Deutsche Oper Berlin: Giacomo Meyerbeer

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EUROPA WAR SE IN BAYREUTH

Symposion zu Leben und Werk von Giacomo Meyerbeer


E U R O PA WA R S E I N B AY R E U T H Symposion zu Leben und Werk von Giacomo Meyerbeer 29. September – 1. Oktober 2014 in der Tischlerei der Deutschen Oper Berlin


I N H A LT Die Meyerbeer-Edition: Ein großer Opernkomponist wird neu entdeckt 15 M O D E LLFA LL VA S CO? Unklärbares und Erkenntnisse der editorischen Arbeit Jürgen S chläder, München 39 „W I E M OZ A R T, N U R AU S E I N E R A N D E R E N Z E I T “ Die Dirigenten Frank Beermann und Enrique Ma z zola im Gespräch

Meyerbeer im Spannungsfeld der Musikstile seiner Zeit 49 D I E KO N S T R U K T I O N E I N E R O R C H E S T E R S P R AC H E F Ü R D I E GRAND OPÉRA Hec tor Berlioz interpretier t Meyerbeers „ Rober t le diable“ Jürgen Maehder, Freie Universit ät Berlin 75 G I ACO M O M E Y E R B E E R U N D D I E „ S O C I E TÄT “ ­Z W I S C H E N KO M P O N I S T E N U N D SÄ N G E R N Thomas S eedor f, Hochschule für Musik Karlsruhe 97 O H N E „ LE P R O P H È T E “ K E I N „ R I N G “? Der Einfluss Meyerbeers auf Wagners Musikdramen Mat thias Br zoska , Folk wang Universit ät der Künste Essen

Meyerbeer und sein Werk im gesellschaftlichen Spannungsfeld 113

MEYERBEER UND SEINE BERLINER FREUNDE S abine Henze-Döhring , Philipps-Universit ät Marburg

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D E R M E I S TG E H A S S T E KO M P O N I S T Meyerbeer und der Antisemitismus Arnold Jacobshagen , Hochschule für Musik und Tanz Köln

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M E Y E R B E E R AU F D E R O P E R N B Ü H N E Gedanken einer Theaterintendantin Juliane Vot teler, Theater Augsburg


Meyerbeers Grand Opéra und ihre Entstehungsbedingungen 171

D I E G R A N D O P É R A A L S Z E N T R A LE S G E SA M T K U N S T W E R K D E S 19. JA H R H U N D E R T S Meyerbeers Originalinszenierungen im Spiegel der Stereographie Evan Baker, Los Angeles

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E I N U R VAT E R D E R D R E H B Ü C H E R H O LLY WO O D S Eugène S cribe und seine Libret towerkst at t Jean- Claude Yon , Université de Versailles

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V E R H Ä N G N I S VO LLE B Ä LLE U N D TA N Z AU F D E M G L AT T E I S [Prä-]kat astrophische Tanzszenen in Giacomo Meyerbeers Opernkompositionen Stephanie S chroedter, Freie Universit ät Berlin

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S P R AC H V E R TO N U N G U N D G E S T I K I N M E Y E R B E E R S „ LE P R O P H È T E “ Anselm Gerhard , Universit ät Bern

Abschlussdiskussion

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ENDLICH REHABILITIERT? Über die Zukunf t schancen von Meyerbeers Werk im Reper toire Diskussion mit Joachim Clement [Theater Braunschweig] , L aura Aikin [S ängerin] , Evan Baker [Musik wissenschaf tler] , Cur t A . Roesler und Jörg Königsdor f [Dramaturgen]



Liebe Leserinnen und Leser, der Band, den Sie in Händen halten, dokumentiert ein Symposion zu Leben und Werk Giacomo Meyerbeers, das im Herbst 2014 in der Tischlerei der Deutschen Oper Berlin stattfand. Die dreitägige Veranstaltung, an die sich eine konzertante Aufführung von Meyerbeers „Dinorah“ in der Berliner Philharmonie anschloss, war zugleich der Startschuss für ein Projekt, das in den kommenden Jahren einen zentralen Schwerpunkt im Spielplan der Deutschen Oper Berlin bilden wird. Als erstes Opernhaus der Welt präsentieren wir einen Zyklus von szenischen Neuproduktionen der drei wichtigsten Grands Opéras Meyerbeers: „Vasco da Gama“, „Die Hugenotten“ und „Der Prophet“. Wir glauben, dass es hoch an der Zeit ist, diesen Werken wieder den Platz einzuräumen, den sie einstmals besaßen, und die Grand Opéra Meyerbeers als gleichberechtigte Alternative zu den Musikdramen Wagners und Verdis zu rehabilitieren. Dabei geht es nicht nur um die faszinierende melodisch-dramatische Ausdruckskraft von Meyerbeers Musik, die in der Meyerbeer-Neuausgabe von BMG Ricordi jetzt erstmals ohne Beeinträchtigungen und Verfälschungen erlebt werden kann. Es geht auch um die Stoffe dieser Opern, die im 21. Jahrhundert wieder auf bestürzende Weise an Aktualität gewonnen haben: Die Konflikte zwischen Kulturen und den Religionen, die sie prägen. In diesem Sinne gilt es, einen großen Opernkomponisten wiederzuentdecken und ein Werk zu präsentieren, dessen Rezeption lange durch willkürliche Entstellungen, nationalistische Vorurteile, aber auch durch den Wechsel musikalischer Moden und Präferenzen getrübt war. Gerade deshalb war es uns wichtig, unser Projekt mit einem Symposion zu beginnen und die wichtigsten Experten einzuladen, um mehr über Meyerbeer und seine Werke zu erfahren: Über die Schönheiten und Besonderheiten seiner Opern, aber auch über das Leben dieses Weltstars der Opernszene zwischen Anerkennung und Anfeindung. Aus all diesen Gründen bin ich sehr froh, Ihnen die Dokumentation dieses Symposions als wunderbare Einstimmung auf unseren Meyerbeer-Zyklus vorlegen zu können. Ermöglicht wurde dieses Buch mit der Unterstützung unseres Förderkreises, dem ich dafür herzlich danken möchte. Ich hoffe, Sie werden beim Lesen ebenso neugierig auf Meyerbeer und seine Opern wie ich.

Ihr Dietmar Schwarz [Intendat der Deutschen Oper Berlin] 5



Sehr geehrte Damen und Herren, als Dietmar Schwarz vor einigen Monaten mit dem Anliegen zu uns kam, die von vielen Besuchern gewünschte Dokumentation des Meyerbeer-Symposions zu ermöglichen, haben wir keinen Augenblick gezögert, diesen Wunsch zu erfüllen. Nicht nur, weil dieses Buch mit seinen hochkarätigen Beiträgen eine ideale Ergänzung zu dem Zyklus der großen Meyerbeer-Opern ist, den die Deutsche Oper Berlin in den kommenden Jahren herausbringen wird. Sondern auch, weil ein solches Buch auch unserem Selbstverständnis als Förderer der Kunstform Oper entspricht: Denn Oper zu fördern, bedeutet für uns nicht nur, das Haus bei seinen glanzvollen Produktionen oder auch bei ganz praktischen Bedürfnissen zu unterstützen. Es bedeutet für uns auch, an der inhaltlichen Auseinandersetzung mit Musiktheater teilzuhaben, sie zu fördern und zu reflektieren. „Wir lieben Oper“ lautet das Motto, das sich der Förderkreis der Deutschen Oper Berlin gewählt hat – und wir lieben Oper eben gerade deshalb, weil sie mehr ist als bloßes Entertainment, weil sie uns Stoff für unsere Gedanken, Herzen und Sinne bietet ebenso wie die Möglichkeit, miteinander über diese Themen ins Gespräch zu kommen. In diesem Sinn soll die vorliegende Publikation mit ihren aktuellen Beiträgen der führenden Meyerbeer-Forscher einen wichtigen Beitrag dazu leisten, diesen Komponisten und seine Werke besser kennenzulernen und erleben zu können. Darüber hinaus soll dieses Buch auch ein Zeichen dafür sein, dass Berlin seinen größten Komponisten endlich wieder so schätzt, wie er es verdient. Denn die Geschichte Giacomo Meyerbeers und seiner Opern ist auch ein Stück Berliner Geschichte: In dieser Stadt ist er groß geworden, hat Missachtung aufgrund seines jüdischen Glaubens, aber immer wieder auch hohe Anerkennung erfahren. Es ist an der Zeit, dass Berlin stolz auf Giacomo Meyerbeer ist – und wir hoffen, dass dieses Buch einen kleinen Beitrag dazu leisten kann.

Dr. Karlheinz Knauthe [Vorsitzender des Vorstands des Förderkreises der Deutschen Oper Berlin e. V.]

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EINLEITUNG

J ö r g Kö n i g s d o r f

Dieser Band enthält die Vorträge und Gespräche des Symposions über Leben und Werk von Giacomo Meyerbeer, das die Deutsche Oper Berlin vom 29. September bis zum 1. Oktober 2014 in ihrer Spielstätte Tischlerei veranstaltete. Zusammen mit einer konzertanten Aufführung von Meyerbeers „Dinorah“, deren Mitschnitt beim Label cpo auf CD erscheint, war das Symposion als Auftakt zu einem Projekt konzipiert, das in den kommenden Jahren einen zentralen Bestandteil des Spielplans der Deutschen Oper Berlin bilden wird. Der Zyklus von Neuproduktionen der drei wichtigsten Grands Opéras Meyerbeers, „Vasco da Gama“, „Die Hugenotten“ und „Der Prophet“, hat das Ziel, Meyerbeers Opern wieder als gleichwertige Alternativen zu den Werken Verdis und Wagners ins Bewusstsein der Musikwelt zu rücken – als musikdramatische Weltentwürfe eigenen Rechts, deren Geschichten und Figuren, deren erzählerische Kraft und musikalische Gestaltung uns heute ebenso in Bann ziehen kann wie das Opernpublikum des 19. Jahrhunderts. Genau diese Bedeutung wurde dem Oeuvre Meyerbeers lange Zeit abgesprochen: In den Beiträgen dieses Bandes ist immer wieder über die Missachtung zu lesen, der Meyerbeers Werk schon zu Lebzeiten des Komponisten in weit höherem Maße begegnete, als dies mit divergierenden Geschmacksurteilen innerhalb eines musik­ästhetischen Diskurses gerechtfertigt werden könnte. Eine Diffamierung, für die die Äußerungen Richard Wagners nur das bekannteste Beispiel sind und die in vielen Fällen eine Herabsetzung von Meyerbeers Musiksprache mit Unterstellungen und Beleidigungen verband, die seiner Person galten. Dass Meyerbeer aufgrund seines enormen Erfolgs schon früh zu einer Zielscheibe des im 19. Jahrhunderts gerade auch in Deutschland wachsenden Antisemitismus wurde, ist weithin bekannt. Wie die Beiträge dieses Bandes jedoch auch belegen, wäre es ebenso verfehlt, die Vernachlässigung Meyerbeers im 20. Jahrhundert in der Hauptsache 9


antisemitischer Kulturpolitik zuzuschreiben – auch wenn das Aufführungsverbot seiner Werke im NS-Deutschland sicherlich stark dazu beigetragen hat, Meyerbeers Grands Opéras aus dem kollektiven Gedächtnis des deutschen Bildungsbürgertums zu tilgen. Tatsächlich sind die Ursachen für die Marginalisierung von Meyerbeers Werk im 20. Jahrhundert – die im Übrigen auch außerhalb Deutschlands stattfand – kom­plexer, und sie erklären nicht nur die Vernachlässigung, sondern auch die erneuerte Relevanz, die Meyerbeer im 21. Jahrhundert wieder zukommt. Wenn Meyerbeers Musik heute wieder viel facettenreicher und interessanter klingt als vor fünfzig Jahren, ist dafür zunächst einmal die vielleicht folgenreichste interpretatorische Strömung der letzten Jahrzehnte verantwortlich. Von dem geschärften Bewusstsein für stilistische Vielfalt, das die Alte-Musik-Bewegung bei Interpreten und Hörern geweckt hat, hat auch Meyerbeers Musik profitiert: Denn nicht anders als beispielsweise bei den Bühnenwerken Glucks und Berlioz’ hängt die dramatische Wirkung einer Szene bei Meyerbeer nicht – wie etwa bei Bellini und Donizetti – hauptsächlich von der Ausdruckskraft der melodischen Linie ab, sondern beruht in der Regel auf einem genau austarierten Zusammenspiel von Orchesterfarben, dramatischer Artikulation und Melodie. Vergröbert sich der interpretatorische Zugriff und konzentriert sich beispielsweise auf das Auskosten der Melodik, verliert die Musik Meyerbeers rapide an Wirkung. Ebendieser Prozess setzte bereits im 19. Jahrhundert durch die Entwicklung des Orchesterklangs ein und wurde durch die Änderung des Gesangsstils in Folge des Siegeszugs der Wagnerschen Musikdramen, der einzelnen europäischen Nationalstile und des Verismo noch entscheidend vorangetrieben. Das Bewusstsein für die Spezifik des Meyerbeer-Stils ging verloren und wurde erst wieder durch den Siegeszug der historischen Aufführungspraxis geweckt, die sich im Laufe der neunziger Jahre von Barock und Klassik aus auch dem 19. Jahrhundert zuwandte. Gerade die Musik Meyerbeers mit ihren ­heterogenen, aus deutscher, italienischer und französischer Schule stammenden Grundelementen konnte von einem solchen geschärften Stilbewusstsein und damit verbunden dem Wissen um die expressive Bedeutung musikalischer Gesten und Wendungen besonders profitieren. Mehr noch: Mit ihrem Interesse an länderübergreifenden musikalischen Einflüssen, wie sie beispielsweise im Barock selbstverständlich waren, hat die Alte-Musik-Bewegung wesentlich dazu beigetragen, dass auch der internationale Stil Meyerbeers in seiner Synthese von deutschen, französischen und italienischen Elementen heute wieder als schöpferische Leistung und nicht mehr als Beweis für das Fehlen einer eigenen, originären Musiksprache gesehen wird. Es ist in diesem Zusammenhang kennzeichnend, dass die wichtigsten Impulse für die Bewusstmachung von Meyerbeers Orchestersprache in den letzten 15 Jahren von 10


dem französischen Alte-Musik-Dirigenten Marc Minkowski ausgingen, der die Produktionen von „Robert, der Teufel“ an der Berliner Staatsoper und „Die Hugenotten“ an Brüssels La Monnaie leitete. Diesen Pfad der Wiedereroberung Meyerbeers vom 18. und frühen 19. Jahrhundert aus beschritten auch immer mehr Sänger. Während es in den achtziger Jahren nur mit immensen Anstrengungen möglich war, eine große Meyerbeer-Oper stilistisch adäquat zu besetzen, hat sich in den letzten zwanzig Jahren die Zahl der Sänger kontinuierlich vermehrt, die durch ihre Erfahrungen mit Mozart, Gluck und vor allem mit den ernsten Belcanto-Opern Rossinis stilistisch wie stimmlich für Meyerbeer prädestiniert sind. Mehr noch: für viele von ihnen bietet die Musik Meyerbeers, die belcantistische Beweglichkeit mit gesteigerten Anforderungen an Ausdrucksbreite verbindet, einen willkommenen Schritt zur Weiterentwicklung ihres Stimmpotenzials – ohne die Gefahren, die mit einem Wechsel ins Verdi-Fach verbunden sind. Der peruanische Tenor Juan Diego Flórez und die Sopranistin Diana Damrau sind nur zwei prominente Beispiele, ergänzt werden sie unter anderem durch eine ganze Generation junger französischer Sänger, die oft aus der Schule von William Christie stammen und durch ihre Erfahrungen mit Lully und Rameau ein exzellentes Rüstzeug für eine nuancierte, theatralische Meyerbeer-Diktion mitbringen. Schließlich ist auch das heute zur Verfügung stehende Notenmaterial ein anderes als noch vor zwanzig Jahren. Als einer der beliebtesten Opernkomponisten des 19. Jahrhunderts wurde Meyerbeer schnell Opfer seines Erfolges, indem seine Opern oft nur in entstellter, drastisch eingekürzter oder veränderter Form präsentiert wurden – auch wenn der Komponist zu Lebzeiten nach Kräften versuchte, solchen Eigenmächtigkeiten durch persönliche Anwesenheit zumindest bei den wichtigsten Premieren seiner Werke gegenzusteuern. Das Verschwimmen des spezifischen Meyerbeer-Stils war mithin nicht nur eine Folge des sich ändernden Musikgeschmacks, sondern auch der schieren Unkenntnis über die Absichten des Komponisten. Ein Spalt, der freilich umso größer und bewusster wurde, je mehr sich die Oper von ihren Belcanto-Wurzeln wegentwickelte. Erst die Neuausgabe, die der Verlag BMG Ricordi seit mehreren Jahren von Meyerbeers Werke erarbeitet, hat die Intentionen des Komponisten wieder freigelegt – auch für den Meyerbeer-Zyklus der Deutschen Oper Berlin wird die neue Meyerbeer-Edition maßgeblich sein. Die musikalischen Voraussetzungen für werkgerechte Aufführungen von Meyerbeers Opern haben sich mithin soweit verbessert, dass eine Neubewertung des Meyerbeer’schen Oeuvres überhaupt erst möglich ist. 11


Doch lohnen diese Opern, deren szenische Realisierung für jedes Theater einen immensen Aufwand bedeutet, überhaupt einer Auseinandersetzung auf der Opernbühne? Oder sind sie lediglich von musikhistorischem Interesse? Ausschlag gebend für jede Oper, die auf den Spielplan eines Opernhauses gelangt, sollte schließlich die Frage sein, ob in diesem Werk Geschichten erzählt werden, die für uns heute eine wie auch immer geartete Bedeutung besitzen, und ob die Gestaltung durch den Komponisten [und seinen Librettisten] den geschilderten Schicksalen von Individuen und Völkern eine Glaubwürdigkeit verleiht, die über das bloße Darstellen einer historischen oder fiktiven Begebenheit hinausreicht und den emotionalen Nachvollzug des Geschehens aus einer oder auch mehreren Perspektiven ermöglicht. Dass Meyerbeer dazu in der Lage war, menschlichen Gefühlen und Massenbewegungen einen unmittelbar glaubhaften musikalischen Ausdruck zu verleihen, stand nie wirklich in Frage – Kulminationspunkte seiner Opern wie die Schattenarie Dinorahs, die Schwerterweihe und das große Duett aus dem vierten Akt der „Hugenotten“ oder Vascos „O paradis“ blieben auch in Zeiten größter Meyerbeer-Vergessenheit präsent. Gewachsen ist jedoch die Bereitschaft, Meyerbeers Figuren eine eigene Haltung zuzubilligen und sie nicht an der rückhaltlosen Selbstaufgabe der Figuren Verdis oder am Erlösungszwang der Wagnerhelden zu messen. Demgegenüber bewahren Meyerbeers Figuren in der Regel mehr Distanz. Sie sind insofern die letzten Erben der Belcanto-Tradition des 18. Jahrhunderts, als sie ihre Gefühle codieren und in eine artifizielle Haltung verkleiden, für deren Feinheiten Interpret und Hörer erst ein Gespür entwickeln müssen. Das ist freilich auch notwendig, denn im Gegensatz zu den Bühnenmenschen Wagners stellen sich diejenigen Meyerbeers nicht außerhalb der Gesellschaft, sondern agieren selbst in Extremsituationen noch in einem Tableau sozialer Bezüge und wahren nach außen – wenn auch bisweilen unter erheblichen Mühen – die musikalische Konvention. Vor allem aber hat sich die Wahrnehmung der Stoffe von Meyerbeers Opern in den letzten Jahren grundlegend gewandelt: Während die Anbindung von Stücken wie „Die Hugenotten“ an die Pariser Bartholomäusnacht oder „Der Prophet“ an die Münsteraner Wiedertäufer zur Folge hatte, dass die geschilderten Konflikte im zwanzigsten Jahrhundert eben auch als historisch – sprich: als Schilderungen einer überwundenen und von daher nur noch begrenzte interessanten Epoche – wahrgenommen wurden, hat die weltpolitische Entwicklung der letzten Jahre dafür gesorgt, dass durch die historische Draperie wieder der religiöse Fanatismus als beängstigend aktuelles Grundthema von Meyerbeers Grands Opéras spürbar wird. 12


Tatsächlich scheint es derzeit – leider – kaum aktuellere Opernstoffe zu geben als die von Meyerbeer und Scribe, auch weil nur wenige Werke eine überzeugendere Verquickung von Massen- und Einzelschicksalen bieten: Der Schlüssel für das Verständnis von Meyerbeers Werk liegt eben nicht in der Identifikation mit einem Hauptakteur, sondern in der panoramischen Sicht auf gesellschaftliche Konstellationen, denen der Einzelne hilflos ausgeliefert ist. Das gilt für Raoul und Valentine in den „Hugenotten“, die von der Dynamik des Massakers erfasst werden wie von einer großen Woge; das gilt für den Propheten Jean, der letztlich erkennen muss, dass er in seinem Widerstand gegen die Willkürakte der katholischen Herrschaft nur zum Werkzeug ebenso korrupter Aufrührer geworden ist. Und das gilt auch für „Vasco da Gama“, wo kaum noch ein Unterschied zwischen dem katholischen Erobererstaat Portugal und dem ebenso fremdenfeindlichen Regime der indischen Brahmanen-Priester besteht. In all diesen Werken ist das Meyerbeer’sche Fazit für die Entwicklungsfähigkeit des Menschen bedrückend negativ – für eine Versöhnung ist in seiner resignativen Weltsicht kein Platz. Womit ein weiteres, entscheidendes Merkmal genannt wäre, das Meyerbeers Opern von einem Großteil der Opern in ihrem Gefolge unterscheidet. Dass es hier nicht allein um die geschickte Aufbereitung eines interessanten Stoffes geht, sondern mindestens ebenso sehr um eine Botschaft, um das Vermitteln einer Weltanschauung, die über die Handlungszusammenhänge der jeweiligen Werke hinausgeht. Es liegt nahe, diese lebenslange künstlerische Auseinandersetzung mit religiösem Fanatismus mit Meyerbeers Leben kurzzuschließen. In Meyerbeers Briefen und Tagebüchern und auch in den Beiträgen dieses Bandes ist immer wieder die Rede von den Ressentiments, denen er sich als Jude vor allem in Deutschland gegenübersah und die auch sein zwiespältiges Verhältnis zu seiner Vaterstadt Berlin begründeten. Bis heute, so scheint es, hat die Opernstadt Berlin nicht wirklich gemerkt, dass sie einen der größten Opernkomponisten hervorgebracht hat – dass erst vor wenigen Jahren das Geburtshaus Meyerbeers in Tasdorf bei Berlin abgerissen wurde, ohne dass überhaupt jemand Notiz davon nahm, scheint symptomatisch. Umso mehr ist es an der Zeit, dass Berlin sich endlich wieder auf Meyerbeer besinnt. Der Meyerbeer-Zyklus der Deutschen Oper Berlin und der vorliegende Band sollen einen Beitrag dazu leisten.

Es ist Zeit für Meyerbeer. 13



M O D E L L FA L L VA S C O? U n k l ä r b a r e s u n d E r ke n n t n i s s e d e r e d i t o r i s c h e n A r b e i t

Jürgen Schläder

Wollte man im Haupttitel dieses Textes begrifflich und typografisch präzis sein, wäre der Rollenname „Vasco“ sowohl mit als auch ohne Auszeichnung zu schreiben, weil sich die aufgeworfene Fragestellung auf den Kurztitel der letzten Meyerbeer-Oper „Vasco de Gama“ ebenso bezieht wie auf die Titelrolle dieser Oper. Aus diesem Blickwinkel bedeutet Meyerbeers Oper für die editorische Arbeit einerseits tatsächlich einen Modellfall, denn mit der Titel-Änderung von „L’Africaine“ in „Vasco de Gama“ geht eine grundlegende Neudisposition der männlichen Hauptrolle und der Handlungsstruktur einher und werden zugleich die dramaturgischen Schwergewichte im Verhältnis des Portugiesen zur afrikanischen / indischen Prinzessin verschoben. Gegenstand der editorischen Überlegungen ist mithin eine sehr verzweigte und von mehreren Hauptakteuren bestimmte Werkgenese sowie, genau genommen, eine grundlegende konzeptionelle Änderung der Handlung. Da aber andererseits Meyerbeer die Proben und die Uraufführung dieser Oper bekanntlich nicht mehr erlebte, mithin die bis auf zwei Ballettnummern fertig auskomponierte Partitur also nicht mehr revidieren konnte, entsteht ein bedeutendes Informationsvakuum, das man von allen anderen Meyerbeer-Opern nicht kennt: die Endredaktion der Komposition durch den Komponisten auf der Grundlage seiner Erfahrungen im Laufe der szenischen Proben. Dies betrifft sowohl die zeitliche Ausdehnung der einzelnen Musik­szenen als auch die, wie stets bei Meyerbeer, äußerst kritische Überprüfung der künstlerischen Qualität und theatralen Tauglichkeit der einzelnen musikdramatischen Augenblicke. In allen anderen Meyerbeer-Opern erlaubt das überlieferte Material im Vergleich zur endgültigen Fassung oder auch mehreren Fassungen für verschiedene Aufführungen einen philologisch gut abzusichernden Blick in die Werkstatt, in die Denkweise und auf das ästhetische Urteil des Komponisten selber. Fraglos stellen sich in manchen Partituren auch für die philologische Beweisführung erhebliche Probleme, aber in aller Regel darf man sich bei deren Lösung auf schriftlich fixierte autografe Fakten stützen. 15


Dies alles kommt für „Vasco de Gama“ nicht in Betracht, so dass man in vielen entscheidenden Fragen seine Zuflucht nehmen muss zu eigener Interpretation von kompositorischen und theatralen Potenzialen aus dem Blickwinkel des mittleren 19. Jahrhunderts und vom ästhetischen Standpunkt des Komponisten. Philologisches Handwerk hilft in diesem Fall wenig. Insofern liefert Meyerbeers letzte Oper andererseits keinen Modellfall editorischer Arbeit. Im Wesentlichen lassen sich die Probleme bei der Festschreibung einer Werkgestalt in drei gleichermaßen ambivalenten historischen Materialkonstellationen zusammenfassen, die untereinander wieder vielfach verknüpft sind: Zum einen existiert die autografe Partitur des Komponisten, in der nur die beiden Ballette des vierten und fünften Aktes fehlen. Eine ganze Reihe der musikalischen Nummern liegen gar in verschiedenen Versionen vor, die Meyerbeer, wie gewohnt, als „Spielmaterial“ für die Proben vorbereitet hatte. Schon deshalb ist diese vollständig erhaltene Partitur keineswegs als für die Werkgestalt verbindlich anzusehen, da Meyerbeers Schlussrevision fehlt. Sie hätte sicher, wie bei allen anderen Bühnenwerken auch, wesentliche Eingriffe in die Werksubstanz gezeitigt. Der scheinbare Glücksfall einer vollständigen autografen Partitur fordert mithin, im Gegenteil, zur Interpretation des vermutlich von Meyerbeer Gemeinten (und doch nicht Niedergeschriebenen) heraus. Zum anderen nahm der belgische Musikwissenschaftler François-Joseph Fétis schon bei der Uraufführung zahlreiche substantielle Eingriffe in die autografe Partitur vor. Obgleich von der Witwe Minna Meyerbeer als verantwortlicher Bearbeiter im Geiste des Komponistenwillens eingesetzt und auf die größtmögliche Authentizität des Notentextes verpflichtet, traf Fétis bei der Einrichtung der Aufführungspartitur nicht nur seine bisweilen sehr eigenen Entscheidungen, sondern sah sich auch aufgrund des zeitgenössischen Opernbetriebs zu erheblichen, teilweise das Original dramatisch wie dramaturgisch entstellenden Kürzungen gezwungen. In der Finalszene der Sélika im fünften Akt und in Vascos Grand Air im vierten Akt entstanden durch diese Eingriffe erhebliche Veränderungen in der Figurencharakteristik wie in der dramatischen Substanz der Handlung. Die Dokumentation der Auslassungen, die Fétis als Begründung und Absicherung seiner künstlerischen Eingriffe hinterließ, ist im Sinne einer Rechtfertigung des Bearbeiters aller Ehren wert und dient als willkommene Quelle der Überprüfung von Meyerbeers musiktheatralen Vorstellungen. Sie legt freilich auch die Diskrepanz offen zwischen den innovativen Dispositionen des Komponisten im Blick auf Figurengestaltung und musikdramatischen Ausdruck und der zeitgenössischen Praxis, die Meyerbeers letzter Oper eher konventionell denn mit Gespür für das Neuartige und Ungewohnte begegnete. Ähnliches gilt für die umfangreichen Textbearbeitungen, die vor der Uraufführung selbst Minna Meyerbeer nötig erschienen. Auch hier ist Interpretation des Gegenläufigen und Widersprüchlichen im Hinblick auf eine plausible Werkgestalt eher gefragt als traditionelle philologische Arbeit. 1

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Und zum dritten waren mit der Wahl des neuen Titels nicht nur erhebliche Änderungen im szenischen Ambiente und in der Plausibilität der Handlungseinheiten verbunden, sondern auch grundsätzliche dramaturgische Veränderungen in der Figurenkonstellation. Der Wechsel im dramatischen wie im theatralen Fokus von der fiktionalen afrikanischen (resp. nun indischen) Prinzessin zur historischen Figur des portugiesischen Seefahrers bereitete dem Komponisten erhebliche Skrupel bei der Profilierung der Vasco-Figur. Nicht zuletzt Meyerbeers berühmte Bemerkung vom „réhabiliter le caractère de Vasco“ 1863 in seinem Arbeitslibretto und die mit dieser Notiz verbundenen unterschiedlichen Lösungen der Finalszene im fünften Akt verdeutlichen das dramaturgische Problem und vermitteln zugleich die Gewissheit, dass während der bevorstehenden Proben der Opernschluss geändert, vielleicht gar drastisch überarbeitet worden wäre. Allein dieses Detail raubt der autografen Partitur, entgegen jeder landläufigen Einschätzung einer fertigen Komposition, den Status und Nimbus eines abgeschlossenen Werks. Die Arbeitsstadien am Handlungsentwurf über mehr als 25 Jahre verdeutlichen gleichermaßen Meyerbeers Vorstellung vom seinerzeit modernen Konzept einer historischen Oper und die Probleme in der Realisierung dieses Konzepts. Zeitgleich mit den Vorarbeiten zum „Prophète“ begann für Meyerbeer die Arbeit an seinem zweiten neuen Projekt nach den „Huguenots“, eben an „L’Africaine“. Am 16. August 1837 lieferte Scribe die letzten drei Akte des fertigen Librettos an Meyerbeers Sekretär Gouin. Schon im Szenenentwurf, auf dem das Libretto fußt, werden die differierenden Intentionen von Scribe und Meyerbeer offensichtlich. Scribe konzipierte eine fiktionale Liebesintrige in dem für die Zeit typischen doppelten Dreieckskonflikt: Der Seefahrer Fernand (alias Vasco) steht emotional zwischen der Gouverneurstochter Estrelle (alias Inès) und der von ihm auf einem Sklavenmarkt erworbenen afrikanischen Königstochter Gunima (alias Sélika), während sich Estrelle, irregeleitet von Fernands Verleumdung durch ihren Cousin Salvator (alias Don Pedro), daraufhin von dem Seefahrer abwendet und den Neffen ihres Vaters, eben Salvator, heiratet. Scribe hatte für die fünf Akte sieben Bilder vorgeschlagen: 5

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Ak t I: Plat z am Hafen von Cadix Ak t II: Zimmer eines kleinen Hauses in der Umgebung von Cadix Ak t III: auf einem spanischen Schif f, auf dem Weg nach Lima Ak t IV: nahe den Quellen des Niger / im Inneren Afrikas A k t V: Gar ten bei den Gemächern der Gunima / Kap mit großem Manzanillobaum.

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Grundsätzlich griff Meyerbeer in diese Disposition nur in den beiden ersten Akten ein, dies aber mit besonderem Bedacht, weil er den Handlungsbeginn nach Sevilla zu verlegen wünschte und damit als historische Kulisse der Liebesgeschichte die Überwindung der Maurenherrschaft in Spanien gewann. Trotz der umfangreichen Komposition, die bis 1843 vorlag, verfolgte Meyerbeer dieses Konzept jedoch nur halbherzig, weil er – anders als in den „Huguenots“ und auch in „Le Prophète“ – mit der Couleur historique und der historischen Profilierung der männlichen Hauptfigur nicht zufrieden war. Als „Vecchia Africana“ legte Meyerbeer die Partitur schließlich zu den Akten. Diesen ersten Schritt in Richtung auf eine prominente historische Basis und Einkleidung der exotisch herausgeputzten Handlung konkretisierte Meyerbeer im Herbst und Winter 1851, indem er die historische Figur des portugiesischen Seefahrers und Indien-Entdeckers Vasco da Gama als männliche Hauptrolle einzuführen gedachte. Er stellte die doppelte Konfliktsituation in den Rahmen eines Historienbildes, in dem nun die ursprünglich konventionelle Liebesintrige Teil einer komplexen öffentlichen, Staatstragenden und Historie stiftenden Handlung mit privaten Liebeskonflikten wurde. Den Anstoß zu dieser historisch-exotischen Konkretion der Opernhandlung gaben zum einen Meyerbeers Lektüre des portugiesischen Nationalepos „Os Lusíadas“ von Luís de Camões, dessen Held der Seefahrer Vasco da Gama ist, und zum andern eine Reihe von kulturhistorisch akzentuierten Schriften und Reiseberichten über Indien, dessen Sitten und Gebräuche, aus denen Meyerbeer offensichtlich die Präzisierung seiner Vorstellungen von indischer Couleur bezog. In einem umfangreichen Brief vom 27. Oktober 1851 erläuterte Meyerbeer seinem Librettisten den neuen Einstieg in die historisch basierte Handlung und die damit verbundenen dramaturgischen Neuerungen für den ersten Akt: die feierliche Ratsszene mit der Auseinandersetzung zwischen Vasco, dem Vorsitzenden des Rates Don Pedro und dem Großinquisitor sowie die anschließende Szene auf dem Sklavenmarkt mit Vascos Kauf von Gunima und Yoriko (alias Nélusko). Meyerbeer benannte ohne Umschweife die strukturellen Gründe für die Änderungen: Er wolle das Theaterstück auf eine ganz neue Grundlage vor einem historischen und noblen Hintergrund stellen, mit interessanteren und besser ausgesuchten Charakteren als dies Fernand, Ines und Salvator gewesen seien, für die man nicht das mindeste Interesse aufbringe. Nun aber könne Scribe dem Vasco einen heroischen und chevaleresken Charakter geben. Scribe lieferte am 1. Dezember 1851 das neue Szenario für die beiden ersten Akte, ohne dass Meyerbeer zunächst darauf reagierte. Erst zu Weihnachten, am 24. Dezember, kommentierte er Scribes neuen Entwurf mit einer weiteren Idee – deutliches Zeichen des fragilen Zustands, in dem sich Meyerbeers dramaturgische Überlegungen und sein Dialog mit Scribe befanden. Bei allem Lob für Scribes neuen Entwurf wartete Meyerbeer nun 9

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mit der Idee auf, den ersten Akt an der Grenze zwischen Afrika und Asien spielen zu lassen, den zweiten in Portugal, den dritten auf einem Schiff auf hoher See und die beiden letzten Akte in Indien. Auf diese Weise gewänne man einen schönen und unerwarteten Kontrast zwischen den beiden ersten und den beiden letzten Akten durch den Gegensatz des düsteren Lissabons zur heiteren tropischen Natur Indiens. Noch benannte Meyerbeer in diesem Schreiben die Tenorrolle mit „Fernand oder Vasco“, aber die nunmehr indische Königstochter firmierte bereits als Zelica, und auch Inès trägt zu diesem Zeitpunkt den endgültigen Rollennamen. Von den Hauptfiguren blieb zunächst nur der Name Yoriko erhalten; er wurde erst kurz vor der Uraufführung in Nélusko geändert. Diese Arbeitsphase brach aus vielerlei Gründen 1853 wieder ab. Die Unsicherheit in der Konzeption des ersten Aktes und somit in der Informationsvergabe am Beginn der Oper sowie in der Ausgestaltung der Finalarie im fünften Akt beschäftigten Meyerbeer jedoch weiterhin. Noch im April 1861, nach Scribes Tod, waren Handlung und Dramaturgie der beiden ersten Akte unklar. Mit seiner neuen Librettistin Charlotte Birch-Pfeiffer diskutierte Meyerbeer intensiv den ersten und fünften Akt. Birch-Pfeiffer versuchte die Exposition der verzweigten Handlung zu straffen und zu vereinfachen, indem sie die Szene auf dem Sklavenmarkt lediglich informell, nicht jedoch in figürlicher Ausführung in die große Ratsszene des ersten Aktes zu integrieren vorschlug. Der Vorteil liege auf der Hand: Die Ratsszene gebe mit ihrer kontroversen Steigerung ein ausgezeichnetes Aktfinale ab. Der Ursprung für diese Disposition liegt in Meyerbeers Wunsch, sich im ersten Akt einen Bildwechsel zu ersparen, den Sklavenmarkt also zu streichen und die Gesamtlänge der Oper dadurch erheblich zu vermindern. Die Konsequenz, so Birch-Pfeiffer, sei aber die Eliminierung einer (Auftritts-)Cavatine für Sélika, die sich in diesem Konzept für den ersten Akt nicht mehr unterbringen lasse. Auch an diesem Beispiel der tastenden und suchenden Disposition wird deutlich, wie schwierig und wie multioptional die Vorstellungen des Komponisten und seiner verschiedenen Librettisten waren. Birch-Pfeiffer respektierte Meyerbeers Insistieren auf Sélikas Cavatine, an der der Komponist sehr hing, aber eben um den Preis, den Sklavenmarkt vor der Ratsszene zeigen zu müssen, mithin sowohl Vasco als auch Sélika in der Expositionsszene der gesamten Opernhandlung dem Publikum vorzustellen – ein dramaturgisch untrüglicher Hinweis auf die unverbrüchliche emotionale Liaison zwischen Sélika und Vasco. Diesen Expositionscoup revidierte Meyerbeer erst spät, im Mai 1863, als er Birch-Pfeiffers Vorschlag zustimmte, den Einschub der Sklavenpräsentation in die Ratsszene zu verlegen und folglich auf Sélikas Cavatine im ersten Akt zu verzichten. Am 30. Juni begann er mit der Komposition des entsprechenden Accompagnato-Rezitativs, das in die Ratsszene integriert werden musste. 14

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Damit war die Entscheidung für die Szenen- und Nummernfolge im ersten Akt gefallen: Nur kurz zuvor, am 9. April 1863, beschäftigte sich Meyerbeer mit dem Ritornell, mit dem der erste Akt der Oper beginnt, folglich also mit der Auftrittsszene der Inès, in der nun Sélikas Rivalin als erste die Bühne betritt – und mit welchem Gewinn für die musikdramatische Präsentation einer Figur und dem mit ihr verknüpften dramatischen Augenblick! In einer musiktheatral brillant camouflierten Szene präsentierte Meyerbeer nun Inès und Vasco (anstelle von Sélika und Vasco) als zentrales Liebespaar. Inès lebt allein aus der Erinnerung an Vascos Abschiedsworte, die sie durch intensive Sublimierung zu ihrer eigenen Gefühlswelt transformiert. Romanzen, in denen Ereignisse der Vergangenheit in der aktuellen Bühnenhandlung zur Charakterisierung der Figurenemotion aufgerufen werden, füllen die Opernpartituren des 19. Jahrhunderts in kaum überschaubarer Zahl. Aber es gibt wohl keine einzige Rekapitulationsszene, in der erinnerndes Aufrufen einer anderen Figur und eigenes Gefühl der erzählenden Figur derart übergangslos miteinander verschmelzen wie in der Romance der Inès. Die gesamte Szene (Andantino con moto, B-Dur, 4 ⁄4 -Takt, überschrieben mit „Romance“) hat zwar vordergründig eine konventionelle musikalische Form: dreiteilige variierte Reprisenform der engeren Romance (Andantino con moto, G-Dur, 6 ⁄ 8 -Takt), die durch das mottohafte, auf Echowirkungen zwischen Instrumental- und Vokalstimme basierende B-Dur-Motiv gerahmt und am Ende der Rahmenschließung zur brillanten Koloraturkadenz gesteigert wird. Der Komplexionsgrad der musikalischen Form wie der emotionalen Spannung der Frauenfigur entsteht durch die bruchlose Verschachtelung von zitierter und eigentlicher Redeweise. Die gesamte Romance, B-Dur- wie G-Dur-Teil sind als Zitat von Vascos Abschied deklariert, indem Inès die Abschiedsworte ihres Liebhabers wie zur lebensspendenden Vergewisserung einer emotionalen Ausnahmesituation nachsingend wiederholt. Nur diese Erinnerung hält sie am Leben und stärkt ihr den Glauben an die Rückkehr des Geliebten. Im formalen Zentrum der eigentlichen Reprisenform („Pour celle qui m’est chère“) freilich steht der motivisch leicht kontrastierende Mittelteil, in dem Inès diese erinnerte Innigkeit als Liebe aus Kindertagen („Amours de l’enfance“) abwertet. Er ist formal als motivisch-thematischer Mittelteil der Reprisenform konstitutiv für die musikalische Szene, harmonisch in Es-Dur aber herausgerückt aus dem Binnenzusammenhang und in seinen letzten Takten, vor Eintritt der stark variierten melodischen Reprise, klanglich und harmonisch verdüstert. Alle Formteile dieser dreiteiligen Reprisenform sind durch Modulationen in die Dominante oder Mediante harmonisch geöffnet, also ohne präzis formulierten Zusammenhalt, aber auch zukunftsorientiert, auf Erwartung entworfen: Die variierte Reprise der Romance-Melodie („Adieu, mon doux rivage, où j’ai reçu le jour“) steht statt in der Tonika G-Dur in der Dominante D-Dur; das Thema selber moduliert 17

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bei seiner Exposition („Pour celle qui m’est chère“) nicht in die Dominante, sondern in die Mediante B-Dur; daran knüpft der Es-Dur-Mittelteil („Amours de l’enfance“) an, um seinerseits nicht in der Dominante, sondern in deren Mediante D-Dur zu schließen; und die Reprise mündet in einer kleinen Coda nach Es-Dur, das subdominantisch zur Rahmen-Tonart B-Dur steht, sich aber am Ende nach G-Dur, also in die Tonika der eigentlichen Romance auflöst. Mithin ist die harmonische und motivische Bezüglichkeit der Formteile denkbar dicht und komplex, so dass die affektive Präsentation kaum noch zwischen den Sprechhaltungen von Inès und Vasco unterscheidet. Beide Figuren sind in jedem Augenblick, wie es scheint, auf der Szene präsent: der zitierte und, weil abwesend, imaginierte Vasco durch die erinnernde Rekapitulation und durch die zitierende und aktuell anwesende Inès, die gerade in der Rekapitulation von Vascos Abschiedsgesang ihre emotionale Erfüllung findet. Nicht zufällig entschied sich Meyerbeer beim echohaften Rahmen wie bei der eigentlichen Romance für das annähernd gleiche Tempo (Andantino con moto, das Viertel zu 60 und zu 100). Diese selbstreferentielle Darstellung von augenblicklicher Emotion, die nicht vom Singen des abwesenden Geliebten berichtet, sondern ihn selber gleichsam zu Gehör bringt, belegt einmal mehr Meyerbeers extrem sicheres Gespür für die emotionale Dichte von musiktheatralen Momenten, sie weist aber auch deutlich über des Komponisten zeitgenössisches Umfeld hinaus in die Moderne des frühen 20. Jahrhunderts, in der Modelle der Sebstrefentialität, also der Vorführung von theatralen Mitteln mit diesen Mitteln selber, zum Programm erhoben wurden. Und schließlich lässt dieser Einstieg in die fünfaktige Handlung keinen anderen Schluss zu als die Erkenntnis der zwar gefährdeten, aber unverbrüchlichen Liebe von Vasco und Inès. Wer Ohren hatte zu hören, konnte in diesem Augenblick, in der ersten Szene der fünfaktigen Oper, sicher sein, dass Sélika gegen Inès keine Chance haben würde auf Vascos liebende Zuwendung. Dieser Ausnahmesituation einer der beiden Frauenfiguren verlieh Meyerbeer auch das entsprechende szenische Bild, indem er Inès allein mit ihren Gefühlen in der riesigen Halle der Ratsversammlung zeigte – eben an jenem Ort, an dem letztlich ihre Zukunft und ihr Vertrauen in den Geliebten zerstört werden. Eine geniale, in ihrer frappierenden Vielschichtigkeit singuläre Gestaltung einer Expositionsszene. 18

Dieses eine Beispiel mag Meyerbeers Arbeitsweise und seine beständige Suche nach dem musiktheatralen Optimum illustrieren. Die Revisionen nahmen kein Ende. Am 29. November 1863, also ein knappes halbes Jahr nach der vermeintlichen Schlussfassung der ersten Szene mit der Romance der Inès, notierte Meyerbeer in seinem Tagebuch, dass er nach siebenstündiger Arbeit (an einem Sonntag) nunmehr die ganze Partitur seiner Oper „Vasco de Gama“ beendet habe, mit Ausnahme der Ouvertüre und der 21


Ballettstücke sowie der möglichen Veränderungen. Die Überzeugung, zum Ende gekommen zu sein mit dieser schwierigen und langwierigen Komposition, war für den Moment groß, denn wie üblich bei tatsächlichen Abschlüssen und Fertigstellungen von musikalischen Werken fügte Meyerbeer die Bitte um Gottes Segen für das Werk und den Wunsch nach glänzendem und dauerhaftem Erfolg in seiner Tagebuchnotiz hinzu. Schon zwei Tage später, am 2. Dezember, begannen die Korrekturen, mit Vascos Traumarioso im Kerker. Den ersten Akt mit der Romance der Inès revidierte Meyerbeer am 15. Januar 1864. Von einer endgültigen Partitur-Fassung konnte mithin keine Rede sein. Und niemand weiß, was Meyerbeer an Änderungen und Umdispositionen eingefallen wäre, wenn er dann endlich die Sängerin der Inès in den Proben gesehen und vor allem gehört hätte. Marie Battu, die in der posthumen Uraufführung die Inès sang, hörte Meyerbeer am 6. Januar 1864 in einer Aufführung von Rossinis „Moïse et Pharaon“. Sein Urteil war nicht gerade schmeichelhaft: „Mademoiselle Battu singt recht gut, aber die Stimme ist spitz und klanglos.“ Dies konnte nicht die schwärmerische, mit Abschattierungen jeglicher Art, mit Forte-Piano-Effekten und weit ausgesungenen Bögen aufwartende Sängerin für die Auftritts-Romance der Inès sein. Der Battu hätte wohl eher die Alternativ-Version der Romance, eine frühere Fassung dieses Stücks, gelegen, in der Meyerbeer musikalisch-formal sehr genau unterschied zwischen dem sehnsüchtigen Erinnerungsruf, der als Zitat auch in der endgültigen Fassung die Romance rahmt („Adieu, mon doux rivage“), und dem Gesangsstück selber. Dies ist im Tempo (Allegretto moderato) wesentlich rascher und in der Diktion agiler und frischer konzipiert und wirkt wie eine fesche Polonaise im 3 ⁄4 -Takt. Auch dies eine dreiteilige variierte Reprisenform, die aber weder mit den harmonischen Raffinessen, noch mit der Verschmelzung von Vasco-Zitat und Eigentext der singenden Figur ausgestattet ist, sondern lediglich im Reprisenteil des Romance-Themas auf Textwiederholungen eine rhythmisch (2 ⁄4 -Takt) und harmonisch (Ausweichung nach As-Dur) akzentuierte Irritations-Episode aufweist, von der aus die musikalische Entwicklung in die motivisch geradezu belanglose Coda der dreiteiligen Form mündet. Der Koloraturenreichtum an den formalen Grenzen dieser Romance und die simple Ausweichung in der thematischen Reprise sowie die Frische, aber auch Banalität der musikalischen Erfindung insgesamt weisen diese Fassung eher als sängerisches Kabinettstück aus denn als vielschichtiges, komplexes musikalisch-theatrales Seelenbild – eben eine Präsentationsnummer für eine Chanteuse lègère wie Marie Battu. Kaum zu glauben, dass Meyerbeer diese beiden Fassungen der ­Romance für dieselbe Szene entwarf, aber bei den bisweilen heiklen Besetzungsfragen wollte er für alle Fälle gerüstet sein. Am Erfolg der Oper waren die Sängerinnen und Sänger mit ihrem Können herausragend beteiligt. Dafür 19

