. Es wurden keinerlei gesellschaftliche Kontrollinstanzen zugelassen, wie sie beispielsweise das Byzantinische Reich kannte: dort gab es neben dem Kaiser, den traditionell das Volk wählte, noch einen unabhängigen Patriarchen und den Senat. Im Moskauer Großfürstentum verschwanden sämtliche Institutionen, die den Monarchen kontrollieren konnten, und es wurden alle Traditionen abgeschafft, die eine Äußerung des Volkswillens ermöglichten. Es

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Der lange Schatten der Tataren


Boris Godunow, Gemälde aus dem 17. Jahrhundert

verfestigte sich die Idee einer autoritären Herrschaftsform nach asiatischem Muster, wonach es nur einen Menschen gibt [den Zaren], der über alle bestimmt, während alle anderen [unabhängig von ihrer Herkunft] seine Sklaven sind. Zugleich sah man sich als orthodoxe Großmacht und entwickelte eine Art messianisches Sendungsbewusstsein. Zwei Ereignisse beförderten dies. 1453 eroberten die Türken Konstantinopel. Kurz zuvor war auf dem Florentiner Konzil eine Union zwischen der griechisch-orthodoxen und der römisch-katholischen Kirche geschlossen worden, und der Patriarch von Konstantinopel hatte sich auf dieses Bündnis eingelassen, weil er sich dadurch eine Unterstützung des Westens im Kampf gegen die Türken erhoffte [vergeblich, wie sich herausstellen sollte]. Die russischen Bischöfe lehnten diese Union kategorisch ab, denn sie sahen darin eine Erniedrigung der orthodoxen Kirche. Vor dem Konzil waren die Moskauer Metropoliten stets vom Patriarchen von Konstantinopel bestimmt worden. 1448 verjagten die russischen Bischöfe das von Konstantinopel eingesetzte geistliche Oberhaupt, wählten ein eigenes und erklärten die vollständige Unabhängigkeit [Autokephalie] der russischen orthodoxen Kirche. Die Argumente der russischen Bischöfe waren folgende. Das Byzantinische Reich gab es nicht mehr, seine Hauptstadt war gefallen. Schuld daran war in ihren Augen die Union mit der Katholischen Kirche. Es blieb nur noch eine wahrhaft orthodoxe Macht übrig – das Moskauer Großfürstentum. Und aus ihr würde das neue Byzanz werden. Sie allein würde den reinen Glauben verteidigen. „Moskau ist das Dritte Rom“ – hieß die Devise von Iwan III. [1440-1505], während dessen Regentschaft sich Moskau endgültig als Hauptstadt der russischen Fürstentümer etablierte. Durchaus symbolisch war in dieser Hinsicht seine Heirat mit Sofia Palaiologa, der Nichte des letzten byzantinischen Kaisers Konstantin XI. Nicht von ungefähr übernahm Iwan III. auch das byzantinische Wappen, den Doppeladler, der seit dieser Zeit zum Wappen des russischen Staates wurde.

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Unter der Herrschaft seines Sohnes Wassili III. verfestigte sich die Vorstellung von Moskau als Drittem Rom und der absoluten Macht des Monarchen. In einem Abkommen mit dem römischen Kaiser Maximilian I. wurde Wassili III. 1514 zum ersten Mal als „Zar von Russland“ bezeichnet, was ihn mit besonderem Stolz erfüllte. Wassili war zutiefst davon überzeugt, dass seine Macht durch nichts eingeschränkt werden dürfe. Seine Untertanen, die Bojaren, bezeichnete er nicht mehr als Diener, sondern als Hörige [sogenannte Smerds, die unterste soziale Schicht in Russland vor der Mongolenherrschaft]. Für Schmähungen seiner Person ließ er ihnen die Zunge abschneiden. Auch auf die russische Kirche nahm er keinerlei Rücksicht mehr.

vor der Unterwerfung ihrer Städte durch Moskau abwechselnd in die neue Hauptstadt gereist waren, um sich beim Moskauer Großfürsten, den sie ihren „Landesherrn“ nannten, übereinander zu beschweren: ebenso hatten sich während der Mongolenherrschaft die einzelnen Landesfürsten verhalten, indem sie sich beim Khan der Goldenen Horde übereinander beklagten. Mit anderen Worten – der Moskauer Großfürst wurde quasi zum neuen „Khan“ und das Moskauer Großfürstentum war politisch von einer Art orthodoxem Messianismus mit mongolischem Anstrich bestimmt. Es empfand sich als Erbe des Byzantinischen Reiches, hatte aber zugleich viele Merkmale jener asiatischen Macht übernommen, der es einst unterworfen war.

Moskau als drittes Rom

Iwan IV. [1530-1584], Sohn des Großfürsten Wassili III. und als Iwan der Schreckliche in die Geschichte eingegangen, verkörpert diese Besonderheiten des russischen Absolutismus auf besonders markante Weise. Es mag paradox erscheinen, aber Iwan der Schreckliche begann seine Herrschaft als Reformator. Er berief als erster Regent in der russischen Geschichte eine Ständeversammlung ein, den sogenannten Semski sobor, vergleichbar mit einem westeuropäischen Parlament. Er führte eine Art Selbstverwaltung ein, die es den bäuerlichen Gemeinden erlaubte, ihre Vertreter und die Richter eigenständig zu wählen. Er versuchte also zunächst, das Erbe der Mongolenherrschaft zu überwinden und das Land auf polnisch-litauische Art zu reformieren. Aber sein Drang nach Reformen hielt nicht lange vor. Bereits in den sechziger Jahren wurden seine Umgestaltungen schrittweise zurückgenommen. Iwan schwor dem Geist seiner

Zugleich dehnte sich das Moskauer Großfürstentum territorial weiter aus. 1480 hatte sich Iwan III. endgültig geweigert, den Khans der Goldenen Horde Tribut zu zahlen, darum gilt dieses Jahr offiziell als Ende der Mongolenherrschaft. Doch der Kampf gegen die Goldene Horde wurde durch den Konflikt zwischen dem Moskauer Großfürstentum und seinen westlichen Gebieten abgelöst, wobei Moskau allmählich die Rolle der Goldenen Horde übernahm. Exemplarisch dafür ist das Schicksal von Nowgorod und Pskow. Beide Städte hatten ihre Autonomie und die republikanische Regierungsform auch im 15. Jahrhundert noch bewahren können, doch schließlich wurden auch sie von Moskau erobert, womit sie ihre bürgerlichen Rechte endgültig verloren. Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass die Bojaren von Nowgorod und Pskow noch


zum Vormund von Fjodor I. [1557-1598] bestimmt worden, dem geistig zurückgebliebenen Sohn Iwans des Schrecklichen. Unter Boris Godunow wurden so viele Städte und Festungsanlagen gebaut wie nie zuvor. Moskau erlebte unerhörte Modernisierungen, wie zum Beispiel den Einbau der ersten Wasserleitung im Kreml. Während seiner Regentschaft begann eine Annäherung Russlands an den Westen, die von Iwan dem Schrecklichen praktisch gestoppt worden war. Welch ein Paradoxon: Iwan der Schreckliche, auf dessen Konto unzählige Morde gehen, ist im Bewusstsein des Volkes bis heute der große Zar, Boris Godunow hingegen gilt als blutiger Kindermörder. Das Gerücht über sein angebliches Verbrechen kam 1601 auf, als es nach verfrüht einsetzendem Frost eine große Hungersnot im Land gab.

BORIS GODUNOW, Ain Anger [Pimen] in der Produktion

© Ivor Kerslake

des Royal Opera House Covent Garden und der Deutschen Oper Berlin

eigenen Reformen ab und führte den russischen Absolutismus ins wahrhaft Absurde. In einem Land, das gerade die ersten Schritte in Richtung einer bürgerlichen Gesellschaft unternahm, installierte Iwan der Schreckliche einen eigenen, nur ihm unterstellten Machtbereich. Er erklärte die reichsten Gebiete zu seinem Eigentum und nannte diesen Teil des Landes „Opritschnina“, die restlichen Teile bezeichnete er als „Semschtschina“. In der Semschtschina blieben die Selbstverwaltung und das Bojarentum erhalten. Bojaren, die ihre Ländereien in der Opritschnina besaßen, wurden verjagt und in die Semschtschina umgesiedelt. Ihre Besitztümer gingen an den Zaren über, wer sich wehrte, wurde hingerichtet. Die Bojaren als Leibwache ersetzte Iwan der Schreckliche durch eine Armee von Freibeutern, die aus den verschiedensten Teilen der Gesellschaft kamen – Kosaken, niederer Adel mit zweifelhafter Vergangenheit, ausländische Söldner, einfache Kriminelle. Diese Leute wurden Opritschniki genannt. Sie plünderten und verwüsteten die Semschtschina, genauso wie es die tatarisch-mongolischen Horden mit Russland getan hatten. Sie vergewaltigten die Mädchen und Frauen, töteten die Männer. Als Iwan der Schreckliche zum Zaren gekrönt wurde, gab es in Russland zweihundert Bojarengeschlechter, als er starb, waren es noch fünfzehn. Das Land war völlig verwüstet.