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komponierte ihnen Meyerbeer in die Kehle und schrieb, wenn nötig, noch während der Proben neue Vokalnummern. Dieses übliche Verfahren für Meyerbeer-Aufführungen fällt bei „Vasco de Gama“ komplett aus, so dass man bei Meyerbeers Beteiligung mit erheblichen Revisionen der fertigen Partitur rechnen muss, ohne sie auch nur im Mindesten zu kennen. Nicht einmal Rückschlüsse auf etwaige Voraussicht in der Komposition lassen sich ziehen, weil der Komponist bis vier Wochen vor seinem Tod keine Gewissheit über die präzise Besetzung seiner Rollen hatte und deshalb auch den Termin der Uraufführung für das Jahr 1864 nicht garantieren mochte. 24

Neben der historischen Couleur der Handlung, die Meyerbeer durch die Änderung der männlichen Haupt- und Titelrolle zu seiner Zufriedenheit löste, und dem Faszinosum einer alle Maße des Gewohnten sprengenden, exotisch-spektakulären Finalszene für die indische Prinzessin war als dritte wichtige Komponente bei der Vorbereitung der Uraufführung für Meyerbeer die Antwort auf die schwebende Frage nach seinen Sängerinnen und Sängern. Für Meyerbeers ästhetischen Standpunkt und somit als dramaturgische Konstante von besonderer Bedeutung war seine Vorstellung, für die Rollen der Sélika und der Inès den gleichen Stimmtypus zu haben, eben jenes sogenannte „Genre Falcon“, benannt nach Cornélie Falcon, der ersten Valentine in den „Huguenots“. Für sie hatte Meyerbeer einst die Rolle der Sélika kreiert. Nachdem die Falcon wegen einer Stimmbanderkrankung 1838 ihre Karriere beenden musste, erlahmte für Meyerbeer jedes Interesse an der Fertigstellung der Partitur, weil er seine Wunschbesetzung nicht realisieren konnte. 25 Jahre später, bei den Schlussrevisionen seines „Vasco de Gama“, konzentrierte sich seine Sorge erneut auf die Besetzungsfrage, weil sich ganz offensichtlich seine dramaturgische Vorstellung von den beiden Sopranpartien gewandelt hatte. Auch in dieser Frage verfuhr Meyerbeer nicht nach der Konvention, indem er Sélika mit einem Falcon-Sopran, Inès jedoch mit einer „chanteuse lègère“ besetzt hätte; vielmehr stellte er sich beide Frauenrollen auch sängerisch auf Augenhöhe vor. Das Casting war für Meyerbeer zeitraubend und strapaziös. Kandidatinnen wie Therese Tietjens und Marie Pauline Lucca konnten ihn nicht überzeugen, und selbst gegenüber Marie Constance Sass, die dann doch die Uraufführung sang, blieb Meyerbeer skeptisch: Nachdem er sie als Herzogin Hélène in Verdis „Les Vêpres siciliennes“ gehört hatte, glaubte er, sie könne der Rolle der Sélika gerecht werden, „wenn sie ihr nicht vielleicht zu hoch liegen sollte“. Kurz zuvor hatte er die Sass als Rachel in Halévys „La Juive“ und als Leonore in der französischen Fassung von Verdis „Il trovatore“ gehört, mit Kritik nicht gespart und sie eher als Mezzosopran denn als Sopran eingeschätzt. Gleichwohl kontrollierte er eine Woche ­später, am 23. September im zweiten und dritten Akt seiner Partitur die 25

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Stimmlagen der Sélika und des Nélusko mit Blick auf die sängerischen Möglichkeiten der Sass und des Baritons Jean-Baptiste Faure (Nélusko). Einzig Emilio Naudin als Vasco fand Meyerbeers Zustimmung, weil er den Ansprüchen des Komponisten offenbar gerecht wurde: „Vasco ist die bedeutendste Tenor-Rolle die ich in meinem Leben componirt habe, und von deren Darstellung hängt ein bedeutender Theil des Erfolges der Oper ab.“ Doch auch Naudins Vertrag lag bis Anfang April 1864 (vgl. Anm. 24) nicht vor, so dass Meyerbeer, streng genommen, immer noch die Position vom Mai 1863 vertrat: „Von der Darstellung dieser Rolle (Vasco) und der zwei Frauenrollen hängt […] der größte Theil des Erfolges dieses neuen Werks ab. Nur an dem Theater, wo ich diese drei Rollen gut besetzen kann werde ich das Werk zum ersten Mal geben.“ Überlegungen zu Meyerbeers Entscheidungen für oder gegen eine Aufführung im Jahre 1864 oder zu seinen Eingriffen in die Partitur, wenn er mit den Sängerinnen und Sängern geprobt hätte, bleiben Spekulation. Die Bedeutung freilich, die er seinen Gesangsstars bei der Vermittlung seiner künstlerischen Ideen zumaß, und die schier unendliche Reihe von Revisionen einer fertigen Partitur noch vor Probenbeginn schärfen den Blick für die Fülle an musiktheatralen Optionen, die sich Meyerbeer eröffneten und die er konsequent wahrzunehmen gedachte, und sie gebieten Zurückhaltung gegenüber der scheinbaren Verlässlichkeit einer fertigen Partitur. Der Notentext ist im Wesentlichen unmissverständlich formuliert. Dies wird die Edition der Partitur konservieren. Aber die Deutung dieser Partitur 150 Jahre nach der Uraufführung ist im Kontext der historischen Rahmenbedingungen des mittleren 19. Jahrhunderts eine interessante editorische Aufgabe. Dies offenbart sich besonders drastisch an den herausragenden musikalisch-szenischen Auftritten der Hauptfiguren Sélika und Vasco. Die charakterliche Verzeichnung der Titelrolle in der Uraufführung durch die gravierenden Eingriffe von Fétis werfen weniger ein Schlaglicht auf die aus heutiger Sicht unverständliche Eigenmächtigkeit eines Bearbeiters als vielmehr auf Meyerbeers ästhetischen Standpunkt, von dem aus er seine Titelfigur konzipierte und dem man sich mit konventionellen musiktheatralen Vorstellungen des mittleren 19. Jahrhunderts, wie etwa denen von Fétis, kaum angemessen nähern konnte. Vascos Air im vierten Akt ist eingebettet in die brachiale und klanglich fremde Welt der aggressiven indischen Brahmanen. Sélikas Volk feiert mit derbem Tanz, zu dem vier Fagotte, Gran Cassa, Cymbeln und Tambourin die Klangfarben liefern, und auftrumpfendem Kollektivgesang die Rückkehr seiner Königin. Die Brahma-Priester fordern zugleich das Blutopfer, das nach altem Ritus jeden Fremden in diesem Land ereilt. In diese feindlich-aggressive Situation hinein tritt Vasco auf, ohne sich nur im Geringsten um die Gefahr zu scheren, in der er schwebt. In dem kurzen, nur zehn Takte 28

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Marie Constance Sass [oder Sax bzw. Saxe], Photo von Reutlinger o. J.

umfassenden Rezitativ vor dem vokalen Einsatz der weltberühmten Air-Melodie formuliert Vasco gleich zu Beginn das Programm seiner Solonummer, die Beschreibung seiner visuellen Eindrücke: „O Himmel! Was seh ich?“ Und er entwirft ein anmutiges Landschaftsbild mit entsprechenden Naturdetails: zauberhafte Gegend, schönes Ufer, einen Fluss, Wiesen und Blumen, mithin die Präsentation Vascos als sensiblen Naturmenschen, dessen Entdeckerfreude gefangen genommen wird von der verzaubernden Andersartigkeit der Welt, in der er sich unmittelbar nach seiner Befreiung aus dem geenterten europäischen Schiff wiederfindet. Dazu erklingen „très doux“ die ersten Violinen, die gemeinsam mit drei tremolierenden großen Flöten sowie später Bassklarinette und Saxophon einen exquisiten Klangteppich auslegen, auf dem sich in der Klarinette das Vokalthema der Air erhebt. Das Air-Thema 25


als Vorauszitat dient, ungewöhnlich genug, der szenisch-rezitativischen ­Einleitung. Die Tenorstimme setzt mit halber Stimme ein, mit ersticktem Erstaunen, nahezu gesprochen – in seiner ausgesuchten Delikatesse der krasseste Gegensatz zum rohen und thematisch durchaus schlichten Getöse des voraufgehenden Priesterchors. Auch in der eigentlichen Air setzt sich Vascos Natursensualismus fort. Schon der Einsatz der Tenorstimme mit den Worten „Ô doux climat“ ­signalisiert die Diktion der folgenden Formulierungen, literarisch wie musikalisch: „climat“ versammelt, im Unterschied zum Deutschen, im Französischen über die engere Bedeutung „Klima“ hinaus auch Aspekte wie Himmelsstrich, Atmosphäre, ja duftgeschwängerte Luft. All dies sollte nach Meyerbeers Vorstellung wohl mitschwingen, wenn die bedeutendste Tenorrolle, die er in seinem Leben komponiert hatte, zu ihrem alles entscheidenden Auftritt kam. Der von Meyerbeer selber entworfene Text offeriert zwar flüchtig am Ende der ersten von zwei gleichen Strophen die Übertragung des von Vasco augenblicklich Erlebten auf sein ganzes portugiesisches Volk, das er gern an diesem Genuss beteiligen würde „dont j’aurai doté mon pays! A nous ce soleil qui m’inonde, à nous ces trésors indiens!“). Aber wie schon in der Ratsszene zu Beginn der Handlung, so steht auch in diesem Augenblick des Wendepunktes schließlich er allein im Zentrum seines Fühlens und Denkens. Dieser egozentrischen Selbstwahrnehmung gab Meyerbeer unmissverständlichen Ausdruck in den Textwiederholungen des letzten Verses, die gerade nicht auf „beau pays“ zielen, sondern auf „sois donc à moi“ mit siebenfachem „moi“, davon dreimal hintereinander als Höhe- und Schlusspunkt der gesamten Air, das letzte „moi“ auf dem hohen B zu singen, „avec enthousiasme“ und durch Fermate zum spektakulären Halteton gedehnt. Während die erste Textstrophe auf die Teilhabe des portugiesischen Volkes zielt, kreist die zweite textlich wie klanglich um Vascos Entdecker-Ich. Eben deswegen sind die beiden Strophen auch als Intensivierung vertont, die erste mit 16 Takten jener traumverlorenen Melodie, die in Kurzform schon in der einleitenden Mini-Scène instrumental exponiert wird, die zweite mit ebenfalls 16 Takten auf ein neues, straffer rhythmisiertes und chevalereskes Thema komponiert, das mit Inbrunst zu singen ist und bis zum Höhepunkt durch forciertes Tempo als typische Steigerungsform angelegt ist. Gerade das forschere zweite Thema, das man wegen seiner Instrumentierung mit Trompeten, Hörnern, Posaunen, einer Ophicléïde und Fagotten als „ritterlich“ empfinden könnte, auch wenn Pianissimo als dynamische Vorschrift gilt, mag Fétis bewogen haben, diesen musiktheatralen Auftritt Vascos in Sélikas Reich als Eroberungsakt zu begreifen und anstelle des von Meyerbeer vorgeschriebenen Texts einen neuen eigenen, deutlich anders akzentuierten zu setzen: 31

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Bearbeitung Fétis

Original Meyerbeer

Ô ciel! Que vois-je?

Pays merveilleux, jardin fortuné,

quel site enchanteur! Quel beau rivage!

palais radieux, salut!

ce fleuve! ces gazons! ces fleurs!

Ô paradis sorti de l’onde.

Ô doux climat! splendide rivage.

Ciel si bleu, ciel si pur,

Ciel si bleu, si limpide,

dont mes yeux son ravis,

dont mes yeux son ravis,

tu m’appartiens, ô nouveau monde,

brilles au loin sur cette plage,

dont j’aurai doté mon pays!

dont j’aurai doté mon pays!

A nous ces campagnes vermeilles,

A nous ce soleil qui m’inonde,

à nous cet Eden retrouvé.

à nous ces trésors indiens!

Ô trésor charmant, ô merveilles, salut!

Ô moment rêve, ô nouveau monde, salut!

Monde nouveau, tu m’appartiens,

Je t’ai conquis, tu m’appartiens,

sois donc à moi, ô beau pays!

sois donc à moi, ô beau pays!

Himmel! Was seh ich?

Land so wunderbar! Welch üppiger Garten!

Welch zauberhafte Gegend!

Welch schönes Ufer! Dieser Fluss! Tempel so voll Glanz, seid gegrüßt!

Diese Wiesen! Diese Blumen!

O Paradies, das aus den Wellen steigt,

O süße Atmosphäre! Prächtiges Ufer!

Himmel so blau, Himmel so rein,

Himmel so blau, so klar,

der mein Auge bezaubert!

Der mein Auge bezaubert!

Du gehörst mir, neue Welt,

Der von fern her auf diesen Strand leuchtet,

die ich gern meinem Land geschenkt hätte.

den ich gern meinem Land geschenkt hätte!

Für uns diese fruchtbaren Felder,

Für uns diese Sonne, die mich überflutet.

Dies Eden, dem keines gleich!

Für uns diese indischen Schätze!

Du, an Schätzen, ach! An Wundern so reich, O traumhafter Augenblick, o neue Welt, sei gegrüßt! O neue Welt, ich halte dich, o sei nun mein, Ich habe dich erobert, ich verbinde mich mit dir, du schönes Land!

sei also mein, du schönes Land!

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Schon die Rezitativ-Verse verdeutlichen den gedanklichen Unterschied der Fétis-Bearbeitung zu Meyerbeers Original. Nicht das Wahrnehmungserlebnis einer fremden Natur, sondern der Begriffskatalog eines Reiseführers diktiert die Sprache der Figur: Wunderbares Land, üppige Gärten, glanzvoller Palast oder Tempel. All dies begrüßt der Eindringling – als Auftakt von Vascos erster Begegnung mit der Fremde eine wahrlich konventionelle Haltung. Sie findet am Beginn der ersten Strophe ihre Fortsetzung und zugleich ihren Höhepunkt: Paradies, die literarische Chiffre für das gelobte Land, für den Garten Eden, der in der zweiten Strophe affirmiert wird und der unverhohlen christliche Vorstellungen auf einen fremden Kult und ein fremdes Land appliziert – die typischen Merkmale einer Kolonialismusstrategie, die bei der aufgeworfenen Thematik durchaus nahe liegt. Vor allem aber ließ sich in der Fétis-Bearbeitung das konventionelle Heldenbild des 19. Jahrhunderts auch in der Vasco-Figur vermitteln, eben jenes Bild, das Meyerbeer augenscheinlich vermeiden wollte. Vasco ist in Meyerbeers dramatischer Diktion gerade kein konventioneller Held. Aus Gefahren retten ihn die beiden Frauen, die ihm von ganzem Herzen zugetan sind: Sélika im Kerker vor dem rächenden Messer Néluskos; Inès in der Gefangenschaft des Kerkers, aus der sie ihn um den Preis ihrer Liebe befreit; und noch zweimal Sélika, auf dem Schiff vor den Schergen Don Pedros, indem sie im rächenden Tauschverfahren Vasco gegen Inès ausspielt, und in ihrer Heimat vor den blutrünstigen Priestern des Brahma. Heldentaten im konventionellen Sinn begeht Vasco wahrlich nicht, aber im Kontext seiner Ruhm- und Unsterblichkeitsfantasien wird er zum Streiter gegen beharrenden Konservativismus und Obskurantismus und damit zugleich zum Verfechter des Aufbruchs in eine neue Welt. Dieses Konzept war für eine historische Tenorfigur durchaus innovativ, was Meyerbeer instinktiv spürte und als seine bedeutendste künstlerische Leistung apostrophierte. Seinen vornehmsten Ausdruck findet diese Figurencharakteristik in der Air „Ô doux climat“, die zwischen Kantabilität und Deklamation der Gesangsstimme wechselt und auf engstem Raum eine gefühlige statt einer rational durchkonstruierten Ausdrucksmöglichkeit formuliert. Meyerbeer entwarf für diesen Schlager der Opernliteratur zwei verschiedene Ausdruckshaltungen, eine sehr strenge, ganz auf vokale Linie abgestellte und eine elaboriertere, in der die tradierte Ästhetik des Wortausdrucks in herausgehobenen vokalen Volten mit dem neuen Stil der gesanglichen Innerlichkeit verschmolzen wurde. Für Meyerbeer verstand es sich von selbst, dass man die eine oder die andere Version singen ließ; er deklarierte die Alternativ-Version als „où bien“, was am Entweder-Oder keinen Zweifel lässt. Fétis hingegen griff nicht nur zur Literatenfeder, um sich eine genehme und den Konventionen noch einigermaßen entsprechende Heldenfigur zu konstruieren, sondern er mischte auch Passagen aus beiden Meyerbeer-Versionen in eine neue und komponierte in zwei Takten auch eigene Wendung 28


in Meyerbeers Notentext hinein. Diese Verzeichnungen durch den Partitur-Bearbeiter der Uraufführung sind natürlich in der editorischen Arbeit zu bereinigen. Wichtiger aber ist die Erkenntnis, dass selbst Kenner der Szene und mit Meyerbeers Musik Vertraute wie Fétis offensichtlich die Intentionen des Komponisten nicht immer zur Gänze verstanden und deshalb die eigenen Vorstellungen von Opernhandlung supponierten. Aus diesem Blickwinkel war die Bearbeitung der Finalszene des fünften Aktes, die Fétis vornahm, nur konsequent, weil sie das ästhetische wie das dramatische Programm seiner Air-Bearbeitung folgerichtig fortsetzte und abschloss. Eine unglücklich, aber selbstlos liebende Frau wie Sélika kann ihrem tragischen Geschick nur durch den Freitod ein Ende setzen und es zugleich in diesem spektakulären Schluss heroisch überhöhen. Das Leben mit einem Vasco, dessen Herz ihr nicht wirklich gehört, scheint noch unerträglicher als der Tod. Keine Frage, dass sich in diesem Tragödienkonzept die ästhetische wie dramaturgische Konvention des 19. Jahrhunderts abzeichnet. Mit einem solchen Finale-Auftritt avancierte Sélika tatsächlich zur zentralen Figur der Opernhandlung. Wohl auch deshalb – und nicht aus Publicitygründen – entschied sich Fétis für den alten Titel „L’Africaine“. Auch Meyerbeer zog während der Komposition an dieser Szene das 20 Jahre alte Material aus der ersten Partitur der Vecchia Africana noch einmal zu Rate, um sich seiner früheren musiktheatralen Überlegungen zu vergewissern. Sélikas Sterbeszene bereitete ihm offensichtliche Schwierigkeiten, denn er näherte sich dieser Komposition nur zögerlich. Zugleich musste er den Schluss der Handlung auch noch dichterisch erfinden, was ihm zu schaffen machte. Gleichwohl entstand die Musik zu diesem gewaltigen Solo-Finale in kontinuierlicher Arbeit der nächsten gut sieben Wochen, einschließlich der umfangreichen Revisionen. Mit der Instrumentierung des Finales fünfter Akt war, wie erwähnt, am 29. November 1863 die Opernpartitur abgeschlossen. Dass diese Finalszene tatsächlich während der Proben keine Revision mehr erfahren hätte, erscheint unwahrscheinlich, aber über mögliche Änderungen lässt sich nur spekulieren, freilich in einigen Aspekten mit guten Gründen. In der Edition der Partitur werden Meyerbeers Strichvorschläge und Alternativ-Versionen auch für Sélikas Sterbeszene selbstverständlich dokumentiert, und es bleibt die Kalamität, die Ballettszenen nicht zu kennen, deren Bedeutung Meyerbeer in seinen sorgfältigen Tagebuchnotizen gerade während der letzten Wochen immer wieder hervorhob, zuletzt noch am 27. Oktober 1863, als er den letzten geschlossenen Musiksatz der Finalszene, die E-Dur-Passage „Ô moment enchanteur“ revidiert hatte und anschließend bemerkte, andere Tableaux als Eugène Scribe für die verschiedenen Visionen (sc. im nicht komponierten Traumballett) erfunden und notiert zu haben. Ob diese Ballettszenen dem Willen des Komponisten genügt hätten, Vascos 32

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Charakter zu rehabilitieren, ihn also von dem Makel flatterhafter Liebesempfindung und egoistisch-opportunistischer Handlungsweise zu reinigen, bleibe dahin gestellt. Meyerbeer selber hatte schon mit Charlotte Birch-Pfeiffer über einen weiteren Auftritt Vascos in Sélikas Finalszene debattiert. Die Birch-Pfeiffer quittierte diese Debatte mit einem köstlichen ironischen Kommentar, der freilich an die Problematik der dramaturgischen Entscheidung nicht wirklich heranreichte: „Wenn Sie aber meiner Bühnenkenntniß irgend Vertrauen schenken, so kürzen & ändern wir eher die letzte Arie, als daß wir einen „Vasco da Gama“ abziehen lassen – wie einen zweiten Liebhaber in der franz. Komödie! – Sollte Selica allein die Hauptgestalt sein, so dürfte kein großer historischer Name wie dieser ihr zur Seite gestellt sein.“ So sicher, wie die Birch-Pfeiffer das grundsätzliche Problem erkannte hatte, das mit der Implementierung einer historischen Gestalt als Opernfigur in eine fiktionale Liebesgeschichte exotischen Gepräges entstanden war, so wenig hat sie offensichtlich zu dessen Lösung beizutragen vermocht. Noch 1863 dachte Meyerbeer offensichtlich über eine erstaunlich konventionelle Lösung der theatralen Problematik nach. In seinem Arbeitslibretto notierte er, wie erwähnt, verschiedene Textschlüsse, u. a. die tatsächliche, nicht nur von Sélika imaginierte Rückkehr Vascos zur sterbenden indischen Prinzessin, um ihren Tod als notwendig, wenngleich schmerzlich, für die politische Sendung des Seefahrers zu deklarieren, damit Portugal in Indien die Herrschaft übernehmen könne. Das notwendige Scheitern eines Helden oder einer Heroine für eine politische oder soziale Zukunftsvision war das probate Muster der musikalischen Tragödien des 19. Jahrhunderts. Mit dieser Lösung des Konflikts hätte Meyerbeer musikalisch die falsche Vasco-Figur entworfen und den Sinn des ursprünglichen Titels „L’Africaine“ am Ende doch wieder restituiert. Deshalb wohl plante Meyerbeer auch keinen realen Auftritt Vascos in dieser Sterbeszene. Der Blick auf die von Meyerbeer komponierte Finalszene offeriert deshalb für eine Aufführung dieser Oper verschiedene Lösungsmöglichkeiten: Gerade Sélikas Finalarie gibt paradigmatisch Meyerbeers kompositorische Gewohnheit zu erkennen. Er stellte im Bewusstsein, nicht alle Teile seiner Komposition für die endgültige Fassung in der Uraufführung verwenden zu können, ein umfangreiches Kompendium an Musikstücken und szenischen Passagen zusammen, aus dem er während der Proben auswählen und kombinieren konnte. Er nahm mithin ein gehöriges Maß an Überproduktion in Kauf, um bei den Vorbereitungen der Aufführung eine Palette von Entscheidungsmöglichkeiten zur Verfügung zu haben. Die handschriftliche Partitur weist deshalb in den geschlossenen musikalischen Formen der Soloszene jene Stellen aus, an denen Meyerbeer Striche oder Alternativen von vornherein vorgesehen hatte. Im Überblick spiegelt die Folge von vier musikalischen Sätzen in einer durchdachten harmonischen Relation 36

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den finalen Rausch einer Sterbenden, die sich selber Apotheose und Katastrophe in einem bereitet, also ein Höchstmaß an imaginativem Lustgewinn und an Verklärung und zugleich das sichere Ende in einem Drogenoder Gifttod: 38

I. Satz

Andante sostenuto quasi Larghetto Des-Dur 3∕4 - Takt [„La haine m’abandonne“]

37 Takte

II. Satz

Allegro con moto [„Ô douce extase“]

78 Takte

III. Satz

Andante F-Dur 3∕4 - Takt [„Quels célestes accords!“] Allegretto très modéré D-Dur 3∕8-Takt [„Un cygne au doux ramage“]

IV. Satz

Larghetto sostenuto E-Dur 2∕4-Takt [„Ô moment enchanteur“] Allegretto très modéré D-Dur 3∕8-Takt [„Un cygne au doux ramage“]

As-Dur

2∕4-Takt

72 Takte

103 Takte

Die Eskalationsstrategie, die der Folge dieser vier musikalischen Sätze ein dramaturgisches Gerüst einzieht, ist unverkennbar: Der I. Satz (Andante sostenuto quasi Larghetto) handelt von Sélikas Wehmut und ihrer Vergebung für Vasco; im II. Satz (Allegro con moto) verschafft sich Sélika ihr sehr persönliches Rauscherlebnis durch das Einatmen des giftigen Blütendufts unter dem Manzanillobaum. Der III. und IV. Satz sind als Doppelsätze aufeinander bezogen und durch die Wiederholung des Allegretto très modéré, des sogenannten Schwanenmotivs, auch formal miteinander verknüpft. Die beiden musikalischen Abschnitte des III. Satzes repräsentieren Sélikas Brahma- und Himmelsvision (im Andante) und anschließend ihre Vision des zurückkehrenden Vasco (im Allegretto très modéré). Folgerichtig erlebt Sélika im Larghetto sostenuto des IV. Satzes ihre imaginierte Vereinigung mit dem Geliebten und in der Wiederholung des Allegretto très modéré das gemeinsame Entschweben zu Brahma, dem Gott der Liebenden, symbolisch ausformuliert durch das spektakuläre Baumbegräbnis, indem der Manzanillobaum die Zweige über der sterbenden Königin des Landes schließt und sie somit in die Natur der Heimat aufnimmt. Im daran anschließenden Chœur aérien wird die metaphysische Atmosphäre dieser Sterbe­szene schon rein örtlich Realität, weil der von ewiger Liebe und himmlischer Belohnung für 31


Beständigkeit singende Chor laut Meyerbeers Szenenanweisung auf dem Schnürboden des Theaters zu platzieren sei und auf diese Weise tatsächlich sphärische Klänge produziert. Meyerbeers Gesamtstrategie für dieses Finalsolo scheint auf den ersten Blick unverkennbar. Der szenisch-pantomimischen und sprachlichen Eskalation über vier geschlossene Musikstücke hinweg entspricht die ­steigernde formale Ausdehnung der Sätze in ihrer Aufführungsdauer. Vor allem aber der übergreifende Tonartenplan verweist auf Meyerbeers Vorstellung von der Geschlossenheit der gesamten Szene. Die beiden ekstatischen Zustände der Titelfigur, der narkotisierende Rausch (im II. Satz) und die körperliche Vereinigung mit Vasco (im Larghetto sostenuto des IV. Satzes), sind als Unterterz (As-Dur) bzw. Oberterz (E-Dur) zur Grundtonart C-Dur gruppiert. Mit der Rückkehr zu dieser Ausgangstonart der gesamten Finalszene bei Einsatz des Chœur aérien stellte Meyerbeer nicht nur die tonale Geschlossenheit des gesamten Finales, sondern auch das Realitätsniveau der Bühnenhandlung wieder her: C-Dur bezeichnet die fiktive Realität des Vorgebirges, auf dem der Manzanillobaum steht, unter welchem Sélika den Freitod sucht. Bei allen Vorbehalten gegenüber der gewiss schwierigen auditiven Rezeption eines sinnfälligen Tonartenplans, der im wesentlichen auf Mediantverbindungen aufbaut, vermittelt sich in Meyerbeers logisch-plausibler Dramaturgie auf mehreren Werkebenen eine ästhetische Dimension des Kunstwerks, die durch kürzende Eingriffe unangemessen verkleinert würde. Freilich leistete der Komponist solchen Kürzungen eigenhändig Vorschub, indem er Striche in die Partitur einschrieb. In der Cavatine „La haine m´abandonne“ (I. Satz) notierte er zwei Varianten: die Kürzung auf gut ein Drittel der gesamten Form unter Auslassung des Mittelteils und der Reprise oder Ersetzen durch ein siebentaktiges Rezitativ. Für die komplette Streichung der Air „Ô douce extase“ (II. Satz) sah Meyerbeer fakultativ eine Überleitung vom voraufgehenden Rezitativ-Allegretto zum nachfolgenden Andante („Quels célestes accords“) vor. Für das letzte Solostück der Oper, für das Larghetto sostenuto „Ô moment enchanteur“ in E-Dur (IV. Satz) weist die Partitur nur einen geringfügigen Kürzungsvorschlag innerhalb der geschlossenen Form aus. Ob Meyerbeer zu einem umfangreichen Strich-Vorschlag in diesem E-Dur-Satz keine Gelegenheit mehr fand oder ob er diesen musikalischen Satz unter allen Umständen in voller Länge erhalten wollte, muss offen bleiben. Konsequenz und Plausibilität der dramatischen Handlung wie der musikalischen Dramaturgie freilich lassen eigentlich nur den Schluss zu, Meyerbeer habe dieses Larghetto sostenuto als szenisch-musikalischen Höhepunkt der Soloszene geplant. Dieser E-Dur-Satz prägt die musikalische Dramaturgie der gesamten Soloszene und die Schlüssigkeit ihrer dramatischen Entwicklung in entscheidender Weise. Über 52 Takte 39

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hinweg kehrte Meyerbeer die vokale Kunst hervor, der er stets besondere Bedeutung beimaß. Die Sopranstimme wird mit all ihren Vorzügen der spielerisch leichten, brillanten Verzierung, der koloraturenreichen Expression und der schmiegsamen, ausdrucksstarken Intensität in den hohen Registern präsentiert. Dieses Larghetto sostenuto bildet den sängerischen Höhepunkt der gesamten Szene und den intensivsten dramatischen Augenblick, weil er Sélikas Vision von einer ekstatisch empfundenen Wiedervereinigung mit Vasco festhält. In diesem Satz erst wird die Glückseligkeit der rauschhaften Ekstase und des unfehlbar eintretenden Todes musikdramatisch schlüssig gestaltet. Erst die visionär empfundene körperliche Nähe zu Vasco bringt Sélika die Erfüllung der erhofften Glückseligkeit, und die Dramaturgie der gesamten Soloszene gewinnt erst durch diesen unerlässlichen Morendo-Schluss vor Eintritt des Sphärenchors plausible Konturen. Im Charakterbild einer Frauenrolle, deren beherrschende Eigenschaften sich im hingebungsvollen, als Glückseligkeit empfundenen Verzicht auf den geliebten Mann äußern, darf das Larghetto sostenuto nicht gestrichen werden. In ihm erst offenbart sich der rollendramatische Sinn der Sélika-Figur. Problematisch bleibt im dramaturgischen Aufbau die Air „ Ô douce extase“. Dieser Satz elaboriert musikalisch das Erlebnis eintretender Ekstase. Zur Darstellung des intensiven Rauschs wählte Meyerbeer auch hier den kolorierten Gesangsstil. Zusätzlich kehrt die eigentümliche Form den beabsichtigten Effekt der Steigerung und Intensivierung unmittelbar hervor. Gemeint ist in diesem Satz eine dreiteilige Reprisenform, doch wird die Wiederholung des A-Teils formal von 24 auf 28 Takte gedehnt und zweimal im Tempo gesteigert – vom Allegretto con moto zum Allegro con moto und dann zum Allegro. Mit den Temposteigerungen gehen Rhythmuswechsel vom ursprünglichen 2 ⁄4 - zum straff rhythmisierten 3 ⁄4 - und dann zum 3/8 -Takt einher. In dem fortschreitenden Schwebeeffekt der beständig ekstatischeren Rhythmisierung werden die koloraturenreichen Leggiero-Effekte der Sopranstimme geradezu reißerisch hervorgekehrt. Die obsessiven Textwiederholungen („Ô douce extase“) bilden Sélikas Ekstase unmittelbar ab. Die Air formuliert zum einen den im Rezitativ vorbereiteten Affekt, den süßen Wahn, bei dem einem Menschen auf berückende Weise die Sinne schwinden, in einer großen musikalischen Form. Zum andern wird der ekstatische Rausch, der Sélika erfaßt, in diesem Satz auf eine Weise klanglich umgesetzt wie sonst nirgends in der gesamten Szene – sieht man von der visionär geschauten Vereinigung mit Vasco ab, die allerdings dramatisch anders begründet ist. Zum dritten erweitert dieser Satz das musikalische Spektrum der Soloszene ins ansonsten völlig fehlende Allegro. Und schließlich suggeriert dieses Musikstück ein geradezu exemplarisches Timing der theatralen Darstellung, die Meyerbeer stets an der dramatischen Wahrhaftigkeit orientierte. Wenn Sélika zuvor, im Verlauf des Rezitativs, mehrfach den gefährlichen Blütenduft 33


eingeatmet hat, wird eine gewisse Zeit vergehen, bis sich die schließlich ­beherrschenden Visionen einstellen. Die Wirkung des Blütendufts tritt erst allmählich ein. Im Sinne einer realitätsnahen, auf Wahrscheinlichkeit ausgerichteten Bühnenpräsentation ist die Annahme durchaus triftig, im Verlauf dieser Air verrinne jene Zeit, die der Blütenduft für seine Wirkung benötigt. All diese Argumente sprechen für die Beibehaltung der Air. Freilich fällt nach der extremen Steigerung am Ende dieses Satzes die musikalische Spannung bei Eintritt der Sphärenmusik stark ab. Der Gefahr, diesen Spannungsabfall beim Beginn des Andantes auch mit ungewöhnlichen Klängen, wie mit Harfen-Arpeggien, und mit einer mehrfach verschachtelten Form (im aufeinander bezogenen III. und IV. Satz) nicht abfangen zu können, wollte Meyerbeer offensichtlich begegnen, indem er das gesamte Allegro con moto in seiner Partitur zur Disposition stellte. Außerdem erhielte die Soloszene unter Einschluss dieses Satzes ungeheure Ausmaße, deren physischen wie künstlerischen Ansprüchen wohl keine Sängerin ohne Quali­ tätsverlust der Stimme gewachsen wäre – Fragen der musikdramatischen Ökonomie, deren Beantwortung offen bleiben muss. Die Konsequenzen aus diesem widersprüchlichen Materialbefund lassen sich kaum auf einen Nenner bringen. Das Charakterprofil von Meyerbeers bedeutendster Tenor-Rolle entspricht keineswegs den Konventionen des 19. Jahrhunderts, sondern beschreibt eine innovative Männerfigur, deren Sensibilität, Empfindsamkeit und Gefühligkeit zentriert ist um ihre eigenen Strategien zur aktuellen und künftigen Idealisierung. Die Unsterblichkeit des Nachruhms ist der Fokus dieser Rolle. Deshalb ist die bedingungslose Liebe zu Inès, die in Kindertagen begann und fortan einen beständigen Stimulus zur Realisation des Lebenskonzepts dient, als Setzung zu akzeptieren. Deshalb auch muss man die Hochzeitsszene mit Sélika als vorübergehenden, durch äußerlich hinzugefügte Stimulantien bewirkten Rauschzustand ernst nehmen, der beim ersten Ton von Inès’ Stimme zusammenbricht und die Voraussetzung der unverbrüchlichen Liebe zur Portugiesin wieder herstellt. Dieses Rollenprofil, das ohnehin eher aus literarischen und damit fiktionalen als aus historisch-dokumentarischen Quellen zusammengesetzt ist, bietet die geeignete Projektionsfläche sowohl für die handelnden Figuren als auch für spätere Interpreten der Oper. Inès und Sélika projizieren auf diesen Vasco gleichermaßen ihre Empfindungen und Gefühle wie Meyerbeer als Schöpfer dieser Rolle und Fétis als ihr erster Interpret auf der Bühne. Deckungsgleich sind diese Projektionen alle nicht, weil Inès viel Leid auf sich zieht, um Vasco glücklich zu machen, aber jeder tragischen Größe entbehrt, weil sie gleich zwei Mal von Sélika ohne ihr Zutun mit Vascos Leben beschenkt wird: im Brahmanen-Ritus und in der Schlussszene. Ganz im Unterschied dazu Sélika, die gerade aus dem seelischen Leid die Kraft zur tragischen Katastrophe findet und darin ihre Verklärung erfährt. Meyerbeer seinerseits wusste um 34


das Problem dieser Rolle und plante deshalb, so steht zu vermuten, einen imaginierten Auftritt der neuen Titelfigur, die gerade nicht mehr sprachlich-sängerisch, sondern nur noch körpersprachlich-pantomimisch, eben in Ballettszenen, zu agieren in der Lage ist – getreu dem schon einmal von Meyerbeer erprobten Verfahren der körpersprachlichen und somit expressiv theatralen Argumentation, die als Übersteigerung von Rezitativsprache und Gesang in der Irrationalität ihres Erscheinens Wirkung erzielen. Das Nonnen­ ballett im 3. Akt von „Robert le diable“ war der erste gelungene Versuch in dieser Richtung. Die schon 1837 im ersten Arbeitslibretto der Africaine notierte Überraschung, dass sich zu Gunimas Tod (nicht schon zu ihrem Rausch) die Zweige des Manzanillobaumes noch einmal öffnen und den Himmel in seinem ganzen Glanz erscheinen lassen, mag für das Traumballett mit Vascos Erscheinung die zielführenden Anregungen gegeben haben. Die krasseste, aber mit dem überlieferten Material nicht mehr in Einklang zu bringende Projektion lieferte Fétis in der Uraufführung, indem er Vasco als Nicht-Helden aus dem Finale eliminierte, an seiner Stelle aber Nélusko als trauernden Liebhaber mit seiner angebeteten Königin unter dem Mazanillobaum sterben ließ und auf diese Weise den gefeierten Seefahrer unangemessen verkleinerte. Was bei der Uraufführung 1865 an Fétis’ szenischer und musikalischer Lösung der theatralen wie politischen Konvention des mittleren 19. Jahrhunderts entsprach, wird bei jeder Aufführung neu zu entscheiden und mit den Konventionen oder Innovationen der Zeit abzugleichen sein. Wer die gewaltige Finalszene der Sélika ungestrichen als herausragende ästhetische Qualität ins rechte Licht setzen und damit die tragische Größe dieser Frauenfigur exemplifizieren will, nimmt die Perspektive der großen Musiktragödie des 19. Jahrhunderts ein und könnte sogar diese Theaterhandlung mit dem alten, aber stichhaltigen Titel „L’Africaine“ überschreiben. Meyerbeers kompositorische Hinterlassenschaft zu diesem Werk lässt eine solche Entscheidung allemal zu. Wem hingegen das Innovationspotenzial der Vasco-Figur wichtiger erscheint als die ostentative Präsentation einer starken Frauenfigur, der muss die aktionalen Gleichgewichte auch und gerade in der Finalszene mit Hilfe von Meyerbeers Strichangeboten wieder herstellen und Vasco an diesem Handlungsende beteiligen. Da Meyerbeer schon mit einem Medienwechsel vom Gesang in den Tanz operieren wollte, wären zu den beiden Strophen des abschließenden Chœur aérien im 21. Jahrhundert ­Medienwechsel in zweidimensionale elektronische Mitteilungs- und Präsentationsformen durchaus denkbar. Auf einem dritten Weg ließe sich allerdings ein bislang nicht elaboriertes dramaturgisches Potenzial auf der Bühne sichtbar machen, das entgegen allen trennenden Ereignissen die Gemeinsamkeiten zwischen Vasco und Sélika betonte: ihre Unbedingtheit einer Lebensidee und ihrer beider Nähe zu, ja Identifikation mit Natur und 40

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verinnerlichter Ursprünglichkeit. Das Baumbegräbnis der Finalszene rückt Sélika dicht an Vascos Emphase für die Natur der neuen Welt heran, schon weil Sélika den Manzanillobaum selbst als ihr Grab affirmiert. Wie immer eine solche Korrespondenz der beiden Figuren auf dem Theater aussähe, sie hätte den Vorzug, gerade das musikalische Innovationspotenzial beider ­Rollen zu aktivieren und die scheinbar als Standard gesetzte, unverbrüchliche Liebe zwischen Inès und Vasco zu unterlaufen. Meyerbeers Nummern­ dramaturgie leistete einem solchen interpretatorischen Ansatz Vorschub, weil entgegen allen Regeln und Gewohnheiten der Zeit für das Paar, das zusammengehört, kein Duett vorgesehen ist, wohl weil die beiden nichts zu verhandeln haben. Für Sélika und Vasco aber schrieb Meyerbeer gleich zwei Duette, mit dem Erlebnisrausch aus Vascos Sicht im zweiten Akt und dem ekstatischen Glücksgefühl für Sélika im vierten Akt. Und die beiden aus dieser Perspektive so ungleichen Frauenfiguren verhandeln ihre unvereinbaren Positionen im Duett des fünften Aktes. Dieses interpretative Angebot trüge zu Recht den Titel „Vasco de Gama“, weil gerade Vascos Eigentümlichkeit in schillerndem Charakter und offensichtlichem Mangel an Heldentum als Initial für eine solche Figurenkonstellation diente. 42

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Anmerkungen

1 Die Akte I – IV liegen in der Bibliothek der Jagiellońska – Uni­ versität Krakau, der V. Akt in der Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz in Berlin. Vgl. zur Quellenlage Sieghart Döhring, Die Autographen der vier Hauptopern Meyerbeers: ein erster Quellenbericht, in: AfMw 39, 1982, S. 32 – 63. 2 Üblicherweise entstanden die Ballettkompositionen zu Meyerbeers Opern während der Probenphase zur Uraufführung. Dass die Ballette, vor allem Sélikas Traumballett in der Finalszene des V. Aktes ausgeführt werden sollte, beweist Meyerbeers Tagebuchnotiz vom 17. Januar 1864: „[…] 3 Stunden musikalisch gearbeitet: Balletthemas fantasiert […]“ [Giacomo Meyerbeer, Briefwechsel und Tagebücher, hg. und kommentiert von Sabine Henze – Döhring [im Folgenden zitiert als MBT]. Band 8. 1860 – 1864, Berlin und New York 2006, S. 591. Die häufig gebrauchte Vokabel „fantasiert“ umschrieb in Meyerbeers Arbeitsweise die klavieristische Improvisation zur spontanen klingenden Umsetzung von dramatischen Szenen und Augenblicken, in denen der Komponist Atmosphäre und Stimmung der jeweiligen Szene zu erfassen suchte. 3 Deuxième partie de la partition, piano et chant de „L’Africaine“, Paris [1865]. Auf 192 Seiten dokumentierte Fétis all jene Teile der autografen Partitur, die er nicht in sein Aufführungsexemplar übernahm. Zusätzlich erläuterte er seine Entscheidungsgründe in einem ausführlichen Vorwort zu diesem Klavierauszug. 4 Vgl. etwa Henze-Döhring / Döhring, G. Meyerbeer [2014], S. 198. 5 Vgl. Sieghart Döhring, Art. „L’Africaine“ / Die Afrikanerin, in: Pipers Enzyklopädie des Musiktheaters, hg. von Carl Dahlhaus und dem Forschungsinstitut für Musiktheater der Universität Bayreuth unter Leitung von Sieghart Döhring, Band 4. Werke Massine – Piccinni, München und Zürich 1991, S. 162. 6 Vgl. MBT Band 3. 1837 – 1845, hg. von Heinz und Gudrun Becker, Berlin 1975, S. 665, Anmerkung 4 zu S. 57 und die Eintragung „an Scribe“ im Taschenkalender selber, S. 57. 7 Vgl. die ausführliche Zusammenfassung des ersten Handlungsentwurfs mit Scribes entsprechenden Bild – Angaben bei Christhard Frese, Dramaturgie der großen Opern Giacomo Meyerbeers, Berlin-Lichterfelde 1970, S. 219 – 227. 8 Ob Scribe mit der Namensgebung des Nebenbuhlers einen ironisch brechenden Hinweis auf die Funktion dieser Rolle zu akzentuieren gedachte, lässt sich aus den überlieferten Quellen nicht belegen, ist aber denkbar. Derlei Anspielungen waren in Dramenhandlungen der Zeit, vor allem auch in Scribes Komödien, an der Tagesordnung. 9 Vgl. Frese, Dramaturgie [1970], S. 230 f. 10 Vgl. Tagebucheintrag vom 21. Oktober 1850 [„Die Louisiaden des Camoëns in der französischen Übersetzung gelesen.“], in: MBT Band 5, S. 308. 11 Die Literaturliste mit Angaben zum Fundort bei Frese, Dramaturgie [1970], S. 228. 12 Vgl. MBT Band 5. 1849 – 1852, hg. von Sabine Henze – Döhring, Berlin und New York 1999, S. 431 f. In teilweise freier deutscher Übersetzung auch bei Heinz und Gudrun Becker, Giacomo Meyerbeer. Ein Leben in Briefen, Wilhelmshaven 1983, S.  195 – 197. 13 Vgl. Tagebuchnotiz vom selben Tag, in: MBT Band 5, S. 464. 14 Vgl. MBT Band 5, S. 479 – 482. 15 Vgl. Brief von Charlotte Birch-Pfeiffer an Meyerbeer am 12. April 1861, in: MBT Band 8, S. 212 f. 16 Vgl. die Tagebucheintragungen vom 20. Mai und 30. Juni 1863, in: MBT Band 8, S. 480 und 504. 17 Vgl. MTB Band 8, S. 461.