Das russische Volk ertrug die vielen Hinrichtungen und Grausamkeiten unter Iwan dem Schrecklichen und unternahm nicht einen Versuch, sich ihm zu widersetzen. Die vorangegangenen Jahrzehnte hatten in den Bürgern des Landes jegliches Selbstbewusstsein zerstört. Geblieben war nur Angst.

Ein aufgeklärter Zar In diesem Zustand befand sich Russland, als Boris Godunow die Herrschaft übernahm. Sein Schicksal wird in unserer Dramatik ähnlich behandelt, wie das Schicksal Richard III. in der englischen Dramatik. Der historische Richard und jener Bösewicht aus Shakespeares Theaterstücken haben wenig miteinander gemein. Auch Boris Godunow wird in Puschkins Tragödie [und dementsprechend auch in Mussorgskis Oper] vor allem als Mörder von Dimitri dargestellt, des Sohns von Iwan dem Schrecklichen. Dabei ist keineswegs erwiesen, dass Boris Godunow an der Verschwörung gegen den minderjährigen Zarensohn beteiligt war, und viele namhafte Historiker sind davon überzeugt, dass ihn keinerlei Schuld trifft.

An dieser Stelle ist wichtig daran zu erinnern, dass Boris Godunow kein Blutsverwandter von Iwan dem Schrecklichen war. Er war kein Thronerbe, sondern zum Zaren gewählt worden. Darum hielt ihn das Volk nicht für einen „vollwertigen“ Monarchen, denn zu dieser Zeit hatte sich in Russland schon der Gedanke verfestigt, dass nur ein „gebürtiger“ Zar Gottes Segen haben kann. Daraus erklärt sich auch der Erfolg von Grigori Otrepjew, jenes entlaufenen Mönchs, der sich als Zarensohn ausgab und als „falscher Dimitri“ in die Geschichte eingegangen ist. Ihm folgte noch eine ganze Reihe ähnlicher Abenteurer. Diese Anmaßung eines falschen Titels [es gab in Russland bis ins 20. Jahrhundert hinein noch einige solcher Fälle] ist ein Phänomen, das die Idee des Absolutismus mit asiatischem Anstrich besonders sinnfällig macht. Über Jahrhunderte hinweg hat das Volk, wenn es mit seinen Herrschern unzufrieden war, sich nicht für Instanzen eingesetzt, die den Zaren kontrollieren könnten, es hat immer nur für den guten [sprich: echten] Zaren gekämpft und gegen den schlechten [sprich: unechten]. Der Monarch ist der alleinige Herrscher über das Land, alles hängt allein von ihm ab – dieser Gedanke hat sich im Bewusstsein des russischen Volkes festgesetzt, seit sich das Moskauer Großfürstentum an der Goldenen Horde orientierte. Und in gewisser Hinsicht lebt er bis heute weiter. Marina Dawydowa

Marina Davydova ist Theaterkritikerin, -historikerin und -produzentin. Sie war Theaterkritikerin der Zeitung „Iswestja“ und ist Chefredakteurin der Zeit-

In Wirklichkeit war Boris Godunow einer der aufgeklärtesten und tatkräftigsten Monarchen Russlands. Formal dauerte seine Herrschaft nur sieben Jahre [von 1598 bis 1605], tatsächlich aber regierte er erheblich länger, denn er war

schrift „TEATR“, künstlerische Leiterin des Moskauer Net-Festivals und war Programmdirektorin der Wiener Festwochen 2016. Für ihre Arbeit erhielt sie zahlreiche Auszeichnungen, darunter den StanislawskiPreis für die beste Buchpublikation.



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Der Liebestrank G. Donizetti 23. Mai 2017 Weitere Vorstellung: 27. Mai 2017 Musikalische Leitung Moritz Gnann, Inszenierung Irina Brook, Bühne Noëlle Ginefri, Kostüme Sylvie Martin-Hyszka, Licht Arnaud Jung, Chöre Thomas Richter, Choreografie Martin Buczkó Mit Seth Carico, Thomas Lehman, Roberto Alagna, Aleksandra Kurzak, Alexandra Hutton, Björn Struck Chor und Orchester der Deutschen Oper Berlin

Symbol der Liebe In Donizettis LIEBESTRANK steht das Ehepaar Roberto Alagna und Aleksandra Kurzak gemeinsam auf der Bühne

Treffpunkt Künstlergarderobe von Roberto Alagna. Direkt nach der CARMEN-Vorstellung Ende Dezember 2016. Kaum kommt der Tenor nach dem Schlussapplaus herein und will sich auf einen Stuhl niederlassen, piept schon ungeduldig sein Smartphone. Am anderen Ende per Facetime auch visuell aus Paris zugeschaltet: Aleksandra Kurzak, vielgefragte Sopranistin und seit November 2015 Ehefrau des Sängers. Sofort beginnt ein schnelles Duett in Worten, in das sich als Dritter noch Robertos Arzt , direkt neben ihm stehend, einschaltet – größtenteils auf Französisch, von Alagna aber immer wieder für seine Frau ins Italienische übersetzt. Worum es geht? Natürlich um das Thema aller Themen bei Sängern: die Stimme. Denn bei Alagna ist sie bereits seit Wochen leicht lädiert, so dass er fast schon absagen wollte. Doch an diesem Abend haben ihn Disziplin, Wille und reichlich Endorphine erfolgreich über alle Stimm-Klippen manövriert.

Der Liebestrank Adina und Nemorino lieben sich, trauen sich aber nicht, einander ihre Liebe zu gestehen. Erst eine verstohlene Träne Adinas verrät Nemorino, dass seine Liebe erwidert wird. Dabei bleibt stets die Möglichkeit gegenwärtig, dass auch alles ganz anders hätte kommen können. Denn im wirklichen Leben lösen sich Missverständnisse und Zufälle nicht immer so in Wohlgefallen auf.

Die Polin Aleksandra Kurzak und der Italo-Franzose Roberto Alagna – das neue Vorzeigeduo im internationalen Opernbusiness. Und wild entschlossen, so drückt es der Tenor aus, so oft wie möglich zusammen aufzutreten: „Wenn wir nicht zusammen singen, ruinieren wir unser Privatleben.“ Will heißen: Singt der eine hier und der andere dort, sehen sie sich für Wochen möglicherweise höchstens über Facetime. Und das wollen sie auf jeden Fall vermeiden. So kommt Alagna schnell auf mehr als eine Handvoll Opern, in denen sie demnächst gemeinsam auftreten wollen, so Puccinis TURANDOT an der Royal Opera Covent Garden in London im kommenden Juli [mit Aleksandra als Liù], danach Offenbachs HOFFMANNS ERZÄHLUNGEN in München [mit Aleksandra in den vier Frauenrollen]. Dort haben sie im letzten Jahr bereits mit Halévys LA JUIVE [DIE JÜDIN] einer Rarität des Repertoires gemeinsam zu neuem Glanz verholfen. Später


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© Kasia Paskuda

sollen dann im Duo noch OTELLO, DER BAJAZZO und auch wieder LA BOHEME folgen. Und immer wieder L’ELISIR D’AMORE, Donizettis unverwüstlicher LIEBESTRANK, der zum Dreh- und Angelpunkt im Leben des Paares Kurzak/Alagna geworden ist – zu „unserem Symbol der Liebe“, wie es der Tenor sehr poetisch ausdrückt. Bei einer Aufführungsserie in London im November 2012 lernten sich die beiden kennen und lieben, und zwischen zwei Aufführungen in Paris drei Jahre später jetteten sie kurz nach Warschau, in Aleksandras Heimat, um dort den Bund fürs Leben zu schließen. Für Roberto ist es – nach einer tragisch kurzen Ehe in den frühen 1990er Jahren und der turbulenten Beziehung zu der Sopran-Diva Angela Gheorghiu – die dritte Ehe. Und der Liebestrank scheint den heute 52-Jährigen offensichtlich spürbar zu verjüngen; insofern passt die Rolle des verliebten jungen Mannes Nemorino, der die arrogante Pächterin Adina anschmachtet, erstaunlich gut. „Das Geniale an dieser Rolle ist, dass Nemorino nie lächerlich wirkt“, stellt Alagna klar. Doch die

Schwierigkeiten seien nicht zu unterschätzen: Nemorino hat viel zu singen, dazu braucht es durchgehend einen geschmeidigen Tenor mit lyrischer Höhe. Noch vor der Hochzeit kam 2014 die gemeinsame Tochter Malèna zur Welt, der Alagna im vergangenen Jahr ein CD-Album gleichen Namens mit einem Streifzug durch die italienische Volksmusik gewidmet hat. Wie oft er schon als Nemorino aufgetreten ist, welche Rolle er am meisten gesungen hat, wieviel Rollen überhaupt sein Repertoire zieren – das alles wischt Alagna nonchalant zur Seite: „Sono artista, non sono ragioniere – Ich bin Künstler, kein Buchhalter!“ Dabei lohnt sich ein Blick auf die Liste ausgefallener Rollen, zu denen nicht nur der Vasco da Gama gehört, den der Tenor erstmals 2015 in der Neuproduktion der Deutschen Oper Berlin gesungen hat, sondern auch Mascagnis L’AMICO FRITZ, FRANCESCA DA RIMINI von Riccardo Zandonai oder CYRANO DE BERGERAC aus der Feder des TURANDOT-Vollenders Franco Alfano.