18 Meyerbeers Partitur weist kurz vor Einsatz der B-Dur-Rahmenform dieser Romance die szenische Anweisung „Anna sort“ auf, wodurch Inès allein mit ihren erinnernden Gefühlen in der Ratshalle zurück bleibt. In der Druckfassung des französischen Librettos, das nach der Uraufführung bei Brandus und Dufour in Paris erschien, fehlt dieser szenische Hinweis, so dass sich die visuelle Überzeugungskraft der Inès-Figur, die vollkommen bei sich selbst und somit authentisch ist, nicht in vollem Umfang einstellen würde. 19 Vgl. MBT Band 8, S. 571 20 Vgl. MBT Band 8, ebda. 21 Vgl. MBT Band 8, S. 590. 22 MBT Band 8, S. 586. 23 Vgl. die Deuxième Partie, Klavierauszug Paris [1865], S. 1 – 6. 24 Vgl. Meyerbeers Brief aus Paris an seine Töchter Cäcilie und Cornelie vom 3. April 1864: „[…] daß ich für den Fall daß ich meine Oper dieses Jahr hier gebe [was leider noch immer nicht entschieden ist da […] die Unterhandlungen der Direktion mit den fehlenden Sängern bis jetzt zu keinem Resultat geführt haben] in welchem Falle ich dann hier bleibe und Euch dann im Monat May nach Paris zu kommen einladen würde […]“ MBT Band 8, S. 610. 25 Vgl. Meyerbeers Brief vom 3. August 1863 an den Musikverleger Louis Brandus, der ihn mit Insider-Informationen aus der Pariser Musikszene versorgt hatte, in: MBT Band 8, S. 517 [4. Absatz des in acht Punkten durchnummerierten Schreibens]. 26 Vgl. Tagebucheintrag vom 21.9.1863, in: MBT Band 8, S. 544. 27 Vgl. die Tagebucheinträge vom 14.9. und 16.9.1863, in: MBT Band 8, S. 540 f. 28 Vgl. Tagebucheintrag vom 23.9.1863, in: MBT Band 8, S. 545 29 Brief vom 3. August 1863 an Louis Brandus, MBT Band 8, S. 516. 30 Brief vom 20. Mai 1863 an Louis Brandus, in: MBT Band 8, S. 481. 31 Die beiden Textfassungen sind in den drei bzw. zwei Versen für das Rezitativ und in den beiden Strophen zu je fünf Versen parallel angeordnet, so dass der Vergleich im französischen Original und in der deutschen Übersetzung leicht fällt. Meyerbeers Fassung benutzt die Begriffe, Gedankenbereiche und literarischen Wendungen aus dem im Textbuch abgedruckten ursprünglichen Text von Scribe, gruppiert sie aber anders, abgestimmt auf die zweiteilige musikalische Form, die Meyerbeer erfand. Fétis’ Text ist von diesem Original [vgl. Libretto-Druck von 1865, wie Anm. 18, S. 63 f.] sprachlich und begrifflich sehr viel weiter entfernt. 32 Vgl. die Tagebuchnotiz vom 20. September 1863: „den 5. Akt von „Vasco“ und die Schlußszene der alten Afrikanerin durchlesen“, in: MBT Band 8, S. 543. 33 Vgl. die Tagebuchnotiz vom 23. September 1863: „Angefangen mich ein wenig mit der Schlußszene des 5. Aktes zu beschäftigen.“, in: MBT Band 8, S. 545. 34 Vgl. die Tagebuchnotiz vom 24. November 1863, in: MBT Band 8, S. 569. 35 Vgl. MBT Band 8, S. 561. 36 Brief an Meyerbeer vom 10. April 1861, in: MBT Band 8, S. 209. 37 Vgl. Döhring, Art. „L’Africaine“ [1991], S. 162. 38 Die nachfolgende Übersicht gibt die Reihenfolge der geschlossenen musikalischen Sätze wieder, die untereinander durch Accompagnato-Rezitative, also längere oder kürzere Scènes miteinander verknüpft sind. Die Gesamtübersicht über diese Szene mit den Alternativen von Meyerbeer und den Eingriffen durch Fétis in: Jürgen Schläder, Die Sterbeszene der Sélika: Zur Dramaturgie des Finales in Meyerbeers „L’Africaine“, in: Sieghart Döhring / Arnold Jacobshagen [Hg.], Meyerbeer und das europäische Musiktheater, Laaber 1998, S. 171. 39 Fétis jedenfalls erwies sich in seiner Bearbeitung als unsensibel für Meyerbeers musikdramatische Feinabstimmung dieses Finales, denn in der Uraufführung eliminierte er die beiden entscheidenden Solosätze, das Allegro con moto in As-Dur und die Air, das Larghetto sostenuto in E-Dur mitsamt der Wiederholung des Schwanenmotivs. 40 Die tanzenden, sündigen Nonnen entsteigen ja erst in jenem Augenblick, von Bertram stimuliert, ihren Gräbern, um Robert zum Sakrileg zu verführen, in dem alle rational-sprachlichen Überredungsversuche Bertrams keine Wirkung zeigen. 41 Vgl. Frese, Dramaturgie [1970], S. 226. 42 Es bedarf keiner weiteren Debatte, dass diese Sicht die 37 Projektion des Editors auf Meyerbeers Opernfigur Vasco darstellt.



W I E M O Z A R T, N U R AU S ­E I N E R ANDEREN ZEIT

Fr a n k B e e r m a n n u n d E n r i q u e M a z z o l a g e h ö r e n z u d e n we n i g e n ­D i r i g e n t e n , d i e s i c h i n t e n s i v m i t M e y e r b e e r b e s c h äf t i g t h a b e n . Fr a n k B e e r m a n n l e i t et e u n t e r a n d e r e m d i e ko n ze r t a n t e Au f f ü h r u n g vo n ­„ M a r g h e r i t a d ’A n j o u “ a n d e r O p e r L e i pz i g u n d b et r e u t e a l s G e n e r a l ­m u s i kd i r e k t o r d e r O p e r C h e m n i t z d i e e r fo l g r e i c h e N e u p r o d u k t i o n vo n „Va s c o d e G a m a “, d i e a u c h a u f C D e r s c h i e n e n i s t u n d 2 013 vo n d e r i­ n t e r n a t i o n a l e n K r i t i ke r j u r y d e r F a c h ze i t s c h r i f t „ O p e r nw e l t “ z u r „­ W i e d e r e n t d e c k u n g d e s J a h r e s “ g ew ä h l t w u r d e . ­E n r i q u e M a z z o l a ­l e i t et e a n d e r D e u t s c h e n O p e r B e r l i n n i c ht n u r d i e ko n ze r t a n t e A ­ u f f ü h r u n g d e r „ D i n o r a h “, d i e a u c h a u f C D e r s c h e i n e n w i r d , s o n d e r n w i r d a u c h d i e s z e n i s c h e n N e u p r o d u k t i o n e n vo n „Va s c o d e G a m a “ u n d „ L e P r o p h èt e “ d i r i g i e r e n . I m G e s p r ä c h m i t J ö r g Kö n i g s d o r f u n d Cu r t A . Ro e s l e r g e b e n b e i d e Dirigenten über ihre prak tischen Er fahrungen mit Meyerbeers O p e r n A u s k u nf t .

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Herr Mazzola, Sie stecken mitten in den Proben zur konzertanten Aufführung der „Dinorah“. Wie würden Sie die Musik jemandem beschreiben, der noch nie etwas von Meyerbeer gehört hat? Mazzola: Schwer zu sagen. Meyerbeer wendet sich in diesem Werk ja von der Grand Opéra ab und schreibt eine Opéra comique – aber was für eine! Irgendwo habe ich gelesen, dass „Dinorah“ die schwerste Opéra comique sei, die je geschrieben wurde. Wir wissen, dass „Dinorah“ heute kein berühmter Titel ist. Selbst meine Dirigentenkollegen kennen höchstens noch „Ombre légère“, aber der ganze Rest ist quasi unbekannt. Ich selbst kannte ein wenig mehr von der Musik, aber nicht die ganze Oper – und ich muss bekennen, dass ich höchst überrascht war, als ich die Partitur aufschlug. Mein allererster Eindruck war: Zwei Wochen vorher hatte ich die „Symphonie fantastique“ dirigiert und hier fand ich nun eine Menge Berlioz. Ich spreche hier wohlgemerkt als Interpret und nicht als Musikwissenschaftler und Meyerbeer-Spezialist! Mein zweiter Eindruck war: In der „Dinorah“ steckt viel vom späten Rossini. Es gibt in der Oper ein wunderschönes Paternoster, das mich sofort an die „Petite messe solennelle“ und das „Stabat mater“ Rossinis erinnert hat, wo ja religiöse Gefühle, ähnlich wie später in Verdis „Requiem“, auf sehr opernhafte Weise ausgedrückt werden. Natürlich sind dann in „Dinorah“ auch Leichtigkeit und Brillanz der Stimmführung, die typisch für die französische Opéra comique sind. Wir präsentieren ja auch die Opéra-comique-Version mit den gesprochenen Dialogen, in der „Dinorah“ geboren wurde. Roesler: Unter dem Titel „Le Pardon de Ploërmel“. Mazzola: Genau. Das waren also meine ersten Eindrücke. Beim weiteren Studium erschien mir dieses Stück in seiner Mischung aus komischen und ernsten Elementen wie ein französischer Verdi. Das klingt jetzt alles vielleicht etwas simpel, aber das ist exakt das Parfum der Musik, das einem zunächst entgegenschlägt. Königsdorf: Sie haben Rossini erwähnt, der ja auch als Meister des musikalischen Humors gilt. Finden wir in der „Dinorah“ einen ähnlichen musikalischen Humor? Mazzola: Unsere Augen im Jahr 2014 sind an Kino und an die Verismo-Oper gewöhnt, die unsere Sinne vergiftet hat, so dass es kaum möglich ist, ein solches Stück mit den gleichen Empfindungen zu erleben wie das Publikum des 19. Jahrhunderts. Wenn dieses arme Mädchen auf die Bühne kommt und mit ihrer Ziege tanzt, lachen die Menschen heutzutage. Aber das Publikum damals empfand diese Szene überhaupt nicht als lustig, es war grazioso, pastoral, dolce. Eine Komik, die wie bei Rossini alle Szenen gestalterisch durchzieht, haben wir in „Dinorah“ dagegen nicht. Die einzige lustige Figur ist die Buffo-Rolle des Correntin – aber auch in seinen Szenen ist nicht die Szene an sich komisch, sondern nur die Art, wie Königsdorf:

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dieser Charakter immer wieder seine Angst äußert. Das ist sozusagen eine ernste Spielart der Komik – aber überhaupt keine Situationskomik im Sinne einer italienischen Buffo-Oper. Königsdorf: Sie erwähnten Berlioz. Ist „Dinorah“ im weiteren Sinne eine sinfonische Partitur? Mazzola: Der Einsatz des Orchesters ist sicher manchmal sinfonisch – im Unterschied zu manchen Meyerbeer-Zeitgenossen und -vorläufern, die in der Schule des Belcantos schreiben und der Gesangsstimme das Primat einräumen. Deren Partituren sind wesentlich horizontaler organisiert und lassen immer die Stimme vor der Harmonie und dem Orchester hören. Was Meyerbeer dagegen mit Berlioz gemein hat, ist eine ganz praktische Sache. Ein C-Dur-Akkord in traditioneller Orchesterbehandlung sah gewöhnlich so aus, dass das C in den Bässen lag, während die anderen Töne den höheren Stimmen anvertraut wurden, also ein eher offener Gesamtklang entstand. bei Berlioz hingegen finden wir sowohl C, E und G in den Bässen, was für einen viel lauteren Klang sorgt, geradezu Lärm verursacht. Und genau das finden wir auch bei Meyerbeer. Kö n i g s d o r f : Braucht Meyerbeer mithin einen ganz eigenen stilistischen Ansatz? Beermann: Meyerbeer ist gerade für deutsche Orchester eher ungewöhnlich als eigentlich schwierig. Ein unbekannter Kontinent. Natürlich auch, weil es ein ganz eigener Stil ist, den man nicht mit italienischer Oper vergleichen kann, obwohl Meyerbeer mit der „Margherita“ ja als Belcanto-Komponist angefangen hat. Man muss aber für Meyerbeer einen speziellen Klang finden, der diese französischen und italienischen Einflüsse vereint. Und das braucht eben Zeit. Mazzola: Was hier Zeit brauchte: Das Orchester hatte gerade vorher Brahms gespielt und das konnte ich zu Beginn der Proben förmlich spüren. Das Gewicht auf Bogen und Saiten nach drei Wochen Brahms und Wagner kann selbst ein so ausgezeichnetes, flexibles Orchester nicht so einfach abschütteln. Deshalb haben wir zunächst an den Staccati gearbeitet. In jeder zweiten Linie findet sich bei den Orchesterparts die Anweisung „detaché“. Also: Staccato – was wiederum heißt, an der Kürze der Noten zu arbeiten. Das war natürlich eine Herausforderung, denn diese Spielweise – besitzt bei deutschen Orchestern normalerweise keine Priorität. In Paris wäre das anders, oder besser: wäre früher anders gewesen, denn inzwischen hat sich auch dort die Ansicht durchgesetzt, dass der deutsche Klang der richtige ist. Das Orchestre de Paris ist heute beispielsweise das deutscheste aller französischen Orchester – mit denen Meyerbeer zu machen, ist genauso schwierig wie mit einem deutschen Orchester. Beermann: Damit steht auch das Stichwort Wagner im Raum. Ich hoffe jedenfalls, dass die Beschäftigung mit Meyerbeer bei den Orchestern auch 41


Einfluss auf ihr Wagner-Spiel hat, denn das ist doch die Tradition, aus der Wagner kommt und mit dem er in Wettbewerb stand! Meine größte Schwierigkeit bei der Erarbeitung von „Vasco de Gama“, einer sehr artifiziellen Partitur, war, dass es schwierig ist, den vollen Klang des Orchesters zu verstehen, weil alles so stark unterteilt ist. Man hat also selten eine melodische Linie, die einem Instrument allein anvertraut ist, sondern die Linie wird auf verschiedene Instrumente verteilt, was etwa den Sängern die Orientierung sehr erschwert. Und das ist übrigens nicht nur für das 19. Jahrhundert ungewöhnlich, sondern auch im Kontext des ganzen Opernrepertoires eine ganz besondere Schwierigkeit der meyerbeerschen Musik. Königsdorf: Es gibt Komponisten, deren Werke auch in mittelmäßigen Aufführungen noch ihre Wirkung entfalten. Es gibt aber auch Komponisten, deren Werke wesentlich stärker auf Präzision und Stilbewusstsein angewiesen sind, Gluck und Berlioz wären hier beispielsweise zu nennen. In welche Gruppe gehört Meyerbeer? Mazzola: Er gehört definitiv zur zweiten Gruppe, im Gegensatz etwa zu Puccini. Vor kurzem habe ich eine Aufführung des „Mädchens aus dem goldenen Westen“n erlebt, die eher unpräzise war. Aber sie hat trotzdem funktioniert, dank guter Sänger und einer guten Inszenierung. Bei einem Stück wie „Dinorah“ dagegen braucht man unbedingt eine vertikale Präzision: Jedes Detail muss genau an seinem Platz sein. Beermann: Das ist Kammermusik für Orchester. Der Klang schafft keine schützende Hülle. Es ist wie bei Mozart, nur in einer anderen Zeit. Königsdor f: Ist diese Abhängigkeit von der Präzision auch ein Grund für die Vernachlässigung der Werke? Beermann: Das Problem ist, dass es keine Meyerbeer-Tradition gibt. Während die Musik zu seinen Lebzeiten ungeheuer populär war, brach diese Tradition und das Wissen um den richtigen Stil bald darauf ab und wurde bei Aufführungen durch Adaptionen ersetzt: das heißt, man spielte Meyerbeer einfach auf die Weise, wie man andere Opern des Repertoires spielte. So erging es beispielsweise der Africaine, von der wir italienische Aufnahmen haben, auf denen man die Musik gar nicht mehr erkennt, weil man sie so spielte wie eine Puccini-Oper. Zu versuchen, wieder auf den originären Meyerbeer-Stil zurückzukommen, ist heute ein echtes Stück archäologischer Arbeit. Mazzola: Auf der anderen Seite ist dieser Verlust der Tradition für uns Dirigenten heute auch ein Glück. Stellen Sie sich vor, wie schwer es heute ist, eine pure „Traviata“, einen puren „Barbiere“ zu spielen. Wann etwa werde ich endlich einen Figaro finden, der bereit ist, das nicht von Rossini stammende Abschluss-G in „Largo al factotum“ zu opfern? Das ist „die Tradition“, und ein Stück ohne diese Tradition im Nacken dirigieren zu 42


können, ist wie frische Luft zu atmen. Und selbst bei „Dinorah“ habe ich noch Diskussionen mit Patrizia Ciofi über „Ombre légère“, weil es bei diesem Stück nämlich eine Tradition gibt. Andererseits vermissen wir natürlich, dass es niemanden gibt, der uns Dirigenten sagen kann, wie Meyerbeer sich die Aufführungen seiner Musik vorgestellt hat. Beermann: Das betrifft natürlich ebenso die Sänger: Sie finden heute nur sehr schwer Sänger, die bereit sind, sich die Zeit zu nehmen, um sich den Meyerbeer-Stil wirklich zu eigen zu machen. Denn auch der Vokalstil Meyerbeers ist völlig spezifisch. Da gibt es nicht eine einzige Melodielinie, die man so bei irgendeinem anderen deutschen, italienischen oder französischen Komponisten der Zeit finden könnte. Das ist echte Arbeit! Königsdorf: In Chemnitz war ich sehr beeindruckt von dem Ergebnis, das Sie bei „Vasco de Gama“ erzielt haben. Brauchten Sie dazu besondere Voraussetzungen? Beermann: Wir mussten einfach Sänger finden, die genug Zeit für Meyerbeer hatten und nicht dauernd von einem Theater zum andern unterwegs waren. Zum Glück konnten wir einige Partien sehr schön aus dem Ensemble besetzen und insofern schon lange vorher mit der Einstudierung beginnen. Darüber hinaus kam uns auch ein anderer Umstand zugute. Ursprünglich war die Premiere des „Vasco“ ein Jahr früher angesetzt, aber durch eine Änderung der Planung hatten wir dann noch ein Jahr mehr Zeit, um in diese Musik einzutauchen. Und das hat sich wirklich gelohnt! Königsdorf: Taugen historische Aufführungspraxis und Instrumente als Referenz für einen überzeugenden Meyerbeer-Stil? Mazzola: Diese Fragen kann man an alle Stücke des 19. Jahrhunderts stellen. Wie würde historisches Instrumentarium die Balance zwischen Stimme und Graben ändern? Wie stark müsste ein Orchester in den Streichern besetzt sein, um die ursprünglichen Klangproportionen widerzuspiegeln? Natürlich stelle ich mir diese Fragen, aber worauf es letztlich ankommt, ist, mit den modernen Instrumenten, die wir nun mal zur Verfügung haben, ein optimales künstlerisches Ergebnis zu erzielen. Und das ist ein klanglicher Kompromiss, der versucht, Meyerbeers Absichten möglichst sinnvoll unter modernen Bedingungen zu realisieren. Das mache ich zumindest. Beermann: In „Vasco“ haben wir das spezielle Problem, dass Meyerbeer auf der Grundlage der Instrumente seiner Zeit eine sehr umfangreiche Besetzung vorgeschrieben hat: Vier Fagotte, je zwei Paare Trompeten. Spielt man das heute mit modernen Instrumenten, ist das einfach zu laut. Die Kenntnis über das historische Instrumentarium hilft dabei sehr, die richtige Balance zwischen den Orchestergruppen zu finden. Ich muss keine historischen Fagotte benutzen, aber ich muss wissen, wie laut sie waren. 43


Soweit wir wissen, fanden beispielsweise die ersten Aufführungen des Rigolettos mit zwölf Kontrabässen und sechs ersten Violinen statt. Das können wir uns heute nicht mehr vorstellen. Ebenso verhält es sich mit den großen Holz- und Blechbesetzungen der späten Opern Meyerbeers – diese Instrumente müssen einfach viel leiser gewesen sein. Das betrifft übrigens auch den Stimmton, der damals viel tiefer lag und den Sängern ein ganz anderes, leichteres, weicheres Singen ermöglicht hat. Königsdorf: War das ein Problem bei „Vasco“? Beermann: Natürlich. Etwa „Ô doux climat“, wie die berühmte Tenorarie in der originalen Meyerbeer-Version heißt, ist fast unmöglich in modernem Kammerton zu singen. „Ô paradis“, wie sie in der von Fétis bearbeiteten Fassung heißt, ist übrigens etwas einfacher. Roesler: Bei den Fagotten möchte ich nochmal einhaken und daran erinnern, dass Stücke wie „Vasco“ für das französische Fagott konzipiert wurden. Das klang viel weicher als das deutsche Fagott und war meist in Vierer-Besetzung vorgesehen. Das ist das richtige Instrument nicht nur für Meyerbeer, sondern auch für „Don Carlo“ und „Le Sacre du printemps“! Mazzola: Das stimmt zwar, aber selbst in Frankreich sind diese Fagotte heute sehr schwer zu finden. Und selbst wenn diese Instrumente, wie beim Orchestre Philharmonique de Radio France noch teilweise vorhanden sind, werden sie kaum noch benutzt, weil sie nur schwer in eine befriedigende Klangbalance mit den anderen, modernen Instrumenten der Gruppe zu bringen sind. Königsdorf: Spricht man von Meyerbeers Opern, steht immer auch die Frage nach Kürzungen im Raum. Sind sie nötig? Beermann: Bei unserer CD-Aufnahme von „Vasco de Gama“ haben wir tatsächlich diese sehr lange Oper ohne Striche eingespielt, aber bei den Aufführungen haben wir uns dennoch einige kleinere Striche erlaubt. Von klugen Musikwissenschaftlern habe ich jedenfalls gelernt, dass auch Meyerbeer Striche vorgenommen hat, sowohl während des Probenprozesses vor der Uraufführung als auch noch nach der Premiere. Er arbeitete immer daran, seinen Opern die perfekte Form zu verleihen. Bei „Vasco“ konnte er das nicht mehr, weil er vor der Uraufführung starb – heißt das, dass wir heute an seiner Stelle kürzen dürfen oder gar müssen? Denn manches wird in dieser Oper tatsächlich etwas zu oft gesagt. Auf der anderen Seite gibt es im „Vasco“ so viel wunderbare Musik, auch für die Sänger: Sie haben bei Meyerbeer viele großartige Möglichkeiten, zu glänzen und ihr Können zu zeigen, die man ihnen nicht nehmen möchte. Mazzola: Ich bin da, ehrlich gesagt, hin- und hergerissen. Einerseits bin ich moderat textversessen – ich bin leidenschaftlicher Sammler von Faksimiles handschriftlicher Partituren, weil mich die Art und Weise interessiert, wie die Komponisten ihre Werke zu Papier gebracht haben. Auf der 44


anderen Seite bin ich ebenso moderat fanatisch, was den Charakter einer Opernveranstaltung als Show angeht. Wir müssen dem Publikum eine gute Show bieten und ihm große Gefühle überzeugend und spannend vermitteln. Das ist die andere Seite der Medaille. Oper hatte seit jeher diesen Erlebnischarakter, und es gibt nun mal Werke, die diesen Erlebniswert auch ohne Kürzungen und Eingriffe ungeschmälert zur Geltung bringen. Auf der anderen Seite gibt es aber auch Opern, deren dramaturgisches Konzept besser zur Geltung kommt, wenn man einige Kürzungen oder Änderungen vornimmt. Aber um diese Frage verantwortungsvoll entscheiden zu können, brauche ich als Dirigent vor allem eine gute textkritische Ausgabe des Materials, auf deren Grundlage ich eine möglichst überzeugende Aufführungsfassung erstellen kann. Denn wenn ich eine Partitur aufmache, habe ich erstmal Fragen über Fragen – in jedem neuen Takt. Wenn Sie meine Ausgabe der „Dinorah“ anschauen, sehen Sie schon an den heraushängenden Zetteln, wie viele Striche ich gemacht habe – sechs insgesamt. Alle recht kurz. Roesler: Bis auf einen … Mazzola: Der ist aber einem theaterpraktischen Problem geschuldet. Denn anders als zu Meyerbeers Zeit machen wir heute nicht mehr nach jedem Akt eine Pause, weil sonst der Abend für das Publikum zu lang werden würde. Wann also macht man die Pause? Nach dem ersten Akt? Der endet leider etwas müde – dramaturgisch macht eine Pause nach dem zweiten Akt viel mehr Sinn, weil wir hier eine echte Cliffhanger-Situation am Ende haben, einen Elektroschock gewissermaßen. Das heißt aber, dass es bis zur Pause sehr lange dauert, ohne Striche eindreiviertel Stunden. Deshalb habe ich im ersten Akt einen Strich gemacht, der etwa sieben Minuten bringt. Das mag auf die Gesamtspieldauer zwar nicht viel erscheinen, aber ich habe bei mir selbst wie bei vielen Freunden die Beobachtung gemacht, dass man als Zuschauer nach anderthalb Stunden unweigerlich eine gewisse Unruhe verspürt und beginnt, unruhig auf seinem Sessel herumzurutschen. Da machen sieben Minuten schon eine Menge aus. Königsdorf: Herr Beermann, Sie haben frühen wie späten Meyerbeer dirigiert. Haben Sie da eigentlich stilistische Kontinuitäten entdecken können? Beermann: Meyerbeer war schon extrem wandlungsfähig. „Margherita d’ Anjou“ beispielsweise ist eine reine Belcanto-Oper in der Rossini-Tradition, und genauso muss man dieses Stück auch lesen. Bei „Vasco de Gama“ ist er, fast fünfzig Jahre später, natürlich schon ganz woanders. Was man aber durchgängig bei Meyerbeer findet, ist das geniale Gespür für Melodien, die in ihrem dramatischen Kontext extrem wirkungsvoll sind. Denn obwohl die Opern Meyerbeers sehr lang sind, sind seine Melodien eher knapp konzipiert und nie nur um ihrer selbst willen da. Für mich sind 45


Meyerbeers Opern ohnehin musikalisch so genial, dass es nicht schwer ist, auch über eine Länge von fünfeinviertel Stunden wie bei „Vasco de Gama“ eine musikalische Spannung aufzubauen. Königsdorf: Warum stehen Meyerbeers Werke dann nicht öfter auf den Spielplänen? Beermann: Das liegt einerseits sicher am Abbrechen der Aufführungstradition. Aber andererseits auch am Aufwand, den diese Opern erfordern. Man muss sich wirklich auf sie einlassen. Das kostet Zeit. Und man braucht für ihre Realisierung ein großes Ensemble mit sehr speziellen Stimmen. Das kostet Geld. Meyerbeer beansprucht heute ein Opernhaus mehr als beispielsweise ein „Parsifal“, von dem alle am Theater ungefähr wissen, wie er geht. Und angesichts des Zwangs zum wirtschaftlichen Erfolg, der heute auf den Theatern lastet, entscheiden sich die meisten Opernhäuser dann im Zweifelsfall doch lieber, diesen Aufwand in eine Wagner- oder späte Verdi-Oper zu investieren, die sichereren Kassenerfolg verspricht. Königsdorf: Haben Sie als Dirigent viel Überzeugungsarbeit leisten müssen, um Ihre Musiker für Meyerbeer zu gewinnen? Beermann: Tatsächlich habe ich die Erfahrung gemacht, dass sich die Begeisterung für diese Musik bei den Musikern erst im Laufe des Probenprozesses einstellt. Zu Beginn wird sie oft unterschätzt, weil sie auf dem Papier leichter aussieht, als sie zu spielen ist. Ihre Qualität erschließt sich zudem erst richtig, wenn die Musiker das klangliche Gesamtbild hören können – vor allem das Zusammenwirken mit den Sängern. Das gilt im Übrigen für „Vasco“ ebenso wie für den frühen Meyerbeer. Roesler: Was für einen Einfluss hat in diesem Zusammenhang die kritische Neuausgabe? Beermann: Das Material, das vor dieser Neuausgabe zur Verfügung stand, war sehr schwach. Das mag auch viele Dirigenten und Intendanten abgehalten haben, eine Aufführung in Betracht zu ziehen. Da sind wir jetzt einen großen Schritt weiter, denn die Neuausgabe ist richtig gut und sehr hilfreich. In Chemnitz haben wir ja einige Erfahrung mit seltenen Stücken, und ich erinnere mich an eine Oper, bei der wir im Aufführungsmaterial 2000 Fehler gefunden haben. Dagegen war die Fehlerquote bei „Vasco“ geradezu verschwindend gering.

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D I E KO N S T R U K T I O N E I N E R O R C H E S T E R S P R AC H E F Ü R D I E GRAND OPÉRA H e c t o r B e r l i oz i n t e r p r et i e r t M e ye r b e e r s „ Ro b e r t l e d i a b l e “ Ro b e r t ­D i d i o n i n m e m o r i a m

Jürgen Maehder

Als Hector Berlioz den Aufsatz „De l’Instrumentation de ‚Robert le diable‘“ (Gazette musicale de Paris, 12. 7. 1835) verfaßte, schuf er nicht nur die erste Instrumentationsanalyse der Musikgeschichte, sondern er beschrieb in diesem Aufsatz auch erstmals die fundamentale Bedeutung des Orchesterklanges für die musikalische Dramaturgie einer Oper; daß dieser Kategorie bei der Entscheidung über Erfolg oder Mißerfolg einer Grand Opéra entscheidende Bedeutung zukam, liegt auf der Hand. Die folgenden Ausführungen verfolgen einen doppelten Zweck: Einerseits versuchen sie, in der Art eines Kommentars die von Berlioz hervorgehobenen Stellen von Meyerbeers erstem Pariser Hauptwerk als Vorbereitung auf Berlioz’ spätere Schriften zur Instrumentation zu interpretieren, andererseits dienen sie auch als Einführung in die strukturellen Innovationen sowie die Grenzen von Meyerbeers Partitur. Wie in zahlreichen Texten aus Berlioz’ umfangreichem literarischen Œuvre unterstrich der Komponist in einem einleitenden Teil die Notwendigkeit, eine Partitur genau in der Form aufzuführen, in welcher sie vom Komponisten konzipiert wurde. Berlioz’ Kritik an den „musiciens simplificateurs“ und an ihrer – um 1830 eigentlich anachronistischen – Praxis, den Notentext eines Orchesterpartes zu vereinfachen, mit Verzierungen zu versehen und in anderer Weise umzuformen, resultierte aus einer Grundüberzeugung des Komponisten, der Zeit seines Lebens mit außerordentlicher Energie eine – im Opernbetrieb eigentlich bislang unbekannte – Ästhetik der musikalischen Werkhaftigkeit durchzusetzen versuchte. Der Alptraum einer Aufführung von Meyerbeers komplexer Partitur in der französischen Provinz mit unzureichenden Kräften und fehlenden Sonderinstrumenten sollte sich als prophetische Vorahnung derjenigen Widrigkeiten erweisen, mit denen Berlioz wenige Jahre später während seiner musikalischen Gastspielreisen nach Deutschland, England und Rußland zu kämpfen hatte: 1

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Hector Berlioz, Holzstich von H. Dochy, 1856

„Quel monstrueux chaos qu’une exécution semblable et malgré tout ce qu’il y a de flatteur pour l’auteur, dans cet empressement à le jouer quand même, je doute fort qu’il lui fût possible d’assister à une de ces représentations de son plus bel ouvrage sans éprouver d’affreux déchirements d’entrailles. Dans telle et telle ville, les violons ne sont pas assez nombreux pour dépasser un total de cinq ou six; la partie d’alto est remplie, d’ordinaire, par quelque 50


vieux musicien grand admirateur de Grétry (et pour cause), qui n’a jamais imaginé que les altos pussent être divisés en plusieurs parties différentes, encore moins être chargés, parfois, de la partie chantante ou de traits qui s’élèvent jusqu’à l’octave de la chanterelle; les violoncelles sont presque toujours, comme au Grand-Théâtre de Rome, au nombre de… un, et les contrebasses simplifient. Or, voilà ce que font les simplificateurs.“  „Was für ein haarsträubendes Chaos doch so eine Aufführung bedeutet, und wenn es auch für den Autor sehr schmeichelhaft ist, dass sie mit Begeisterung trotzdem gespielt wird, bezweifle ich doch sehr, dass es ihm jemals vergönnt war, einer Vorstellung des schönsten seiner Werke beizuwohnen, ohne im Innersten zerrissen zu werden. In der und jener Stadt gibt es nicht mehr als fünf oder sechs Violinen; die Bratschenstimme wird üblicherweise von einem älteren Musiker ausgeführt, der ein großer Bewunderer von Grétry ist (und dafür gibt es Gründe) und der sich nie vorstellen konnte, dass man die Bratschen in mehrere Stimmen aufteilen könnte, und noch weniger, dass sie mit der Singstimme zusammen gehen könnten oder dass sie gar Töne zu spielen hätten, die bis zu einer Oktave über der obersten Saite stehen; die Anzahl der Violoncelli beträgt fast immer, wie im großen Opernhaus von Rom … eins, und die Kontrabässe simplifizieren. Nun, das ist es was die Simplifizierer machen.“ 2

Ein grundlegendes Problem der musikalischen Aufführungspraxis, die im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts noch kaum entwickelte Standardisierung der Orchesterbesetzungen in der französischen Provinz, welcher eine noch heterogenere Besetzungstradition in den verschiedenen Musikkulturen Europas entsprach, wurde von Berlioz in lebendigen Detailschilderungen beschrieben. Wenige Jahre später haben nicht nur Berlioz’ Europareisen, sondern auch die Berufung Spontinis und Meyerbeers auf die Position eines Preußischen Generalmusikdirektors dazu beigetragen, daß sich in Mitteleuropa allmählich eine Standardisierung der Sonderinstrumente – wie Englischhorn, Kleine Klarinette, Baßklarinette, Harfe und Schlagwerk – durchzusetzen vermochte: „Une autre partie de l’orchestre, qu’il est en général fort difficile de trouver en province, c’est celle des hautbois; soit pour sa grande difficulté, soit pour toute autre cause, le hautbois n’est pas en honneur en province, et les artistes le cultivent aussi peu que les amateurs. Pour le cor anglais je n’en [parle] pas; il y est totalement inconnu. Les flûtes, au contraire, y surabondent. Partout où le sentiment musical est peu développé, l’amour de la flûte domine; voyez l’Angleterre. Mais ce dont les chefs d’orchestre de province sont toujours sûrs de ne pas manquer, pour l’exécution des opéras modernes, c’est l’ophicléide, la grosse caisse. Il y a toujours, sinon dans la ville même, au moins dans le voisinage, quelque régiment en garnison, dont la musique militaire fournit abondamment les théâtres de ces grossiers instruments. 3

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Dans tel endroit, vous n’aurez ni hautbois, ni clarinettes, ni bassons, mais leur absence sera compensée par un gigantesque ophicléide, mugissant comme un taureau de cinq ans; dans tel autre il n’y aura que trois violons, une contrebasse, pas d’alto, une flûte, un cor et une clarinette, et vous verrez, dans un coin de l’orchestre, s’élever triomphante une grosse caisse grande comme un tonneau de vingt charges, escortée de toute sa famille de cymbales, triangle et pavillon chinois. Et c’est avec de pareils moyens qu’on veut exécuter ‚Robert‘. Ma foi! exécuter est bien le mot; il est certes, aussi impossible à l’ouvrage de sortir vivant d’une pareille épreuve, qu’il le serait à l’auteur, de résister à une accolade de la guillotine.“  „Eine weitere Orchesterstimme, die man generell in der Provinz nur schwer auftreiben kann, ist die Oboe; sei es, weil sie so schwer zu spielen ist, oder sei es aus vielen anderen Gründen, die Oboe wird in der Provinz nicht sehr geschätzt und die Berufsmusiker pflegen sie so wenig wie die Amateure. Vom Englischhorn spreche ich gar nicht erst; man kennt es gar nicht. Dafür sind die Flöten im Überfluss vorhanden. Überall, wo der musikalische Geschmack wenig entwickelt ist, dominiert die Flöte; siehe England. Aber was die Provinz-Dirigenten in einer modernen Oper nie auslassen zu dürfen glauben, ist die Ophikleide, und die große Trommel. Es gibt immer, wenn nicht in der Stadt selbst, so doch in der Nachbarschaft, ein stehendes Regiment, dessen Militärkapelle die Theater reichlich mit diesen dicken Instrumenten ausstattet. An einem solchen Ort haben sie keine Oboen, Klarinetten oder Fagotte, aber deren Abwesenheit wird durch eine riesige Ophikleide ausgeglichen, die brüllt wie ein fünfjähriger Stier; an einem anderen Ort haben sie nur drei Violinen, einen Kontrabass, keine Bratsche, eine Flöte, ein Horn und eine Klarinette, und Sie werden in einer Ecke des Orchesters eine Große Trommel entdecken, triumphierend wie ein Fass von zwanzig Lot, umgeben von einer ganzen Familie von Zymbeln, Triangeln und chinesischen Schalltrichtern. Und mit diesen Mitteln will man ‚Robert‘ exekutieren. Mein Gott! Exekutieren ist das richtige Wort; es ist sicher, dem Werk ist es ebenso unmöglich, aus einer solchen Prüfung lebend herauszukommen, wie es dem Autor unmöglich ist, eine Umarmung der Guillotine auszuhalten.“ 4

Die Anstrengungen des preußischen Königshauses, das musikalische Niveau des Berliner Opernlebens dem europäischen Vorbild, dem Pariser Musikleben, anzugleichen, hatten zur Verpflichtung Spontinis wie Meyerbeers als Generalmusikdirektoren an die Berliner Hofoper geführt; im Falle Meyerbeers trug die Kulturpolitik Wilhelm von Humboldts entscheidend zu dieser Verpflichtung bei. Die großzügigen Rahmenbedingungen von Meyerbeers Vertrag, die dem Komponisten eine halbjährliche Präsenz in Paris gestatteten, führten zu einem kontinuierlichen Transfer französischer Traditionen im Bereich von Dramaturgie, Musik und Bühnenausstattung von Paris 52


nach Berlin. Auf der Basis der berühmten Orchestererziehung seines Vorgängers, Gaspare Luigi Pacifico Spontini, hatte der neue preußische Generalmusikdirektor Giacomo Meyerbeer das Berliner Opernorchester nach dem Vorbild der Pariser Besetzungs- und Musiziertradition geformt. So kann es nicht verwundern, daß Berlioz anläßlich seiner ersten Reise 1842 / 43 nur in einer deutschen Stadt ein Orchester vorfand, das seinen Ansprüchen in jeder Hinsicht entsprach. Ein Überblick über die von Berlioz in seinem Aufsatz von 1835 hervorgehobenen Passagen von Meyerbeers Partitur kann ausgehen von der chronologischen Folge innerhalb der Partitur, wie Berlioz selbst logischerweise verfährt; erhellender aber ist eine Klassifizierung der „quelques-uns des passages les plus frappants“ nach ihrer strukturellen Beschaffenheit, d.h. ihrer Beziehung zum musikalischen Satz. Gemäß einer auch heute in der Instrumentationslehre noch persistierenden Beschränkung bezieht sich die überwiegende Mehrzahl von Berlioz’ Beispielen auf die außergewöhnliche Verwendung eines seltenen Instrumentes; der hohe Innovationsgrad von Meyerbeers Partitur bedingt, daß Berlioz mehrere Erstverwendungen beschreiben konnte. Bereits das Unisono der Posaunen zu Beginn der Ouvertüre vermochte Berlioz’ Aufmerksamkeit zu fesseln. „Robert le diable“ beginnt mit solistischen Pauken und Posaunen (Partitur, Paris 1832, p. 1); die folgenden Tuttischläge und Bläsersoli ziehen einen quasi-neutralen Orchestersatz heran. Pauken, Posanen, Fagotte und Hörner sind als typisierter Mischklang der Figur Bertrams, dem Bösewicht, zugeordnet; das Thema des Ouvertürenbeginns entstammt der Nr. 15 (Récitatif et Evocation), und seine klangliche Einbettung in einen komplexen Orchestersatz dient im Rahmen der Opernhandlung der Charakterzeichnung Bertrams (Partitur, p. 529 – 536). Als einleitendes Klangfeld für das solistische Hervortreten dreier Posaunen im Unisono verwendete Meyerbeer ein tiefes, dichtes Streichertremolo, das mit einem Mischklang aus Fagott- und Klarinettentönen verschmilzt und von Drehnoten der tiefen Streicher grundiert wird. In diesen Klang wird dann in den folgenden Takten die solistische Farbe der Posaunen und ein Mischklang aus Fagott-, Horn- und Klarinettentönen hineingestellt. Unter dem offenbaren Vorbild der Samiel-Sphäre in Webers „Freischütz“ schuf Meyerbeer eine homogene Klangwelt zur Zeichnung des Bösen, der freilich keine ebenso geschlossene Klangwelt zur Charakteristik Roberts gegenübersteht, da der Charakter Roberts ja als zwischen gut und böse schwankend vorgestellt wird. Eine Bestandsaufnahme der in der Partitur von „Robert le diable“ erstmals auftretenden innovativen Klangeffekte, die auf der neuartigen Verwendung eines einzelnen Instrumentes basieren, ist anhand von Berlioz’ Aufsatz gut zu leisten. In der Partitur von „Robert le diable“ finden sich zahlreiche Effekte, die auf dem szenisch motivierten Einsatz eines spezifischen Klangwerkzeugs beruhen, während die Tonhöhenstruktur für den 5

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Klangeffekt weitgehend irrelevant blieb. Zu nennen wären etwa die solistische Verwendung von vier Pauken im Unisono mit Kontrabaßpizzicati zur klanglichen Charakterisierung des Schwarzen Ritters (Partitur, p. 336), die Einleitung des Balletts der sündigen Nonnen durch tiefe Blechbläserakkorde, deren Oberstimme von einer Klappentrompete vorgetragen wird, während Tamtamschläge den Klang abfärben (Partitur, p. 537), die Verwendung solistischer Fagotte für den Beginn des Nonnenballetts (Partitur, p. 544), die Verwendung solistischer Klappentrompeten hinter der Bühne als „Stimme der Mutter“ im Terzett des V. Aktes (Partitur, p. 849) sowie die Verwendung einer Glocke auf der Bühne, die den dramaturgisch bedeutsamen Zeitpunkt der Mitternacht markiert (Partitur, p. 871). Abwesend von Berlioz’ Liste der Klangeffekte ist die klangliche Gestaltung der Schlußszene im Inneren der Kathedrale von Palermo mit zwei Harfen in den Kulissen, Orgel, Orchester, Chor des Volkes in der Kirche und unsichtbarem Chor. Die Tatsache, daß Berlioz von allen Innovationen der Partitur von „Robert le diable“ einzig die Erstverwendung der Orgel auf dem Theater nicht erwähnte, dürfte auf die ästhetischen Vorbehalte des Komponisten gegenüber der Klangkombination von Orgel und Orchester zurückzuführen sein. Meyerbeer hatte das solistische Auftreten der Orgel als instrumentalen Haupteffekt für den letzten Akt aufgespart; die Gegenüberstellung von Orgelplenum und Streicherpizzicato ließ die Klanggewalt des Instrumentes, das bei dieser Gelegenheit sein Debut auf der Opernbühne gab, noch deutlicher hervortreten. Gemessen an der Entfaltung des reinen Orgelklanges erscheinen die gespielten Akkorde freilich unbedeutend – sie bilden gleichsam nur das harmonische Substrat der Chorstimmen ab. In den folgenden Takten begegnen detaillierte Vorschriften für die Registrierung des Instrumentes, um dessen ganzen Klangfarbenreichtum dem Hörer zu präsentieren. Eine zweite Kategorie von Besonderheiten der Instrumentation, die Berlioz’ Aufmerksamkeit erregten, betraf die besonders raffinierte oder unübliche Verwendung existierender Orchesterinstrumente; dies geschah häufig in dem Bestreben, die Defekte des Instrumentariums durch satztechnisches Raffinement zu kompensieren oder durch eine mißbräuchliche Verwendung existierender Orchesterinstrumente neue Klangfarben zu erzeugen. Beide Vorgehensweisen können als Gegensatzpaar begriffen werden und wurden in früheren Schriften des Verfassers unter den Kategorien der „klangfarblichen Verfremdung“ und der „klanglichen Über-Positivität“ bereits ausführlich diskutiert. Es kann nicht überraschen, daß ein Kenner der Spieltechnik der Blas­ instrumente wie Hector Berlioz seine Aufmerksamkeit besonders der Verwendung multipler Hornstimmungen und der systematischen Verwendung gestopfter Horntöne zuwandte: 10

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„En général cependant, c’est aux cors que M. Meyerbeer a donné la physiognomie la plus essentiellement originale; je ne connais pas d’opéra dans lequel on ait su tirer un parti aussi habile des ressources variées de ce bel instrument. Parmi les exemples les plus saillants, nous citerons les la bémols (son bouché) du médium, que le compositeur a placés dans les cors à l’unisson, au moment où Robert entraîné par les nonnes s’approche du rameau magique. À coup sûr cette voix étrange n’avait encore jamais été entendue dans la salle de l’Opéra; et chose remarquable, Weber qui, dit-on, jouait lui-même fort bien du cor, n’a pas dans les scènes diaboliques de son ‚Freischütz‘ employé un seul effet de cette nature.“ „Im Allgemeinen aber hat Monsieur Meyerbeer den Hörnern am wesentlichsten ihre Eigentümlichkeit gegeben; ich kenne keine Oper, aus der man eine Stelle dieses schönen Instruments ziehen könnte, die so gekonnt die unterschiedlichen Fähigkeiten demonstriert. Von den am meisten hervorspringenden Beispielen zitieren wir das mittlere As (gestopft), die der Komponist in den Hörnern einstimmig vorschreibt in dem Moment, wo sich Robert, von den Nonnen herbeigelockt, dem magischen Zweig nähert. Ganz sicher hatte man in der Oper einen solch fremdartigen Klang noch nie vernommen; und es ist bemerkenswert, dass Weber, der, wie man sagt, das Horn sehr gut spielen konnte, in den abgründigen Szenen seines ‚Freischütz‘ nicht einen einzigen Effekt dieser Art eingesetzt hat.“ 14

Berlioz’ Diskussion von Innovationen im Bereich der musikalisch-dramatischen Satztechnik mußte in Anbetracht der schieren Masse neuartiger Orchesterklänge notwendigerweise fragmentarisch bleiben; interessanterweise räumte der Aufsatz von 1835 den satztechnischen Neuerungen der Partitur größeres Gewicht ein als ihren isolierten Klangeffekten, während es gerade ein Merkmal der folgenden Instrumentationsgeschichtsschreibung bildete, daß die Herstellung des Orchester-Gesamtklanges vernachlässigt wurde zugunsten der Beschreibung isolierter Spezialeffekte. Beginnend mit der Orchesterbegleitung der dritten Strophe von Raimbauts Ballade (Partitur, p. 65) hob Berlioz vor allem diejenigen Orchesterpassagen hervor, in denen entweder die traditionelle Funktionenteilung der Orchesterinstrumente außer Kraft gesetzt schien, oder die ihr Instrumentarium auf eine außergewöhnliche Auswahlbesetzung beschränkten. Die Untermalung von Bertrams Auftritt durch gestopfte Horntöne und und das tiefe H der Ophicléïde (Partitur, p. 156) fand ebenso Beachtung wie die Disposition der Hornstimmungen in der Valse infernale (Partitur, p. 412), die dergestalt gewählt wurde, daß sie von den Spielern die Verwendung gestopfter Töne geradezu erzwang. Daß auch Kategorien der großräumigen, dramaturgisch motivierten Planung des Klanges in Berlioz’ Ästhetik eine wesentliche Rolle spielten, belegt seine Diskussion von Alices Auftritt im III. Akt: 15