Im Sommer 2018 soll dann seine erste deutsche Partie dazukommen: der Lohengrin, mit dem Alagna auf Einladung Christian Thielemanns in Bayreuth debütieren wird. „Schuld“ ist auch hier wieder Aleksandra Kurzak, die ihren Mann gedrängt hat, unbedingt dieses verlockende Angebot anzunehmen. Sie wird wohl kaum die Elsa an seiner Seite werden [auch wenn die Partie nach der Absage Anna Netrebkos wieder frei ist]; aber das Coaching für die deutsche Sprache will die Sopranistin, die lange im Ensemble der Staatsoper Hamburg gesungen hat, in jedem Fall übernehmen. So ganz sicher sei er sich noch nicht, sagt der Tenor, „ob mir der Anzug passt“, sprich: ob er tatsächlich am Grünen Hügel den Schwanenritter geben wird. Unterschrieben hat er allerdings gleich für drei Jahre. Um am Ende doch noch vielleicht mit seiner Elsa-Aleksandra im Festspielhaus vom Brautchor ins eheliche Gemach geleitet zu werden. Michael Horst


Neue Szenen III Ein Opern-Triptychon 28. April 2017 [Tischlerei] Weitere Vorstellungen: 29. April; 8., 9. Mai 2017 Komposition Malte Giesen, Thierry Tidrow, Irene Galindo Quero; Libretto Fanny Sorgo, Uta Bierbaum, Debo Koetting Musikalische Leitung Manuel Nawri, Regie Zsófia Geréb / Anna Melnikova / Ulrike Schwab, Bühne Ivan Ivanov, Kostüme Vanessa Vadineanu /  Ivan Ivanov / Florence Klotz, Musikalische Einstudierung Byron Knutson Mit dem Echo Ensemble und Sängerinnen und Sängern der Hochschule für Musik „Hanns Eisler“ Berlin In Zusammenarbeit mit der Hochschule für Musik „Hanns Eisler“ Berlin

Die Katze im Sack Der Kompositionswettbewerb „Neue Szenen III“ präsentiert drei Kurzopern zum Thema „Die Durchbohrung der Welt“. Der Dirigent Manuel Nawri saß mit in der Jury, die aus 40 Bewerbern zu entscheiden hatte. Im Gespräch mit Christiane Tewinkel erklärt er, wie man gute Werke von nicht so guten unterscheidet. Manuel Nawri, wie oft verirren sich Zuhörer und Zuhörerinnen aus den großen Häusern mit dem Kernrepertoire in die kleineren Säle mit Uraufführungen? Programme sind oft entweder neu oder alt, und häufig ist auch ein Publikum neu oder alt, nicht an Lebensjahren, sondern an Aufgeschlossenheit für diese oder die andere Sorte Musik. Das ist schade. Schön ist jedoch, dass sich gerade in Opernhäusern die Situation schnell ändern kann: Zu Uraufführungen kommen dann nicht nur Neue-Musik-Interessierte, sondern eben auch solche Zuhörerinnen und Zuhörer, die sich sagen, „wir haben jetzt immer nur TOSCA gehört, jetzt versuchen wir einmal etwas anderes“. Vielleicht bekommen sie einen anderen Blick auf das Repertoire, oder ihr Besuch wird zu einem Einstieg in die Neue Musik.

Neue Szenen III Zum dritten Mal präsentieren drei junge Komponisten und Librettistinnen ihre preisgekrönten Kurzopern. Als Ausgangspunkt diente in diesem Jahr die Legendenbildung um die Tiefenbohrungen auf der russischen Halbinsel Kola. Es hieß, man habe die Hölle angebohrt. Die drei Musiktheaterstücke fragen nun nach der Durchbohrung des Körpers, der Luft, nach der Transparenz des Individuums, Überwachung durch Datensammlung und vielem mehr.

Was für Werke für Musiktheater haben es in dieser Hinsicht heute besonders leicht? Ich persönlich mag es, wenn sie mir etwas erzählen. Das muss nicht unbedingt eine Geschichte sein, die sich auch für die anderen so darstellt. Ich erinnere mich, dass ich vor Jahren eine Oper von Liza Lim dirigiert habe. Das war für mich ganz toll, es war offen, sehr dicht, es gab einen großen Reichtum an Bildern, die mir etwas erzählt haben, ohne dass es eine Geschichte im konservativen Sinne gewesen wäre. So etwas funktioniert für mich wunderbar. Ist es Ihrer Erfahrung nach eher die Musik oder das Libretto, die das Erzählen übernimmt? Das ist ja das Tolle an Musiktheater, dass die Chance besteht, dass sich alles ergänzt. Dass


29 28 29 man nicht alles in der Musik haben muss, nicht alles auf der Bühne. Und gerade wenn ein Stück für Musiktheater in enger Zusammenarbeit aller entsteht, kann das tatsächlich auch so werden. Und die drei KomponistInnen von „Neue Szenen III. – Die Durchbohrung der Welt“ haben das wirklich angenommen und sehr spannende, auch schöne und überraschende Werke abgegeben.

eine Komposition dann auch haben. Oder wenn es von der Beherrschung des Handwerks oder der Instrumente nicht angemessen war. ­Danach wurde es natürlich immer schwieriger – wir haben viel diskutiert. Wichtig ist zum Beispiel, für Stimme zu schreiben. Das ist nicht einfach. Es muss ja kein Operngesang sein, aber es sind natürlich trotzdem Stimmen, mit denen gearbeitet wird. Wir wollten den Eindruck haben, dass auch dort, wo man experimentell komponiert, angemessen mit der Stimme umgegangen wird. Wobei ich dazu sagen will, dass wir die genauen Stimmen sehr früh besetzt haben und die Komponisten ausdrücklich aufgefordert haben, mit diesen Sängern zu arbeiten.

Es ist ein besonderes Charakteristikum dieses Wettbewerbs, dass zur Preisvergabe auch die Auflage gehörte, Libretto und neue Komposition in enger Abstimmung zu erarbeiten. Natürlich gibt es das, dass ein Libretto fertig ist und dann kommt Musik drauf. Aber wir haben uns dagegen entschieden, und dadurch erschloss sich eben auch die Möglichkeit, etwas Besonderes für die Tischlerei zu schaffen, die von Anfang gar nicht „Opernbühne“ ist. Sie hatten insgesamt drei Preise zu vergeben, an nicht weniger als vierzig Bewerberinnen und Bewerber. Wie ist die Jury vorgegangen?

Wie detailliert konnten Sie insgesamt sein in Ihren Bewertungsmaßstäben?

© Ernst Fesseler

Manuel Nawri wurde 1974 in Überlingen geboren. Er studierte in Freiburg und Odessa, war Stipendiat der Internationalen Ensemble Modern Akademie sowie

Das war tatsächlich sehr schwierig, weil wir ja eigentlich ein musiktheatralisches Werk bei der Einsendung verlangt haben. Das hatten aber viele gar nicht. Der Wettbewerb richtete sich an junge Komponisten zwischen Studium und …

Conducting Fellow beim Tanglewood Music Festival. Er gehört zu den gefragtesten Dirigenten seiner Generation für Zeitgenössische Musik und arbeitet mit den wichtigsten Spezialensembles, aber auch mit Sinfonieorchestern im In- und Ausland. Seit 2008 ­ ist Manuel Nawri Gastprofessor an der Hochschule

… Professur? …

In so einem Auswahlprozess geht es natürlich auch darum, nicht alles im Vorhinein zu eng zu definieren. Es heißt schließlich nicht „Oper“ – wir machen „Musiktheater“. So ein Wettbewerb kann auch ein Experimentierfeld sein, auf dem man versucht, Dinge für sich zu formulieren, zu definieren: Was kann und will ich machen, wenn ich eine Bühne zur Verfügung habe und Darsteller und 30 Minuten Zeit? In dem einen der Werke kommt zum Beispiel viel unverständlicher Text vor. Das kann eine ganz starke musiktheatralische Konsequenz haben.

für Musik „Hanns Eisler“ Berlin, seit 2013 zudem

Sie hätten auch nur einen Preis vergeben können.

künstlerischer Leiter der „Neuen Szenen“ an der

[lacht] … ja. Und von denen hat halt nicht jeder schon für Musiktheater komponiert. Viele haben stattdessen ein Stück mit Stimme eingesandt, Kammermusik mit Stimme oder Sologesang eingereicht. Schon hier gibt es natürlich viele Unwägbarkeiten. Dann wieder sind eingereichte Kompositionen zum Teil schon ein paar Jahre alt, da hat man sich als Komponist unter Umständen schon sehr verändert. Wir haben also versucht, solche Personen auszuwählen, von denen wir erwarteten, dass sie uns eine interessante Oper schreiben würden. Wir haben versucht, nach verschiedenen Dimensionen zu schauen, nach Stimmbehandlung, musiktheatralen Momenten. Es ist klar, dass wir damit die Katze im Sack gekauft haben, dass man in einer solchen Situation nicht vorhersehen kann, was man bekommt. Es ist also eher die Ausnahme als die Regel, dass junge Komponisten Bühnentheaterwerke schreiben, in einem so frühen Stadium ihrer Laufbahn.