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„La ritournelle d’entrée d’Alice, qui succède à la scène infernale, produit une impression de calme et de fraîcheur délicieuse. C’est encore à l’instrumentation qu’est dû ce contraste. Au lieu de la cohorte aboyante, mugissante, grinçante des instruments métalliques de toute espèce, cors, trompettes à pistons, cymbales, triangles, tam-tams, trombones, renforcée de tout ce que les tremoli d’instruments à cordes ont de plus violent, on n’entend ici que des voix pures et virginales; l’orchestre ne se compose que d’un sextuor des instruments les plus doux: deux flûtes, deux hautbois et deux clarinettes.“ „Das Auftrittsritornell der Alice, das auf die Höllenszene folgt, erzeugt den Eindruck von Ruhe und köstlicher Frische. Auch dieser Kontrast ist durch die Instrumentation hervorgebracht. Anstelle der bellenden, heulenden, kreischenden Kohorte aus Metallinstrumenten aller Art, Hörnern, Ventiltrompeten, Becken, Triangel, Tamtams, Posaunen, verstärkt durch alles, was die Tremoli der Streicher an Gewalttätigkeit hergeben, hört man hier reine und jungfräuliche Stimmen; das Orchester besteht nur aus einem Sextett der sanftesten Instrumente: zwei Flöten, zwei Oboen und zwei Klarinetten.“ 16

Alice, die eigentliche Gegenspielerin Bertrams im Kampf um Roberts Seele, war bereits in ihrer Preghiera im I. Akt durch eine Aura baßloser Streicherklänge charakterisiert worden, über denen eine Soloflöte erklingt. Ihre Singstimme erscheint eingebettet in das extrem leise Klangband der hohen Streicher, das erst allmählich eine Erweiterung nach der Tiefe erfährt. Die Disposition der Holzbläserstimmen in der Einleitung zum Rezitativ des III. Aktes (Partitur, p. 436) verrät, daß die Herstellung eines homogenen Holzbläserklanges noch nicht zu den Zielen von Meyerbeers Klangästhetik gehörte; zu deutlich treten die Mittelstimmen der Oboen hervor, die über den Parten der Klarinetten zu liegen kommen, was zwar der traditionellen Partituranordnung, nicht aber den relativen Registerverhältnissen der beiden Instrumente entspricht. Der real sechsstimmige Holzbläsersatz, der in Alices folgender Arie (III. Akt, No. 11, Couplets et Scène) die Singstimme begleitet, wurde von Berlioz als großräumiger Kontrast zu der voraufgehenden Klangwelt der Valse infernale besonders hervorgehoben. Dem historischen Zufall, daß kurz vor dem überwältigenden Erfolg von „Robert le diable“, der Meyerbeers zukünftigen Status im Pariser Musikleben definieren sollte, für Berlioz die Zeit des römischen „Exils“ als Rompreisträger anbrach, so daß sich die Frühphase der Pariser Karriere beider Komponisten in relativer Unabhängigkeit voneinander vollzog, dürfte die Tatsache geschuldet sein, daß einige Sondereffekte, die 1831 noch von bestürzender Neuartigkeit gewesen waren, im Jahre 1835 keine Erwähnung mehr fanden; der Beginn von Isabellas Cavatine des IV. Akts mit solistischer Harfe und Englischhorn-Solo (Partitur, p. 709 sqq.) wurde 17

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ebenso wenig diskutiert wie die bedeutende Rolle der Harfenbegleitung im Laufe der ganzen Arie. Auch die in der Operngeschichte rare, für das zukünftige Schaffen Meyerbeers aber wegweisende Gegenwart eines Terzetts a cappella (III. Akt, Trio, No. 13) wurde von Berlioz nicht diskutiert, obwohl das Schweigen des Orchesters eine extreme Art der großräumigen Formartikulation darstellt. Nur wenige Jahre nach dem Aufsatz zur Instrumentation von „Robert le diable“, nämlich zwischen dem 21. November 1841 und dem 17. Juli 1842, waren die sechzehn Feuilletons der „Revue et Gazette musicale de Paris“ entstanden, die die Keimzelle des „Grand Traité d’Instrumentation et d’Orchestration Modernes“ (1843) bildeten, der seinem Autor den Ruf einer europäischen Autorität für Instrumentenbau und Instrumentationskunst eintrug. Ein Vergleich zwischen dem frühen Aufsatz für die „Gazette musicale“ und diesen beiden Publikationen enthüllt den großen Stellenwert, den die Erfahrung mit der Partitur von „Robert le diable“ in Berlioz’ Denken einnahm. Der Vergleich der beiden späteren Publikationen mit dem Aufsatz von 1835 ist zum Verständnis von Berlioz’ Arbeitsweise deswegen so erhellend, weil er nur ein Jahr vor der Uraufführung von Meyerbeers „Les huguenots“ erschien. In all’ denjenigen Fällen, in denen sich Berlioz’ Erinnerung an die erst wenige Jahre zurückliegende Uraufführung von „Les huguenots“ vor den tiefen Eindruck schob, den er von Meyerbeers Erstlingswerk für Paris erhalten hatte, wurde die instrumentatorische Innovation der späteren Partitur ausgewählt. Daher wurde die Verwendung multipler Hornstimmungen verdrängt durch die Dis­ position der Trompetenstimmungen für die Schwerterweihe, und die Verwendung von Englischhorn und Harfe in „Robert le diable“ wich der ungleich komplexeren Einbeziehung des Englischhorns im großen Duett zwischen Raoul und Valentine im IV. Akt der „Huguenots“. Da Berlioz selbst in der Partitur seiner „Grande Messe des morts“ (Paris 1837) eine ungleich stärkere Besetzung der Pauken und der ganzen Schlagwerkgruppe vorgesehen hatte, wurden auch die vier Pauken zur Charakterisierung des Schwarzen Ritters aus „Robert le diable“ in seinen Aufsätzen von 1841 / 42 nicht mehr erwähnt, wohl aber die originelle Verwendung des Tamtams in der Nonnenszene. Wenn die beiden Schriften trotzdem eine überraschende Konstanz in der Auswahl der besprochenen Stellen aufweisen, so dürfte das auf die Tatsache zurückzuführen sein, daß Berlioz’ Methode der Instrumentationsbeschreibung sich in der Auseinandersetzung mit der Partitur von „Robert le diable“ geformt hatte. Die später im „Grand Traité d’Instrumentation et d’Orchestration modernes“ entwickelten Kategorien der Instrumentationsbetrachtung erscheinen gleichsam determiniert durch den ersten Aufsatz des Komponisten zur Instrumentationsanalyse, da die Eindrücke der Partitur von „Robert le diable“ zum Grundbestand von Berlioz’ Klangerfahrungen zählten. 19

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Wie an anderer Stelle gezeigt wurde, konvergierte in den dreißiger und vierziger Jahren des 19. Jahrhunderts die spezifische Klangphantasie des Komponisten Berlioz mit der historischen Möglichkeit, isolierte Klangeffekte als musikalisch sinnvolle Struktur denken zu können, d. h. mit der historischen Möglichkeit einer Instrumentationslehre als Ausdruck der künstlerischen Avantgarde ihrer Zeit. In vielen Fällen lassen sich die Klangchiffren der Partituren von „Symphonie fantastique“, „Harold en Italie“, „Grande Messe des morts“, „Benvenuto Cellini“ und „Roméo et Juliette“ als Exemplifikationen für die im „Traité“ dargestellten Spezialeffekte für einzelne Instrumente lesen. Dies gilt in besonderer Weise für den „verfremdeten“ Gebrauch, den Berlioz in seinen Partituren aus den dreißiger Jahren einigen Instrumenten angedeihen ließ – wie etwa der kleinen Klarinette in Es, Serpent und Ophicléïde in der „Symphonie fantastique“, oder der Ophicléïde in ihrem berühmten Solo aus „Benvenuto Cellini“. Trotz einer reichen und unaufhaltsam wachsenden Sekundärliteratur zu Fragen des Instrumentenbaus, der Orchesterbesetzung und der Instrumentenverwendung bildet die Geschichte der Instrumentation in der Oper des 19. Jahrhunderts noch weitgehend eine terra incognita. Das metho­ dologische Dilemma jeder Instrumentationsgeschichte zwischen der präskriptiven Publikationsgattung der Instrumentationslehren und der nur vag deskriptiven, meist aber nur mit Wertwörtern jonglierenden Gattung 22

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„Robert le diable“, 3. Akt, Ballett der Nonnen, Entwurf von Pierre-Luc-Charles Cicéri, 1831

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der Instrumentationsgeschichten wurde vom Verfasser in früheren Publikationen eingehend behandelt. Neben diesen methodologisch inkommensurablen Formen der Instrumentationsbeschreibung als Handlungsanweisung oder in Form eines schulterklopfenden Lobes für den Komponisten traten schon recht früh historische Darstellungen des Instrumentenvorrats, die eher dem organologisch-antiquarischen Genre der Kataloge von Instrumentensammlungen verpflichtet waren. Wie ein kurzer Überblick über einige Publikationen zur Orchesterverwendung in der französischen und italienischen Oper während der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts lehrt, haben sich die methodologischen Prämissen der Instrumentationsanalyse in den vergangenen Jahrzehnten wenig verändert. Während die Standardwerke der Instrumentationsgeschichte als Besetzungsgeschichte zumeist im angelsächsischen Raum verfaßt wurden und in ihren wesentlichen Teilen ein dokumentarischer Forschung verpflichtetes Verständnis von Musikgeschichte widerspiegeln, konnte die Erforschung der individuellen Klangfarbenästhetik einzelner Komponisten nur wenig Fortschritte verzeichnen. Freilich hat die aus den Instrumentationsgeschichten des ausgehenden 19. Jahrhunderts vertraute Jagd auf Erstverwendungen einzelner Instrumente, die bisweilen Ursache kurioser Irrtümer war, inzwischen an Faszination eingebüßt, doch richtet sich das Augenmerk – an Stelle einer konkreten Beschreibung des allgemeinen Niveaus von Orchestersatz – immer noch auf einzelne „Instrumentationseffekte“, die nicht in jeder Epoche des Komponierens einen zentralen Bestandteil des musikalischen Denkens für Orchester bildeten. Selbst in denjenigen Fällen, in denen ein derartiges, an die Kapitelgliederung einer durchschnittlichen Instrumentationslehre angelehntes Verfahren der Partitur eigentlich adäquat gewesen wäre, wurde die Analyse häufig durch eine ungenügende Kenntnis des Durchschnittsniveaus der Orchesterbehandlung einer gegebenen Epoche relativiert. In der Tat beruht ein tieferes Verständnis für den Orchestersatz einer beliebigen Epoche der Operngeschichte auf einer möglichst umfassenden Kenntnis der materialen Gegebenheiten des Komponierens zu dieser Zeit; dies betrifft sowohl die organologischen wie die institutionellen Voraussetzungen. Ein solcher Ansatz erscheint sinnvoll jedoch nur in Kombination mit einer Reflexion der ästhetischen Intentionen, die sich im Einzelfall mit der Verwendung dieses Instrumentariums verbanden. Am Beispiel eines von Hector Berlioz vergeblich angestrebten „Elfenklangs“ unter dem übermächtigen Vorbild von Carl Maria von Webers „Oberon“ hat Frank Heidlberger dargelegt, welches Reflexionsniveau diesen ästhetischen Entscheidungen zugrunde liegen konnte; auch das bereits mit Carl Maria von Weber einsetzende Interesse für die Disziplin der Akustik belegt die enge Verzahnung von ästhetischer Reflexion und orchestertechnischer Innovation. Während die Instrumentations­geschichte bis in die jüngste Zeit jede auf einer präzisen 24

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Bühnenvision beruhende Partitur mit denselben Kategorien anging, als handele es sich um eine viersätzige Symphonie , hat sich in den letzten Jahrzehnten allmählich die Einsicht verbreitet, daß die Orchestration eines Bühnenwerkes eigenen Gesetzen zu folgen habe. Diese sind für die ersten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts freilich bisher nur in Ansätzen erforscht. Man wird daher gut daran tun, die zeittypischen, lokalen und gattungstypischen Ingredienzien der Instrumentation von Meyerbeers „Robert le diable“ gleichsam in Nahaufnahme festzuhalten; aus diesem Grunde zieht die vorliegende Darstellung nur ganz wenige Partituren als Vergleichsobjekte heran, die im unmittelbaren Umfeld von „Robert le diable“ an der Pariser Opéra aufgeführt wurden. Um die Auffassung der dramaturgischen Funktion von Klangfarbe und die davon abgeleiteten Prinzipien einer dramaturgisch motivierten Instrumentation, die alle Bühnenwerke Meyerbeers auszeichnen, in ihrer Neuartigkeit begreifen zu können, ist es notwendig, sich das Pariser Durchschnittsniveau einer auf die Erwartungen des Publikums der Grand Opéra zugeschnittenen Orchestersprache zu vergegenwärtigen. Eine neue Rolle der musikalischen Klangfarbe, die im 19. Jahrhundert zum zentralen Medium für Lokalkolorit und psychologisierende Personencharakteristik werden sollte, hatte sich zuerst in den Partituren der französischen Revolutionsoper abgezeichnet. André Ernest Modeste Grétry, Nicolas Étienne Méhul, Luigi Cherubini, vor allem aber Jean-François Le Sueur – Berlioz’ Kompositionslehrer am Pariser Conservatoire und für den jungen Komponisten ein beherrschender Einfluß im Bereich der dramatischen Komposition – verwendeten in ihren Opern der Revolutionszeit als Erste „isolierte“ Klangeffekte, um direkt auf die Emotionen des Publikums zu wirken. Die stetig zunehmende Pracht­ entfaltung der Inszenierungen an der Académie Impériale (bzw. Royale) de Musique sollte während der Jahre des Empire und der Restauration zur vollen Entfaltung gelangen. Gaspare Luigi Pacifico Spontinis „Tragédies ­lyriques“ – „La Vestale“ (1807), „Ferdinand Cortès ou La Conquête du ­Mexique“ (1809 / 1817) und „Olimpie“ (1819) – hatten das Modell einer groß angelegten tragischen Oper mit antikem oder historischem Sujet definiert, dessen in der Vergangenheit angesiedelte Personenkonstellation von einem politisierten Publikum assoziativ auf die Tagespolitik bezogen wurde. Es ist allgemein bekannt, daß Paris während der dreißiger Jahre des 19. Jahrhunderts einen gewaltigen Innovationsschub der Orchestrationstechnik erlebte, vergleichbar vielleicht nur der Bayreuther Premiere des „Rings des Nibelungen“ im Jahre 1876. Die Bündelung von technologischer Innovation und Wandlung der ästhetischen Prämissen von Instrumentation verdankte sich einerseits institutionellen Voraussetzungen, die zum ersten Mal die Orchesterbedingungen dem Komponistenwillen unterordneten, vor allem 32

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aber dem gleichzeitigen Auftreten von Giacomo Meyerbeer und Hector Berlioz, das zwar für Paris gleichzeitig, aber wegen Meyerbeers voraufgegangener italienischer Karriere dem individuellen Lebensalter nach mit einer Phasenverschiebung von 12 Jahren erfolgte. Der intensive Austausch kompositorischer Erfahrungen zwischen beiden Komponisten ist durch Meyerbeers Tagebücher wie durch Berlioz’ literarische Zeugnisse hinreichend belegt. Obwohl die Bühnenwerke der Revolutionszeit das Sensorium für isolierte Klangeffekte geschärft hatten, darf nicht übersehen werden, daß in einer Pariser Oper der ausgehenden zwanziger und dreißiger Jahre weite Abschnitte auf einem relativ standardisierten Orchestersatz beruhten. Rezitativische Passagen der Singstimmen wurden vorwiegend mit Streicherbegleitung versehen, das Tutti war gerade in der französischen Tradition der Opéra comique nicht sehr von Klang-Differenzierungen geplagt, für bestimmte Szenen existierten instrumentatorische Topoi wie etwa Posaunenakkorde für kirchliche Szenen, so daß sich – ganz im Gegensatz etwa zur gleichzeitigen Entwicklung in Deutschland – nur eine geringe Individualisierung der einzelnen Partitur hatte einstellen können. Will man die Konstanten des Orchestersatzes einer Epoche beschreiben, dann kann nicht von den individuellen, der Werkdramaturgie verpflichteten Instrumentationseffekten ausgegangen werden, sondern von der strukturellen Basis des „Normalsatzes“ für Orchester. Die im Begriff der Instrumentation mitgedachte Verfügungsgewalt über das Klangresultat verstellt gerade im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts den Blick für die Dominanz von Kategorien der Stimmführung bei der Ausarbeitung des Orchestersatzes. Ein Blick in die Autographen gleichzeitig aktiver italienischer Komponisten enthüllt die Tatsache, daß das am häufigsten verwendete Zeichen nicht etwa die Note ist, sondern der schräge Doppelstrich, der ein taktweises „colla parte“ anzeigt. In „Les soirées d’orchestre“ hat Berlioz – wie vor ihm bereits Carl Maria von Weber in „Tonkünstlers Leben“ – die Genese eines Orchestersatzes vom Rossini-Typ in unsterblicher Weise verspottet. Doch die Kritik an der mangelnden Durchbildung des „schematischen Tuttis“ übersieht, daß die italienische Partituranordnung, die ja auch noch das Partiturbild des Autographs wie des Erstdrucks von „Robert le diable“ prägt, für die Komponisten eine vergleichbare Funktion besaß wie die „tabula decemlinealis“ für die Komponisten des 16. Jahrhunderts: Sie bot ein Raster, das der Komponist mit einer individuellen Struktur erfüllen konnte. Wie weit der Umgang mit diesem Instrumentarium von der Vorstellung der Instrumentation als „Verteilung der Stimmen eines musikalischen Satzes auf die Orchesterinstrumente“ entfernt war, belegt der Beginn der Ouverture von Aubers Oper „Gustave III, ou Le Bal masqué“, die zwei Jahre nach „Robert le diable“ in Paris uraufgeführt wurde, aber orchestertechnisch 40

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von geringerer Komplexität ist. Der einleitende, thematisch konstitutive Bläsersatz wird unterlegt durch einen nachschlagenden Viertelrhythmus in Posaunen, Streicherpizzicati, Pauken und Triangel. Der Bläsersatz selbst erscheint schon in den beiden Oboen- und Fagottstimmen vollständig vertreten; die Klarinetten gehen im Unisono mit den Oboen, Flöte und Piccolo spielen diese Töne in der Oberoktav; die Hörner verdoppeln die Fagottparte, während die Trompete die Tonika des Satzes als Achsenton beisteuert. An Stelle einer freien Verteilung einzelner Akkordtöne auf die Blasinstrumente, wie die Instrumentationslehre von Nicolai Rimsky-Korsakow sie paradigmatisch lehrte, fand im Orchestersatz der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts häufig noch ein Dialog komponierter Stimmen statt, deren Träger die einzelnen Instrumente des Orchesters waren. Deren Beziehung war primär durch satztechnische Konventionen und Topoi geregelt; erst in zweiter Linie, nämlich als bewußte Abweichung von der Norm traditioneller Stimmführung, konnte die Klangphantasie des Komponisten in das Gesamtergebnis eingreifen. Die streng paarweise Besetzung der Holzbläserstimmen – abgesehen von freilich wesentlichen Ausnahmen, die im folgenden diskutiert werden – stellt in den Partituren um 1830 nicht nur eine numerische Besetzungsangabe dar, sondern spiegelt auch das vorherrschende satztechnische Modell für der Führung der Holzbläserparte. In Analogie zu der häufigen Parallelführung von Violine I und II im Terzabstand verlaufen die paarigen Bläserstimmen häufig in Terzen und bilden somit zusammen mit dem Baß einen rudimentären dreistimmigen Satz. Die Holzbläserakkorde einer Partitur des frühen 19. Jahrhunderts, die aus dem Blickwinkel der Instrumentationsanalyse des 20. Jahrhunderts gelegentlich als reine Konfiguration von Einzeltönen zum Mischklang interpretiert wurden (Nicolai Rimsky-Korsakow), bilden daher im Regelfall das Nebenprodukt einer Stimmführung, der resultierende Mischklang mithin ein Phantom der musikalischen Analyse. Die Parte der zwei Oboen und zwei Klarinetten verlaufen normalerweise im Oktavabstand, wobei die Positionierung der Klarinettenparte unter denjenigen der Oboen in den Orchesterpartituren auf viele Komponisten – u. a. auch auf Meyerbeer – derart suggestiv wirkte, daß diese die Klarinetten als Unteroktave der Oboen einzusetzen pflegten. Eine Instrumentierung unter dem ästhetischen Primat des homogenen Mischklangs hätte umgekehrt verfahren müssen; die Klarinetten klingen in der eingestrichenen Oktave uncharakteristisch, die Oboen stechen in der zweigestrichenen Oktav zu sehr hervor. Die erst im „Einzug der Gäste auf der Wartburg“ in Wagners „Tannhäuser“ realisierte Problemlösung, die durch Umkehrung der Lagenverteilung von Oboen und Klarinetten einen homogenen Holzbläserklang zu erzeugen vermochte, scheint Meyerbeers besondere Wertschätzung gefunden zu haben. Am 29. April 1855 erlebte Meyerbeer in Hamburg eine Aufführung des 47

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„Le Prophète“, 5. Akt, Entwurf von Philippe-Marie Chaperon, 1865

„Tannhäuser“, die ihn im Tagebuch „sehr große Genieblitze in Auffassung, Orchesterkolorit und zuweilen sogar in rein musikalischer Hinsicht, namentlich in den Instrumentalsätzen“ konstatieren ließ. Die Fagottbesetzung mit 4 Instrumenten stellte bekanntlich ein nur historisch erklärbares Phänomen der Pariser Besetzungspraxis dar, das bis in die Zeit Lullys und Rameaus zurückverfolgt werden kann; erst Hector Berlioz sollte in der Partitur des „Benvenuto Cellini“ eine dramaturgische Funktionalisierung für einen real vierstimmigen Fagottsatz entwickeln. Die Pariser Tradition der Besetzung des Streicherkörpers mit vergleichsweise wenigen Bratschen, aber mit massivem Baßfundament, spiegelt ein ähnliches Klangideal wie die Fagottbesetzung; die italienische Orchestertradition zur Zeit von Verdis mittlerer Schaffensperiode kannte eine vergleichbare Dominanz der Baßinstrumente auf Kosten von Violen und Violoncelli. Meyerbeers Disposition der Flöten kann als repräsentitiv für die Übergangsphase von einem musikalischen Denken in der Kategorie der Stimme zu einer an der Klangbalance orientierten Auffassung von musikalischem Satz angesehen werden. Besonders im I. Akt von „Robert le diable“ verläuft die Partie der „Flûtes“ weitgehend einstimmig, während das Piccolo diese Partie in der Oberoktave verdoppelt; da die Flöten meist unisono mit den 50

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I. Violinen verlaufen, bildet das Piccolo die höchste Oktavkoppel der Oberstimme des gesamten Orchesters. Nur in wenigen Passagen verwendete Meyerbeer die beiden Großen Flöten in realer Zweistimmigkeit; in diesen Fällen führt jedoch das Piccolo niemals eine dritte, unabhängige Stimme aus, sondern es pausiert im Regelfall. Einerseits vermochte der Komponist durch die häufig anzutreffende Vorschrift „solo“ in der Stimme der Großen Flöten, die Gesamtlautstärke nach Belieben abzusenken oder anzuheben. Seine Vermeidung realer Dreistimmigkeit verweist aber auf die damals noch gängige Besetzung mit je einer Flöte und einem Piccolo, die die Opernpartituren von Auber und ­Halévy auszeichnet. Dank der Notwendigkeit eines brillanten Klanges in den Opern Rossinis und seiner französischen Bewunderer hatte das Piccolo – obwohl ein Derivatinstrument wie Englischhorn und Baßklarinette – sich bereits einen festen Platz im Orchester erobert; während also drei Flötenspieler präsent sein mußten, auch wenn diese nicht in jedem Teil der Partitur drei unabhängige Stimmen auszuführen hatten, begnügten sich die frühen Verwendungen des Englischhorns mit der Notlösung, denselben Spieler zwischen 2. Oboe und Englischhorn wechseln zu lassen. Die Tatsache, daß in den ersten Akten von „Robert le diable“ aus der Gegenwart von drei Spielern noch nicht die Konsequenz gezogen wurde, auch einen dreistimmigen Flötensatz zu schreiben, belegt die Macht satztechnischer Konventionen über die instrumentatorische Phantasie der Komponisten. Gleichzeitig mag dieses Beispiel dazu dienen, uns daran zu erinnern, daß Partituren von diesen Dimensionen nicht monolithisch konzipiert werden können, sondern daß die Auseinandersetzung des Komponisten mit der Technologie des Orchestersatzes während der Werkgenese einem Lernprozeß gleicht; auch Richard Wagner gelang es erst im III. Akt des „Tannhäuser“, das Englischhorn zu einem vollständig integrierten Mitglied der Holzbläsergruppe zu machen. Der zur Zeit der Generalbaßkomposition ursprünglich vierstimmige, an die menschlichen Stimmlagen angelehnte Posaunensatz hatte um die Mitte des 18. Jahrhunderts durch das Ausscheiden des Zinken seine Oberstimme eingebüßt; einen Mischklang aus Oboe und Klarinette als Surrogat für diese Klangfarbe schrieb Mozart in der Friedhofsszene des „Don Giovanni“. Der Posaunensatz der Meyerbeer-Zeit präsentiert sich daher als ein substantiell dreistimmiges Konglomerat aus 3 Posaunen und Ophicléïde, die als Baß-Oktavkoppel der 3. Posaune fungiert. Die 4 Hörner werden als doppeltes Paar eingesetzt, obwohl die im heutigen Orchester gängige Ausdifferenzierung in „hohe“ und „tiefe“ Hornisten sich erst allmählich entwickelte. Durch Vorschrift verschiedener, sorgfältig ausgeklügelter Stimmungskombinationen für je ein Hornpaar suchten die Komponisten den beschränkten Vorrat an Naturtönen zu erweitern; Hector Berlioz sollte diese Technik in der Einleitung zu „Roméo et Juliette“ durch die gleichzeitige Vorschrift von vier 53

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verschiedenen Hornstimmungen ins Extrem treiben. Daß die Fähigkeit eines Komponisten zur Imagination neuer Klänge mit diesen technologischen Details des Orchestersatzes verzahnt war, veranschaulicht die Moll-Fanfare der Trompeten in der Schwerterweihe aus Meyerbeers „Les huguenots“. Da die Obertonreihe besonders in tiefer Lage Lücken aufweist, machten sich die Grenzen der Naturinstrumente vor allem in der Baßlage bemerkbar. Fehlende Tonhöhen in tiefer Lage konnten freilich auch durch eine einzelne Posaune ergänzt werden, deren Verwendung zur Baßverstärkung aus der Tradition der Opéra comique der Revolutionszeit stammt; Webers einschlägige Verwendung dieser Instrumentenkombination im Jägerchor des „Freischütz“ ist allgemein bekannt. Die paarweise eingesetzten Trompeten befanden sich zu Beginn der dreißiger Jahre gerade in einer Phase des technischen Umbruchs, wie das Nebeneinander von Naturtrompeten und Klappentrompeten in der Partitur von „Robert le diable“ schlagend belegt. Erst mit der Einführung der Pistonventile in Frankreich und der Drehventile im deutschsprachigen Raum vermochten die Ventilinstrumente sich so weit dem Klang der Natur­ instrumente anzunähern, daß ihre alleinige Verwendung im Kontext des Orchesters akzeptabel wurde; diese Stufe der Hörnerverwendung spiegelt das Vorwort zur Partitur von „Tristan und Isolde“. Dieser satztechnisch funktionalisierte Kernbestand des französischen Opernorchesters erfuhr seit den Werken der Revolutionszeit Erweiterungen, die mit dem Terminus „hinzugefügte Instrumente“ belegt wurden. Es handelt sich dabei einerseits um Derivatinstrumente, die eine vertraute Klangfarbe in ungewöhnlicher Lage präsentieren, wie etwa Piccoloflöte, Englischhorn und Baßklarinette, andererseits um tonhöhenlose Schlaginstrumente, deren Eindringen in das Orchester beinahe immer auf einer früheren Funktion als Klangrequisit beruht. Am Beispiel des Tamtams, das von der Trauer­musik zur Bestattung Graf Mirabeaus über eine Funktion als Klangrequisit für den Schild Ossians, den Schild Julias in „La Vestale“ und den Schild der Norma in Bellinis gleichnamiger Oper bis zu seiner rein klangfarblichen Verwendung – Adam: „Je suis mort!“ – einen Prozeß der allmählichen Desymbolisierung durchmachte, konnte eine allgemeine Formel für diesen Weg der Instrumente in das Orchester angegeben werden. Während Derivatinstrumente typischerweise keinen zusätzlichen Spieler erfordern, sondern vom zweiten Spieler des Stamminstruments übernommen wurden, bedingte die Verwendung hinzugefügter Instrumente aus dem Bereich der Klangrequisiten normalerweise die Bezahlung zusätzlicher Musiker. Eine Sonderrolle kam schließlich denjenigen Akkordinstrumenten zu, die allein bereits fähig sind, einen mehrstimmigen musikalischen Satz vorzutragen: Harfe, Klavier und Orgel. Während die seltenen Verwendungen eines Klaviers auf der Bühne in der Funktion eines musikalischen Requisits eher dem Bereich der Opera buffa bzw. der Comique zuzuordnen sind, 56

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belegen die frühen Verwendungen des Harfenklanges im französischen Raum die Herkunft des Instruments aus der Sphäre häuslicher Kammer­ musik. Die Einführung der Kirchenorgel, deren erste Verwendung auf der Opernbühne überhaupt in „Robert le diable“ stattfand, nachdem Spontini in „Agnes von Hohenstaufen“ (Berlin 1828) eine effektvolle Imitation des Orgelklanges durch ein Blasorchester aus Instrumenten der Militärmusik verwendet hatte, bedeutete eine Maximierung des finanziellen Aufwandes zur Erzeugung von musikalischem Lokalkolorit. Die Entwicklung einer spezifischen Orchestersprache für die Grand Opéra geschah aus der Notwendigkeit heraus, räumliche und zeitliche Dimensionen sinnlich erfahrbar zu machen, die bis dahin niemals von einem Einzelwerk in Anspruch genommen worden waren. Die bedeutenden Verbesserungen der Bühnen- und Beleuchtungstechnik durch Einführung der Gasbeleuchtung, durch Übertragung der Dioramen-Technik auf die Opernbühne sowie durch die Anwendung zahlreicher Neuerungen im Bereich der Effekt-Technologie fanden ihren akustischen Widerpart in der Schaffung einer auch musikalisch erfahrbaren Räumlichkeit zur Erhöhung der Bühnenillusion. Die Musikalisierung des virtuellen Raumes wurde durch Fernchöre, Bühnenmusik, durch Disposition des musikalischen Geschehens auf verschiedenen, auch szenisch getrennten Ebenen und durch eine Tiefenstaffelung des Instrumentariums bewerkstelligt. Träger dieser zweiten Ebene von Musik waren alle Arten von Bühnenorchestern, Fernchören, einzelnen Instrumenten hinter der Bühne sowie der Lebenswelt entnommene Klangereignisse (Glocken, Trommelwirbel, Trompetensignale, Kanonenschüsse hinter der Szene, ferner Hörnerschall), die durch präzise Notation ihres Erklingens zum Bestandteil der Partitur geworden waren. Dabei entwickelte sich ein musikalisches Phänomen, das am besten mit dem Terminus des „virtuellen Raumes“ bezeichnet werden kann; der von den Zuschauern einsehbare reale Bühnenraum und der von den akustischen Ereignissen suggerierte virtuelle Raum kamen in vielen Szenen nicht mehr zur Deckung. Berühmte Beispiele, wie etwa das Hereinklingen der Sturmglocke in das Liebesduett im IV. Akt der „Huguenots“ oder die Geräusche der fernen Schlacht im III. Akt von Wagners „Rienzi“ besitzen ihre Vorläufer in der zum ersten Mal im Orchestersatz der französischen Revolutionsoper erfahrbar gemachten musikalischen Räumlichkeit des Klanges; die Zweiteilung des Bühnenbildes in Le Sueurs Oper „La Caverne, ou Le Repentir“ (1793 ) und die sich im Wechselspiel von Bühnen- und Hauptorchester vollziehende Hochzeitsszene in Cherubinis „Médée“ (1797) bildeten Modelle für eine nicht mehr empirische, sondern durch akustische Mittel suggerierte Ausdehnung des Handlungsraumes über die Grenzen des Bühnenhauses hinaus. Die Bedeutung dieser musikalischen und szenischen Effekte wird greifbarer, wenn man sich vergegenwärtigt, daß sie 63

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sorgsam gehütete Berufsgeheimnisse waren. Wie Meyerbeers Tagebücher anläßlich der Produktion von „Les huguenots“ verraten, lebte der Komponist in beständiger Sorge, einer seiner Konkurrenten könne ihm bei der Verwendung eines neuen Klangeffektes zuvorkommen. Die Notwendigkeit einer musikalischen Strukturierung der zeitlichen Dimension sollte die Entwicklung des Orchestersatzes im Rahmen der Grand Opéra in besonderem Maße vorantreiben. Obwohl seit dem Beginn der europäischen Oper eine Differenzierung des Instrumentariums je nach dem dramaturgischen Kontext der einzelnen Szene sich eingebürgert hatte, ­bildete seit der Entstehung des (Opern)-Orchesters das Tutti gleichsam die Mitte des Orchesterklanges, d. h. den Garant für die Möglichkeit, individuelle Instrumente gemäß ihrer satztechnischen Funktionalisierung einordnen zu können. Da die Ausdifferenzierung einzelner Szenen und ganzer Akte je nach ihrer Besetzung und ihrem musikalischen Satz im Rahmen der Grand Opéra zu einem wesentlichen Wirkungsmittel geworden war, sank die Kategorie des Tutti von einer zentralen Kategorie des musikalischen Denkens ab zur nur noch theoretischen Liste aller im Laufe eines langen Abends zu verwendenden Instrumente und Spieler. Die allmähliche Dissoziation von Instrumentarium und musikalischem Satz wurde in besonderem Maße durch die Bühnenmusik gefördert, deren Instrumentarium zumeist der Militärmusik entstammte; zugleich mit dem Instrumentarium drangen im Zeichen des Lokalkolorits auch Satzweisen nicht-werkhafter Musik in die musikalische Struktur ein und beförderten den Eindruck musikalischer Heterogenität. Zu den wesentlichen Kennzeichen der deutschen romantischen Oper zählte die Gegenüberstellung positiver und negativer Sphären der Dramaturgie, die durch diametral entgegengesetzte Instrumentalklänge oder Klangmischungen charakterisiert wurden. Zumeist fungierte die normale Instrumentenverwendung innerhalb eines solchen klangfarblichen Bezugsystems als Signum für Positivität, während die negative Komponente der Dramaturgie einer Oper durch einen denaturierten Gebrauch der Instrumente vergegenwärtigt wurde; bekanntestes Beispiel für diese Regel ist die Verwendung des tiefen Klarinetten­ registers zur Charakterisierung der Wolfsschlucht in Webers „Der Freischütz“. Eine derartige Disposition der Instrumentalfarben aber mußte sich einem stofflichen Vorwurf als unangemessen erweisen, der eine klare Scheidung von Positivität und Negativität nicht kannte oder ambivalente Helden zur Darstellung brachte; nicht zufällig blieb die musikalische Zeichnung der Gestalt des Max im „Freischütz“ merkwürdig blaß. Daß der Bereich eines überpositiven Schönklangs gegenüber den denaturierten Klangfarben der Schauerromantik von den Komponisten erst mit einiger Verspätung erkundet wurde, lag nicht nur an den Besonderheiten der 67

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Stoffwahl im Zeitalter der europäischen Romantik, sondern vor allem an den inhärenten kompositionstechnischen Schwierigkeiten. Bekanntlich bildete während des 19. Jahrhunderts die Notwendigkeit, neue Klangkombinationen im Zusammenspiel von Streichern, Holz- und Blechbläsern zu entwerfen, eine der technologisch anspruchsvollsten Aufgaben für die Komponisten. Als besonders schwierig erwies sich dabei die Herstellung eines homogenen Tuttiklangs im Piano der Holzbläsergruppe. Die von der Partituranordnung suggerierte Lösung, die zu mischenden Instrumente vorrangig aus derselben Familie auszuwählen, wurde erst allmählich von den Komponisten aufgegeben. Eine reichere Palette an Holzbläser-Mischklängen eröffnete sich freilich erst mit einer Orchesterbesetzung, die es erlaubte, alle drei Töne eines Akkords mit Instrumenten einer Familie zu besetzen. Aus dem Widerspruch zwischen den beiden wichtigsten Forderungen an die Instrumentation einer Großen Oper – Zwang zu kontinuierlicher Innovation und Notwendigkeit der Typisierung – resultierte ein ganz spezifisches Verhältnis der Komponisten zum Orchestersatz; entsprach der einzelne Instrumentaleffekt der Forderung nach Innovation des Klangbildes für jedes einzelne Werk, so hatte der Komponist zugleich bei der Gestaltung der Klangcharakteristik einzelner Personen auf rollentypische Erwartungshaltungen des Publikums Rücksicht zu nehmen. Als Meyerbeer mit der Komposition von „Robert le diable“ begann, hatte die intensive Pariser Weber-Rezeption den Boden bereitet für eine Personencharakteristik durch differenzierte Mischklänge. Die Ausbreitung einer Variante des Samiel-Klanges über die Partitur von „Robert le diable“ zeigt deutlich, daß Meyerbeer zwar einerseits Kompositionstechniken seines Freundes Weber zu assimilieren suchte, andererseits aber nicht primär auf die Individualisierung eines jeden Einzelwerkes durch eine jeweils neu zusammengestellte Klangwelt abzielte. Es ist offenbar, daß die Erfordernis einer möglichst großen, zeitlich ausdifferenzierten Klangfarbenvielfalt im Laufe eines fünfaktigen Opernabends von der Vorstellung einer primär klangdramaturgisch realisierten Vereinheitlichung des Orchestersatzes eher ablenkte. Die Tatsache der progredierenden Abnützung reiner Klangeffekte, die nicht primär satztechnisch, sondern dramaturgisch im Werk verankert waren, führte in letzter Konsequenz zu einer Dominanz instrumentatorischer Technologie im Orchestersatz. Hinzugefügte Instrumente und innovative Mischklänge unterlagen freilich demselben Abnützungsprozeß, da ihr Verwendungshorizont alsbald durch geschichtlich bedeutende Werke besetzt wurde. Diese Abnützung ist an den Partituren der Zeitgenossen Meyerbeers noch deutlicher zu erkennen als an den seinen; bildete nämlich ein nach dem Vorbild Rossinis gearbeitetes Tutti den Hintergrund vereinzelter Sondereffekte, wie in manchen Werken Aubers und Halévys, so stachen diese um so deutlicher aus dem relativ einförmigen Tuttiklang hervor. 72

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Meyerbeers orchestertechnische Leistung bestand dagegen in der Entwicklung eines Orchestersatzes, der zwar den Instrumentaleffekt nicht verschmähte, ihn aber einbettete in eine umfassende, dramaturgisch motivierte Grundstruktur, deren zeitliche Organisation eine sorgfältig disponierte Steigerungsanlage verrät. Im Orchestersatz Meyerbeers sind deutlich zwei Schichten von Individualisierung der Klangereignisse zu unterscheiden: Vollständig individuell, aber nicht satztechnisch, sondern dramaturgisch legitimiert erscheint die Schicht reiner Instrumentaleffekte, dramaturgisch individualisiert und satztechnisch legitimiert die Schicht der Personencharakteristik durch Klangfarben. Diese letztere Schicht, die Sphäre des dramaturgisch motivierten Orchesterklanges, begründete eine umfassende Funktionalisierung der Instrumentation in der Oper zum Zwecke des dramatischen Ausdrucks – für Paris um 1831 eine bahnbrechende Neuerung.