Deutschen Oper Berlin.

Manche zeigen vielleicht ein besonderes Interesse. Aber es hängt wahnsinnig viel ab von Ressourcen. Die hat man eben nicht immer bei der Hand. Wir hatten natürlich viele Einsendungen, aber ich persönlich kenne auch viele junge Komponisten und Komponistinnen, die gesagt haben, ich habe mich nicht beworben, ich habe gar kein Musiktheater in der Schublade. Welche Stücke haben der Jury weniger zugesagt?

Nein. Es ist ein wichtiger Bestandteil des Konzepts, dass es drei dreißigminütige Werke sind. Und: Dass es unterschiedliche Werke sind. Wir haben bei der Entscheidung für oder gegen bestimmte Komponisten und Komponistinnen immer versucht, mitzudenken, dass es eben nicht zwei oder drei einander sehr ähnliche Personen sein sollen, damit wir nicht einen Abend bekommen, der auf allzu erwartbare Weise in sich vollständig ist: Du malst die Beine, und ich den Bauch. Die drei Stücke sind unabhängige Kompositionen, werden aber – zu einem Abend zusammengefügt – durch ihre Unterschiedlichkeit einen Raum und Spannungsbogen schaffen. Christiane Tewinkel

Christiane Tewinkel schreibt für den Tagesspiegel und die Frankfurter Allgemeine Zeitung über Musik. Sie ist Privatdozentin für Musikwissenschaft an der

Meistens solche, die ein wenig zu einfach waren. Simpel kann eine Qualität sein, aber die muss

Universität der Künste Berlin und Lecturer in Musicology an der Barenboim-Said Akademie Berlin.


© Marcus Lieberenz

Repertoire-Tipps COSI FAN TUTTE – Wolfgang Amadeus Mozart Ferrando und Guglielmo prahlen mit der Treue ihrer Bräute Dorabella und Fiordiligi. Das reizt Don Alfonso zum Widerspruch. Man vereinbart, die beiden Mädchen auf die Probe zu stellen. 11. März 2017 Musikalische Leitung: Daniel Cohen Inszenierung, Bühne: Robert Borgmann DIE ZAUBERFLÖTE – Wolfgang Amadeus Mozart Mozarts berühmte Oper über das Abenteuer der ungleichen Freunde Tamino und Papageno auf ihrer Suche nach der Liebe. 24. März; 22. April; 8. Juli 2017 Musikalische Leitung: Ido Arad / Daniel Cohen Inszenierung: Günter Krämer LA TRAVIATA – Giuseppe Verdi Eine junge Dame der Pariser Halbwelt, tödlich erkrankt, verzichtet auf die Liebe ihres Lebens. Erst an ihrem Sterbebett begreift ihr Geliebter, dass ihr Opfer alleine ihm galt.

© Bettina Stöß

21., 30. April 2017 Musikalische Leitung: Nicholas Carter Inszenierung: Götz Friedrich

BILLY BUDD – Benjamin Britten Das Leben auf See ist rau. Obwohl Captain Vere seine Zuneigung zu dem jungen Bootsmann Billy Budd nicht verhehlen kann, hilft er ihm nicht, als dieser wegen Meuterei zum Tod verurteilt wird. 24., 26. Mai; 2. Juni 2017 Musikalische Leitung: Moritz Gnann Inszenierung: David Alden LA RONDINE – Giacomo Puccini Der Dichter Prunier prophezeit Magda, dass sie wie eine Schwalbe der Sonne und der Liebe entgegenfliegen wird. Tatsächlich findet die Lebedame Magda ihre Liebe, doch der Preis ist ihr zu hoch.

DER LIEBESTRANK – Gaetano Donizetti Adina und Nemorino lieben sich zwar, doch keiner von beiden traut sich, dem anderen seine Liebe zu gestehen. Zum Glück kann der „Wunderheiler“ Dulcamara dem verzweifelten Nemorino einen Trank brauen.

29. April, 1., 6. Mai 2017 Musikalische Leitung: Roberto Rizzi Brignoli Inszenierung: Rolando Villazón

23., 27. Mai 2017 Musikalische Leitung: Moritz Gnann Inszenierung: Irina Brook

ANDREA CHENIER – Umberto Giordano Ein rechtschaffener Dichter wird von seinem Gegenspieler und den Hütern der Revolution zum Tode verurteilt. Als selbst sein Widersacher die Rechtschaffenheit des Verurteilten erkennt, ist es bereits zu spät.