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Anmerkungen

1 Hans Heinrich Eggebrecht, Opusmusik, in: H. H. Eggebrecht, Musikalisches Denken. Aufsätze zur Theorie und Ästhetik der Musik, Wilhelmshaven [Heinrichshofen] 1977, pp. 219 – 242; Wilhelm Seidel, Werk und Werkbegriff in der Musikgeschichte, Darmstadt [Wissenschaftliche Buchgesellschaft] 1987. 2 Hector Berlioz, Critique musicale, vol. 2, edd. Yves Gérard / Marie-Hélène Coudroy-Saghaï, Paris [Buchet-Chastel] 1998, p. 209. 3 Jürgen Maehder, Hector Berlioz als Chronist der Orchesterpraxis in Deutschland, in: Sieghart Döhring / Arnold Jacobshagen / Gunther Braam [edd.], Berlioz, Wagner und die Deutschen, Köln [Dohr] 2003, pp. 193 – 210. 4 Hector Berlioz, Critique musicale, vol. 2, edd. Yves Gérard / Marie-Hélène Coudroy-Saghaï, Paris [Buchet-Chastel] 1998, p. 210. 5 Sieghart Döhring / Sabine Henze-Döhring, Oper und Musikdrama im 19. Jahrhundert, „Gattungen der Musikgeschichte“, Laaber [Laaber] 1997; Sieghart Döhring / Arnold Jacobshagen [edd.], Meyerbeer und das europäische Musiktheater, Laaber [Laaber] 1998; Evan Baker, From the Score to the Stage: An Illustrated History of Opera Production and Staging in Continental Europe, Chicago [Chicago University Press] 2013. 6 Hector Berlioz, Mémoires, ed. Pierre Citron, Paris [Garnier-­ Flammarion] 1969, vol. 2, pp. 51 – 161; David Cairns, Berlioz. Servitude and Greatness, London [Penguin] 1999, pp. 291 – 293; Jürgen Maehder, Hector Berlioz als Chronist der Orchesterpraxis in Deutschland, in: Sieghart Döhring / Arnold Jacobshagen / Gunther Braam [edd.], Berlioz, Wagner und die Deutschen, Köln [Dohr] 2003, pp. 193 – 210. 7 Hector Berlioz, Critique musicale, vol. 2, edd. Yves Gérard / Marie-Hélène Coudroy-Saghaï, Paris [Buchet-Chastel] 1998, p. 211. 8 Alle folgenden Partiturbeispiele beziehen sich auf den Erstdruck von Meyerbeers Partitur: Giacomo Meyerbeer, „Robert le diable“, Paris [Schlesinger] 1832, Reprint: New York [Garland] 1980. 9 Jürgen Maehder, Die Poetisierung der Klangfarben in Dichtung und Musik der deutschen Romantik, in: AURORA, Jahrbuch der Eichendorff-Gesellschaft 38 / 1978, pp. 9 – 31; Jürgen Maehder, Klangzauber und Satztechnik. Zur Klangfarbendisposition in den Opern Carl Maria von Webers, in: Friedhelm Krummacher / Heinrich W. Schwab [edd.], Weber – Jenseits des „Freischütz“, „Kieler Schriften zur Musikwissenschaft“, vol. 32, Kassel [Bärenreiter] 1989, pp. 14 – 40. 10 Drei verschiedene Paukentöne [B, b, f] erscheinen bereits in der Ouvertüre zu Sacchinis Oper „Oedipe à Colone“ [1786]; cf. Hans Bartenstein, Hector Berlioz’ Instrumentationskunst und ihre geschichtlichen Grundlagen, Strassburg [Heitz] 1939, Baden-­B aden [Valentin Koerner] 1974, passim. Da Berlioz seinen Aufsatz nur wenige Jahre nach der Uraufführung von „Robert le diable“ verfaßte, konnten Irrtümer nicht ausbleiben. So beschrieb er irrtümlich die Verwendung von drei an Stelle von vier Pauken beim Auftritt des schwarzen Ritters, korrigierte diesen Irrtum aber in seinen späteren Publikationen. 11 Diese Passage erscheint auch als Notenbeispiel bei Berlioz / Strauss, Instrumentationslehre, p. 422. Das vorgeschriebene Crescendo der Blasinstrumente zeugt von der genauen Berücksichtigung klanglicher Eigenarten des Tamtam – denn ein leiser Schlag auf ein Tamtam entwickelt seine Klangsubstanz erst allmählich, mischt sich also vortrefflich mit dem vorgezeichneten Crescendo der übrigen Blasinstrumente. Man vergleiche zu dieser Stelle auch Hans Kunitz, Die Instrumentation, Leipzig [sog. „VEB“ Musik] 1960, vol. 10, p. 1044. 12 Hugh J. Macdonald, Berlioz’s Orchestration Treatise. A Translation and Commentary, Cambridge [CUP] 2002, pp. 153 – 163. 13 Jürgen Maehder, Verfremdete Instrumentation – Ein Versuch über beschädigten Schönklang, in: Jürg Stenzl [ed.], Schweizer Beiträge zur Musikwissenschaft 4 / 1980, pp. 103 – 150; Jürgen Maehder, Ma le zao qi zuo pin li pei qi de mo sheng hua

[= Instrumentatorische Verfremdung im Frühwerk Gustav Mahlers], in: Kii-Ming Lo/Jürgen Maehder [edd.], Shao nian mo hao – Ma le de shi yi chuan yuan [= „Des Knaben Wunderhorn“ – Gustav Mahlers Inspirationsquelle], Taipei [Gao Tan Publishing Co.] 2010, pp. 151 – 188. 14 Hector Berlioz, Critique musicale, vol. 2, edd. Yves Gérard / Marie-Hélène Coudroy-Saghaï, Paris [Buchet-Chastel] 1998, p. 214. 15 Jürgen Maehder, Klangfarbe als Bauelement des musikalischen Satzes – Zur Kritik des Instrumentationsbegriffs, Diss. Bern 1977, passim. 16 Hector Berlioz, Critique musicale, vol. 2, edd. Yves Gérard / Marie-Hélène Coudroy-Saghaï, Paris [Buchet-Chastel] 1998, p. 213. 17 Wie eine Eintragung Meyerbeers in seinen Taschenkalender vom Oktober 1831 – d. h. kurz vor der Premiere des „Robert le diable“ – bezeugt, bereitete diese Stelle offenbar dem Orchester Schwierigkeiten. Meyerbeer vermerkte neben dem Notenbeispiel, mit Habeneck deswegen sprechen zu wollen. [Giacomo Meyerbeer, Briefe und Tagebücher, edd. Heinz und Gudrun Becker, vol. 2, Berlin [Walter de Gruyter] 1970, p. 150] 18 Olga Visentini, Berlioz e il suo tempo, 2 voll., Lucca [LIM] 2010, vor allem das Kapitel „Interludio. Italie, Italie“, vol. 1, pp. 455 – 517. 19 Hector Berlioz, De l’instrumentation, ed. Joël-Marie Fauquet, s.l. [Bègles] [Le Castor Astral] 1994. 20 Joël-Marie Fauquet, The Grand Traité d’Instrumentation, in: Peter Bloom [ed.], The Cambridge Companion to Berlioz, Cambridge [CUP] 2000, pp. 164 – 170; Arnold Jacobshagen, Vom Feuilleton zum Palimpsest: Die „Instrumentationslehre“ von Hector Berlioz und ihre deutschen Übersetzungen, in: Die Musikforschung 56 / 2003, pp. 250 – 260. 21 Hector Berlioz, Grand Traité d’Instrumentation et d’Orchestration modernes, Paris [Schonenberger] 1843, 21855; Hugh J. Macdonald [ed.], Berlioz’s Orchestration Treatise. A Translation and Commentary, Cambridge [CUP] 2002. 22 Jürgen Maehder, Klangfarbe als Bauelement des musikalischen Satzes – Zur Kritik des Instrumentationsbegriffs, Diss. Bern 1977, vor allem das Kapitel 11: „Frankreich – Grand Opéra und Hector Berlioz“, pp. 325 – 360; Jürgen Maehder, Orchesterbehandlung und Klangregie in „Les Troyens“ von Hector Berlioz, in: Ulrich Müller et al. [edd.]: Europäische Mythen von Liebe, Leidenschaft, Untergang und Tod im [Musik]-Theater. Vorträge und Gespräche des Salzburger Symposiums 2000, Anif / Salzburg [Müller-­ Speiser] 2002, pp. 511 – 537. 23 Jürgen Maehder, Verfremdete Instrumentation – Ein Versuch über beschädigten Schönklang, in: Jürg Stenzl [ed.], Schweizer Beiträge zur Musikwissenschaft 4 / 1980, pp. 103 – 150; Jürgen Maehder, Timbro e tecnica orchestrale nella partitura di „Benvenuto Cellini“, Programmheft des Maggio Musicale Fiorentino, Firenze [Teatro Comunale] 1987, pp. 111 – 131. 24 Jürgen Maehder, Klangfarbe als Bauelement des musikalischen Satzes – Zur Kritik des Instrumentationsbegriffs, Diss. Bern 1977, vor allem die Kapitel 1, 2 und 4 [„Instrumentation“ / „Klangfarbe“ / „Formen der Instrumentenverwendung in szenischer Musik“, pp. 6 – 84 und pp.  101 – 156. 25 Adam Carse, The History of Orchestration, London [Paul, Trench, Trübner & Co.] 1925, Reprint New York [Dover] 1964; Adam Carse, The Orchestra from Beethoven to Berlioz. A history of the orchestra in the first half of the 19th century, and of the development of the orchestral baton conducting, Cambridge [W. Heffer & Sons] 1948; J. Murray Barbour, Trumpets, Horns and Music, Ann Arbor [Michigan State University Press] 1964; Horace Fitzpatrick, The Horn and Horn-Playing and the Austro-Bohemian Tradition 1680 – 1830, London [Oxford University Press] 1970. 26 Hans Bartenstein, Hector Berlioz’ Instrumentationskunst und ihre geschichtlichen Grundlagen, Strassburg 1939, 2Baden-Baden [Valentin Koerner] 1974; Francis Irving Travis, Verdi’s Orchestration, Zürich [Juris Verlag] 1956; Wolfgang Witzenmann, Grundzüge der Instrumentation in den Opern Verdis und Wagners, in: Colloquium Verdi-Wagner [Rom 1969], Analecta Musicologica 11 / 1972, pp. 304 – 326; Hartwig Bögel, Studien zur Instrumentation in den Opern Giacomo Puccinis, Diss. Universität Tübingen 1978, masch.; William Edward Runyan, Orchestration in Five Grand Opéras, Diss. University of Rochester, Rochester / NY 1983; Teresa Klier, Der Verdi-Klang. Die Orchesterkonzeption in


den Opern von Giuseppe Verdi, Tutzing [Schneider] 1998. 27 Henri Lavoix, Histoire de l’instrumentation depuis le seizième siècle jusqu’à nos jours, Paris 1878; Hans Bartenstein, Hector Berlioz’ Instrumentationskunst und ihre geschichtlichen Grundlagen, Strassburg 1939, 2. erweiterte Auflage Baden-­B aden [Valentin Koerner] 1974. 28 Jürgen Maehder, Klangfarbe als Bauelement des musikalischen Satzes – Zur Kritik des Instrumentationsbegriffs, Diss. Bern 1977, passim; Jürgen Maehder, Satztechnik und Klangstruktur in der Einleitung zur Kerkerszene von Beethovens „Leonore“ und „Fidelio“, in: Ulrich Müller et al. [edd.], Fidelio / Leonore. Annäherungen an ein zentrales Werk des Musiktheaters, Anif / Salzburg [Müller-Speiser] 1998, pp. 389 – 410. 29 Heinz Becker, Geschichte der Instrumentation, Köln [Arno Volk] 1964; Jörg Christian Martin, Die Instrumentation von Maurice Ravel, Mainz [Schott] 1967; Wilfried Gruhn, Die Instrumentation in den Orchesterwerken von Richard Strauss, Mainz 1968; Hermann Erpf, Lehrbuch der Instrumentation und Instrumentenkunde, Mainz [Schott] 1969; Stefan Mikorey, Klangfarbe und Komposition. Besetzung und musikalische Faktur in Werken für großes Orchester und Kammerorchester von Berlioz, Strauss, Mahler, Debussy, Schönberg und Berg, München [Minerva] 1982; William Edward Runyan, Orchestration in Five Grand Opéras, Diss. University of Rochester, Rochester / NY 1983; Ursula Kramer, „… richtiges Licht und gehörige Perspektive …“ Studien zur Funktion des Orchesters in der Oper des 19. Jahrhunderts, Tutzing [Schneider] 1992; Teresa Klier, Der Verdi-Klang. Die Orchesterkonzeption in den Opern von Giuseppe Verdi, Tutzing [Schneider] 1998; Leo Karl Gerhartz, Melodiebildung und Orchestration, in: Anselm Gerhard / Uwe Schweikert [edd.], Verdi Handbuch, Kassel / Stuttgart / Weimar [Bärenreiter / Metzler] 2001, pp. 218 – 233. 30 Frank Heidlberger, Carl Maria von Weber und Hector Berlioz, Tutzing [Schneider] 1994; zur relativen Verspätung des Schönklangs gegenüber den Spielarten klanglicher Verfremdung: Jürgen Maehder, Verfremdete Instrumentation – Ein Versuch über beschädigten Schönklang, in: Jürg Stenzl [ed.], Schweizer Beiträge zur Musikwissenschaft 4 / 1980, pp. 103 – 150. 31 Jürgen Maehder, Ernst Florens Friedrich Chladni, Johann Wilhelm Ritter und die romantische Akustik auf dem Wege zum Verständnis der Klangfarbe, in: Jürgen Kühnel / Ulrich Müller / Oswald Panagl [edd.], Die Schaubühne in der Epoche des „Freischütz“: Theater und Musiktheater der Romantik, Anif / Salzburg [Müller-Speiser] 2009, pp. 107 – 122. 32 Egon Voss, Studien zur Instrumentation Richard Wagners, Regensburg [Bosse] 1970; Wolfgang Witzenmann, Grundzüge der Instrumentation in italienischen Opern von 1770 bis 1830, in: Analecta Musicologica 21 / 1982, pp. 276 – 332; William Edward Runyan, Orchestration in Five Grand Opéras, Diss. University of Rochester, Rochester / NY 1983; Teresa Klier, Der Verdi-Klang. Die Orchesterkonzeption in den Opern von Giuseppe Verdi, Tutzing [Schneider] 1998. 33 Jürgen Maehder, Klangfarbe als Bauelement des musikalischen Satzes – Zur Kritik des Instrumentationsbegriffs, Diss. Bern 1977, vor allem das Kapitel 4: „Formen der Instrumentenverwendung in szenischer Musik“, pp. 101 – 156; Manfred Hermann Schmid, Musik als Abbild. Studien zum Werk von Weber, Schumann und Wagner, Tutzing [Schneider] 1981; Ursula Kramer, „… richtiges Licht und gehörige Perspektive …“ Studien zur Funktion des Orchesters in der Oper des 19. Jahrhunderts, Tutzing [Schneider] 1992; Mark A. Pottinger, The Gothic in Berlioz’s „La Nonne sanglante“ and the „Grand Traîté d’instrumentation“, in: Fulvia Morabito / Michela Niccolai [edd.], Hector Berlioz. Miscellaneous Studies, Bologna [Ut Orpheus] 2005, pp. 121 – 161; Tobias Janz, Klangdramaturgie. Studien zur theatralen Orchesterkomposition in Richard Wagners „Ring des Nibelungen“, Würzburg [Königshausen & Neumann] 2006. 34 Jürgen Maehder, Die Poetisierung der Klangfarben in Dichtung und Musik der deutschen Romantik, in: AURORA, „Jahrbuch der Eichendorff-Gesellschaft“ 38 / 1978, pp. 9  31; Jürgen Maehder, Klangzauber und Satztechnik. Zur Klangfarbendisposition in den Opern Carl Maria von Webers, in: Friedhelm Krummacher / Heinrich W. Schwab [edd.], Weber – Jenseits des „Freischütz“, „Kieler Schriften zur Musikwissenschaft“, vol. 32, Kassel

[Bärenreiter] 1989, pp. 14 – 40; Jürgen Maehder, Klangfarbendramaturgie und Instrumentation in Meyerbeers Grands Opéras – Zur Rolle des Pariser Musiklebens als Drehscheibe europäischer Orchestertechnik, in: Hans John / Günther Stephan [edd.], Giacomo Meyerbeer – Große Oper – Deutsche Oper, Schriftenreihe der Hochschule für Musik Carl Maria von Weber Dresden, vol. 15, Dresden [Hochschule für Musik] 1992, pp. 125 – 150; Jürgen Maehder, Orchesterbehandlung und Klangregie in „Les Troyens“ von Hector Berlioz, in: Ulrich Müller et al. [edd.]: Europäische Mythen von Liebe, Leidenschaft, Untergang und Tod im [Musik]-Theater. Vorträge und Gespräche des Salzburger Symposiums 2000, Anif / Salzburg [Müller-Speiser] 2002, pp. 511 – 537. 35 David Charlton, Orchestration and Orchestral Practice in Paris, 1789 – 1810, Diss. Cambridge 1975; Jürgen Maehder, Klangfarbe als Bauelement des musikalischen Satzes – Zur Kritik des Instrumentationsbegriffs, Diss. Bern 1977, Kapitel 8: „Zum Orchestersatz der französischen Revolutionsoper“, pp. 236 – 272. 36 Peter Nitsche hat zuerst darauf aufmerksam gemacht, daß Meyerbeers Vorliebe für isolierte Klangeffekte im Orchestersatz durch seinen Kompositionsunterricht bei Abbé Vogler ausgelöst worden sein könnte: Peter Nitsche, Vielfalt und Charakteristik: Abbé Vogler als Lehrer Meyerbeers in der Instrumentation, in: Sieghart Döhring / Arnold Jacobshagen [edd.], Meyerbeer und das europäische Musiktheater, Laaber [Laaber] 1998, pp. 183 – 200. Man vergleiche auch: Sabine Henze-Döhring, Meyerbeers Unterricht bei Abbé Vogler und seine opernästhetischen Folgen, in: Thomas Betzwieser / Silke Leopold [edd.], Abbé Vogler. Ein Mannheimer im europäischen Kontext. Internationales Colloquium Heidelberg 1999, Frankfurt etc. [Peter Lang] 2003, pp. 293 – 302. 37 Jacques Joly, Les ambiguïtés de la guerre napoléonienne dans „Fernand Cortez“ de Spontini, in: La bataille, l’armée, la gloire, „Actes du colloque de Clermont-Ferrand“ 1983, Clermont-Ferrand [Association des Publications de l’Université de Clermont II] 1985, pp. 239 – 255; Anselm Gerhard, „Fernand Cortez“ und „Le siège de Corinthe“. Spontini und die Anfänge der „Grand Opéra“, in: AA.VV., Atti del IIIo Congresso Internazionale di Studi Spontiniani, Maiolati Spontini 1985, pp. 115 – 131 [dt.], pp. 93 – 113 [ital]; Jacques Joly, Spettacolo e ideologia nel „Fernand Cortez“ del 1809, in: Jacques Joly, Dagli Elisi all’inferno. Il melodramma tra Italia e Francia dal 1730 al 1850, Firenze [Nuova Italia] 1990, pp. 202 – 226; Detlef Altenburg et al. [edd.], Gaspare Spontini und die Oper im Zeitalter Napoléons. Tagungsbericht des internationalen wissenschaftlichen Symposions in Erfurt, 25. – 28. Mai 2006, Sinzig [Studio-Punkt-Verlag] 2015. 38 Patrick Barbier, La vie quotidienne à l’opéra au temps de Rossini et de Balzac: Paris 1800 – 1850, Paris [Hachette] 1987; Jane Fulcher, The Nation’s Image: French Grand Opéra as Politics and as Politicized Art, Cambridge [CUP] 1987; Anselm Gerhard, Die Verstädterung der Oper, Stuttgart / Weimar [Metzler] 1992; Maria Birbili, Die Politisierung der Oper im 19. Jahrhundert, Bern / Frankfurt / New York [Peter Lang] 2014. 39 Jürgen Maehder, Studien zur Sprachvertonung in Wagners „Ring des Nibelungen“, Programmhefte der Bayreuther Festspiele 1983, Programmheft „Walküre“ [pp. 1 – 26] und „Siegfried“ [1 – 27]; versione italiana: Studi sul rapporto testo-musica nell’„Anello del Nibelungo“ di Richard Wagner, in: Nuova Rivista Musicale Italiana 21 / 1987, pp. 43 – 66 & 255 – 282; Tobias Janz, Klangdramaturgie. Studien zur theatralen Orchesterkomposition in Richard Wagners „Ring des Nibelungen“, Würzburg [Königshausen & Neumann] 2006; Kii-Ming Lo / Jürgen Maehder [edd.], Hua ge na – Zhi huan – Bai lu te, [= Wagner – „Der Ring des Nibelungen“ – Bayreuth], Taipei [Gao Tan Publishing Co.] 2006; Jürgen Maehder, L’utopia del dramma musicale wagneriano: dal mito attraverso la scenotecnica verso il sogno di un teatro invisibile, in: Naomi Matsumoto et al. [edd.], The Staging of Verdi & Wagner Operas, Turnhout [Brepols] 2015. 40 Jürgen Maehder, Klangfarbendramaturgie und Instrumentation in Meyerbeers Grands Opéras – Zur Rolle des Pariser Musiklebens als Drehscheibe europäischer Orchestertechnik, in: Hans John/ Günther Stephan [edd.], Giacomo Meyerbeer – Große Oper – Deutsche Oper, Schriftenreihe der Hochschule für Musik Carl Maria von Weber Dresden, vol. 15, Dresden [Hochschule für


Musik] 1992, pp. 125 – 150; Jürgen Maehder, Historienmalerei und Grand Opéra – Zur Raumvorstellung in den Bildern Géricaults und Delacroix’ und auf der Bühne der Académie Royale de Musique, in: Sieghart Döhring / Arnold Jacobshagen [edd.], Meyerbeer und das europäische Musiktheater, Laaber [Laaber] 1999, pp. 258 – 287; Sabine Henze-Döhring, Hector Berlioz und Giacomo Meyerbeer, in: Sieghart Döhring / Arnold Jacobshagen / Gunther Braam [edd.], Berlioz, Wagner und die Deutschen, Köln [Dohr] 2003, pp. 249 – 256. 41 Jürgen Maehder, Der brillante Tutti-Klang. Zu den Einflüssen der Opéra comique auf die europäische Orchestrationstechnik des 19. Jahrhunderts, Vortrag in der Akademie der Wissenschaften der Tschechischen Republik, Internationaler Kongreß „Die Ausstrahlung der Opéra comique im Europa des 19. Jahr­ hunderts“ [13. 5. 1999], Publikation in Vorbereitung. 42 Jürgen Maehder, Die Poetisierung der Klangfarben in Dichtung und Musik der deutschen Romantik, in: AURORA, Jahrbuch der Eichendorff-Gesellschaft 38 / 1978, pp. 9 – 31; Jürgen Maehder, Klangpoesie und Fratze – Zur Dramaturgie der Klangfarben in den Opern Carl Maria von Webers, in: Deutsche Oper Berlin, Beiträge zum Musiktheater, vol. 7, Spielzeit 1987 / 88, Berlin [Deutsche Oper] 1988, pp. 163 – 194; Jürgen Maehder, Ernst Florens Friedrich Chladni, Johann Wilhelm Ritter und die romantische Akustik auf dem Wege zum Verständnis der Klangfarbe, in: Jürgen Kühnel / Ulrich Müller / Oswald Panagl [edd.], Die Schaubühne in der Epoche des „Freischütz“: Theater und Musiktheater der Romantik, Anif / Salzburg [Müller-Speiser] 2009, pp.  107 – 122. 43 „Italienische Musik. Instrumentation. Oboi coi Flauti, Clarinetti coi Oboi, Flauti coi Violini. Fagotti col Basso. Viol. 2do col Primo. Viola col Basso. Voce ad libitum. Violini colla parte.“ [Carl Maria von Weber, Kunstansichten, ed. Karl Laux, Leipzig [Reclam] 1975, pp. 26 – 86, das Zitat auf p. 86] 44 Hector Berlioz, Les Soirées de l’orchestre, ed. François Piatier, Paris [Éditions Stock] 1980, passim. 45 Klaus Haller, Partituranordnung und musikalischer Satz, Tutzing [Schneider] 1970. 46 Siegfried Hermelink, Dispositiones modorum: die Tonarten in der Musik Palestrinas und seiner Zeitgenossen, Tutzing [Schneider] 1960. 47 Daniel François Esprit Auber. „Gustave III, ou Le Bal masqué“, Partitur, Paris [Troupenas] 1833, Reprint: New York [Garland] 1980, p. 1. 48 Nicolai Rimsky-Korsakov, Principles of Orchestration, New York [Dover] 1964. 49 Es scheint, daß Hans Gál als erster auf diese Schwäche von Meyerbeers Holzbläsersatz aufmerksam machte. Cf. Hans Gál. 50 Giacomo Meyerbeer, Briefwechsel und Tagebücher, ed. Sabine Henze-Döhring, vol. 6, Berlin / New York [de Gruyter] 2002, p. 533; cf. Jürgen Maehder, Giacomo Meyerbeer und Richard Wagner – Zur Europäisierung der Opernkomposition um die Mitte des 19. Jahrhunderts, in: Thomas Betzwieser et al. [edd.], Bühnenklänge. Festschrift für Sieghart Döhring zum 65. Geburtstag, München [Ricordi] 2005, pp. 205 – 225. 51 Jürgen Eppelsheim, Das Orchester in den Werken J.-B. Lullys, Tutzing [Schneider] 1961; Jürgen Maehder, Timbro e tecnica orchestrale nella partitura di „Benvenuto Cellini“, Programmheft des Maggio Musicale Fiorentino [Teatro Comunale], Firenze [Maggio Musicale Fiorentino] 1987, pp. 111 – 131. 52 Marcello Conati / Marcello Pavarani [edd.], Orchestre in Emilia-Romagna nell’Ottocento e Novecento, Parma [Orchestra Sinfonica dell’Emilia-Romagna] 1982; Marcello Conati, Teatri e orchestra al tempo di Verdi, in: AA.VV., Giuseppe Verdi. Vicende, problemi e mito di un artista e del suo tempo. Palazzo Ducale di Colorno, 31 agosto-8 dicembre 1985, Colorno / Parma [„Una città costruisce una mostra“] 1985, pp. 47 – 78. 53 Jürgen Maehder, „Tannhäuser“ entre Grand Opéra et opéra romantique allemand, Programmheft des Théâtre National de l’Opéra de Paris, Paris [TNOP] 1983, pp. 20 – 23; Sieghart Döhring, „Tannhäuser“ und die Transformation der romantischen Oper, in: Klaus Döge / Christa Jost / Peter Jost [edd.], „Schlagen Sie die Kraft der Reflexion nicht zu gering an“. Beiträge zu Richard Wagners Denken, Werk und Wirken, Mainz [Schott] 2002,

pp. 48 – 61; Jürgen Maehder, Giacomo Meyerbeer und Richard Wagner – Zur Europäisierung der Opernkomposition um die Mitte des 19. Jahrhunderts, in: Thomas Betzwieser et al. [edd.], Bühnenklänge. Festschrift für Sieghart Döhring zum 65. Geburtstag, München [Ricordi] 2005, pp. 205 – 225; Tobias Janz, Von „Rienzi“ zu „Lohengrin“. Klang und Orchestration in Wagners Dresdener Jahren, in: Kii-Ming Lo / Jürgen Maehder [edd.], Richard Wagner: Myth, Poem, Score, Stage, Taipei [Gao Tan Publishing Co.], in Vorbereitung. 54 Jürgen Maehder, Klangfarbe als Bauelement des musikalischen Satzes – Zur Kritik des Instrumentationsbegriffs, Diss. Bern 1977, Kapitel 7: „Die Wiener klassische Partitur“, pp. 216 – 235. 55 Horace Fitzpatrick, The Horn and Horn-Playing and the Austro-Bohemian tradition 1680 – 1830, London [Oxford University Press] 1970. 56 Jürgen Maehder, Timbro e tecnica orchestrale nella partitura di „Benvenuto Cellini“, programm di sala per il Maggio Musicale Fiorentino, Teatro Comunale, Firenze [Maggio Musicale Fiorentino] 1987, pp. 111 – 131; Hugh J. Macdonald, Berlioz’s Orchestration Treatise. A Translation and Commentary, Cambridge [CUP] 2002, pp. 164 – 185. 57 David Charlton, Orchestration and Orchestral Practice in Paris, 1789 – 1810, Diss. Cambridge 1975. 58 Hector Berlioz, Grand Traité d’instrumentation et d’orchestration modernes, Paris [Schonenberger] 1844, 21855; Hugh J. Macdonald, Berlioz’s Orchestration Treatise. A Translation and Commentary, Cambridge [CUP] 2002, pp. 185 – 192. 59 Jürgen Maehder, Ye wan de sheng xiang yi zhuang: Hua ge na „Tristan und Isolde“ zhi yin xiang se ze jie gou, in: Jürgen Maehder / Kii-Ming Lo [edd.], Ai zhi si – Wagner’s „Tristan und Isolde“, Taipei [Gao Tan / Cultuspeak] 2003, 2014, pp. 213 – 243 bzw. pp 233 – 270; Jürgen Maehder, A Mantle of Sound for the Night – Timbre in Wagner’s „Tristan and Isolde“, in: Arthur Groos [ed.], Richard Wagner, „Tristan und Isolde“, Cambridge [Cambridge University Press] 2011, pp. 95 – 119 and 180 – 185. 60 Jürgen Maehder, Klangfarbe als Bauelement des musikalischen Satzes – Zur Kritik des Instrumentationsbegriffs, Diss. Bern 1977, Kapitel 8: „Zum Orchestersatz der französischen Revolutionsoper“, pp. 236 – 272; Jürgen Maehder, Klangfarbendramaturgie und Instrumentation in Meyerbeers Grands Opéras – Zur Rolle des Pariser Musiklebens als Drehscheibe europäischer Orchestertechnik, in: Hans John / Günther Stephan [edd.], Giacomo Meyerbeer – Große Oper – Deutsche Oper, Schriftenreihe der Hochschule für Musik Carl Maria von Weber Dresden, vol. 15, Dresden [Hochschule für Musik] 1992, pp.  125 – 150. 61 Jean-François Le Sueur, ADAM / Tragédie Lyrique-Réligieuse en trois Actes, / SUIVIE DU CIEL / Paroles de feu Guillard, / imitée du Célèbre Klopstock, Paris [J. Frey] 1809. 62 Jürgen Maehder, Klangfarbe als Bauelement des musikalischen Satzes – Zur Kritik des Instrumentationsbegriffs, Diss. Bern 1977, Kapitel 8: „Zum Orchestersatz der französischen Revolutionsoper“, pp. 236 – 272. 63 Ein frühes Beispiel bildet die Verwendung einer Harfe in Kombination mit Solohorn in der Oper Sémiramis von Charles-Simon Catel [Paris, Académie Impériale de Musique, 1802]. Cf. Jürgen Maehder, Klangfarbe als Bauelement des musikalischen Satzes – Zur Kritik des Instrumentationsbegriffs, Diss. Bern 1977, Kapitel 8: „Zum Orchestersatz der französischen Revolutionsoper“, pp. 236 – 272. 64 Klaus Wolfgang Niemöller, Die kirchliche Szene, in: Heinz Becker [ed.], Die „Couleur locale“ in der Oper des 19. Jahrhunderts, Regensburg [Bosse] 1976, pp. 341 – 369, vor allem p. 368; Anno Mungen, Musiktheater als Historienbild. Gaspare Spontinis „Agnes von Hohenstaufen“ als Beitrag zur deutschen Oper, Tutzing [Schneider] 1997. 65 Rebecca Susan Wilberg, The „Mise en scène“ at the Paris Opéra – Salle Le Peletier [1821 – 1873] and the Staging of the First French Grand opéra“: Meyerbeer’s „Robert le diable“, Diss. Brigham Young University, Provo / UT 1990; Matthias Brzoska, Vertontes Licht. Die Entwicklung der Beleuchtungstechnik auf der Opernbühne in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, in: Matthias Brzoska et al. [edd.], Töne, Farben, Formen. Über Musik


und die bildenden Künste, Laaber [Laaber] 1995, pp. 323 – 336; Sieghart Döhring, Die Oper Meyerbeers als Theater der redenden Bilder; Jürgen Maehder, Historienmalerei und Grand Opéra – Zur Raumvorstellung in den Bildern Géricaults und Delacroix’ und auf der Bühne der Académie Royale de Musique, beide Aufsätze in: Sieghart Döhring / Arnold Jacobshagen [edd.], Meyerbeer und das europäische Musiktheater, Laaber [Laaber] 1999, pp. 250 – 257 und pp. 258 – 287; Evan Baker, From the Score to the Stage: An Illustrated History of Opera Production and Staging in Continental Europe, Chicago [Chicago University Press] 2013, pp. 121 – 160. 66 Man vergleiche die Abbildung dieses ersten Simultanbühnenbildes der Operngeschichte auf dem Frontispiz der Partitur: LA CAVERNE / DRAME LYRIQUE / en trois Actes / … / Paroles de Dercy / Musique de Lesueur / …, Paris [Naderman] 1793 [?], Reprint New York [Pendragon] 1985. 67 Jürgen Maehder, Klangfarbe als Bauelement des musikalischen Satzes – Zur Kritik des Instrumentationsbegriffs, Diss. Bern 1977, vor allem das 5. Kapitel „Klang und Satzstruktur in szenischer Musik des Generalbaßzeitalters“, pp. 157 – 187; Jürgen Maehder, „L’amor che move il sole e l’altre stelle“ – Werkcharakter und musikdramatische Struktur in Monteverdis „Incoronazione di Poppea“, in: Monika Schausten [ed.], Das lange Mittelalter: Imagination – Transformation – Analyse. Ein Buch für Jürgen Kühnel, Göppingen [Kümmerle] 2011, pp. 185 – 204. 68 Jürgen Maehder, „Banda sul palco“ – Variable Besetzungen in der Bühnenmusik der italienischen Oper des 19. Jahrhunderts als Relikte alter Besetzungstraditionen?, in: Dieter Berke / Dorothea Hanemann [edd.], Alte Musik als ästhetische Gegenwart. Kongreßbericht Stuttgart 1985, Kassel [Bärenreiter] 1987, vol. 2, pp. 293 – 310; Hugh Macdonald, Sax and the City: Fanfares at the Paris Opéra, in: Matthias Brzoska / Andreas Jacob / Nicole Strohmann [edd.], Giacomo Meyerbeers „Le Prophète“. Edition – Konzeption – Rezeption, Hildesheim [Olms] 2009, pp. 231 – 238. 69 Jürgen Maehder, Die Poetisierung der Klangfarben in Dichtung und Musik der deutschen Romantik, in: AURORA, Jahrbuch der Eichendorff-Gesellschaft 38 / 1978, pp. 9 – 31; Jürgen Maehder, Klangpoesie und Fratze – Zur Dramaturgie der Klangfarben in den Opern Carl Maria von Webers, in: Deutsche Oper Berlin, Beiträge zum Musiktheater, vol. 7, Spielzeit 1987 / 88, Berlin [Deutsche Oper] 1988, pp. 163 – 194. 70 Jürgen Maehder, Klangzauber und Satztechnik. Zur Klangfarbendisposition in den Opern Carl Maria von Webers, in: Friedhelm Krummacher / Heinrich W. Schwab [edd.], Weber – Jenseits des „Freischütz“, „Kieler Schriften zur Musikwissenschaft“, vol. 32, Kassel [Bärenreiter] 1989, pp. 14 – 40. 71 Stefan Kunze, Bösewichter, Außenseiter und Gescheiterte in der Oper, in: Stefan Kunze, De Musica, edd. Rudolf Bockholdt / Erika Kunze, Tutzing [Schneider] 1998, pp. 123 – 138. 72 Jürgen Maehder, Klangzauber und Satztechnik. Zur Klangfarbendisposition in den Opern Carl Maria von Webers, in: Friedhelm Krummacher / Heinrich W. Schwab [edd.], Weber – Jenseits des „Freischütz“, „Kieler Schriften zur Musikwissenschaft“, vol. 32, Kassel [Bärenreiter] 1989, pp. 14 – 40; Jürgen Maehder, Ernst Florens Friedrich Chladni, Johann Wilhelm Ritter und die romantische Akustik auf dem Wege zum Verständnis der Klangfarbe, in: Jürgen Kühnel / Ulrich Müller / Oswald Panagl [edd.], Die Schaubühne in der Epoche des „Freischütz“: Theater und Musiktheater der Romantik, Anif / Salzburg [Müller-Speiser] 2009, pp.  107 – 122. 73 Jürgen Maehder, „Lohengrin“ di Richard Wagner – Dall’opera romantica a soggetto fiabesco alla fantasmagoria dei timbri, Programmheft des Teatro Regio di Torino, Torino [Teatro Regio] 2001, pp. 9 – 37; Jürgen Maehder, Le strutture drammatico-musicali del dramma wagneriano e alcuni fenomeni del wagnerismo italiano, in: Maurizio Padoan [ed.], Affetti musicali. Studi in onore di Sergio Martinotti, Milano [Vita & Pensiero] 2005, pp. 199 – 217. 74 Frank Heidlberger, Meyerbeer und Weber. Zur künstlerischen Wechselbeziehung aus der Sicht der frühen Werke, in: Hans John / Günther Stephan [edd.], Giacomo Meyerbeer [1791-1864]. Große Oper – Deutsche Oper, Schriftenreihe der Hochschule für Musik „Carl Maria von Weber“, Heft 24, Dresden 1991, pp. 26 – 48; Frank Heidlberger, Carl Maria von Weber und Hector Berlioz, Tutzing [Schneider] 1994.



G I AC O M O M E Y E R B E E R U N D D I E „ S O C I E TÄT “ Z W I S C H E N KO M P O N I S T UND SÄNGERN

Thomas Seedor f

Unter den wirkungsmächtigen Opernkomponisten der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts – von Gioachino Rossini über Gaetano Donizetti und Vincenzo Bellini bis hin zu Richard Wagner und Giuseppe Verdi – war der 1791, im Sterbejahr Mozarts, geborene Giacomo Meyerbeer der älteste. Als Komponist ein richtungsweisender Innovator, blieb Meyerbeer als Theaterpraktiker in einer Hinsicht dem 18. Jahrhundert verpflichtet. Mozarts berühmtes Diktum, er liebe es, „daß die aria einem sänger so accurat angemessen sey, wie ein gutgemachts kleid“, entsprach Meyerbeers Auffassung vom Metier des Opernkomponisten: So bedeutsam Elemente der Mise en scène wie die Bühnenausstattung, das Licht und die Kostüme für Werke der stark auf visuelle Wirkungen ausgerichteten Grand Opéra wurden, so stark die Rolle des Orchesters im 19. Jahrhundert an Bedeutung gewann, so waren es doch nach wie vor die Sängerdarsteller, die im Zentrum des Geschehens und damit auch der Aufmerksamkeit des Publikums standen. Ihnen galt Meyerbeers besondere Aufmerksamkeit, denn er wusste, dass der Erfolg seiner Werke nicht allein auf deren künstlerischer Qualität beruhte, sondern erst durch eine klanglich-szenische Realisierung, die diese Qualität auch sinnlich erfahrbar macht, sicher zu stellen war. Meyerbeer unterhielt daher zu den Sängern, die seine Werke aufführten, dichte und wechselseitige Arbeitsbeziehungen, die vielfältige Spuren in seinen Partituren hinterlassen haben. In dem knappen halben Jahrhundert, in dem Meyerbeer Musik für die Bühne schuf, vollzog sich ein tiefgreifender Wandel in der Opernkomposition. Dieser Wandel kündigte sich Ende der 1820er Jahre bereits in einigen Opern Bellinis und Donizettis an, in Meyerbeers „Robert le diable“ wurde er 1831 in geradezu epochaler Weise manifest. Jean-François Le Sueur hat diesen Umbruch in einem viel zitierten Brief an Meyerbeer auf die Formel gebracht, dass mit „Robert“ das Ende des von Rossinis Musik beherrschten „Zeitalters des Vergnügens“ („l’âge de plaisir“) gekommen und eine neue 1

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Ära („l’âge actuel de force, d’énergie, de maturité de l’homme“) angebrochen sei. Auch Rossini wollte die Zuhörer emotional berühren, die Komponisten, die sich den Idealen der Romantik verschrieben hatten, erstrebten aber mehr: Für sie war die Oper nicht nur ästhetische Unterhaltung auf höchstem Niveau, sondern eine Kunstform, die das Publikum im Innersten erschüttern und mitreißen sollte. Der ästhetische Wandel ließ einen neuen Sängertypus entstehen: den dramatischen Gesangskünstler, der sich vor allem durch die Intensität seines Gesangs, weit weniger durch Virtuosität auszeichnet. Im Werk Meyerbeers ist dieser Wandel nachzuvollziehen, mehr noch, der Komponist hat selbst maßgeblich zur Etablierung dieses neuen Sängertypus beigetragen. Meyerbeers Streben nach höchster Ausdrucksintensität prägte auch seine persönliche Arbeit mit den Sängern und sie fand nicht zuletzt ihren Niederschlag in den außergewöhnlich detaillierten Vortragsanweisungen seiner Partituren. 2

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St imm e n un d St imm f äch e r In der Tradition der italienischen Oper, die prägend für Meyerbeers Entwicklung als Bühnenkomponist war, gab es bis ca. 1830 nur Ansätze zu einer terminologischen Differenzierung der unterschiedlichen Stimmen und Sänger nach Stimmfächern. Leitend waren dabei zwei Aspekte: die Abbildung der Ensemblehierarchie und die Kennzeichnung des Genres. Mit Ausdrücken wie „prima donna“ oder „secondo tenore“ wurde die Stellung eines Sängers innerhalb einer „compagnia di canto“ markiert. Zusatzbezeichnungen wie „buffo“ bzw. „buffa“ („prima donna buffa“) oder „caricato“ („primo basso caricato“) verwiesen auf die Zugehörigkeit zum Genre der Opera buffa. Terminologisch blieb es aber im Prinzip bei der schlichten Angabe der etablierten Stimmgattungsbezeichnungen Sopran, Alt, Tenor und Bass, zu denen sich im Laufe des 19. Jahrhunderts die zuvor nur gelegentlich explizit bezeichneten Zwischengattungen Mezzosopran und Bariton gesellten. Dass die Stimmen von individueller Beschaffenheit waren – die eine umfangreicher, lauter oder flexibler als die andere –, schlug sich so lange nicht in der Terminologie nieder, als diese Vielfalt sich in einem gewissen Rahmen entfaltete, in dem bestimmte Grundeigenschaften für alle Sänger verbindlich waren. Rossini, der Maßstäbe setzende Opernkomponist des Primo Ottocento, verlangt von Tenören und Bässen nicht weniger Koloraturgewandtheit als von Sopranen und Altistinnen. Die Partituren und Gesangslehrwerke dieser Zeit veranschaulichen eindrücklich, dass alle Stimmen über ein Maximum an Flexibilität verfügen und mit größter Präzision geführt werden mussten. Eine Notwendigkeit, zwischen verschiedenen Arten etwa von Sopranen oder Tenören zu unterscheiden, gab es – noch – nicht. 4

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Als Meyerbeer 1816 nach Italien kam, um dort Opern zu komponieren und zur Aufführung zu bringen, stellte er sich auf das italienische Produktionssystem ein und übernahm auch die übliche Bezeichnungspraxis. Wie bei Rossini und anderen Komponisten der Zeit dominieren in Meyerbeers italienischen Opern die hohen Stimmen Sopran und Tenor, wenngleich es auch einige bedeutende Basspartien (wie Carlo Belmonte in „Semiramide“ oder Aladino in „Il crociato in Egitto“) und weibliche Hauptrollen für Contralto (Romilda in „Romilda e Costanza“, die Titelpartie in „Semiramide“) gibt. Typisch für die Zeit ist der auch von Meyerbeer übernommene Usus, einige Männerrollen mit Frauen zu besetzen. Sängerkastraten, seit dem 17. Jahrhundert Zentralgestalten der italienischen Oper, hatten im Laufe des ersten Drittels des 19. Jahrhunderts zunehmend an Bedeutung verloren. Zwar gab es auch nach 1800 noch einige prominente Vertreter dieses Stimmtyps – Girolamo Crescentini, Filippo Sassaroli und der für Meyerbeer wichtige Giovanni Battista Vellutti –, doch ging man mehr und mehr dazu über, Rollen, die zuvor meist mit einem Kastraten besetzt wurden, Sängerinnen zu übergeben, die als „contralto musico“ klassifiziert wurden. „Musico“ war ein im 18. Jahrhundert häufig verwendetes Synonym für „castrato“, „contralto“ hingegen lässt sich nicht einfach mit „Alt“ übersetzen, denn viele Sängerinnen, die als „contralto musico“ bezeichnet wurden, sangen nicht nur Alt-Partien, sondern auch Rollen, die nach heutigen Maßstäben als Mezzosopran- oder sogar Sopranpartien gelten. Diese Sängerinnen verfügten nach Raffaele Talmelli und Marco Beghelli gewissermaßen über eine „doppelte Stimme“: eine klangvolle und tiefe Stimme, die insbesondere in Partien wie dem Arsace in Rossinis „Semiramide“ eingesetzt wurde, und eine hohe, geläufige Stimme, die auch Sopranpartien bewältigte. Meyerbeer hat in Italien mit einigen Vertreterinnen dieses Sängerinnentypus zusammengearbeitet: Adelaide Dalman-Naldi sang den Scitalce in „Semiramide“, Carolina Cortesi den Edemondo in „Emma di Resburgo“, Benedetta Rosmunda Pisaroni den Almanzor in „L’esule di Granata“. Die Titelpartie seiner erfolgreichsten italienischen Oper, „Il crociato in Egitto“, komponierte Meyerbeer aber für den Kastraten Velluti, der als Armando d’Orville im Herbst seiner Laufbahn noch einmal einen außerordentlichen Erfolg erzielte. Diese Partie wurde aber rasch auch Teil des Repertoires großer Sängerinnen. Bei der Erstaufführung der Oper in Triest am 10. November 1824, ein knappes halbes Jahr nach der Uraufführung am venezianischen Teatro La Fenice, sang Carolina Bassi-Manna den Armando, bei der Pariser Erstaufführung des Werks am Théâtre-Italien am 22. September 1825 übernahm mit Giuditta Pasta eine der berühmtesten Sängerinnen der Zeit diese Partie, die sie mit großem Erfolg auch in London und den wichtigen Opernzentren Italiens sang. 6

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Zwar finden sich auch in der französischen Operntradition Männerrollen, die von Frauen zu singen sind, wie Isolier in Rossinis „Le comte Ory“ oder später Urbain in Meyerbeers „Les huguenots“, doch handelt es sich bei den dargestellten Figuren um junge Männer, Pagen oder anderer Halbwüchsige, nicht um jene Helden, wie sie für den „contralto musico“ typisch sind. An diesen Sängerinnentypus, der ihm aus seiner italienischen Zeit vertraut war, erinnerte sich Meyerbeer noch während der Arbeit an „Le Prophète“. Seinem Pariser Vertrauten Louis Gouin beschrieb er die Stimmlage der Fidès-Partie als „véritable contralto“, und um ihm eine genauere Vorstellung von den Ansprüchen der Rolle zu vermitteln, setzte er als Erläuterung hinzu: „dans le diapason d’Arsace“ – im Stimmumfang des Arsace. Auch später kam er immer wieder auf diese die für Rosa Mariani komponierte Primo-uomo-Rolle in Rossinis „Semiramide“ als Modell-Partie eines „echten Contralto“ zurück. 12

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Mit „Robert le diable“ begann nicht nur für Meyerbeer ein neues Kapitel der Operngeschichte. Der Operntypus, der sich nun durchsetzte, ging einher mit einer Ausdifferenzierung der Stimmen in unterschiedliche Stimmfächer: einer Unterscheidung nach Sänger / innen, die im traditionellen Sinn über leichte, koloraturgewandte Stimmen verfügten, solchen mit schwereren, zu dramatischem Ausdruck befähigten Stimmen und solchen, die im breiten Mittelfeld zwischen diesen Polen beheimatet waren. Erst nach und nach entstand ein Vokabular, das diese Differenzierung auch terminologisch fassbar machte. Zunächst begegneten Begriffe wie „fort ténor“ oder „chanteuse forte“ zur Kennzeichnung von Tenören und Sopranen des neuen, dramatischen Typs im umgangsmäßigen Sprechen und Schreiben über Gesang und Sänger, d. h. in privaten Zeugnissen wie Briefen oder Tagebücher und in den Feuilletons der Zeitungen, ab der zweiten Hälfte des Jahrhundert finden diese Ausdrücke ihren Weg in Lehrwerke und Nachschlagewerke und schließlich auch in die gedruckten Notenausgaben der Opern. 15

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Ein zentrales Charakteristikum von Meyerbeers Grands Opéras, das Nebeneinander zweier mehr oder weniger gleichberechtigter großer Frauenrollen in einem Werk, ist bereits in „Robert le diable“ ausgeprägt: Der sizilianischen Prinzessin Isabelle steht die normannische Bäuerin Alice gegenüber. In der Uraufführung von „Robert le diable“ am 21. November 1831 sangen zwei Sängerinnen ähnlichen Typs diese Rollen, Laure Cinti-Damoreau die Isabelle, Julie Dorus-Gras die Alice, beide ausgestattet mit hellen und koloraturgewandten Stimmen. Doch schon 1832 übernahm mit Cornélie Falcon eine Sängerin von ganz anderer Statur die Partie der Alice und verlieh dieser Rolle einen deutlich dramatischeren Charakter als ihre Vorgängerin. Falcon verfügte über eine voll klingende tiefe Lage, aber auch über Spitzentöne von 17

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großer Intensität, ihre Stärke lag mehr im Aussingen großer melodischer Bögen als in der zur Zurschaustellung virtuoser Geläufigkeit, über die sie gleichwohl gebot. Die theatralische Wirkungskraft, die in der Gegenüberstellung zweier unterschiedlicher Protagonistinnen steckt, hatte Meyerbeers Kollege und Rivale Jacques Fromental Halévy 1835 in „La Juive“ eindrucksvoll unter Beweis gestellt: Dorus-Gras sang die hochvirtuose Koloraturpartie der Eudoxie, Falcon verkörperte die weitaus dramatischer angelegte Rolle der Rachel. Beide Sängerinnen waren dann 1836 auch die Protagonistinnen in der Uraufführung von Meyerbeers „Les huguenots“, Dorus-Gras als Marguerite, Falcon als Valentine. Auch nach ihrem frühen Abschied von der Bühne blieb Falcon für Meyerbeer das Ideal einer dramatischen Sopranistin. Er sprach mehrfach vom „Genre Falcon“ oder „emploi des Falcons“, wenn es darum ging, die Anforderungen einer Sopranpartie griffig zu umreißen. Bis heute bezeichnet „Soprano Falcon“ (oft auch verkürzt zu „Falcon“) im Opernjargon einen dramatischen Sopran, auch wenn die Erinnerung an die Namensgeberin verblasst und die für sie komponierten und von ihr gesungenen Partien heute nur noch selten zu hören sind. Pendant zum dramatischen Sopran, der „forte chanteuse“ (oder „soprano dramatique“ ), ist die „chanteuse légère“. Für diesen Soprantyp hat Meyerbeer die Partien der Isabelle in „Robert le diable“, der Marguerite in „Les huguenots“, aber auch die Sopranhauptrollen seiner Opéras comiques (Catherine und Praskovia in „L’Étoile du nord“, Dinorah in „Le Pardon de Ploërmel“) geschrieben. Nicht eindeutig ist hingegen die Fachzuweisung im Fall der Berthe in „Le Prophète“. In der „Première Note“ zum Personenverzeichnis des Partiturerstdrucks dieser Oper nennt Meyerbeer die Besetzung mit einer Sängerin des „Genre Falcon“ als erste Option, lässt aber die Möglichkeit offen, die Rolle auch mit einer Vertreterin des leichteren Fachs zu besetzen. Im Hinblick auf seine letzte Oper „L’Africaine“ (bzw. „Vasco de Gama“, wie Meyerbeer das Werk in der Korrespondenz seiner letzten Lebensjahre nannte) teilte Meyerbeer seinem Verleger Louis Brandus mit, dass die großen Frauenrollen (Inès und Sélika) „beide Genre Falcon, durchaus nicht „chanteuse légère“ seien. Für Meyerbeer waren die beiden Partien nicht grundverschieden, sondern eng miteinander verwandt, zwei Frauen, die beide schicksalhaft mit „Vasco“ verbunden sind. Wie tiefgreifend François-Joseph Fétis, der nach Meyerbeers hinterlassenen Materialien eine Aufführungsversion des Werks erstellte, die Intentionen des Komponisten fehlgedeutet oder ignoriert hat, ist seit Jürgen Schläders Edition des Werks offensichtlich. Doch auch jenseits der Textphilologie zeigt sich, wie schwerwiegend man Meyerbeers Konzeption des Werks postum missachtete. Obwohl Meyerbeer sich für die Besetzung beider Partien Sängerinnen des 18

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Adolphe Nourrit blättert in den Noten von Gioachino Rossinis „Le comte Ory“, Lithographie von Pierre-Roch Vigneron, 1828

„Genre Falcon“ gewünscht hatte, sangen in der Uraufführung von „L’Africaine“ mit Marie-Constance Sass als Sélika und Marie Battu als Inès zwei Vertreterinnen unterschiedlicher Sopranfächer, die eine (Sass) eine „forte chanteuse“, die andere (Battu) eine „chanteuse légère“. Man entschied sich gegen Meyerbeer, dem eine neue Art der stimmlichen Rollendisposition vorschwebte, für eine Lösung, die der älteren Besetzungstradition der Grand Opéra entsprach. Im Personenverzeichnis des postum erschienenen Klavierauszugs ist die von Meyerbeer gar nicht beabsichtigte Polarität von „forte chanteuse“ und „chanteuse légère“ durch die Fachbezeichnungen und die Nennung der Uraufführungsinterpretinnen gleichsam festgeschrieben worden. Darauf verweisen auch die Erläuterungen, die dem Verzeichnis der „Personnages“ beigegeben sind. Zur Partie der Sélika heißt es dort, sie solle solchen Sängerinnen anvertraut werden, die auch Alice in „Robert le diable“ oder Valentine in „Les huguenots“ singen, Referenzpartien der „forte chanteuse“. Zur Orientierung für die Rolle der Inès wird Berthe aus „Le Prophète“ genannt, eine Partie, die im Laufe der Aufführungsgeschichte dieser Oper entgegen den ursprünglichen Intentionen des Komponisten, aber unter seiner tätigen Mitwirkung zu einer Rolle für eine „chanteuse légère“ geworden war. Die Aufführungsgeschichte von „L’Africaine“ zeigt, wie wirkungsmächtig diese Festlegung der Stimmfächer war. 26

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Zwei weitere Rollen sind im Klavierauszug von „L’Africaine“ ebenfalls hinsichtlich ihrer Zugehörigkeit zu einem Stimmfach näher bestimmt: „Vasco de Gama“ wird als „fort ténor“ bezeichnet, Don Alvar, eine der umfangreichen Nebenrollen, als „Ténor léger“. Auch für diese Rollen werden Vergleichspartien in anderen Opern zur Orientierung genannt: Zum Repertoire des Vasco-Interpreten sollen beispielsweise Raoul aus Meyerbeers „Les huguenots“ oder Arnold aus Rossinis „Guillaume Tell“ gehören, der Sänger des Don Alvar sollte auch den Raimbault in „Robert le diable“ singen können. Analog zur „chanteuse légère“ steht der „Ténor léger“ in der älteren Tradition des mit leichter Stimmgebung singenden Typus, der „fort ténor“ repräsentiert in jüngeren, dramatischen Typus. 29

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Wie im Fall der Berthe, deren Stimmfach sich im Laufe der Aufführungsgeschichte veränderte, durchliefen auch die Rollen des Arnold und des Raoul einen Wandel, allerdings unter umgekehrten Vorzeichen. Komponiert wurden sie für Adolphe Nourrit, der bis 1837 als „premier ténor“ einer der führenden Sänger der Opéra war und wesentlich dazu beitrug, die Gattung der Grand Opéra zum Erfolg zu führen. Als Masaniello in Daniel-François-Esprit Aubers „La Muette de Portici“ (1828), als Arnold in Rossinis „Guillaume Tell“ (1829), als Eléazar in Halévys „La Juive“ (1835) und vor allem als Meyerbeers Robert (1831) und Raoul de Nangis (1836) hat er sich gleichsam in die Operngeschichte eingeschrieben. Nourrit wurde u. a. von Manuel García père, einem der großen Sänger und Gesangslehrer der Rossini-Zeit unterrichtet, d. h. er war gesangsästhetisch und -technisch der traditionellen italienischen Schule verpflichtet. Für die hohe Lage schaltete Nourrit von der Bruststimme in ein klangvolles Falsett um, das tragfähig genug war, um sich auch in großen Räumen zu entfalten, und er verstand es, seiner im Kern lyrischen Stimme, deren Weichheit und Geschmeidigkeit von den Zeitgenossen vielfach gerühmt wurde, jenen dramatischen Charakter zu verleihen, den viele der von ihm gesungenen Partien wie Masaniello, Arnold oder Raoul verlangen. Für einen Sänger wie Nourrit, der eine Position zwischen dem älteren und dem jüngeren Tenortypus besetzte, gab es zunächst keine spezifische Bezeichnung. Den Zeitgenossen genügte die Charakterisierung als „premier ténor d’Opéra“ – Nourrit war gleichsam sein eigenes Fach. Erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bürgerte sich für einen Sänger seines Typs der Begriff „Ténor de demi-caractère“ ein. Edmond-Henri Duponchel, der Direktor der Opéra, teilte Nourrit 1836 mit, dass er für das folgende Jahr einen weiteren „premier ténor“ engagiert habe: Gilbert-Louis Duprez. Dieser Sänger hatte sich nach erfolglosen Anfängen in seiner französischen Heimat in Italien weiterentwickelt u nd ei nen d ra matischen Gesa ngsti l a ngeeignet, der a ls 31

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zukunftsweisend galt. In Paris machte Duprez als Arnold in Rossinis „Guillaume Tell“ Sensation, weil er in der Cabaletta der Arie „Asile héréditaire“ den Spitzenton c 2 mit solcher Energie sang, dass man davon ausging, Duprez habe diesen Ton mit seiner Bruststimme („voix de poitrine“) und nicht wie sein Vorgänger Nourrit mit einem klangvollen Falsett gesungen. Die moderne Gesangsforschung hat gezeigt, dass diese Annahme allein aus physiologischen Gründen nicht zutrifft. Duprez selbst bezeichnete das Register, das er für die hohe Lage einsetzte, als „voix de tête“ und dieses Register sei bei ihm „d’une extrème puissance“ gewesen, so dass sich der Eindruck einstellen konnte, er habe seine Bruststimme benutzt. Doch nicht die Frage der angemessenen Terminologie oder die Kenntnis der physiologischen Vorgänge der Tonproduktion interessierten die Mehrheit der Zeitgenossen, sondern die enorme Wirkung, die Duprez’ Art der Tongebung erzielte. „The C note, as given from the chest by Duprez, caused a furore of imitation“, notierte 1840 ein unbekannter englischer Berichterstatter und deutet damit an, dass sich im Tenorgesang ein Paradigmenwechsel vollzog. Schon vor Duprez hatte es Tenöre gegeben, die ihrer Stimme einen dramatischeren Charakter zu geben vermochten, unter ihnen Duprez’ Lehrer Domenico Donzelli, doch erst nach Duprez’ Sensationserfolg in Paris wird diese Art des Tenorgesangs zu einem Maßstab für viele jüngere Sänger. Zur Abgrenzung vom älteren Tenortypus setzte sich für den neueren in Italien der Begriff „Tenore di forza“ durch; „fort ténor“ ist das französische Pendant dazu. Partien wie Arnold und Raoul waren also ursprünglich Rollen für einen „Ténor de demi-caractère“, erst im Laufe der Aufführungsgeschichte wurden sie dem Repertoire des „fort ténor“ zugeschrieben. Wenn diese beiden Rollen im Hinblick auf den „fort ténor“ Vasco als Verweispartien im ersten Klavierauszug von „L’Africaine“ erscheinen, ist dieser Hintergrund mitzudenken. 35

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In Meyerbeers Opern bis einschließlich „Le Prophète“ blieb der Bereich unterhalb des Tenors lange Zeit allein den Bässen vorbehalten. Zwar war die Partie des Bertram in „Robert le diable“ zunächst für den Bariton Henri-Bernard Dabadie, den Uraufführungsinterpreten der Titelrolle von Rossinis „Guillaume Tell“ bestimmt, doch kam es während der Arbeit am Werk zu einer konzeptionellen Neuausrichtung und Meyerbeer schrieb die Partie für den Bassisten Nicolas-Prosper Levasseur um. Meyerbeer hatte diesen Sänger schon 1820 in Italien im Zusammenhang mit der ersten Aufführung der „Margherita d’Anjou“ kennen gelernt; in den drei ersten Grands Opéras wurde Levasseur als Bertram („Robert le diable“), Marcel („Les ­huguenots“) und Zacharie („Le Prophète“) schließlich zu einem der zentralen Protagonisten Meyerbeers. 39

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Das Stimmfach Levasseurs nannte Meyerbeer in Übereinstimmung mit den französischen Usancen seiner Zeit „Basse-taille“. Dieser Begriff kann leicht missverstanden werden, denn er hat im Laufe seiner Geschichte einen Bedeutungswandel durchlaufen. Im französischen Schrifttum des 18. bis frühen 19. Jahrhunderts ist „Basse-taille“ ein Unterbegriff von „Taille“ und bezeichnet eine Stimmgattung zwischen Tenor und Bass, also einen Bariton. Im zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts und mit dem Aufkommen von großen Sängern, die explizit als „Baritono“ oder „Baryton“ klassifiziert wurden, verschiebt sich die Bedeutung von „Basse-taille“ hin zum Bass. Für Manuel García fils, den bedeutendsten Gesangstheoretiker im Umfeld Meyerbeers, bezeichnete „Basse-taille“ die tiefste menschliche Stimme, und in diesem Sinne verwendet auch Meyerbeer den Ausdruck, der Levasseurs stimmliches Profil exakt beschreibt. 40

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Der Bariton, der sich in der italienischen Oper seit den 1830er Jahren als wichtige Stimmgattung etablierte, fand erst spät und dann schleichend Eingang in das Rollenspektrum der Opern Meyerbeers. Wie im Falle Verdis, der mit Giorgio Ronconi und vor allem Felice Varesi herausragende Sänger als Anreger hatte, bedurfte es bei Meyerbeer eines überzeugenden Sängerdarstellers wie Jean-Baptiste Faure, um den Komponisten für dieses Stimmfach zu interessieren. Meyerbeer lernte Faure zunächst im Zusammenhang mit Aufführungen der Opéra comique „L’Étoile du nord“ kennen. Faure sollte den Bassisten Charles Amable Battaile, den Uraufführungsinterpreten des Zaren, ablösen. Da Faures Stimme deutlich höher gelagert war als die Battailles, hat Meyerbeer die Partie grundlegend umgestaltet und in eine Baritonrolle verwandelt. Für seine nächste Opéra comique, „Le Pardon de Ploërmel“, rechnete Meyerbeer von Anfang an mit Faure und komponierte mit der Partie des Jägers Hoël seine erste originäre Baritonrolle. Im Partiturerstdruck des Werks finden sich Hinweise auf Referenzpartien, die der Sänger des Hoël auch singen können sollte: die Titelpartie in Nicolas Isouards „Joconde“ (1814), Rodolphe in François Adrien Boieldieus „Le petit Chaperon rouge“ (1818) sowie die Titelpartie in Ferdinand Hérolds „Zampa“ (1831). „Joconde“ wurde für Blaise Martin komponiert, einen hohen leichten Bariton, der in der hohen Lage mühelos ins Falsett umschalten und in Tenorlage singen konnte; nach ihm ist das französische Stimmfach des Baryton-Martin benannt. Die beiden anderen Partien wurden ursprünglich für Tenöre geschrieben, gingen dann aber über ins Repertoire des Baryton-Martin, zu dessen Vertreter Faure zumindest in der Anfangszeit seiner Karriere gehörte. Meyerbeer komponierte für ihn aber auch die dramatischere Partie des Nélusko in „L’Africaine“, mit der der „Baryton“ bei Meyerbeer seinen späten Einzug auch in die Grand Opéra erhielt. 42

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D i e „ S o ci e t ät “ z w i s ch e n Ko m p o ni s t un d S än g e rn Für Richard Wagner war der Sänger „Organ der Absicht des Komponisten“, ein Medium, das sich in den Dienst des Kunstwerks zu stellen hat. Meyerbeer teilte diese Position nicht. Die Sänger waren für Meyerbeer im Idealfall nicht ausführende Organe, sondern Partner in einer „Societät“, die mit dem Komponisten ein gemeinsames künstlerisches Ziel verfolgen . Bei allem Selbstbewusstsein, das er als Schöpfer bedeutender Werke besaß und Unverständigen gegenüber mit Nachdruck verteidigte, vergaß Meyerbeer nie, dass die Wirkung einer Oper und damit ihre Akzeptanz beim Publikum in hohem Maße von der Qualität der Aufführung abhing, denn die meisten Zuschauer und -hörer beurteilten nicht das Werk selbst, sondern dessen szenisch-musikalische Realisierung. Diese Erkenntnis hatte für Meyerbeer zwei Konsequenzen: Zum einen bezog er bei der Komposition und Einstudierung einer Oper die künstlerischen Möglichkeiten der Protagonisten – die „Individualität der Sänger“ – mit ein, zum anderen passte er seine Partituren immer wieder neuen Aufführungskontexten an. Bis zur Komposition und Aufführung von „Les huguenots“ folgte Meyerbeer der aus dem 18. Jahrhundert weiterwirkenden Usance, die Partien seiner Opern im Hinblick auf ein für die Uraufführung eines Werks fest engagiertes Ensemble zu konzipieren. Als sich abzeichnete, dass „Robert le diable“ keine Opéra comique, sondern ein Werk für die Opéra würde, konnte und musste Meyerbeer mit den dort engagierten ersten Kräften rechnen: Nourrit als Robert, Cinti-Damoreau als Isabelle und Dorus-Gras als Alice, zunächst Dabadie, dann, nach einer konzeptionellen Neuausrichtung, Levasseur als Bertram. Vor allem für seine beiden letzten Grands Opéras musste Meyerbeer anders verfahren als er es bisher gewohnt war. Sowohl für „Le Prophète“ wie für „L’Africaine“ rechnete er während der ersten Phase der Komposition mit Sängern, die nicht mehr zur Verfügung standen, als die Partituren – wenn auch nur vorläufig – abgeschlossen waren. Im Fall von „Le Prophète“ war es Duprez, der zunächst mit größtem Enthusiasmus gefeierte Nachfolger Nourrits, der in eine Stimmkrise geriet, so dass Meyerbeer davon ausgehen musste, dass er die Partie des Jean nicht mehr singen können würde. Die Suche nach einem neuen Tenor, aber auch Meyerbeers Forderung, die Partie der Fidès mit der großen Sängerdarstellerin Pauline Viardot-García zu besetzen, verzögerten die Uraufführung um etliche Jahre und führte schließlich zu einer grundlegenden Überarbeitung des Werks. Für die Entscheidung, die Partitur von „L’Africaine“ zurückzuziehen, war wesentlich das jähe Karriereende Cornélie Falcons verantwortlich. Sie hatte Meyerbeer für die zentrale Partie der Sélika vorgesehen; eine Sängerin vergleichbaren Rangs, die Falcon hätte ersetzen können, stand aber nach Meyerbeers Einschätzung nicht zur Verfügung. 46

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Madame Pauline Viardot-GarcĂ­a, photomechanischer Druck, 1848


Als der Komponist sich endlich entschloss, die Oper grundlegend zu überarbeiten und eine Aufführung ins Auge zu fassen, war es aber vor allem die Besetzung der männlichen Hauptrolle, die für ihn zum zentralen Problem wurde. Gegenüber seinem Verleger Louis Brandus nannte Meyerbeer Vasco „die bedeutendste TenorRolle die ich in meinem Leben componirt habe“. In seinen letzten Lebensjahren war er daher auf der Suche nach einem geeigneten Sänger. Seinen Vorstellungen am nächsten kam Emilio Naudin, ein italienischer Tenor mit einem überaus vielseitigen Repertoire, über den er in seinem Tagebuch notierte: „ein brillanter Sänger von großem Feuer und auch zarter Empfindung; kräftige Stimme, aber etwas scharf“. Trotz gewisser Vorbehalte ließ sich Meyerbeer Naudins Mitwirkung an der Uraufführung von „L’Africaine“ vertraglich zusichern; seine Witwe konnte nach seinem Tod durchsetzen, dass der Vertrag von der Opéra trotz der enormen Gage, die Naudin forderte, eingehalten wurde. 53

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Die Briefe und Tagebuchaufzeichnungen sowie die überlieferten Notenmaterialien ermöglichen tiefe Einblicke in Meyerbeers Zusammenarbeit mit den Sängern. Anders als in Italien, wo Opernproduktionen in der Regel binnen weniger Wochen auf die Bühne gelangen mussten, war es an der Opéra üblich, Werke in einer über mehrere Monate sich erstreckenden Probenphase zur Aufführungsreife zu bringen. Diese lange Zeit diente nicht nur dazu, alle Beteiligten mit einem neuen Werk vertraut zu machen, sondern ließ die Gestalt dieses Werks als Ergebnis intensiver Zusammenarbeit überhaupt erst definitiv entstehen. Meyerbeer feilte bis kurz vor der Premiere an einer Fülle von Details, oft in enger Absprache mit den Sängern und aus Rücksichtnahme auf diese. Meyerbeers sängerorientierte Maßnahmen während der Einstudierungsphase einer Oper lassen sich im Wesentlichen zwei Kategorien zuordnen. 1. Kürzungen: Erst bei den Endproben war es möglich, die Gesamtaufführungsdauer einer Oper einigermaßen zuverlässig abzuschätzen. Sowohl im Falle von „Les huguenots“ wie dem von „Le Prophète“ stellte sich heraus, dass Kürzungen in letzter Minute aus pragmatischen Gründen unabdingbar waren – es musste gewährleistet sein, dass das Publikum nach der Aufführung noch nach Hause gelangen konnte. Von solchen rein äußerlichen Gründen verpflichteten Maßnahmen sind jene Kürzungen oder – mit einem von Meyerbeer häufig verwendeten Begriff – „Coupuren“ (Schnitte) zu unterscheiden, die Meyerbeer mit Blick auf die Sänger vornahm, sei es, um deren Kräfte zu schonen, sei es, um Partien zu eliminieren, die sich während der Probenarbeit aus unterschiedlichsten Gründen als ungeeignet erwiesen hatten. Wieviel Arbeit diese Art des Feilens an der Partitur bedeutete, lassen Äußerungen wie die folgende (aus der P ­ robenphase zu „Le Prophète“) erkennen: „Ich habe täglich so viel an den Ändrungen 86


u. Kürzungen zu arbeiten, welche jede Probe neu gebirt, daß mir nicht einmal die Zeit zur Führung meines Tagebuchs bleibt …“. Et­liche der während der Proben gestrichenen Passagen sind nicht in die gedruckten Ausgaben der Opern eingegangen und kamen erst im Rahmen der Arbeiten an der Meyerbeer-Ausgabe wieder zum Vorschein. Andere Kürzungen haben sich im Laufe der Aufführungs­geschichte in der Praxis etabliert, viele von ihnen sind als Optionen in den gedruckten Klavierauszügen ausgewiesen. Anders als Wagner oder Verdi, die auf der Integrität ihrer Werke bestanden und Veränderungen am Partiturtext nur unter pragmatischen Zwängen zugestanden, betrachtete Meyerbeer seine Partituren nicht als geschlossene Werktexte, sondern als Ausgangspunkte für theatralische Realisierungen, die von Ort zu Ort ganz unterschiedlich ausfallen konnten. Dem Münchner Intendanten Franz Dingelstedt etwa teilte er mit, dass seine Opéra comique „Der Nordstern“ („L’Étoile du nord“) „für Deutschland zu lang ist und deßhalb gekürzt werden muß“. Meyerbeers Briefe und Tagebücher sind voll von Anweisungen über zweckmäßige Kürzungen, die in der Regel auf lokale Bedingungen reagieren. Bei allem Entgegenkommen kannte die künstlerische Großzügigkeit des Komponisten aber auch Grenzen. Anfang 1855 war Meyerbeer in Dresden, um die dortige Erstaufführung des „Nordsterns“ vorzubereiten. Vor seiner Abreise aus Dresden fand ein Treffen statt, „worin wir alle nur irgend möglichen Verkürzungen festgesetzt haben die ohne die Oper ganz zu verstümmeln Statt finden können“. Nachdem Meyerbeer die Stadt verlassen hatte, wurden weitere Kürzungen vorgenommen. Meyerbeer erfuhr von diesen eigenmächtigen Eingriffen und protestiert mit scharfem Nachdruck dagegen – der Spielraum für Veränderungen, den er selbst definiert hatte, war überschritten worden. 2. Instrumentationsretuschen: Meyerbeers Instrumentationskunst ist von seinen Zeitgenossen vielfach bewundert worden, der Komponist selbst widmete diesem Aspekt größte Aufmerksamkeit. Doch bei aller Bedeutung, die das dramaturgisch-suggestive Spiel mit Klangfarben für ihn besaß, verlor Meyerbeer nicht den Blick für die pragmatischen Aspekte des Zusammenwirkens von Stimmen und Instrumenten. Wenn sich herausstellte, dass das Orchester die Sänger zu sehr dominierte, revidierte Meyerbeer die entsprechenden Passagen. In seinem Tagebuch finden sich viele Hinweise auf „Verändrungen der Instrumentation, welche sich aus der Sängerprobe ergeben“, auch auf Wünsche, die von der Seite der Sänger an ihn herangetragen wurden, reagierte er. Ähnlich verhielt er sich bei den Proben zu Erstaufführungen seiner Werke an anderen Orten, für die Meyerbeer die Instrumentation in der Regel den lokalen Gegebenheiten anpasste. 56

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Noch wichtiger als die Eingriffe in die Partitur, die er aus Rücksichtnahme auf die Sänger vornahm, war für Meyerbeer die höchst intensive Probenarbeit mit den Künstlern, deren Intensität und Detailliertheit das übliche Maß weit überstieg. „Alle Sänger sagen daß ihnen nie noch etwas auf eine so treffliche Weise einstudiert worden wäre“, teilte Meyerbeer seiner Frau Minna mit offenkundigem Stolz aus Dresden mit, wo er mit dem dortigen Personal „Die Hugenotten“ einstudiert hatte. Worauf es Meyerbeer vor allem ankam, waren „die zarte[n] Nuancirungen, worin der Vortrag eines Musikstückes überhaupt besteht“. Diese „Nuancirungen“ aber waren stets auf die von Meyerbeer immer wieder apostrophierte „Individualität“ eines Sängers abzustimmen. Der geschilderte Probenstil blieb nicht auf die Vorbereitung der Uraufführungen beschränkt. Meyerbeer war bestrebt, nach der ersten Produktion einer neuen Oper so viele Erstaufführungen an anderen Theatern wie möglich persönlich zu betreuen, um durch eine hohe Qualität der Wiedergabe die Wirkung seines Werks zu sichern und im Idealfall eine Aufführungstradition zu begründen. 65

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Da Meyerbeer nicht überall vor Ort sein konnte, versuchte er, wann immer es möglich war, aus der Ferne brieflich Einfluss auf Aufführungen zu nehmen, indem er Vorschläge für Kürzungen machte, auf bereits mit Erfolg erprobte Werkfassungen hinwies oder bestimmte Übersetzungen empfahl. Um seine Opern berühmten Sängern attraktiver zu machen, scheute er sich auch nicht, zusätzliche Arien zu komponieren. Für das Londoner Debüt des Tenors Mario in der Titelpartie von „Robert le diable“ schrieb er eine „Scène et Prière“ („Ou me cacher?“ – „Oh! ma mère, ombre si tendre“), für die Contralistin Marietta Alboni als Page in „Les huguenots“ komponierte er nicht nur ein neues Rondeau („Non, vous n’avez jamais, je gage“), sondern richtete die ganze Partie, die ursprünglich für einen Sopran geschrieben wurde, für die tiefere Stimmlage der Sängerin ein, und für den als Robert, Raoul und Jean gefeierten Dresdner Heldentenor Joseph Tichatschek, der in der Dresdner Erstaufführung von „Der Nordstern“ die Nebenrolle des Danilowitz übernommen hatte, wertete Meyerbeer diese kleine Partie durch die Neukomposition von gleich zwei Arien erheblich auf. Auch in den gedruckten Ausgaben seiner Opern hat Meyerbeer dafür gesorgt, dass seine Musik sich unterschiedlichen Aufführungskontexten anpassen ließ. Neben den schon erwähnten Hinweisen zu approbierten Kürzungen finden sich in den gedruckten Partituren und Klavierauszügen auch zahlreiche „Variantes“, d. h. Alternativ-Vorschläge für besonders exponierte Passagen, die Meyerbeer im Hinblick auf das Können seiner Uraufführungsinterpreten komponiert hatte. Die Anforderungen etwa, die die Partie der Fidès stellt, verweisen u. a. auf den exzeptionellen Stimmumfang der Pauline Viardot-García. Meyerbeer rechnete damit, dass nicht alle Darstellerinnen 88


der Rolle über ähnlich üppige Stimmmittel verfügen. In einer Vorbemerkung zum Erstdruck der Partitur verweist er auf die kleingestochenen Alternativ­ noten, die gesungen werden sollen, wenn der originale Notentext nicht ­realisierbar ist. 68

Zahlreiche Briefe geben Auskunft über die von Meyerbeer zugelassenen Möglichkeiten, aber auch über die von ihm gesetzten Grenzen bei Eingriffen in den gedruckten Werktext. Henriette Sontag, eine der berühmtesten Sopranistinnen der ersten Jahrhunderthälfte, interessierte sich für die Rolle der Isabelle in „Robert le diable“, eine Partie für eine „chanteuse légère“, die zwar im Prinzip der Stimme Sontags entgegenkam, jedoch einiger Modifikationen bedurfte, um ihrem Vokalprofil gerecht zu werden: „Was die Arie der Isabella im 2ten Akt betrifft, so glaube ich daß das erste Andante (in G dur) ganz bequem Ihrer Stimmlage anpassen wird. Allein im Allegro könnte die Cabaletta im 6/8 Takt (in Emoll und Edur) Ihnen doch vielleicht etwas hoch liegen. Für diesen Fall könnten Sie dieselbe einen halben Ton tiefer in Es singen, wodurch der Instrumentation durchaus keinen Nachtheil erwächst.“ 69

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Die Transposition von Partien oder Teilen einer Partie zum Zweck der Anpassung an sängerische Potentiale gehörte zu den gängigen Praktiken des Opernbetriebs im 19. Jahrhundert. Auch für Meyerbeer war sie eine Selbstverständlichkeit im Umgang mit seiner Musik. Er achtet jedoch darauf, dass „der Instrumentation durchaus keinen Nachtheil erwächst“, etwa dadurch, dass bestimmte Partien unspielbar wurden oder sich der Klangcharakter allzu grundlegend veränderte. Meyerbeers grundsätzliche Bereitschaft, seine Partituren spezifischen Aufführungskontexten anzupassen, darf nicht als Ausdruck von Beliebigkeit missverstanden werden. In einigen Fällen hat er sich entschieden gegen ein Arrangement ausgesprochen, etwa im Hinblick auf eine Anfrage, die Sopranrolle der Praskovia im „Nordstern“ in eine Altpartie zu verwandeln. Das sei, teilte Meyerbeer dem Dresdner Freund Carl Kaskel mit, „leider ganz unmöglich, wenn man den Charakter der Musik nicht ganz und gar denaturieren will.“ 71

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M e ye rb e e r s Vo r t r ag s anwe i s un g e n Bei aller Bereitschaft, auf die „Individualität“ der Sänger einzugehen, war der Anspruch, den Meyerbeer an seine Protagonisten stellte, sehr hoch. Zahlreiche Tagebucheintragungen über Sänger, die er gehört hat, zeigen deutlich, welche Kriterien für Meyerbeer zentral waren: An erster Stelle stand gesangstechnische Perfektion, nicht minder wichtig aber war ihm mimisches 89


Darstellungsvermögen, vor allem aber wünschte er sich von seinen Sängerdarstellern Hingabe und Ausdruckskraft. Dass verbale Angaben jene „zarte[n] Nuancirungen, worin der Vortrag eines Musikstückes überhaupt besteht“, nur unzureichend andeuten können, war Meyerbeer bewusst. Dennoch weisen seine Partituren ab „Robert le diable“ eine Dichte an Vortragsbezeichnungen auf, wie sie sich bei keinem anderen Opernkomponisten seiner Zeit und erst recht nicht bei älteren Komponisten findet. In ihnen dokumentiert sich das Bemühen, in einer Umbruchsphase der Operngeschichte jene neue Ausdruckshaftigkeit, die für die Oper der Ära nach Rossini zentral ist, auch hinsichtlich ihrer performativen Aspekte so genau wie möglich zu bestimmen. Meyerbeers Bemühen um eine Ausdifferenzierung der Vortragsebene betrifft vor allem zwei Aspekte: Artikulation und Phrasierung sowie den musikalischen Ausdruck. Innerhalb dieser zweiten Kategorie sind jene Angaben von besonderem Interesse, die von den Sängern ein Agieren an der Grenze des Singens verlangen. 73

Vincenzo Bellini gehörte zu den ersten Komponisten, die die ästhetischen Grenzen des italienischen Gesangs, der in der Ära Rossinis ein „bel canto“, ein „schöner Gesang“ im Wortsinne war, zu erweitern. Wenn er bei Koloraturpassagen fordert, dass sie „con forza“ oder gar „con tutta la forza“ gesungen werden, dann zielt er auf leidenschaftlichen Impetus. Alaide, die Titelheldin in „La straniera“, soll einen besonders heftigen Ausbruch „nell’ultima disperazione“ (in letzter Verzweiflung) gestalten, Bellini geht sogar noch weiter und verlangt verschiedentlich, die Sänger sollen „con grido“ (mit einem Schrei) singen. Meyerbeer konnte an dieser Integration gleichsam realistischer Lautäußerungen in den Gesang anknüpfen, zugleich hat er das Spektrum expressiver Vokalität aber noch erheblich erweitert und radikalisiert. Die Vortrags­a nweisungen seiner Opern geben davon ein beredtes Zeugnis. Drei Beispiele: 1. Wie alle Komponisten seiner Zeit unterscheidet Meyerbeer klar zwischen Rezitativ und ariosem Gesang. Für das Rezitativ verstand sich eine starke Annäherung an den Gestus der gesprochenen Sprache von selbst, Meyerbeer verlangt aber verschiedentlich in geschlossenen Nummern, in denen arioser Gesang vorherrscht, dass einzelne Phrasen „presque parlé“, beinahe gesprochen vorgetragen werden sollen. In „Duo et Scène“ Alice – Bertram im III. Akt von „Robert le diable“ versagt Alice bei den Worten „je ne peux!“ und „rien! rien! rien!“ vor Angst fast die Stimme und genau das soll die Anweisung „presque parlé“ andeuten. Zu Beginn des „Grand Duo“ im IV. Akt von „Les huguenots“ verweist die Angabe „d’une voix entrecoupée, presque parlé“ bei Raouls geradezu atemlosen Auftritt, dass die Dramatik der Situation ein reguläres Singen nicht zulässt. 74

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2. Lachen und Weinen gehören zu den sogenannten Alltagslauten, die sich musikalisch stilisieren lassen, das Lachen z. B. durch eine Folge von staccato gesungenen Tönen auf dem Vokal [a]. Die Stellen aber, an denen Meyerbeer die Vortragsweisungen „riant“ und „pleurant“ notiert, sollen „lachend“ oder „weinend“ in einem beinahe realistischen Sinne vorgetragen werden, d. h. die Ausführenden müssen den Gesangston verlassen bzw. so modifizieren, wie Manuel García fils es 1847 im zweiten Teil seines „Traité complet de l’art du chant“ beschrieben hat: durch den Einsatz von Glottisschlägen oder die Aspiration von Tönen beim Lachen und durch „eine Art Krampf, der die Stimme nur ungleichmäßig und stoßweise zum Klingen bringt“, beim Weinen. Singend gelacht und geweint wird in fast allen französischen Opern Meyerbeers, in keinem Werk aber so oft und zugleich auf so komische Weise verdichtet wie im „Duo de Catherine et de Prascovia“ aus dem I. Akt von „L‘Étoile du nord“. Prascovia ist verzweifelt, weil ihr Verlobter Georges unmittelbar vor der Hochzeit zum Militärdienst eingezogen wurde, Catherine versucht ihre Freundin zu trösten, doch wissen beide Protagonistinnen nicht, ob sie lachen oder weinen sollen – „riant“ und „pleurant“ wechseln sich auf dem Höhepunkt des Duetts takt- und personenweise ab. 3. Besonders häufig begegnet bei Meyerbeer die Anweisung „d’une voix suffoquée“ – mit unterdrückter Stimme. In vielen Fällen ergänzt Meyerbeer diese Angabe noch um einen charakterisierenden Zusatz: Mehrfach findet sich die Anweisung „d’une voix suffoquée par les larmes“ (mit von Tränen unterdrückter Stimme), besonders eindrucksvoll in Isabelles „Grâce“-Phrasen in ihrer großen Cavatine („Robert, toi que j’aime“) im IV. Akt von „Robert le diable“ oder in Hoëls Romance („Ah! mon remords te venge“) im III. Akt von „Le Pardon de Ploërmel“ im zweiten Couplet bei „Et toi, que j’implore“. Gegenstück zur Stimme, die vor Schmerz beinahe erstickt, ist jene, in der sich unterdrückte Wut ausdrückt – „d’une voix suffoquée par la colère“ lautet die Vortragsanweisung für die Reaktion des Rats und des Klerus auf Vascos Forderung nach einem Schiff im I. Akt von „L’Africaine“.  75

Mit der Kritischen Ausgabe der Werke Meyerbeers wurde und wird immer noch eine wesentliche Grundlage für die Neuentdeckung dieses großen Komponisten geschaffen. Erstmals wird die ungeheure Fülle an Material erkenn- und nutzbar, die zumal im Falle der französischen Werke überliefert ist. Aus diesem Material lassen sich Werkfassungen rekonstruieren, die Meyerbeers ursprünglichen Intentionen entsprechen oder ihnen doch zumindest nahe kommen, zu seiner Zeit aber nie auf die Bühne gelangten. Hinter der Meyerbeer-Ausgabe ist die Absicht erkennbar, einen der wichtigsten Opernkomponisten des 19. Jahrhunderts ernst zu nehmen und ihm 91


von philologischer Seite so gerecht zu werden, wie es für Rossini, Verdi oder Wagner schon seit langem üblich ist. Es gilt aber im Blick zu behalten, dass Meyerbeer selbst kein philologisches Verhältnis zu seinen Partituren pflegte. Er war ein Theaterpraktiker, der dem Geist des 18. Jahrhunderts verpflichtet blieb und keinem abstrakten Werkideal anhing, sondern eine Oper stets als Ereignis verstand, das an einen bestimmten Aufführungskontext gebunden war. Die Meyerbeer-Ausgabe macht es möglich, die Pluralität der Werkfassungen und damit die relative Offenheit der Werke nachzuvollziehen. So sinnvoll und notwendig es im 21. Jahrhundert erscheint, Meyerbeers Opern, deren Aufführungstradition mehr oder weniger abgebrochen ist, auf der Grundlage eines philologisch gesicherten Notentextes so vollständig wie möglich aufzuführen, so sollte in einer Zeit, in der die Historische Aufführungspraxis als eines der wichtigsten Paradigmen im performativen Umgang mit Musik gilt, Meyerbeers „Societät“ mit seinen wichtigsten Protagonisten, den Sängern stets mitbedacht werden. Viele Hürden, die sich Aufführungen der Opern Meyerbeers entgegenzustellen scheinen, könnten verschwinden, wenn man dem Vorbild des Komponisten folgte und spezifische Aufführungsfassungen erarbeitete, die den Kern der Werke nicht beschädigen, wohl aber an deren Peripherie Anpassungen an lokale Aufführungsbedingungen vornehmen. Die von Meyerbeer selbst mitgeprägte und -gestaltete Aufführungsgeschichte seiner Werke bietet dafür reiches Anschauungsmaterial. Kürzungen, Transpositionen und der Rückgriff auf die in den Partituren notierten Varianten, um nur die wichtigsten Aspekte zu nennen, sind legitime Maßnahmen, Meyerbeers Opern aufführbar zu machen.

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Anmerkungen

1 Brief an Leopold Mozart vom 28. Februar 1778, in: Mozart. Briefe und Aufzeichnungen, hrsg. von Wilhelm A. Bauer und Otto Erich Deutsch, Bd. 2, Kassel 1962, S. 304; vgl. Thomas Seedorf: „Wie ein gutgemachts kleid“. Überlegungen zu einer mehrdeutigen Metapher [nebst einigen Randbemerkungen zu Mozart], in: „Per ben vestir la virtuosa“. Die Oper des 18. und 19. Jahrhunderts im Spannungsfeld zwischen Komponisten und Sängern, hrsg. von Daniel Brandenburg und dems., Schliengen 2011 [Forum Musikwissenschaft 6], S. 11 – 21. 2 Brief Le Sueurs an Meyerbeer vom 24. November 1831, in: Giacomo Meyerbeer: Briefwechsel und Tagebücher, Bd. 2: 1825 – 1838, hrsg. und kommentiert von Heinz und Gudrun Becker, Berlin 1970, S. 156; vgl. Sabine Henze-Döhring / Sieghart Döhring: Giacomo Meyerbeer. Der Meister der Grand Opéra, München 2014, S. 59f. 3 Zu Meyerbeers Gesangsästhetik allgemein vgl. Karin und Eugen Ott: „Nur von großen Sängern lernt man sangbar und vortheilhaft für die Menschenstimme schreiben.“ Stil und Technik des Meyerbeer-Gesangs, in: Meyerbeer und das europäische Musiktheater, hrsg. von Sieghart Döhring und Arnold Jacobshagen, Laaber 1998 [Thurnauer Schriften zum Musiktheater 16], S. 231 – 249; Daniel Brandenburg: Gesang und Gesangsideal zur Zeit Meyerbeers, in: Meyerbeers Bühne im Gefüge der Künste, hrsg. von Sibylle Dahms, Manuela Jahrmärker und Gunhild Oberzaucher-Schüller, Feldkirchen bei München 2002 [Meyerbeer-Studien 4], S. 259 – 282. 4 Vgl. Thomas Seedorf: Stimmfach / Stimmfächer, in: Lexikon der Gesangsstimme, hrsg. von Ann-Christine Mecke, Martin Pfleiderer, Bernhard Richter und dems., Laaber 2015 [Handbuch des Gesangs 3]. 5 Vgl. Gianni Cicali: Attori e ruoli nell’opera buffa italiana del Settecento, Florenz 2005. 6 Vgl. Thomas Seedorf: Contralto, in: Lexikon der Gesangsstimme. 7 Vgl. Naomi André: Voicing gender. Castrati, travesti, and the second woman in early-nineteenth-century Italian opera, Bloomington 2006; Anke Charton: prima donna, primo uomo, musico. Körper und Stimme: Geschlechterbilder in der Oper, Leipzig 2012 [Leipziger Beiträge zur Theatergeschichtsforschung 4]; dieselbe: Contralto musico, in: Lexikon der Gesangsstimme. 8 Marco Beghelli / Raffaele Talmelli: Ermafrodite armoniche. Il contralto nell’Ottocento, Varese 2011. 9 Vgl. Sieghart Döhring: Giambattista Velluti und das Ende des Kastratengesangs in der Oper, in: „Per ben vestir la virtuosa“, S.  191 – 210. 10 Vgl. Armin Schuster: Die italienischen Opern Giacomo Meyerbeers. Band 1. „Il crociato in Egitto“, Marburg 2003, S. 130. Für Bassi-Manna veränderte Meyerbeer die Partie in vielen Aspekten, vor allem fügte er ein neues Final-Rondo ein, für das er zwei ältere Arien – „Ah, come rapida“ aus „L’esule di Granata“ und „Col piacer la pace scende“ aus „Semiramide“ – kombinierte; vgl. ebd., S. 131. 11 Vgl. ebd., S. 154. Auch für Pasta gestaltete Meyerbeer die Partie um. Wie Bassi-Manna sang sie „Ah, come rapido“, jedoch nicht am Ende der Oper, sondern im II. Akt nach dem Chor „Nel silenzio, fra l’orror“, außerdem erweiterte Meyerbeer die Arie für Pasta um ein Rezitativ und eine Cabaletta; vgl. ebd., S. 158. Zu Pasta vgl. Giorgio Appolonia: Giuditta Pasta, gloria del bel canto, Turin 2000. 12 Vgl. Charton: prima donna, primo uomo, musico, S. 267ff. 13 Brief vom 11. Januar 1841; zit. nach Giacomo Meyerbeer: Briefwechsel und Tagebücher, Bd. 3: 1837 – 1845, hrsg. und kommentiert von Heinz und Gudrun Becker, Berlin 1975, S. 311 [Hervorhebung original]. 14 Vgl. u. a. Meyerbeers Brief an Wilhelm Speyer vom 6. August 1849, in: Giacomo Meyerbeer: Briefwechsel und Tagebücher, Bd. 5: 1849 – 1852, hrsg. von Sabine Henze-Döhring, Berlin / New York 1999, S. 45.

15 Vgl. beispielsweise Jean-Baptiste Faure: La voix et le chant. Traité pratique, Paris [1886], Auszüge in: Voix d’Opéra. Écrits de chanteurs du XIXe siècle, Paris 1988, S. 197 – 293. 16 Vgl. beispielsweise Arthur Pougin: Dictionnaire historique et pittoresque du théâtre et des arts qui s’y rattachent, Paris 1885. 17 Vgl. Karin Pendle: A night at the opera. The Parisian prima donna, 1830 – 1850, in: The Opera Quarterly 4 [1986], S. 77 − 89 18 Vgl. Charles Bouvet: Cornélie Falcon, Paris 1927. 19 Vgl. den Brief Meyerbeers an seine Frau Minna vom 22. Januar 1838: „Die Falcon muß nun decisiv das Theater verlassen, da ihre Stimme nicht wiederkommen will […]“. Meyerbeer: Briefwechsel und Tagebücher, Bd. 3, S. 88. 20 Vgl. den Brief Meyerbeers an seinen Verleger Louis Brandus vom 14. Juli 1863, in der er als Referenzpartien für das „Genre Falcon“ die Valentine aus „Les huguenots“ und Rachel aus „La Juive“ nennt; Gioacomo Meyerbeer: Briefwechsel und Tagebücher, Bd. 8: 1860 – 1864, hrsg. von Sabine Henze-Döhring, Berlin / New York 2006, S. 509. „Emploi“ entspricht im französischen Sprach­gebrauch ungefähr dem deutschen „Rollenfach“. Die Verbindung eines solchen Rollenfachs mit dem Namen einer prägenden Künstlerpersönlichkeit [„Dugazon“, „Trial“, „Laruette“, „Baryton-Martin“] ist eine Eigenheit der französischen Tradition; vgl. Seedorf: Stimmfach / Stimmfächer. 21 Vgl. Thomas Seedorf: Soprano Falcon, in: Lexikon der Gesangsstimme. 22 Diese Bezeichnung war auch Meyerbeer geläufig; vgl. den Brief an Gouin vom 10. November 1846, in: Giacomo Meyerbeer: Briefwechsel und Tagebücher, Bd. 4: 1846 – 1849, hrsg. und kommentiert von Heinz und Gudrun Becker, Berlin 1985, S. 131. 23 „Il doit être chanté par la forte chanteuse soprano qui remplit les rôles des Falcons. Dans les troupes où il n’y aurait pas deux chanteuses différentes pour l’emploi des Falcons et des Stoltz, la chanteuse légère devra chanter le rôle de Berthe, et la forte chanteuse le rôle de Fidès.“ Giacomo Meyerbeer: „Le Prophète“, Partitur, Paris 1851, Faksimile New York 1978 [Early romantic opera 21], o. S. Meyerbeer bezieht sich neben Falcon auf eine andere prominente Sängerin der Opéra, Rosine Stoltz, die zunächst in Partien, die für Falcon komponiert wurden, erfolgreich war, dann aber aus stimmlichen Gründen Mezzosopranpartien übernahm. Donizetti komponierte für sie die Partie der Léonor in „La Favorite“ [1840]. Meyerbeer wollte ursprünglich ihr die Partie der Fidès anvertrauen, legte sich dann aber nach Stoltz’ Anschied von der Bühne [1847] endgültig auf Pauline Viardot-García fest. Zu Stoltz vgl. Mary Ann Smart: The lost voice of Rosine Stoltz, in: Cambridge Opera Journal 6 [1994], S. 31 – 50. 24 Brief vom 3. August 1863, in: Meyerbeer: Briefwechsel und Tagebücher, Bd. 8, S. 517 [Unterstreichung original]. 25 Vgl. den Beitrag von Jürgen Schläder zu diesem Band. 26 An der Pariser Opéra sang Sass u. a. 1861 die Elisabeth in der Skandal-Aufführung von Wagners „Tannhäuser“ und 1867 die Elisabeth de Valois in der Uraufführung von Verdis „Don Carlos“. Zu ihren Meyerbeer-Partien gehören Alice und Valentine. Vgl. Ronald Crichton / Elizabeth Forbes: Art. Sasse [Sax, Saxe, Sass], Marie [Constance], in: The new Grove book of opera singers, hrsg. von Laura Macy, Oxford 2008, S. 426. Zu Battus Repertoire gehörten Oscar in Verdis Un ballo in maschera, Gilda in dessen Rigoletto sowie die Marguerite in Meyerbeers „Les huguenots“. Vgl. Elizabeth Forbes: Art. Battu, Marie, in: ebd., S. 31f. 27 Giacomo Meyerbeer: „L’Africaine“. Opéra en cinq actes, Partition chant et piano, Paris 1865, o. S. [http://javanese.imslp.info/files/ imglnks/usimg/1/16/IMSLP72180-PMLP144691-Meyerbeer_-_ LAfricaine_VS1.pdf]. 28 Vgl. Sabine Henze-Döhring: „Le Prophète“ in der Meyerbeer-­ Briefausgabe, oder: Wie Meyerbeer vom Ideendrama zur Gesangsoper strebt, in: Musiktheater im Fokus, hrsg. von Sieghart Döhring und Stefanie Rauch, Sinzig 2014, S. 151 – 162. 29 Meyerbeer: „L’Africaine“. Partition chant et piano, o.S. 30 Zum Ténor léger vgl. Thomas Seedorf: Ténor léger, in: Lexikon der Gesangsstimme. 31 Vgl. Louis-Marie Quicherat: Adolphe Nourrit. Sa vie, son talent, son caractère, sa correspondance, 3 Bde., Paris 1867. 32 Zu den Stimmregister vgl. die Artikel zu „Register“, „Bruststimme, „Modalstimme“ und „Falsett“ von Matthias Echternach in: Lexikon 93 der Gesangsstimme.