TURANDOT – Giacomo Puccini Die grausame Prinzessin Turandot terrorisiert ihr Volk. Einzig ihre Verheiratung kann das Blutbad beenden. Calaf wagt es, Turandot herauszufordern.

13., 17., 21., 25. Mai 2017 Musikalische Leitung: Ivan Repušić Inszenierung: John Dew

3., 9., 22. Juni 2017 Musikalische Leitung: Alexander Vedernikov Inszenierung: Lorenzo Fioroni


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© Bettina Stöß

Raum für experimentelles Musiktheater Die Tischlerei: altersgerechtes, facettenreiches Angebot vom Baby- und Knirpskonzert über zeitgenössisches Kindermusiktheater. Spielstätte für neue Formen von Oper jenseits des Repertoires. Ort für Uraufführungen, Stückentwicklungen, Installationen und Bearbeitungen.

Tischlerei-Tipps AUS DEM HINTERHALT Late-Night-Performance zur Großen Oper 7. Mai 2017 – zu DER FLIEGENDE HOLLÄNDER 25. Juni 2017 – zu BORIS GODUNOW Konzept, Künstlerische Leitung: Alexandra Holtsch

DON CARLO – Giuseppe Verdi Die Weltmacht Spanien, geprägt von Kolonisation und Besatzung, wird gelenkt von der grausamen Hand der Inquisition. 24., 29. Juni; 2.,6. Juli 2017 Musikalische Leitung: Roberto Rizzi Brignoli Inszenierung: Marco Arturo Marelli NABUCCO – Giuseppe Verdi Das Drama um die babylonische Gefangenschaft des Volkes Israel unter König Nebukadnezar ist eine der beliebtesten Opern Verdis. 8., 11. Juni 2017 Musikalische Leitung: Paolo Arrivabeni Inszenierung: Keith Warner DER RING DES NIBELUNGEN – Richard Wagner Es gibt keine historische Zeit. Zeiten und Räume überlagern sich. Wagners „Theater der Zukunft“, im RING am umfangreichsten entworfen, stellt sich als epischer Report eines Untergangs, als grandioses Endspiel dar. 1., 13. April 2017 – DAS RHEINGOLD 2., 14. April 2017 – DIE WALKÜRE 5., 15. April 2017 – SIEGFRIED 9., 17. April 2017 – GÖTTERDÄMMERUNG Musikalische Leitung: Donald Runnicles Inszenierung: Götz Friedrich

Deutsche Oper Berlin Bismarckstraße 35, 10627 Berlin Karten und Infos 030-343 84 343 www.deutscheoperberlin.de Tischlerei [Eingang: Richard-Wagner-Straße / Ecke ­Zillestraße] Einlass ab 30 Minuten vor Beginn

KLEINES STÜCK HIMMEL [ab 2 Jahren] Eine kleine musikalische Geschichte über kulturelle Andersartigkeit und Freundschaft. 9., 10., 11., 12., 14., 15., 16. März 2017 Komposition: Nuria Núñez Hierro; Inszenierung: Ania Michaelis NEUE SZENEN III: „Die Durchbohrung der Welt“ Ein Opern-Triptychon: die drei neukomponierten musiktheatralischen Werke stellen allesamt Fragen an „Die Durchbohrung der Welt“. In Zusammenarbeit mit der Hochschule für Musik „Hanns Eisler“ Berlin 28., 29. April; 8., 9. Mai 2017 JAZZ & LYRICS Jazz-Konzerte mit Musik und Texten, Biografischem und Poetischem. Meet & Greet in der anschließenden Artists’ Lounge. 1. Mai; 3. Juli 2017 TISCHLEREIKONZERTE Von den Musikern zusammengestellte moderierte Programme, die sich thematisch an den Premieren der Saison 16 / 17 orientieren. 13. März; 24. April; 29. Mai 2017 Informationen zu allen Veranstaltungen der Saison 16 / 17 und 17 / 18 [ab Ende März] finden Sie unter www.deutscheoperberlin.de. Oder bestellen Sie kostenfrei die Saisonvorschau 16 / 17 und 17 / 18 unter 030-343 84 343 oder info@deutscheoperberlin.de

Kasse mit Abo-Service [Eingang: Götz-Friedrich-Platz oder Bismarckstraße 35] Mo bis Sa 11.00 Uhr bis 1,5 Stunden vor der Vorstellung; an freien Tagen bis 19.00 Uhr; So 10.00 – 14.00 Uhr

Abendkasse ohne Abo-Service [Bismarckstraße 35] 1 Stunde vor Beginn Anfahrt U-Bahn: U2 Deutsche Oper / U7 Bismarckstraße Buslinien: 101 und M49


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