33 Vgl. Dictionnaire de la musique en France au XIXe siècle, hrsg. von Joël-Marie Fauquet, Paris 2003, S. 1292. 34 Vgl. Giorgio Appolonia: Gilbert-Louis Duprez, in: Donizetti Society Journal 7 [2002], S. 529 – 569. 35 Vgl. Marco Beghelli: Il „do di petto“. Dissacrazione di un mito, in: Il Saggiatore musicale 3 [1996], S. 105 – 149. 36 Vgl. Marco Beghelli: Duprez, Gilbert-Louis, in: MGG2, Personenteil, Bd. 5 [2001], Sp. 1654 – 1657. 37 Anonym: Characteristics of Duprez, in: The Musical World 13 [1840], S. 66f. 38 Vgl. Thomas Seedorf: Heldentenor und Tenore di forza, in: Verdi und Wagner. Kulturen der Oper, hrsg. von Arnold Jacobshagen, Köln / Weimar / Wien 2014, S. 295 – 305. 39 Vgl. Olivier Bara: Levasseur, Nicolas-Prosper, in: MGG2, Personenteil, Bd. 11 [2004], Sp. 27f. 40 Vgl. Thomas Seedorf: Art. Basse-taille, in: Lexikon der Gesangsstimme. 41 Vgl. Manuel García fils: Traité complet de l’art du chant, Paris 1847, 1. Teil, S. 22. 42 Für Ronconi schrieb Verdi die Titelpartie in „Nabucco“, für Varesi die Hauptrollen in Macbeth und Rigoletto. Zur Entwicklungs­ geschichte des Baritons vgl. Marco Beghelli: Sulle tracce del baritono, in: Tra le note. Studi di lessicologia musicale, hrsg. von Fiamma Nicolodi und Paolo Trovato, Fiesole 1996, S. 57 – 91. 43 Vgl. Meyerbeers Tagebuch-Einträge vom 26, 27. und 29. April 1854, in: Giacomo Meyerbeer: Briefwechsel und Tagebücher, Bd. 6: 1853 – 1855, hrsg. und kommentiert von Sabine Henze-Döhring, Berlin / New York 2002, S. 297f., sowie Meyerbeers Brief an Franz Dingelstedt vom 5. Januar 1856: „Die Rolle des Czar Peter welche ich ursprünglich für einen Bass schrieb, habe ich für Faure [den 2ten Darsteller dieser Rolle in Paris] in etwas höhere Stimmlage arrangirt.“ In: Giacomo Meyerbeer: Briefwechsel und Tagebücher, Bd. 7: 1856 – 1859, hrsg. und kommentiert von Sabine Henze-Döhring, Berlin / New York 2004, S. 5. 44 Vgl. „Nota pour MM. Les Directeurs de théâtre concernant la distribution des rôles par emploi“, in: Giacomo Meyerbeer: „Le Pardon de Ploërmel“, Partitur, Paris 1859 [?], Faksimile New York 1981 [Early romantic opera 23], o. S. 45 Vgl. Olivier Bara: Martin, [Nicolas-]Jean-Blaise, in: MGG2, Personenteil, Bd. 11 [2004], Sp. 1175f. 46 Richard Wagner: „Oper und Drama“, hrsg. von Klaus Kropfinger, Stuttgart 2000, S. 28. 47 Zum Begriff „Societät“ vgl. Heinrich W. Schwab: Sangbarkeit, Popularität und Kunstlied. Studien zu Lied und Liedästhetik der mittleren Goethezeit. 1770 – 1814, Regensburg 1965 [Studien zur Musikgeschichte des 19. Jahrhunderts 3], Kap. 2b]: Die Notwendigkeit einer „Societät“ zwischen Dichter und Komponist und die typischen Formen ihres Zusammenwirkens, S. 42 – 50. 48 Ein früher Beleg für diese von Meyerbeer oft gebrauchte Wendung findet sich in seinem Brief an den Grafen Brühl vom 16. Juni 1828, in: Meyerbeer: Briefwechsel und Tagebücher, Bd. 2, S. 69. 49 Vgl. Henze-Döhring / Döhring: Giacomo Meyerbeer, S. 34 – 36. 50 Vgl. den Brief Meyerbeers an Gouin vom 10. Februar 1841: „Duprez a un rôle d’une immense importance or tous les journeaux disent que Duprez baisse de jour en jour, & qu’il ne peut plus aborder de si grands rôles comme autrefois.“ Meyerbeer: Briefwechsel und Tagebücher, Bd. 3, S. 327. 51 Vgl. Alan Armstrong: Gilbert-Louis Duprez and Gustave Roger in the composition of Meyerbeer’s „Le Prophète“, in: Cambridge Opera Journal 8 [1996], S. 147 – 165; Melanie Stier: Pauline Viardot Garcia und die Oper „Le Prophète“ von Giacomo Meyerbeer, in: Musikgeschichten – Vermittlungsformen. Festschrift Beatrix Borchard zum 60. Geburtstag, hrsg. von Martina Bick, Julia Heimerdinger und Krista Warnke, Köln / Weimar / Wien 2010 [Musik – Kultur – Gender 9], S. 107 – 117. 52 Vgl. Henze-Döhring / Döhring: Giacomo Meyerbeer, S. 195. 53 Brief Meyerbeers an Louis Brandus vom 3. August 1863, in: Meyerbeer: Briefwechsel und Tagebücher, Bd. 8, S. 516. 54 Tagebucheintragung vom 24. August 1863, in: Meyerbeer: Briefwechsel und Tagebücher, Bd. 8, S. 525; zu Naudin vgl. Piero Faustin: Naudin, Emilio Clodoraldo, in: Dizionario biografico degli Italiani, hrsg. vom Istituto della Enciclopedia Italiana, Bd. 78, Rom 2013, S. 20 – 22.

55 Vgl. Henze-Döhring / Döhring: Giacomo Meyerbeer, S. 216. 56 Tagebucheintrag vom 28. März 1849, in: Meyerbeer: Briefwechsel und Tagebücher, Bd. 4, S. 480. 57 Im Klavierauszug von „Les huguenots“ von Brandus & Cie, Paris [ca. 1860] finden sich viele solcher Kürzungsvermerke, stets mit dem Hinweis „À l’Opéra de Paris, on passe d’ici au …“. [http:// imslp.org/wiki/Les_Huguenots_%28Meyerbeer,_Giacomo%29] 58 Zu Wagner vgl. Thomas Seedorf: Punktierungen – Trans­ positionen – Retuschen – Striche. Richard Wagners aufführungs­ praktischer Pragmatismus, in: Macht Ohnmacht Zufall. Aufführung­spraxis, Interpretation und Rezeption im Musiktheater des 19. Jahrhunderts und der Gegenwart, hrsg. von Christa Brüstle, Clemens Risi und Stephanie Schwarz, Berlin 2011 [Recherchen 87], S. 94 – 107; zu Verdi vgl. Uwe Schweikert: ‚Das ewige Dreieck’ – Sängerhierarchie, Werkbegriff, Gesangsästhetik, Stimmtypologie, Personenkonstellationen und Rollencharaktere, in: Verdi Handbuch, 2., überarb. und erw. Auflage, hrsg. von Anselm Gerhard und Uwe Schweikert, Stuttgart 2013, S. 140 – 164, sowie Thomas Seedorf: Sängerinnen und Sänger, ebd., S. 618 – 622. 59 Brief vom 5. Januar 1856, in: Meyerbeer: Briefwechsel und Tagebücher, Bd. 7, S. 5. 60 Zwei repräsentative Beispiele: „Ich habe dem Intendanten Hofrath Kistner in München zur Zeit aus Berlin zwei Briefe geschrieben worin ich ihm alle die zweckmäßigsten Verkürzungen scenische Arrangements der ‚Hugenotten’ und dergleichen wichtige […] Dinge angegeben habe […].“ Brief Meyerbeers an seine Frau Minna vom 16. Juli 1838, in: Meyerbeer: Briefwechsel und Tagebücher, Bd. 3, S. 148. „[…] angefangen an den Kürzungen der Hugenotten für das Teatro della Fenice zu arbeiten.“ Tagebucheintrag April 1859, in: Meyerbeer: Briefwechsel und Tagebücher, Bd. 7, S. 45. 61 Brief Meyerbeers an Carl Kaskel vom 17. Februar 1855, in: Meyerbeer: Briefwechsel und Tagebücher, Bd. 6, S. 482. 62 Vgl. den Beitrag von Jürgen Maehder in diesem Band. 63 Tagebucheintragung vom 30. Dezember 1848, in: Meyerbeer: Briefwechsel und Tagebücher, Bd. 4, S. 465. 64 Tagebucheintragung vom 2. März 1849: „Zu Madame Viardot wegen einer kleinen Instrumentationsveränderung, die sie wünscht […].“ Ebd., S. 478. 65 Brief vom 15. März 1838, in: Meyerbeer: Briefwechsel und Tagebücher, Bd. 3, S. 101. 66 Brief Meyerbeers an seine Mutter Amalia Beer vom 18. Dezember 1832, in: Meyerbeer: Briefwechsel und Tagebücher, Bd. 2, S. 248. 67 Dem Dresdner Freund Carl Kaskel teilte Meyerbeer am 10. Juni 1849, wenige Wochen nach der Pariser Uraufführung von „Le Prophète“ mit, er wünsche sich, „daß die ersten 5 oder 6 Theater die die Oper geben werden, gerade solche sind wo man die Oper gut besetzen kann. Nachher dann freilich muß der ‚Prophet‘ wie dies mit jeder andern seiner Opern geschehen ist, sich alle die Theater und alle die Besetzungen gefallen lassen die der Zufall mit sich bringt.“ Meyerbeer: Briefwechsel und Tagebücher, Bd. 4, S. 502. 68 „Le rôle de Fidès ne demande que l’entendue d’un mezzo-soprano. Toutes les fois que, pour faire valoir l’entendue exceptionelle de Madame Viardot, le chant monte ou descend au-dessus ou au-dessous du diapason du mezzo-sopran, on trouvera indiqué par des petites notes la manière d’eviter cette extensions.“ Meyerbeer: „Le Prophète“, Partitur. 69 Vgl. Rebecca Grotjahn: Sonntag, […] Henriette, in: MGG2, Personenteil, Bd. 15 [2006], Sp. 1060f. 70 Brief Meyerbeers vom 7. März 1852, in: Meyerbeer: Briefwechsel und Tagebücher, Bd. 5, S. 552. Bei der genannten Arie handelt es sich um „En vain j’ espère“. 71 Vgl. Philip Gossett: Divas and scholars. Performing Italian opera, Chicago 2006, Kap. 10: Higher and lower: Transposing Bellini and Donizetti, S. 332 – 363. 72 Brief vom 4. November 1854, in: Meyerbeer: Briefwechsel und Tagebücher, Bd. 6, S. 412. 73 Vgl. Anm. 66. 74 Vgl. Thomas Seedorf: Gesang der Leidenschaften – Bellinis romantischer Belcanto, in: Programmheft zur Neuinszenierung von Vincenzo Bellinis Die Nachtwandlerin / La sonnambula, Oper


Stuttgart 2012, S. 12 – 17; Clemens Risi: „Le grand cri“ – Überschreitungen des Belcanto im Dienste des musikalischen Dramas des Primo Ottocento, in: Belliniana et alia musicologica. Festschrift für Friedrich Lippmann zum 70. Geburtstag, hrsg. von Daniel Brandenburg und Thomas Lindner [Primo Ottocento. Studien zur italienischen Musiktheater des frühen 19. Jahrhunderts 3], Wien 2004, S. 235 – 255. 75 Manuel García fils: Traité complet de l’art du chant, Paris 1847, 2. Teil, S. 52 [Übersetzung: T. S.]; vgl. auch Peter Berne: Belcanto. Historische Aufführungspraxis in der italienischen Oper von Rossini bis Verdi. Ein praktisches Lehrbuch für Sänger, Dirigenten und Korrepetitoren, Worms 2008, S. 125 – 131.



O H N E „ L E P R O P H È T E “ K E I N „ R I N G “? D e r E i nf l u s s M e y e r b e e r s a u f Wa g n e r s M u s i kd r a m e n

Mat thias Brzoska

Der Einfluss Meyerbeers auf Wagner lässt sich biographisch in drei Phasen darstellen. In der ersten Phase, deren biographische Zeugnisse vom ersten Brief Wagners an Meyerbeer vom 4. 2. 1837 bis zum letzten der Pariser Briefe von Ende 1841 reichen, ist Wagner begeisterter und kritikloser Schüler des von ihm „innig verehrten Meisters“, der ihn seinerseits nach Kräften fördert und der ihm letztlich auch erfolgreich eine Karriere am Dresdner Hof verschafft. Diese Phase der direkten Abhängigkeit Wagners von Meyerbeerschen Modellen ist insbesondere in „Rienzi“ und dem „Fliegenden Holländer“ greifbar, die auch beide für Paris geschrieben worden sind. In der zweiten Phase, die sich dokumentarisch von der ersten Meyerbeer-kritischen Äußerung Wagners in einem Brief an Robert Schumann vom 5. 1. 1842 bis zum „Propheten-Erlebnis“ von 1850 erstreckt, ist Wagners Verhältnis zu Meyerbeer ambivalent. Zwar wendet er sich weiterhin immer wieder mit Bitten um Unterstützung an Meyerbeer und wird auch nach wie vor von Meyerbeer gefördert, aber er äußert sich nun Dritten gegenüber immer häufiger kritisch über Meyerbeer. Als Komponist versucht er, dem Modell der Grand Opéra nunmehr eine deutschnationale Konzeption entgegenzuhalten, die vor allem in „Tannhäuser“ und „Lohengrin“ greifbar wird. Die dritte Phase beginnt mit Wagners zweitem Paris-Aufenthalt, aufgrund seiner Verstrickung in die Dresdner Aufstände von 1848 nunmehr als steckbrieflich gesuchter Exilant. Er hat zunächst erneut vor, Opern für Paris zu schreiben und beschäftigt sich mit verschiedenen Sujets, die ihm geeignet erscheinen, darunter auch „Siegfrieds Tod“. In diese Phase fällt jedoch auch das Erlebnis der Aufführung von Meyerbeers neuer Oper „Le Prophète“ im Februar 1850. Es löste offenbar eine künstlerische Krise aus, die in den Briefen vom 24. 2. und 13. 3. 1850 an Theodor Uhlig greifbar wird. Diese Krise führte nun sehr schnell zur offenen Abwendung Wagners von Meyerbeer, die in dem gegen Meyerbeer gerichteten Pamphlet über „Das Judenthum 1

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in der Musik“ vom August 1850 gipfelt. Auf der Ebene der Werke entspricht dem die Neukonzeption der Siegfried-Oper und ihrer Ausfaltung zur Tetralogie, die kunsttheoretisch wiederum in verschiedenen Reformschriften Wagners ihren Niederschlag findet. Daß „Rienzi“ unmittelbar auf Modellen der Grand ­O péra ­beruht, erweist sich bereits am Libretto: 1. handelt es sich um eine präzise in das Jahr 1313 datierte historische Aktion, deren Held Cola di Rienzi, ein römischer Tribun aus der Zeit des Schismas, gattungstypisch als Vater der letzten römischen Republik idealisiert wird. 2. ist der Konflikt aus der Konfrontation zweier Volksgruppen, der Plebejer und der Patrizier, heraus entwickelt, wie zuvor etwa der Konflikt zwischen Katholiken und Protestanten in Meyerbeers „Huguenots“. 3. adoptiert das Libretto die Sichtweise des „juste milieu“, die für die scribesche Dramaturgie typisch ist. Wie schon in der „Muette de Portici“ von Auber oder in den „Huguenots“ von Meyerbeer, ist das revoltierende Volk als blutrünstige und leicht manipulierbare Masse gezeichnet. Rienzi wird selbst Opfer der Revolution, wie schon vor ihm Masaniello in der „Muette“ oder die Protagonisten der „Huguenots“. In all diesen Libretti manifestiert sich trotz ihrer prorepublikanischen Tendenz eine antirevolutionäre Haltung. 4. Wie in zahllosen Libretti der Zeit, u. a. den „Huguenots“, ist die Liebesgeschichte kreuzweise zwischen den Konfliktparteien angelegt: Adriano Colonna, Sohn eines Patriziers, liebt Irene, die Schwester des Volkstribuns. 5. ist Adriano deshalb ein „schwankender Held“ wie schon Arnold in „Guillaume Tell“ und Raoul in den „Huguenots“. Hin- und hergerissen zwischen den Volksgruppen, zwischen Liebe und Herkunft, kommt er nicht zur Aktion. Im dritten Akt hat er eine „scène à faire“ im Sinne der scribeschen Dramaturgie der „pièce bien faite“ : Er müsste die Entscheidung fällen, entweder auf der Seite seines Vaters zu kämpfen oder zu Rienzi überzulaufen, stattdessen tut er gar nichts, da er von Irene zurückgehalten wird. Die Szene erinnert an das Grand Duo im vierten Akt der „Huguenots“, in dem Raoul von Valentine zurückgehalten wird, bevor er dann – zu spät – in den Kampf eingreift. 6. Wagner integriert wie Meyerbeer religiöse Couleur in seine Oper. Wie in Meyerbeers „Robert le diable“ erfolgt der entscheidende Handlungsumschwung auf der Schwelle einer Kirche durch unerwartetes Eingreifen einer religiösen Macht. Roberts Rivale kann die Schwelle der Kirche nicht überschreiten, weil er ein Phantom der Hölle ist; Rienzi kann die Schwelle nicht überschreiten, weil ihn unvermittelt die Bannbulle des Papstes trifft. In beiden Fällen resultiert daraus die 2

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finale Handlungswendung: Robert kann schließlich den Platz des ­R ivalen in der Kirche einnehmen und Rienzi wird nach dem Kirchenbann vom Volk gestürzt und geht unter. Wagners Libretto steht also ganz auf der Höhe der scribeschen Dramaturgie der Grand Opéra – dies ganz im Gegensatz etwa zu Temistocle Soleras Libretto zur gleichzeitig entstandenen Oper „Nabucco“ von Giuseppe Verdi, wie an anderer Stelle gezeigt wurde. Auch die musikalische Umsetzung folgt dem Modell der Grand Opéra. Die Handlung ist in große Tableaux gefasst, die durch das italo-französische Formenrepertoire gegliedert sind. Beispielhaft sei das erste Finale analysiert, der Moment der Befreiung Roms. Die Form ist zweisätzig. Der erste Satz ist in sich dreiteilig angelegt. (Allegro con fuoco – Andante maestoso – Allegro con fuoco). Insbesondere der zweite Teil verwendet alle Gestaltungsmittel der Grand Opéra, beispielsweise eine Orgelintroduktion und einen Doppelchor hinter der Szene, in der Laterankirche. Der zweite Satz verweist auf das Modell der Cabalettenform. Die Wiederholung mit Chorstretta wird durch einen rezitativischen Einschub motiviert, in dem eine Nebenfigur vorschlägt, Rienzi zum König der Römer zu wählen, was Rienzi ablehnt. Auch das Verfahren, weit entfernte Szenen durch Erinnerungsmotive zu verklammern, die in fremdes musikalisches Material einmontiert werden, übernimmt Wagner von Meyerbeer. So wird beispielsweise die Melodie des ersten Finales „Die Freiheit Roms sei das Gesetz“ auch in das fünfte Finale einmontiert, in dem Rienzi seinen letzten Kampf ausficht. Die Melodie ist in den Chor der fanatisierten Volksmasse „Bringt Steine her! Auf, steinigt ihn!“ einmontiert. Diese Verfahren szenisch-musikalischer Verklammerung hatte Meyerbeer bereits im „Robert“ angewandt und in den „Huguenots“ weiterentwickelt, in denen der Luther-Choral „Ein feste Burg ist unser Gott“ nicht nur mehrfach im Verlauf der Oper als musikalisches Zeichen der Protestanten erklingt, sondern darüber hinaus auch in immerwährender Beschleunigung in die Schlussszene – das Massaker der Bartholomäusnacht – einmontiert ist und somit die gesamte Szene strukturiert. In diesen Verfahren musikalischer Montage zeigt Wagner, dass er auch die avanciertesten Kompositionstechniken der Grand Opéra seiner Zeit beherrscht. Es ist daher völlig einsichtig, dass Meyerbeer von dem Werk beeindruckt war, es mehreren französischen Theatern zur Aufführung empfahl und dass er Wagner in der Folge auch finanziell unterstützte. Dass die Senta-Ballade im „Fliegenden Holländer“ bis ins Detail dem Muster der Raimbaud-Ballade aus „Robert le diable“ folgt, hat zuletzt Döhring analytisch dargestellt. Tempo (Allegro molto moderato bzw. ma 3

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non troppo bei Wagner), Taktart (6/8), Melodieduktus, Dur-Mollkontrast zwischen Couplet und Refrain (C-Dur / c-moll bei Meyerbeer, ursprünglich a-moll / C-Dur bei Wagner) sowie die instrumentatorische Steigerungsanlage bilden zu viele Gemeinsamkeiten, um noch von einer zufälligen Ähnlichkeit ausgehen zu können. Auch die dramaturgische Funktion, im Verlauf der Handlung später eine Figur durch ein Motiv aus der Ballade musikalisch zu identifizieren (bei Meyerbeer Bertram als den Teufel, bei Wagner Senta als die Erlöserin) mag Wagner von Meyerbeer übernommen haben, es handelt sich allerdings um ein Verfahren, das schon in der Opéra comique des 18. Jahrhunderts begegnet. Insgesamt gehört der „Holländer“ schon aufgrund seiner undatierbaren Legendenhandlung nicht zur Gattung der Grand Opéra; dies ganz im Gegensatz zu den beiden folgenden Werken „Tannhäuser“ und „Lohengrin“. Dass „Tannhäuser“ mit relativ marginalen Änderungen, insbesondere der Nachkomposition eines Ballett-Tableaus, in das Repertoire der Grand Opéra eingegliedert werden konnte, zeigt schon die spätere Pariser Fassung von 1861. „Lohengrin“ kann geradezu als Paradigma einer deutschen Grand Opéra gelten: 1. ist die Handlung exakt in das Jahr 932 datiert, in dem der Sachsenkönig Heinrich „der Vogler“ das innenpolitische Problem der Erbfolge Brabants lösen muss, um ein außenpolitisches Problem, nämlich Truppen gegen die Ungarn aufzustellen, lösen zu können. 2. ist der Konflikt in scribescher Manier durch ein zentrales „qui pro quo“ des Helden Lohengrin motiviert, der seine Mission nur um den Preis der Verschleierung seiner Identität erfüllen kann – ähnlich wie vor ihm bereits Bertram und nach ihm „Der Prophet“ Meyerbeers. 3. agieren die Protagonisten wie schon die des Robert als Repräsentanten metaphysischer Mächte, Lohengrin nämlich des Christentums und Ortrud der heidnischen Götterwelt. 4. ist zwischen diesen ist eine weitere Figur, Elsa, hin- und hergerissen und 5. erfolgt die Lösung des Konflikts durch eine „scène à faire“ der Protagonistin, die sich schließlich entscheidet, die verbotene Frage nach der Identität des Helden zu stellen. Einzig das Motiv der Rückverwandlung des Schwans verstößt gegen das Gattungsgesetz der „vérité“ der Grand Opéra; es stammt aus dem Repertoire der Féerie, die neben der Grand Opéra nach wie vor an der Pariser Oper gepflegt wurde. Auch musikalisch lehnt sich Wagner an das Formenrepertoire der Tableaus der Grand Opéra an. Prunk und Pomp der Staatsaktion äußern sich in großen Chortableaus, die schon im ersten Akt 2/3 der Spieldauer füllen. Dass Wagner auf eine Nummerngliederung verzichtet, ist demgegenüber nur eine äußere Neuerung, denn auch die entwickelte Grand Opéra Meyerbeers zielt unter Beibehaltung klarer musikalischer Gliederung auf Durchkomposition 6

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großer Bilder. Diese Gliederung bleibt jedoch auch im „Lohengrin“ unangetastet, vielzitierte Beispiele sind Elsas Arie „Einsam in trüben Tagen“ (1. Akt, 2. Szene), das kontemplative Ensemble „In wildem Brüten muss ich sie gewahren“ (2. Akt, 5. Szene), das Brautlied „Treulich geführt ziehet dahin“ (3. Akt, 1. Szene) und das folgende Duett (3. Akt, 2. Szene). Selbst die obligatorische Szene vor der Kirche mit Orgelmusik hinter der Szene findet im Finale des 2. Aktes ihren Platz. Wagner komponierte also bis 1848 durchaus in den Gattungsnormen der Grand Opéra meyerbeerscher Prägung. Umgekehrt setzte Meyerbeer sich als preußischer Generalmusikdirektor für Wagners Werk ein, indem er 1844 den „Fliegenden Holländer“ und 1847 „Rienzi“ in Berlin zur Aufführung brachte. Insofern ist auch völlig einsichtig, dass sich Wagner nach der gescheiterten Dresdner Revolution erneut nach Paris wandte, in der Hoffnung, dort eines seiner neuen Opernprojekte angenommen zu sehen oder wenigstens seinen „Lohengrin“ in Paris zur Uraufführung zu bringen, konnte er sich doch, anders als 1840, nunmehr mit mehreren erfolgreich uraufgeführten Partituren als jüngerer Vertreter der Grand Opéra ausweisen. Dazu hatte er drei Opernstoffe ausgearbeitet, nämlich „Siegfrieds Tod“, „Jesus von Nazareth“ und „Wieland der Schmied“. Diese Pläne verfolgte Wagner präzise bis zum 20. Februar 1850, dem Tag, an dem er Meyerbeers neue Oper „Le Prophète“ sah. Klaus Döge beschrieb dieses „Propheten-Erlebnis“ Wagners mit dem Satz: „Wohl in keinem anderen Fall der Musikgeschichte dürfte der Besuch einer Opernaufführung eine derartige Rolle gespielt und derartige Konsequenzen gezeitigt haben.“ 7

Döge hat die sieben chronologischen Schritte nachgewiesen, die 1. ausgehend von der persönlichen Begegnung der Komponisten am 4. Juni 1849 , 2. dazu führten, dass Wagner nach dem Opernbesuch sämtliche Opernpläne verwarf (Februar 1850), 3. sein antisemitisches Pamphlet „Über das Judenthum in der Musik“ verfasste (August 1850), 4. die Komposition von „Siegfrieds Tod“ begann und dann ebenfalls abbrach (August 1850), 5. die Reformschrift „Oper und Drama“ verfasste (September 1850 bis Januar 1851) 6. „Siegfrieds Tod“ zum Doppeldrama (Mai 1851) und 7. schließlich zur Tetralogie ausweitete (Oktober 1851). 8

Zwei Briefe sind in diesem Zusammenhang von Bedeutung, die oft zitiert, aber selten im Zusammenhang interpretiert werden. Beide Briefe sind an Theodor Uhlig gerichtet, einen Dresdner Freund Wagners, der kurz zuvor 101




die Dresdner Erstaufführung des „Prophète“ (30. Januar 1850) verrissen hatte und Wagner später die Stichworte für dessen antisemitische Diatribe lieferte. Im ersten Brief vom 24. Februar, vier Tage nach dem Opernbesuch abgesandt, berichtet Wagner überraschend sachlich: „Einstweilen habe ich mir den ‚Propheten‘ zum ersten Male in diesem Leben angesehen […]. Im letzten Act wurde ich leider durch einen Banquier, der ungemein laut in seiner Loge sprach, zerstreut. Sonst habe ich mich überzeugt, und zwar in der 47. Aufführung dieser Oper, daß dies Werk vor dem Publikum der Pariser großen Oper einen ganz unläugbaren, großen und dauerhaften Erfolg gewonnen hat: das Haus ist stets überfüllt und der Beifall enthusiastischer, als ich ihn sonst hier gefunden habe.“ Einen Absatz später folgt die Mitteilung, keine Oper für Paris mehr schreiben zu wollen und sogar die Distanzierung von dem bislang unaufgeführten „Lohengrin“: „vor kurzem habe ich nun in einem ausführlicheren Briefe an Frau Laussot […] meinen motivierten Entschluß gründlich ausgesprochen, daß ich unter keiner Bedingung eine Oper für Paris schreiben werde, höchstens mich verstehen würde, eine fertige, mir gleichgültig gewordene Arbeit, „Lohengrin“, zum zerpflücken und einflechten in den Ehrenkranz der großen Pariser Opernhure herzugeben.“ Im Anschluss denkt er über die Möglichkeit nach, seine letzte Opernreformschrift „Das Kunstwerk der Zukunft“ ins Französische übersetzen zu lassen und bekräftigt erneut seinen Entschluss, die Opernpläne aufzugeben: „Von den Alpen aus schreibe ich Euch noch einen deutschen Wieland fix und fertig – den wird einst das Volk verstehen – Siegfried und Achilleus , für die die Darsteller wohl noch nicht geboren sind, will ich gedruckt – schwarz auf weiß – einem glücklicheren Nachkommen vermachen.“ Im Anschluss reflektiert Wagner seine prekäre Situation als Flüchtling, unter welchen Umständen die Schweiz zu seiner Auslieferung gezwungen sein könnte und wie er dagegen vorgehen könnte. Der Brief beweist also eindeutig, dass Wagner durch das „Propheten“-Erlebnis in eine tiefe Krise geraten ist. Er hat seine Opernpläne aufgegeben, und sich sogar von dem bereits fertig gestellten „Lohengrin“ distanziert. Das gleiche formuliert der nächste Brief vom 13. März, wenn auch in Form literarisch verbrämter Übersteigerung: „In dieser Zeit sah ich denn auch zum ersten Male den ‚Propheten‘ – den Propheten der neuen Welt: ich fühlte mich glücklich und erhoben, ließ alle wühlerischen Pläne fahren, die mir so gottlos erschienen, da doch das reine, edle, hochheilig Wahre und göttlich Menschliche schon so unmittelbar und warm in der seligen Gegenwart lebt. Tadelt mich nicht um diese Meinungsänderung: wem es nur um die Sache zu thun, der hält an keinem 9

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Vorurtheile fest, sondern willig läßt er alle falschen Grundsätze fahren, sobald er einsieht, daß diese ihm nur durch persönliche Eitelkeit eingegeben waren. Kommt das Genie und wirft uns in andere Bahnen, so folgt ein Begeisterter gern überall hin, selbst wenn er sich unfähig fühlt, in diesen Bahnen etwas leisten zu können. Ich bemerke – ich werde immer Schwärmer, wenn ich an jenen Abend der Offenbarung denke: Verzeih mir!“ In der Literatur wird gestritten, ob dieser Brief ironisch zu verstehen ist. Döge versteht die Ironie Wagners als sehr doppeldeutig: „Denn es ist eine Ironie, hinter der Wagner sein Betroffensein zu verstecken versucht, und es ist ein Betroffensein, das durch Ironie sich nicht übertünchen lässt. Eine Art gebrochener Ironie also, nach außen hin unmittelbar spürbar, im Innern aber nur bis zu einem gewissen Grade hin wirksam.“ Diese Interpretation wird durch den weiteren Fortgang des Briefes gestützt, denn Wagner berichtet, dass er eine Einladung der Familie Laussot nach Bordeaux erhalten habe, und nunmehr „nüchtern“ fortfahren wolle, um „eilig zu schließen“: „Also! Meine Pariser Kunstwühlereien sind aufgegeben, seitdem ich sie für gottlos erkannt: Gott! was wird sich Fischer darüber freuen, wenn er hört, daß ich ein Mann der Ordnung geworden bin! – Alles bestärkt mich in meinem Entsagungsdrange“. Es folgt eine Beschreibung der Schwierigkeiten, auch nur eine Ouvertüre in Paris zur Aufführung zu bringen, dann weiter: „Kurz, morgen früh um 8 Uhr reise ich nach Bordeaux“, um gegen Ende nochmals auf den projektierten Wieland-Stoff zurückzukommen: „Zu meinem Wieland habe ich jetzt nur noch die Verse zu machen: sonst ist die ganze Dichtung fertig – deutsch! deutsch!“ Die beiden Briefe zeigen trotz ihrer literarischen Verbrämung, dass Wagner seine Situation im Kern absolut realistisch einschätzte. Nach dem „unläugbaren, großen und dauerhaften Erfolg“ des „Prophète“ von Meyerbeer – einem Komponisten, von dem man auf der ersten Bühne Europas seit 13 Jahren kein neues Werk gesehen hatte – war der Platz des international wichtigsten Opernkomponisten erneut für Jahrzehnte vergeben, das war absehbar. Die Alternative einer regionalen Karriere in Deutschland, die Wagner 1841 noch offenstand, musste er als steckbrieflich gesuchter Exilant ebenfalls ausschließen, denn die Idee, in den Schweizer Bergen eine WielandOper zu schreiben, die das Volk dereinst verstehen würde, war von vorneherein ein Projekt für die Schublade. Auch das hat Wagner gewusst – die angekündigte Versifizierung des Wieland-Entwurfs erfolgte nie. Aber die Poetik eines Komponisten liegt im Werk, nicht in den Schriften, und daher ist abschließend zu fragen, welche werkimmanenten Kriterien in Meyerbeers „Prophète“ Wagner denn derart überwältigt haben können, dass er den Entschluss fasste, seine „wühlerischen Pläne“ aufzugeben, und 14

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– wie sich zeigen wird – nicht nur für Paris, sondern generell keine herkömmliche Oper mehr zu schreiben. Die erste Erklärung liegt auf der Ebene der Dramaturgie. Wagner apostrophiert „Le Prophète“ als „den Propheten der Neuen Welt“. Das ist eine literarische Umschreibung der sozialutopistischen Forderungen nach dem Kunstwerk der Zukunft für eine Gesellschaft der Zukunft, die in Frankreich schon lange vor Wagner erhoben worden war. Wagner interpretiert die ideengeschichtliche Aussage des Werkes unter Auslassung des fünften Aktes, wie er selbst – wiederum literarisch verbrämt – betont, indem ihn ein Logennachbar angeblich durch lautes Reden gehindert habe, diesen Akt zu verfolgen. Ohne den fünften Akt aber, in dem Meyerbeers Held scheitert und untergeht, ist Meyerbeers Oper aber tatsächlich als Apologie eines revolutionären Volksführers interpretierbar, der eine neue utopistische Gesellschaft erschafft. Musiktheatralisch wird diese Tendenz einerseits in der Chiffre des spektakulären Sonnenaufganges (Finale 3. Akt) und in der Krönungsszene (Finale 4. Akt) umgesetzt. Die Idee, selbst ein „Kunstwerk der Zukunft“ schreiben, die Wagner kurz zuvor in seiner gleichnamigen Schrift entwickelt hatte, war unter der Prämisse einer solchen – verkürzten – Deutung des „Prophète“ daher obsolet geworden: Denn das Kunstwerk der Zukunft war bereits komponiert – von Meyerbeer. Tatsächlich war diese Deutung auch in der französischen Presse weit verbreitet, in der „Le Prophète“ als Ausdruck der in Frankreich erfolgreichen Revolution von 1848 interpretiert wurde – dies im übrigen in völliger Verkennung des Umstandes, dass der späte Zeitpunkt der Uraufführung ihre Ursache ausschließlich in Besetzungsschwierigkeiten Meyerbeers hatte. Neben dieser dramaturgischen Begründung für Wagners Krise bietet „Le Prophète“ aber auch kompositionstechnisch Neuerungen, die Wagner als Komponist erkannt haben muss. Die Grand Opéra meyerbeerscher ­P rägung tendiert zur Semantisierung mittels motivischer Verknüpfungen heterogenen Materials quer durch die gesamte Partitur. Diese ist nun im „Prophète“ sehr weit entwickelt. Wagner hat später die drei Funktionen solcher musikalischer Verknüpfungen – den Terminus Leitmotiv hat Wagner selbst vermieden – als „Ahnung, Vergegenwärtigung und Erinnerung“ beschrieben. In Jeans Traumerzählung im zweiten Akt wird u. a. die Melodie des Kinderchores, der die Krönungsszene des vierten Aktes einleitet, voraus­ zitiert; in Wagnerscher Terminologie handelt es sich also um Verknüpfung in „Ahnungsfunktion“: ein Motiv wird musikalisch exponiert und erst im späteren Verlauf der Handlung semantisiert. Umgekehrt erinnert sich Jean im vierten Akt an die Prophezeiung „Jean, tu règneras“ am Ende der Traumerzählung des zweiten Aktes. Es handelt sich hier um Verknüpfung in erinnerungsmotivischer Funktion. Die beiden Formteile sind also an formkonstituierender Stelle, nämlich am 18

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Anfang und Ende der Nummern aufeinander bezogen. Derartiges begegnet im „Prophète“ häufig, so wird beispielsweise die Pastoralarie des Jean, die im Verlauf der Oper für die Utopie eines Rückzugs ins Privatleben einsteht (No. 8), an mehreren entscheidenden Stellen der Oper zitiert, so im Moment, als Jean, von Selbstzweifeln geplagt, daran denkt, seine Mission aufzugeben (Scène No. 16 B). Auch das Verfahren kontrastierender Ableitung von Leitmotiven untereinander begegnet im „Prophète“. So ist der Pastoralsatz aus dem Trio des fünften Aktes (No. 28 B) aus einer Umkehrungsvariante der Pastoralarie des zweiten Aktes abgeleitet. In dieser Form begegnet das Pastoralmotiv dann auch in der Einleitung zur abschließenden Untergangsszene. Somit zeichnet die Geschichte der Leitmotive im Ideendiskurs der Oper die Geschichte der Protagonisten von der anfänglichen Utopie über deren Zerstörung bis zum endlichen Untergang nach, ein Verfahren, das, um wieder wagnersche Formulierungen zu benutzen, die Handlung „für das Gefühl vergegenwärtigt“. Unter der Prämisse eines periodisch gegliederten musikalischen Satzes, der sich in regelmäßiger Phrasierung der Melodien konstituiert, ist das kompositionstechnische Korrelat solcher Verknüpfung das Verfahren der Montage. Dieses Verfahren hat Meyerbeer im „Prophète“ bis ins Extrem verdichtet, etwa wenn er auf dem Höhepunkt der Krönungsszene (Finale 4. Akt) drei heterogene Schichten des musikalischen Satzes ineinander schneidet: die Stretta der Fidès, („Je n’ai plus de fils“), die Reaktionen des Volkes („Miracle, miracle“), und den Hintergrundchoral („Domine, salvum fac“), der den Ablauf des Krönungsritus vergegenwärtigt. Wollte Wagner wesentlich über diese Verfahren hinausgehen, um den musikalischen Satz vollständig zu semantisieren, so musste er die Prämisse meyerbeerschen Komponierens, die periodisch gegliederte Phrasenbildung, aufgeben. Genau dies postulierte er als Theoretiker in seiner Schrift „Oper und Drama“, in der Chronologie Döges, also im fünften Schritt seiner Reaktion auf das „‚Propheten‘-Erlebnis“: „Die zu genau unterscheidbaren, und ihren Inhalt vollkommen verwirklichenden melodischen Momenten gewordenen Hauptmotive der dramatischen Handlung bilden sich in ihrer beziehungsvollen, stets wohlbedingten – dem Reime ähnlichen – Wiederkehr zu einer einheitlichen künstlerischen Form, die sich nicht nur über engere Teile des Drama’s, sondern über das ganze Drama selbst als ein bindender Zusammenhang erstreckt, in welchem nicht nur diese melodischen Momente als gegenseitig sich verständlichend, und somit einheitlich erscheinen, sondern auch die in ihnen verkörperten Gefühlsund Erscheinungsmotive, als stärkste der Handlung und die schwächeren derselben in sich selbst schließend, als sich gegenseitig bedingende dem Wesen der Gattung nach einheitliche – dem Gefühle sich kundgeben.“ 22

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Die Erkenntnis, dass Wagners Forderung nach Vernetzung des gesamten Dramas durch Motive eine Verabsolutierung von Meyerbeers entwickelter Motivtechnik darstellt, ist nicht neu. Formuliert hat sie bereits François-Joseph Fétis in einem größeren Aufsatz, den er auf der Basis von „Oper und Drama“, den „Mitteilungen an meine Freunde“ (1851) und den bis dahin zugänglichen Partituren zwischen dem 6. 6. 1852 und dem 8. 8. 1852 in der „Revue et Gazette musicale“ publizierte: „Ce moyen consiste à caractériser chaque personnage principal par une phrase musicale qui en est comme le symbole, et qui se représente sous des combinaisons différentes toutes les fois que le personnage ainsi caractérisé rentre dans l’action, ou est seulement indiqué. Mes lecteurs ont déjà compris que cette idée est la reproduction du choral de Marcel dans ‚Les huguenots‘ et du chant des anabaptistes dans ‚Le Prophète‘. Je suppose qu’ils se représentent aussi la monotonie, le pédantisme affadissant et l’ennui qui doivent être les conséquences d’un tel moyen converti en système.“ „Dieses Mittel besteht darin, jede Hauptfigur mit einer musikalischen Phrase zu charakterisieren, die symbolhaft für sie steht, und die in verschiedenen Kombinationen immer dann erscheint, wenn die Figur in die Handlung eingreift, oder auch wenn nur von ihr gesprochen wird. Die geneigten Leser haben bereits verstanden, dass diese Idee aus dem Choral des Marcel in den ‚Hugenotten‘ und dem Gesang der Täufer im ‚Prophet‘ hervorgegangen ist. Ich gehe davon aus, dass sie auch eine Vorstellung haben von der Monotonie, der faden Pedanterie und der Langeweile, die aus einem solchen folgen müssen, wenn daraus ein System wird.“ 23

Dramaturgisches Korrelat dieser allumfassenden motivischen Vernetzung ist die Transzendierung des Dramas zum Epos, in dessen zahllosen Erzählungen Späteres „geahnt“ und Vergangenes „erinnert“ werden kann: Der Komponist wird zum Erzähler, dessen Motive die auf der Szene „vergegenwärtigte“ – Wagner benutzt den Begriff „Verwirklichung“ – Handlung deiktisch ausdeutet. Die textliche Grundvoraussetzung zu einer solchen Dramenkonzeption war die Ausweitung der Grand Opéra „Siegfrieds Tod“ zur epischen Tetralogie – nach Döge Schritte 6 und 7 in der Chronologie der Bewältigung des „‚Propheten‘-Erlebnisses“. Wie in der epischen Erzählform des zeitgenössischen Romans der allwissende Erzähler durch die Handlung leitet, so leitet im Musikdrama – der epischen Form der Oper – ein allwissendes Orchester die Aufmerksamkeit des Zuschauers auf bewusste oder unbewusste Zusammenhänge. Wagner hat die Krise, die das „‚Propheten‘-Erlebnis“ in ihm auslöste, produktiv dadurch gelöst, dass er tatsächlich keine Opern mehr schrieb, sondern Musikdramen, die sich von der Oper einerseits durch ihre epische Struktur und andererseits durch Auflösung der periodischen Symmetrie, 24

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die Wagner später verächtlich „Quadratur des Tonsatzes“ nannte, unterscheidet, um zu einer durchgängigen Semantisierung des musikalischen Materials zu kommen. Döge schreckte in seinem rein biographischen Aufsatz davor zurück, die Konsequenz zu benennen, die sich im Lichte musikdramatischer Analyse aufdrängt: „ohne Meyerbeers ‚Prophète‘ kein ‚Ring‘ und kein Musikdrama.“ Und Meyerbeer? Nichts deutet darauf hin, dass der Großmeister der Grand Opéra jemals Kenntnis von Wagners verzweifelten Abnabelungsstrategien erhalten hat. Wagners antisemitische Hetzschrift über das Judenthum in der Musik scheint er auch in der französischen Fassung, die am 13.10.1850 in der „France musicale“ erschien , nicht zur Kenntnis genommen zu haben, obgleich er hier – anders als in der deutschen Fassung – als Zielpunkt der Kritik namentlich genannt wird. Erst recht nicht scheint er den anonym publizierten Text mit Wagner in Verbindung gebracht haben. Meyerbeer, der international führende Opernkomponist der Welt, war mit dieser Position wahrlich ausgelastet, eilte von Aufführung zu Aufführung und verbrachte den Rest seiner Zeit in mondänen Badeorten, um eingebildete oder tatsächliche Krankheiten zu kurieren; er hat niemals Wagner auch nur annähernd als Rivalen wahrgenommen, was immer sich Wagner in grenzenloser Selbst­überschätzung und wachsendem Verfolgungswahn zusammenfabulierte. Stattdessen bewahrte er Wagner gegenüber zeitlebens die väterliche Solidarität eines älteren Lehrers, der zu Zeiten die Begabung des Jüngeren erkannt hatte. Als Wagner 1861 ein drittes Mal versuchte, in Paris Fuß zu fassen, diesmal mit der französischen Fassung seiner Grand Opéra „Tannhäuser“, und als dieser Versuch in einem Skandal endete, notierte Meyerbeer bedauernd in sein Tagebuch: „Eine so ungewöhnliche Art des Mißfallens eines doch jedenfalls sehr beachtenswerten und talentvollen Werkes gegenüber scheint mir ein Werk der Cabale und nicht des wirklichen Urteils zu sein und wird meiner Ansicht nach dem Werke bei den folgenden Vorstellungen sogar von Nutzen sein.“ Langfristig hat er Recht gehabt: Wagner wurde nicht nur im Bewusstsein der Franzosen der Erbe einer großen französischen Tradition, die untrennbar mit dem Namen Giacomo Meyerbeers verbunden ist. 25

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„Tolldreister Spiegel“, Meyerbeer-Karikatur von Alcide Joseph Lorentz, erschienen im „Le Charivari“ 1846

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Anmerkungen

1 Das biographische Verhältnis Wagners zu Meyerbeer ist von Marion Linhardt und Gunhild Oberzaucher-Schüller umfassend dokumentiert worden: Marion Linhardt, Mein Leben mit Meyerbeer, in G. Oberzaucher-Schüller et alii, Meyerbeer – Wagner. Eine Begegnung, Wien: Böhlau 1998; jüngst haben Sabine und Sieghart Döhring im Wagner-Kapitel ihres Buches weitere präzisierende Ergänzungen insbesondere aus den inzwischen vollständig edierten Lebensdokumenten der späten Lebensjahre Meyerbeers nachgetragen. S. Henze-Döhring und S. Döhring, Giacomo Meyerbeer. Der Meister der Grand Opéra, München: Beck 2014 2 vgl. hierzu Karin Pendle, Eugène Scribe and French Grand Opera of the Nineteenth Century [= Studies in Musicology 6] UMI, Ann Arbor, Michigan 1979 3 vgl. dazu M. Brzoska, 1842 année fatidique. Wagner et Verdi, in Rencontre internationale Richard Wagner, Arras: UPTA 2014, S. 85 – 98 4 Vgl. dazu M. Brzoska Historisches Bewußtsein und musikalische Zeitgestaltung, in: Archiv für Musikwissenschaft, 45.Jg.1988, S. 50 – 66 5 S. und S. Döhring, Oper und Musikdrama im 19. Jahrhundert, [= Handbuch der musikalischen Gattungen, Bd. 13], Laaber 1997, S. 167 6 vgl. M. Brzoska, Le Spectaculaire, le Mal inné, l’Expiation. Trois conceptions du fantastique dans le Grand Opéra, in H. Lacombe, T. Picard [Hg.], Opéra et fantastique, Rennes: Presses Universitaires 2011, S. 169 – 182 7 Klaus Döge, Wagners Prophet, in M. Brzoska / A. Jacob / N. K. Strohmann [Hg.], Giacomo Meyerbeer: „Le Prophète“. Edition, Konzeption, Rezeption. Bericht zum Internationalen wissenschaftlichen Kongress Essen 2007 [= Musikwissenschaftliche Publikationen, hg. v. H. Schneider, Bd. 33], Hildesheim: Olms 2009 S. 453 – 460 8 Die Schilderung, die Wagner von dieser Begegnung in „Mein Leben“ gibt, muss vollständig in den Bereich der Fabel verwiesen werden. Richtiger ist da schon sein Bericht in einem Brief an Minna Wagner vom 4. Juni 1849 [R. W., Sämtliche Briefe, 3. Bd., Leipzig 1975, S. 68]. Er traf Meyerbeer zufällig im Verlagshaus Brandus an, wo dieser in dieser Zeit an Korrekturen des Partiturdrucks des „Prophète“ arbeitete. Wagner fand Meyerbeer „verlegen und fade“ und vermutete völlig zu Unrecht, dass Meyerbeer wegen angeblicher Intrigen „ein böses Gewissen“ gehabt habe. Tatsächlich war Meyerbeer die Begegnung offensichtlich peinlich, aber nicht wegen irgendwelcher Intrigen, die Wagner ihm in zunehmendem Verfolgungswahn andichtete, sondern weil er nicht wusste, ob Wagner tatsächlich ein steckbrieflich gesuchter Revolutionär geworden war. Meyerbeer bat am 10. Juni seinen Dresdner Freund Carl Kaskel besorgt um nähere Informationen zu Wagners Schicksal: „Vor einigen Tagen habe ich ganz unvermuthet Richard Wagner begegnet. Ist es denn wahr, was ich in deutschen Zeitungen gelesen habe, dass derselbe nicht mehr in sächsischen Diensten ist, weil er bei dem Dresdner Aufstand sich kompromittiert hat, oder ist es bloß eine von den gewöhnlichen Zeitungsfabeln? Ich habe natürlich aus Delicatesse ihn nicht darüber befragen mögen, bitte Dich aber jedoch mir mitzutheilen ob es wahr ist oder nicht.“ [Heinz Becker, Giacomo Meyerbeer. Briefwechsel und Tagebücher, Bd. IV, Berlin 1985, S. 503] 9 NZfM, 5. 2. 1850, sowie NZfM 23. 4. und 26. 4. 1850; vgl Döge S. 455 ff. 10 R. Wagner, Sämtliche Briefe, hg. von G. Strobel und W. Wolf, Bd. 3, Leipzig 1975, S. S. 240 11 ebd. 12 ein weiteres Opernszenario 13 ebd. S.  242

14 R. Wagner, Sämtliche Briefe, hg. von G. Strobel und W. Wolf, Bd. 3, Leipzig 1975, S. 248 f. 15 Döge, a.a.O., S. 456 16 Wagner, Briefe, a.a.O. S. 249 17 ebd. S.  251 18 vgl. Brzoska, Die Idee des Gesamtkunstwerks in der Musiknovellistik der Julimonarchie, [= Thurnauer Schriften zum Musiktheater, Bd. 14], Laaber 1995 sowie Brzoska, „… eine Oper aus dem Kopf …“ Giacomo Meyerbeers Grand Opéra „Le Prophète“ [1849]. Dramatische Konzeption und edierte Werkgestalt [= Nordrhein-Westfälische Akademie der Wissenschaften und der Künste – Vorträge: Geisteswissenschaften Bd. 442], Paderborn 2014 19 vgl. Marie-Helène Coudroy, La critique parisienne des „Grands Opéras“ de Meyerbeer, Saarbrücken: Galland 1888 20 R. Wagner, „Oper und Drama“ in: Gesammelte Schriften und Dichtungen, Bd. 4, Leipzig 1888, S. 190 ff. 21 neben dieser Melodie zitiert Meyerbeer auch noch den Marche du sacre und eine Oboenphrase aus dem Exorcisme voraus; vgl. dazu Döhring, G. Meyerbeer 2014, S. 125 22 ebd. S. 202; vgl. Carl Dahlhaus, Zur Geschichte der Leitmotiv­ technik bei Wagner, in: Vom Musikdrama zur Literaturoper, München 1983, S. 93 23 François Joseph Fétis, Richard Wagner, Sa vie – Son systeme de rénovation de l’opéra – Ses oeuvres comme poète et comme musicien – Son parti en Allemagne - Appréciation de la valeur de ses idées, in: Revue et Gazette musicale, 1852, S. 211 24 vgl. R. Brinkmann, Szenische Epik. Marginalien zu Wagners Dramenkonzeption im „Ring des Nibelungen“, in C. Dahlhaus [Hg.], Richard Wagner. Werk und Wirkung, Regensburg 1971 sowie Dahlhaus, op. cit. 25 Döge, S.  460 26 Les Juifs en musique, in France musicale 13. 10. 1850 27 S. Henze-Döhring [Hg.], Giacomo Meyerbeer. Briefwechsel und Tagebücher, Bd. VIII, Berlin 2006, S. 197

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MEYERBEER UND SEINE BERLINER FREUNDE

S a b i n e H e n ze - D ö h r i n g

Meyerbeers Beziehung zu seiner Vaterstadt Berlin war schwierig: „Wie viel Schaden hat es mir schon in meinem Leben gethan gerade in dieser Stadt gebohren zu sein“, seufzte er im Mai 1832, unmittelbar vor der Berliner Erstaufführung seines „Robert le diable“. Als er 1810, im Alter von 18 Jahren, der Stadt den Rücken kehrte, gab es offenbar niemanden, den er als Freund verließ. Freundschaften schloss Giacomo erst in Darmstadt, München, Wien, in Italien und später in Paris. Eindrucksvolle Zeugen enger zwischenmenschlicher Bindungen, die er zeit seines Lebens schloss und pflegte, sind Briefe an den Dresdener Bankier Carl Kaskel oder an den Wiener Schriftsteller Ignaz Franz Castelli. In hohem Alter schenkte er Castelli sein – so Meyerbeer – „Potographie“-Porträt, verbunden mit der Bitte, „des Freundes zu gedenken, der Dich als Jüngling schon achten und lieben lernte, und Dir am Abend seines Lebens noch dieselbe treue Anhänglichkeit und Liebe bewahrt, die Du dem Jüngling einzuflößen wußtest.“ Meyerbeer – keine Frage – war freundschaftsfähig. Allerdings sollte es dauern, bis er Freundesgefühle einem Berliner entgegenzubringen oder von ihm anzunehmen fähig war. Einer von ihnen, Friedrich Wilhelm Graf von Redern (1802 – 1883), hatte eine Art Feuer- und Wasserprobe zu bestehen, ehe er Meyerbeers Vertrauen gewann. Redern, von 1828 bis 1842 Generalintendant der Königlichen Schauspiele, war überaus ehrgeizig darauf bedacht, die Hofoper voranzubringen. Daher nutzte er gleich zu Beginn seines Wirkens Meyerbeers Pariser Kontakte, um den damaligen Kultsopran María Malibran für Gastrollen in Berlin zu gewinnen. Nach dem Pariser Sensationserfolg des „Robert le diable“ war es Redern auch wichtig, die neue Oper künstlerisch anspruchsvoll, der Pariser Aufführung möglichst nahekommend in Berlin herauszubringen. Obwohl Redern Meyerbeers Wünsche – Verpflichtung der für die Wirkmacht der Oper so wichtigen Tänzerin Marie Taglioni, Ankauf originaler Bühnenbildmodelle – nahezu sklavisch 1

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Alexander Freiherr von Humboldt, Porträt von S. Friedländer, 1857

erfüllte, brachte dieser es fertig – wie Giacomos rührend bemühter Bruder Michael klagte –, „die Briefe eines Königl: Intendanten monatlang unbeantwortet“ zu lassen und mit langer Verzögerung eine Partitur zu schicken, die er „nicht einmal einer Durchsicht werth geachtet“ hatte, so dass sie von Fehlern und Verstümmelungen „wimmelt[e]“. Doch obwohl – so wiederum Michael – aus Giacomos Benehmen „Hohn und Verachtung“ sprächen, würden es seine Anhänger – der „Hof, die Direction, das Publicum“ – bis jetzt noch entschuldigen, es „wegen des früher erfahrnen Unbill“ sogar für „berechtigt“ halten. Michael trug ihm dennoch auf, „Rederns Freundschaft durch ein redliches Erfüllen deines Versprechens zu vergelten“ und schnellstmöglich zu den Proben zu kommen: „Er thut mehr als je ein Intendant für einen Autor gethan.“ Endlich in Berlin eingetroffen (31. Mai 1832), konnte Meyerbeer beeindruckt feststellen, dass ihm Redern nichts nachtrug: „Redern benimmt sich auf’s aller freundschaftlichste; aber auch nur Er: sonst die alte Kälte und das alte Mißwollen.“ Und weiter: „Der Kronprinz und Prinz Karl welche ich auf einem Souper bei Redern sah haben mich mit vieler Auszeichnung behandelt. Erstrer mich sogar eingeladen ihn ›zu besuchen‹ den Tag darauf zu besuchen. Auch da war er überaus artig und sagte mir 4

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viele schmeichelhafte Dinge. Humboldt hat sich bei dieser Gelegenheit, wie immer vortrefflich gegen mich benommen.“ Mit diesen vier Sätzen ist das Problem, um das es im Folgenden gehen wird, im Prinzip umrissen. Meyerbeers engste Berliner Freunde waren Alexander von Humboldt und Friedrich Wilhelm Graf von Redern. Das Trio einte die Nähe zum Kronprinzen und späteren König Friedrich Wilhelm IV. Für den Monarchen eine bedeutende Rolle zu spielen war den dreien wichtig, so dass sie ihm Arbeitskraft und Zeit im Sinne des Wortes „opferten“. Allerdings waren sie als Individuen – und das unterschied sie von einer Hofcharge an sich – vollkommen unabhängig: Redern als steinreicher Großgrundbesitzer und stolzer Majoratsherr, Humboldt als weltweit berühmter Wissenschaftler, Meyerbeer als Erbe eines großen Vermögens und Künstler von schon damals europäischer Reputation. Und so einte sie die gewünschte Bindung an den preußischen Hof, zugleich und darüber hinaus die Selbstgewissheit intellektueller, geistiger oder künstlerischer Eigenstellung und Überlegenheit. In ihren Rollen als Royalisten einerseits und Freigeistern mit oppositionellen Anwandlungen andererseits bewegten sie sich gespalten hin und her. So heißt es in Rederns Lebenserinnerungen über Humboldt: „In Alexander von Humboldt kamen stets der Gelehrte und der Edelmann in Conflict. Der Mann der exacten Wissenschaften wurde in’s Lager der Opposition gedrängt, während der Edelmann immer wieder den Hof aufsuchte und hier anscheinend in bester Freundschaft mit den Personen lebte, gegen die der Gelehrte Front machte.“ Beschäftigt man sich sehr eingehend mit dieser Konstellation, mit Meyerbeer und seinen Freunden im Blick auf ihr gemeinsames Wirken für den preußischen Hof, dessen Glanz auf Berlin als Stadt abstrahlen sollte, so stößt man sehr schnell an Grenzen rein biographischen Interesses. Es zeigt sich, dass mit dem vordergründig zwischenmenschlichen Thema zugleich ein Kapitel über die komplizierte Stellung des preußischen Adels nach den Befreiungskriegen aufgeschlagen wird, über das ebenfalls schwierige Zusammenwirken der gesellschaftlich heterogenen Gruppen in Berlin sowie über Richtungskämpfe in Sachen Preußischer Hofmusik. Doch zunächst zu den Protagonisten. Meyerbeer und Alexander von Humboldt (1769 – 1859) hatten 1825 in Paris Freundschaft geschlossen, wo Meyerbeer als Opernkomponist und Humboldt – subventionierter Kammerherr Friedrich Wilhelms III. – als Wissenschaftler tätig war. Humboldt wurde zwar 1827 an den Preußenhof zurückgerufen, wo er – ausgestattet mit einem üppigen Gehalt – als Berater des Königs wirkte, doch wurde er für wissenschaftliche Forschungen oder diplomatische Aufträge des Königs großzügig beurlaubt, so dass der freundschaftliche Umgang mit Meyerbeer und seiner Familie in Paris nicht litt. Humboldt erkor den 22 Jahre jüngeren Meyerbeer – nicht anders im Übrigen als den noch jüngeren Felix Mendelssohn – zu seinem Schützling und suchte ihn bei Hofe zu protegieren. Er liebte es, seinen 7

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großen Einfluss auf Friedrich Wilhelm III. geltend zu machen, um in Meyerbeers Interesse auf kurzem Dienstweg, das heißt unter Umgehung des Generalintendanten, rasch Entscheidungen zu erwirken und Fakten zu schaffen. In seiner nicht zu übersehenden Eitelkeit genoss er es, Meyerbeer seine Erfolge noch vor Eintreffen der Kabinettsorder anzuvertrauen. Manchmal war das reiner Selbstzweck. Obwohl im Falle des „Robert“ zum Beispiel feststand, dass Graf Redern das Engagement der Tänzerin Taglioni und den Erwerb der Pariser Bühnenbildmodelle begrüßte, bediente sich Meyerbeer stets Humboldts, um den König schon im Vorfeld für sich und seine Pläne zu gewinnen. Redern besaß die Großzügigkeit, darüber hinwegzusehen. Der gegenüber Meyerbeer zehn Jahre jüngere Graf Redern (1802 – 1883) war nach seiner Ausbildung zum Juristen seit 1825 Kammerherr Kronprinzessin Elisabeths und wurde – wie erwähnt – 1828 (bis 1830 interimistisch) zum Generalintendanten der Königlichen Schauspiele berufen. Rederns hochgebildete, überaus vornehme Mutter war mit Meyerbeers Mutter Amalie eng befreundet. Beide Damen pflegten das, was man damals ein „Haus“ nannte. Im Zuge des aufgeklärten Absolutismus hatten sich Adel und Bürgertum aufeinander zubewegt. Während Männer in Lesegesellschaften oder in Geselligkeitsvereinen wie dem Berliner Montagsclub über Berufs-, Religions- und Standesschranken hinweg aus Interesse an Wissenschaft, Kunst oder Konversation zueinanderfanden, gründeten die davon als Mitglieder ausgeschlossenen Frauen bekanntlich Salons. Amalie Beer zum Beispiel führte ein sehr nobles Haus, in dem Mitglieder des Hofstaats, der bedeutendsten Adelsfamilien, auswärtige Gesandte, wissenschaftliche Eliten wie die Humboldts, Bürger unterschiedlicher Berufsgruppen, darunter überwiegend Künstler, gastierende Stars wie Franz Liszt, Angelica Catalani oder Henriette Sontag verkehrten. Eine enge Freundin Rahel Varnhagen von Enses dürfte für viele gesprochen haben, als sie bekannte: „warum ich am Liebsten bey Beers bin weil man da ganß ungezwungen und Freundlich aufgenomen, wo Jüdische gutmüthige Liberalitäht im Hohen Grade Herscht, wo man alle Classen vom menschen siht, wo alles untereinander auch getriben nach belieben wird, gespielt, gesungen und gelesen.“ Der preußische Staatskanzler Karl August von Hardenberg soll in der Zeit der Verhandlung über das Edikt betreffend die bürgerlichen Verhältnisse der Juden in dem Preußischen Staate (11. März 1812) einmal die Woche bei den Beers zu Abend gegessen haben. Die dem Reformjudentum nahestehende Familie Beer dachte und handelte vaterländisch auch und gerade im Interesse Berlins. Friedrich Wilhelm III. fiel es allerdings schwer, die von Hardenberg in die Wege geleitete rechtliche Gleichstellung der Juden nach den Befreiungskriegen konsequent aufrecht zu erhalten und gesellschaftlich anzuerkennen. Amalie Beer und eine andere jüdische Dame aus Königsberg waren vom Ordenskapitel als zwei von 100 Gründungsträgerinnen des 1814 gestifteten Luisenordens für Verdienste um 10

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Wilhelm Friedrich, Graf von Redern, Kreidelithographie 1830er Jahre

die Verwundetenversorgung während der Befreiungskriege vorgeschlagen worden. Wie Rahel Varnhagens Bruder Marcus Robert mitteilt, zögerte Friedrich Wilhelm III. die Ordensverleihung an die zwei Jüdinnen mehrfach unter dem Vorwand heraus, „eine Jüdinn könne das Kreutz nicht gutwillig sondern nur ihm zu gefallen tragen, das wolle er nicht.“ Nach zwei Jahren habe der König dann selbst als „Ausweg ausgemittelt“, den beiden Jüdinnen eine Medaille am Bande des Luisenordens anstelle des originalen Ordens zu verleihen. Marcus Robert zufolge wurde bekannt, dass Amalie Beer die Verleihung der Medaille als eine Zurücksetzung ansehe; ohnehin seien die „mehrsten voller Galle, u unfähig zu glauben daß er [der König] es aus wirklicher Relligion oder Superstition nicht gern sehe wenn ein Jude das Simbol des Kristenthums trüge.“ Roberts verwunderter Kommentar: „Eine Juden frau macht sich verdient ums Vaterland Ein Christliches Ordenscapittel erwählt diese Frau zur Ordensdame Schlägt sie dem Christl. König zur bestätigung vor. Dieser zögert, wird aber am Ende durch die Erklährung des Kapittels, daß es keine würdigere Candidatin kenn gezwungen sich zu auszusprechen, u nachdem es nun heraus ist, daß er einen Anstoß darinn findet, daß eine Jüdinn das Kreutz trage, so giebt er den Orden, und nimmt eine Wendung daß man glauben muß er habe die Jüdin mit dem Kreutze verschonen wollen. Hm Hm Hm Hm!!!!“ Wenig später teilt er Rahel bestätigend 117


mit: „Die Medicinal Räthin Hirsch in Königsberg eine Jüdin die auch den band des Louisen Ordens u die Medaille bekommen: trägt ihn nicht, auch Madame Beer nur wenn es ganz unerläßlich ist.“ Als der König den Juden mit einer Kabinettsorder vom 19. Juni 1836 verbieten wollte, christliche Vornamen zu tragen, ein Befehl, der vom Staatsministerium allerdings nicht umgesetzt wurde, schrieb Meyerbeer an seine Frau: „In Berlin nehmen die Judenverfolgungen wieder ihren Gang. Eine höchst feindliche Kabinettsordre soll dieser Tage publicirt werden, worin den Juden verbothen wird christliche Vornahmen zu führen, und eine andre worin die Behörden Vorwürfe erhalten in den Rescripten den Ausdruck Israeliten zu gebrauchen. Juden kurzweg, so sind sie zu nennen. – Jeder Commentar, zu solchen niedrigen Gemeinheiten der Barbarei des Mittelalters würdig, ist unnütz. –“. Derartige persönliche Herabsetzungen oder generelle Versuche des Königs, die Judenemanzipation zu hemmen, beschädigten indes nicht Amalie Beers oder Meyerbeers Wunsch nach Nähe zum König und seiner Familie. Ein für Amalie Beer sehr wichtiges Lebensereignis, die Eröffnung eines an die Familien-Villa im Tiergarten angebauten Musiksaales – Lea Mendelssohn beschreibt enthusiasmiert die „Tribünen, Säulen, rosa stuc, weiße lévantine [seidene] Vorhänge mit goldenen Franzen“ – fand 1824 sicher nicht zufällig am Geburtstag (3. August) Friedrich Wilhelms III. statt. Wie wichtig dieses Ereignis für die gesamte Familie war, lässt sich allein daraus ersehen, dass Giacomo eigens aus diesem Anlass für eine Stippvisite erstmals nach über 14 Jahren wieder in Berlin war. Meyerbeer wiederum nahm es noch 1837 – nach den „Hugenotten“ – wichtig, anlässlich wiederum einer Berlin-Stippvisite von den Preußenprinzen mit Anhang „sehr die Cour“ gemacht zu bekommen, wobei er sich grämte, dass der König „weiter keine Notiz von meinem Aufenthalte hier“ nahm. Humboldt, den der König „geliebt“ haben soll und der ihn allabendlich in Charlottenburg oder Potsdam unterhielt, war liberal gesinnt. Er war allerdings kein Politiker, befasste sich auch nicht theoretisch mit der Judenfrage, sondern protegierte jüdische Wissenschaftler und Künstler, die er in ihrem Fortkommen ihrer jüdischen Abstammung wegen behindert sah. Zu seinem engsten privaten Umfeld gehörten die Familien Mendelssohn und Beer/Meyerbeer, in deren Häusern er ungezwungen verkehrte. Er zählte zu den wenigen dem König nahe stehenden Menschen, die ihm gegenüber „frondierende [oppositionelle] Reden“ halten konnten. Solange Friedrich Wilhelm III. regierte, war an eine Förderung von Freigeistern wie Jacob Grimm oder die Berufung von Künstlern jüdischer Abstammung in Hofämter allerdings nicht zu denken. Ein ähnliches Problem hatte Redern. Noch vor seiner Berufung zum Generalintendanten der Königlichen Schauspiele hatte er sein Amt gestärkt, das Budget aufgestockt und die Rechte des Generalmusikdirektors Gaspare Spontini beschnitten. Dennoch kam es mit 12

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dem unverträglichen Mann immer wieder zu Konflikten, so dass Redern mehrfach seinen Rücktritt anbot, ohne ihn bewilligt zu bekommen. Als er einmal Spontini zusammen mit Mendelssohn und Meyerbeer zum Diner zu Gast hatte, bemerkte Spontini gegenüber Redern nach der Tafel: „Nicht wahr, Herr Graf, Sie wollten mir eine Höflichkeit erweisen, indem Sie mich zum Abendessen einluden. Ich bin geschmeichelt. Aber warum den „ewigen Juden“ (original: le juif errant) – Meyerbeer – und den abtrünnigen Juden (original: le rénégat juif)? – Mendelssohn –, einladen? Das ist keine Gesellschaft für Spontini.“ Es konnte nicht ausbleiben, dass Redern bald alles daran setzte, Spontinis Amtsenthebung zu erreichen, um endlich der Oper ein anderes Profil zu verleihen. Doch auch er musste sich gedulden und den Thronwechsel abwarten. Kaum waren 1840 mit der Thronübernahme Friedrich Wilhelms IV. die – so Heinrich von Treitschke – „frohen Tage der Erwartung“ angebrochen, setzten sich Humboldt und Redern in Bewegung. Humboldt nahm großen Einfluss auf die Wahl der Ordensritter des neu gestifteten Ordens Pour le mérite der Friedensklasse und schrieb dem König, dass es sehr notwendig sei, bei der Wahl der Ordensträger „Meyer Beer nicht zu übergehen … Wenn Sie Felix Mendelssohn den Christen, allein ernennen, so regen Sie eine vitale Frage auf.“ Der König solle im Umgang mit Juden nicht – so Humboldt sinngemäß – aus Pietät gegenüber seinem Vater handeln: „Man wurde an ihm nicht irre, weil er zu einer anderen Zeit gebildet ward: aber Sie gehören der jezigen Welt an und das Völkerleben kann nicht gefesselt, zum Stillestehen gebannt sein. Der Keim fortschreitender Entwikkelung ist, auch auf göttlichem Geheisse, der Menschheit eingepflanzt. Die Weltgeschichte ist der blosse Ausdruk einer vorbestimmten Entwikkelung – – Meyer Beers Mutter hat in der Zeit der Noth die edelsten Auf­ opferungen für die Christen gemacht. Sie haben ja wie alle andere[n] Fürsten sehr unchristlichen Türken Orden verliehen.“ Begleitet von dieser Art Irritationen, wurden Mendelssohn und Meyerbeer am 2. Mai 1842 zu Ordensträgern ernannt. 20

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Nachdem Spontini auf hier nicht näher zu beleuchtende Weise seines Amtes als Generalmusikdirektor enthoben worden war, setzte sich Redern dafür ein, dass Meyerbeer am 11. Juni 1842 Spontinis Nachfolger wurde. Meyerbeer und seine Familie hatten seit November 1841 – nach einer Unterbrechung von über zehn Jahren – erstmals wieder ihren Wohnsitz nach Berlin, ins Hochparterre des repräsentativen Hauses Schadowstr. 14 / Ecke Unter den Linden verlegt, unweit des Unter den Linden 1 gelegenen Prachtpalais des Grafen Redern. Humboldt mischte sich in üblicher Weise – stets „vertraulich“ und einen Wimpernschlag eher als auf dem offiziellen Weg – dazwischen und teilte Meyerbeer mit, dass er den König gedrängt habe, ihm 24

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Berlin, Unter den Linden, Ausschnitt aus einem Gem채lde von Eduard G채rtner, 1853



den Titel „General-Musikdirektor“ zu verleihen, da dieser „Punkt des Titels […] von der Familie für sehr wichtig gehalten (werde), da jede Verminderung den Verdacht der religiösen Vorurtheile bei der Familie erregt.“ Dass diese Personalie kein Austausch lediglich eines Kopfes war, vielmehr künstlerisch wie kunstpolitisch Zeichen gesetzt wurden, die sich aus strategisch kluger Zusammenarbeit unseres Freundes-Trios ergaben, das sei im Folgenden an zwei Beispielen erläutert. 26

In seinem neuen Amt wurde Meyerbeer der Auftrag zuteil, aus Anlass der am 7. Dezember 1844 feierlich begangenen Wiedereröffnung des in der Nacht vom 18. zum 19. August 1843 abgebrannten Opernhauses Unter den Linden eine Festoper zu komponieren. Meyerbeer und Humboldt einigten sich darauf, die Opernhandlung aus realen und anekdotischen Ereignissen im Leben Friedrichs des Großen zusammenzustellen. Bislang unpublizierten Briefen Humboldts an Meyerbeer zufolge schlug Humboldt präzise vor, welche Anekdoten aus dem Leben Friedrichs II. berücksichtigt werden sollten – zum Beispiel der listige Fluchtplan des Bauern Georg Margner in Zindel bei Mollwitz, durch den Friedrich seinen Verfolgern entkam. Außerdem gab er ihm – versehen mit akkuraten Seitenverweisen – Heinrich Wuttkes 1841 in Leipzig erschienene Schrift „Persönliche Gefahren Friedrichs des Grossen im ersten schlesischen Kriege“. Da Humboldt ein enger Berater Johann David Erdmann Preuß’ war, der „auf Befehl des Königs“ seit 1840 an der wissenschaftlichen Herausgabe der Schriften Friedrichs des Großen arbeitete, war er mit der Thematik bestens vertraut. Humboldts Sicht auf Friedrich II. wurzelte im Denken der „Fortschrittler“ des späten 18. Jahrhundert. Der „große“ König – Friedrich der Einzige, wie man in diesen Kreisen sagte – war demnach als Förderer der Aufklärung, der Wissenschaft und Künste in europäischer Dimension unerreicht. Inspiriert durch die bekannten Anekdoten, selektiv zusammengesetzt aus spärlichen Zeitzeugenberichten, entstand das Bild des „seelenvollen“, dem Guten und Schönen zugewandten Menschen im Monarchen. Der König war demnach Repräsentant der Tugenden des Bürgers: vernunftgelenkt im Handeln, gerecht, hingebungsvoll gegenüber den Bedrängten, voller Liebe zu Tieren und zur Musik. Wenn Humboldt Meyerbeer in die Feder diktierte bzw. in seinem Briefentwurf ausführte, ein solches Porträt Friedrichs des Großen in der Festoper zeichnen zu wollen, dann knüpfte er an eine Theater- und Operntradition an, die ebenfalls seit dem späten 18. Jahrhundert in ganz Europa – Spanien, Frankreich, England und Italien zumal – verbreitet war. Auffallend ausführlich lässt Humboldt Meyerbeer schreiben: der „Befehl“, die Festoper zu komponieren, „hat mich mit Freude erfüllt; nach langer Abwesenheit vom Vaterlande giebt mir die Huld meines Königs und Herren die erste Ver­ anlassung vor dem deutschen Publikum mit einer für Deutschl[and] 27

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bestimmten Composition aufzutreten.“ Humboldt agierte geschickt, wenn er die Festoper als sinnvolle Ergänzung der königlichen Grundentscheidung pries, „das alte halb zerstöhrte Monument ganz nach dem ursprunglichen Plane des grossen Königs wieder aufbauen [zu] lassen […], so wie [er] den Ruhm des Grossen Monarchen durch die Prachtausgabe seiner Werke verherrliche […], [auch …] das grosse Operntheater dem Namen Friedrichs des Einzigen wiederum widmen wolle […].“ Meyerbeer sollte dem König schreiben: „Dieser Gedanke hat mich in der Wahl des Gegenstandes geleitet. Der grosse König muss nie unmittelbar gesehen werden, aber in der ganzen Oper muß man seine Nähe fühlen, seine Nähe als Krieger, als wohlthätiger Regent im Frieden, als Beschüzer der Wissenschaften und der Kunst.“ Schließlich hebt Humboldt Georg Margners Rettungstat in Zindel hervor, die Friedrich noch in einer Kabinettsorder von 1780 „als eine ruhmliche Handlung dankbar bezeichnet [habe].“ Als Schlussapotheose solle in allegorischen Bildern sichtbar werden, „was der große Geist noch schaffen wollte“. In der ausgeführten Oper „Ein Feldlager in Schlesien“ wird in Lebenden Bildern an dieser Stelle die Zeit Friedrichs des Großen, des Erbauers des aus Ruinen wiedererstandenen Opernhauses, als eine goldene gezeigt, als Vorgeschichte der Befreiungskriege, des siegreichen Einzugs Friedrich Wilhelms III. durch das Brandenburger Tor in eine glanzvolle Zukunft. Im Blick auf unser Freundes-Trio besonders interessant ist die Tatsache, dass niemand anders als Redern Carl Ferdinand Langhans als für den technisch anspruchsvollen Bau einzig qualifizierten Architekten durchgesetzt hatte, so dass der König ihm am Ende für „die so überaus gelungene Wiederherstellung eines der schönsten Monumente aus der Regierung des großen Königs, einer Zierde Meiner Haupt- und Residenzstadt Berlin“, zutiefst dankte. Meyerbeer hatte die Freiheit, sich den Text von Eugène Scribe in Paris professionell ausfertigen zu lassen, so dass er in Berlin lediglich übersetzt werden musste. Der König räumte seinem Generalmusikdirektor auch das Recht ein, mit der schwedischen Sopranistin Jenny Lind und mit Josef Staudigl, einem der bedeutendsten und entsprechend teuren Bassisten seiner Zeit, Verhandlungen aufzunehmen. Schließlich ließ er Meyerbeer schalten und walten, so dass auch die Idee verwirklicht werden konnte, die Premiere sinnfällig auf den 7. Dezember als den Tag der Eröffnung der Hofoper durch Friedrich den Großen zu legen. Damit durchkreuzten sie allerdings die Pläne des konservativen, in Kunstangelegenheiten inkompetenten und zudem sparsamen Ministers des königlichen Hauses Wilhelm Fürst Wittgenstein sowie des von ihm engagierten, vertraglich auf Sparkurs verpflichteten Generalintendanten Theodor von Küstner. Humboldts und Meyerbeers Strategie und kulturpolitischen Ziele waren allerdings grundlegend anders: Meyerbeer wollte für seine Vaterstadt eine Hofoper auf bestem künstlerischen Niveau, die erste Bühne Deutschlands, auf Augenhöhe mit den in Europa führenden 30

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Opernhäusern, die er aus eigener Anschauung in Paris und London kennengelernt hatte. Für Humboldt bedeutete die Festoper eine Chance, Friedrich II. in der Tradition der Spätaufklärung zu popularisieren, parallel zu Franz Kuglers 1840 im Jahr des Thronjubiläums erschienener Geschichte Friedrichs des Großen, die ebenfalls im späten 18. Jahrhundert entstandene Anekdoten über Friedrich II. als Philanthropen weit verbreitete. Meyerbeers „Feldlager in Schlesien“ war demnach eine Facette des im Zuge der Thronübernahme Friedrich Wilhelms IV. einsetzenden Bestrebens, von Friedrich II. gegründete Institutionen im Bereich von Wissenschaft und Kunst – Akademie und Oper – wieder kosmopolitisch auszurichten, ausländische und freigeistige Gelehrte und Künstler von hohem Rang für Berlin zu gewinnen, um für den Preußenhof eine zeitgemäße Neuorientierung und Qualität nach europäischen Maßstäben zu erwirken. Die von Humboldt als Berater des Königs betriebene Erweiterung des Ordens Pour le mérite mit Gründung der auch „Ausländer einbeziehende[n] Friedensklasse für die Verdienste um die Wissenschaften und Künste“ lässt sich ebenfalls mit seinen Aktivitäten für Meyerbeers Oper oder für Preuß’ Ausgabe der Schriften des „großen“ Königs in Verbindung sehen. Freund Redern war nach seinem Ausscheiden als Generalintendant der Königlichen Schauspiele ins Hausministerium gewechselt. Da der König auf ihn als „Musikgrafen“ nicht verzichten wollte, wurde er darüber hinaus zum Generalintendanten der Hofmusik berufen und war von da an unter anderem für die größeren und kleineren musikalischen Aufführungen bei Hofe zuständig. Und so kam es, dass die beiden Freunde bis zu Meyerbeers Tod aufs engste zusammenarbeiteten und umsetzen konnten, was sie sich als Musik und Konzert von Rang vorstellten. Redern war ebenso wie Meyerbeer noch von Carl Zelter in die Anfänge des Komponierens eingewiesen worden, trat wie Meyerbeer schon als Kind in die Singakademie ein und teilte mit ihm – ausgelöst durch Henriette Sontag, deren treuester Fan er zeitlebens blieb – Leidenschaft für italienischen Gesang. Als ein typisches Beispiel für ein kleineres Hofkonzert kann das vom König befohlene am 14. Juli 1846 im Potsdamer Marmorpalais gelten. Der König wollte die Wiener Sängerin Marie von Marra hören und wünschte lediglich die Mitwirkung des Berliner Tenors Eduard Mantius, begleitet von Meyerbeer am Klavier. Unter den wenigen Zuhörern befand sich Ignaz von Olfers, Generaldirektor der Königlichen Museen und extrem einflussreicher Berater des Königs in Kunstangelegenheiten. Seine Gattin Hedwig von Olfers war eine sehr angesehene Berliner Salonnière und genoss Meinungshoheit über das Berliner Kulturleben. Olfers nun beschreibt seiner Frau, von Meyerbeer herzlich grüßend, das wunderschöne Konzert – aufgeführt wurden Gesänge aus Donizettis „Lucia di Lammermoor“ und „L’elisir d’amore“, aus Glucks „Iphigénie en Tauride“, aus den „Hugenotten“, aus Bellinis „I puritani“, ferner Lieder 35

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von Wilhelm Speyer und Wilhelm Taubert –, worauf Hedwig von Olfers repliziert: „Die kleinen Hofkonzerte sind, was mir immer die größte Freude gemacht hat. König und Königin in dieser Nähe zu sehn, ist mir schon allein ein poetisches Vergnügen, denn es können viel Könige und Königinnen geboren werden, eh ein Paar erscheint, das der Liebe und Bewunderung so wert ist, als diese und der Prinz von Preußen und so manche gute und edle Gestalten in diesen prächtigen Räumen, beseelt von dem Besten, was die Kunst gerade zu bieten hat; wo man einmal aufatmet von allen unästhetischen Sorgen, die uns gewöhnliche Menschen den ganzen Tag über quälen. Ich wüßte nichts, was dem zu vergleichen wäre […]“. Hedwig von Olfers – das muss man wissen – lud einmal wöchentlich herausragende Persönlichkeiten des Berliner Kunst- und Geisteslebens ein und gab auch musikalische Soireen mit namhaften Künstlern. Versucht man vor diesem Hintergrund, ihre Begeisterung für die Hofkonzerte zu verstehen, so kann man sie – vom reinen Kunstgenuss abgesehen – nur am Stellenwert des Berliner Hofes an sich ablesen. Er gab den Eliten der Berliner Gesellschaft – Liberalen, Nationalisten und Konservativen offenbar gleichermaßen – eine kulturelle Mitte. Man wollte dem engsten Kreis des Königs angehören, ihm nahe sein, selbst dann noch, als aller Hoffnungen zerstoben waren, mit Friedrich Wilhelm IV. in ein europäisch ausgerichtetes neues Preußen mit einem modernen, zumindest zeitgemäßen Staatswesen aufzubrechen. Vor diesem Hintergrund ist es verständlich, dass Prinz Wilhelm, Meyerbeers Amtsmüdigkeit gewahr werdend, klagte: „Sollte Ihre Entlassung angenommen werden, so wird vielleicht Niemand mehr darüber trauern als ich, da ich meinen National Stolz darin setzte, Sie mit Ihrem, nur zu gerechten Europäischen Rufe, an die Spitze unserer Oper gestellt zu sehen.“ Und auch Redern, von seinem Freund Meyerbeer beim König als Vermittler bei Streitereien mit dem Generalintendanten Küstner erbeten, erklärte, obwohl des ewigen Kompetenzgerangels müde: „Sollte indeß Meyerbeer, wider Erwarten, hieraus Veranlassung nehmen, seine hiesige Stellung aufzugeben, und Ew. Königliche Majestät dies Europäische Talent in wahrem Interesse der Kunst hier erhalten wollen, so sehe ich zu seiner Zeit Allerhöchsten anderweitigen Befehlen ehrerbietigst entgegen.“ Ein ganz besonderes Ereignis während der über zwei Jahrzehnte währenden Zusammenarbeit zwischen Redern und Meyerbeer im Dienst der preußischen Hofmusik war die Ausrichtung der drei Hofkonzerte aus Anlass des Besuches Queen Victorias und Prince Alberts in Brühl, Koblenz und Burg Stolzenfels im August 1845. Der auf den 5. Juli datierte Befehl des Königs an Meyerbeer lautete, sich mit Redern zu verständigen und dann „das ohngefähre Programm zu diesen ›Festen‹ Concerten [Verbesserung v. d. Hand des Königs.] nebst einer Notiz über die etwaigen Mittel der Ausführung durch recht ausgezeichnete fremde Talente einzureichen.“ 36

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Meyerbeer reagierte sofort: Außer Arien und Duetten wolle er auch Ensemble-Stücke aufführen und benötige daher „für jede der fünf Stimmgattungen (Sopran, Alt, Tenor, Baryton und Baß) ein Representant […], der nicht nur berühmter Virtuose, sondern außerdem auch befähiget ist, deutsche Musik vorzutragen, weil von dieser Schule, Ihro Majestät die Königin von England am wenigstens Gelegenheit hatte musterhafte Ausführungen zu hören. […] Jenny Lind, Pauline Viardot Garcia, Tichaschek, Pischeck und Staudigl“ als Sängerinnen beziehungsweise Sänger sowie die „Instrumentalisten Liszt und Vieuxtemps (welcher letztere der größte jetzt lebende Violinspieler ist )“, so stellte sich Meyerbeer „ein glanzvolles Ensemble“ vor. Von dem Dresdner Tenor Josef Tichatschek, den er zu den Besten seiner Zeit zählt, erhielt er, wie aus einem unveröffentlichten Brief hervorgeht, eine Absage, da der Dresdener Hof ihn ebenfalls aus Anlass des Besuchs der englischen Majestäten nach Coburg ausgeliehen hatte. An seine Stelle trat der bereits erwähnte Berliner Tenor Mantius. Alle anderen sagten zu. Der aus 60 Subjekten bestehende Chor wurde vom Großherzoglichen Theater Darmstadt engagiert, wirkte allerdings nur bei den ersten beiden Konzerten mit. Es versteht sich, dass Humboldt es nicht lassen konnte, dem König stets eilfertig von Meyerbeers Erfolgen Zwischenmeldung zu erstatten: „Ew. Majestät werden vielleicht einen gnädigen Blik auf ein Briefchen von Madame Garcia Viardot werfen wollen, die mit enthusiastischer Dankbarkeit sich zur Disposition für den Rhein stellt. Mit derselben unermüdlichen Thätigkeit hat Meyerbeer, der mich eben hier verlässt, in Dresden gewirkt; auch von Tichatschek den der Maestro den ersten Tenor der Welt nennt, ist bereits eine Antwort gekommen.“ 41

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Wie aus flüchtigen Notizen Meyerbeers hervorgeht, legte er im ­ ereich Musiktheater den Schwerpunkt deutlich auf italienische Opern B Rossinis und Bellinis sowie auf Opéras comiques Boieldieus und Méhuls. Als Beiträge deutscher Komponisten zog er das 1. Finale aus Webers „Euryanthe“, Stücke aus Glucks „Armide“ („Jamais dans ces beaux lieux“; 4. Akt, 2. Szene), „Orphée“ (Furienszenen) und „Iphigénie en Tauride“ (1. und 2. Akt), aus seinen eigenen Opern („Huguenots“ [Duett, 3. Akt], „Ein Feldlager in Schlesien“ [Panduren-Chor und Zigeunerrunde]) und Szenen aus Fürst Anton Radziwills „Faust“ in Erwägung, ferner zwei Ausschnitte aus Opern des englischen preußischen Gesandten John Fane Earl of Westmorland. Aus einem undatierten vollständigen Entwurf der drei Konzertprogramme lässt sich sodann ersehen, dass für das erste „große“ Konzert am 13. August in Brühl als Opernausschnitte eine Romanze aus Earl Westmorlands „Il torneo“ vorgesehen war (gesungen von der Berliner Sängerin Leopoldine Tuczek, die zu einem späteren Zeitpunkt zusätzlich einbezogen wurde), die große Szene im 2. Akt aus Glucks „Orphée“ 46

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(Viardot-García), Stücke aus den „Huguenots“ und dem „Feldlager in Schlesien“ sowie das 1. Finale aus „Euryanthe“ ( Jenny Lind). Das Konzert sollte mit Meyerbeers „Festgruß zum Empfang Ihrer Majestät Victoria I. an dem Rhein“ für Solisten, Chor und Blechbläser beginnen; als italienische Musik sollten zwei sogenannte Bravourarien Linds und Viardot-Garcías, jeweils Schlagerstücke, die sie auf ihren Konzerttourneen vortrugen, erklingen und als Instrumentalstücke die „Fantaisie sur des motifs de la Norma“ und „Fantasie sur des Motifs hongrois“ von Franz Liszt. Es zeichnet sich mithin ein Konzeptwechsel ab, dessen Idee Meyerbeer am unteren Seitenrand des Entwurfs vermerkte: das Schwergewicht liege auf den ­„ illustres Morts“, der „grande école classique“, auf – so Meyerbeer –, „Gluck, Pergolese, Marcello, Mozart, Beethoven, Weber, Méhul, Schubert“. Betrachtet man nun das bislang unveröffentlichte definitive Programm, das in Meyerbeers Handschrift einem ebenfalls unveröffentlichten Brief Rederns an Meyerbeer vom 6. August aus Koblenz beigefügt ist, dann bestätigt sich, dass tatsächlich alle „Klassiker“ im Rahmen der drei Konzerte berücksichtigt wurden. In Brühl – das Konzert dauerte nach einem anstrengenden Tag von 9 Uhr bis Mitternacht – wurde die seinerzeit übliche ­Konzertdramaturgie (zwei Teile mit Pause, größere Stücke jeweils als Rahmen, kleine Werke jeweils dazwischen) gegenüber dem Entwurf noch dahingehend verändert, dass Meyerbeers Stücke aus dem „Feldlager“ „ge­ opfert“, statt dessen das Duett „Jetzt, Alter, hat es Eile!“ (Pizarro / Rocco) aus ­Beethovens „Fidelio“, gesungen von Pischek und Staudigl, eingelegt wurde. Folgt man den Hinweisen des bei dem Konzert anwesenden ­Hector Berlioz, so sang Viardot-García auf ausdrücklichen Wunsch der Königin noch Händels „Lascia ch’io pianga“ aus „Rinaldo“. 48

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Redern und Meyerbeer hatten, so wie es ihrer Strategie entsprach, nur Künstler von internationaler Reputation gewählt und – mit Ausnahme des Tenors – auch bekommen. Und selbstverständlich setzten sie die Gesangsund Instrumentalvirtuosen als das ein, was sie waren, als ungewöhnliche musikalische Intelligenz mit perfekter Technik verbindende Virtuosen: Liszt und Vieuxtemps, die ohnehin machten, was sie wollten, und eben Lind und Viardot-García mit zwei gesangstechnisch der Rossini / Donizetti-Zeit verpflichteten, extrem anspruchsvollen Paradearien. Die anderen Opernausschnitte – Deutschkenntnisse wurden, wie erwähnt, vorausgesetzt – waren hingegen Meyerbeers und Rederns konzertdramaturgischem Konzept verpflichtet, „klassische“ im Sinne von „musterhafte“ Komponisten deutscher Herkunft zu berücksichtigen. Mit Gluck, Beethoven und Weber wurden mithin Meister gewählt, die mehr als Heimatheroen waren: Künstler von europäischem Ruf, die im Falle von Beethoven und Weber zudem in besonderer Weise mit England verbunden waren. Im Rahmen des Staatsbesuchs 127


der englischen Majestäten wurde am 12. August in Bonn das Beethoven-Denkmal enthüllt, um das sich Liszt sehr verdient gemacht hatte; im Dezember 1844 hatte sich Meyerbeer bei Friedrich Wilhelm IV. dafür eingesetzt, an der Hofoper Webers „Euryanthe“ mit besten Künstlern – darunter Jenny Lind – zu dirigieren, um die Einnahmen daraus der Finanzierung eines Weber-Denkmals in Dresden zuzuführen, und zwar vor „Iphigénie en Tauride“, die der „Gluck-süchtige“ König besonders liebte. Im Februar 1845 verkündete Meyerbeer an offizieller Stelle geradezu programmatisch, seine „heilige Verpflichtung“ unter anderem darin zu sehen, „während der Monate meiner musikalischen Leitung einer deutschen Kunstanstalt […] gediegene klassische Werke zur Aufführung (zu) bringe(n)“. Unser Freundes-Trio – Humboldt war selbstverständlich ebenfalls am Rhein – sollte keine Gelegenheit bekommen, diese im damals fortschrittlichen Verständnis als Erneuerung zu sehende, künstlerisch nach internationalen Maßstäben hochrangige Musikpolitik langfristig auszuüben. Meyerbeer – ohnehin darauf aus, für Paris den „Prophète“ zu vollenden – war der Kompetenzstreitigkeiten mit seinen Gegnern – vor allem mit Küstner – überdrüssig und beantragte mit Unterstützung Humboldts schon im Juli 1845 seine Entlassung aus der Opernleitung, um lediglich für die Hofmusik im engeren Sinne zuständig zu sein. Die Entlassung wurde indes nicht gewährt, sondern lediglich ein Jahr Urlaub bewilligt. Redern war darüber extrem erbost. Wie Meyerbeers Gattin Minna mitteilt, soll er ihr gesagt haben: „wenn man nicht durch Besitzthum an das Königthum gebunden wäre, müßte man diesem Mailech (Elimelek = Gottkönig) ich weiß nicht was. Morgen […] mache ich meine demarchen (Erklärungen), aus der Schmiere heraus zu kommen, Gesandter, Oberpräsident, die Gesandtschaft in Wien hat Craim, ich gehe auch nach Paris“. Und auch Humboldt verlor die Kontenance, sobald der Name Küstner fiel. Über den nun einsetzenden Nervenkrieg zwischen den Parteien zu berichten, würde zu weit führen, nur so viel: Am 6. April 1846 teilte Küstner dem König wahrheitswidrig mit, Meyerbeer besuche die berüchtigten Häuser der Frauen Meudtner und Liphard unter Küstners Namen. Nachdem feststand, dass eine personelle Neuordnung aus finanziellen Gründen nicht zu realisieren war und Küstner, obwohl in der königlichen Familie sehr unbeliebt, blieb, bat Meyerbeer den König nochmals um seine Entpflichtung von der Leitung der Oper. Diese wurde ihm am 2. Dezember 1846 endlich gewährt. Die wohl klügste, ebenfalls unveröffentlichte Bemerkung zu diesem vertrackten Beziehungsgeflecht stammt allerdings von einer Frau, Alwine Frommann, Vorleserin Prinzessin Augustas, die Meyerbeer in der angespannten Hochphase des Verfahrens schrieb: „seit mir wieder heute Mittag der Gedanke Ihres Weggehens als möglich vor die Seele getreten war mir alles vorbei – erscheint mir immer noch unmöglich, wie alles Unsinnige, 52

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wer mag das glauben! Ihnen wird wohl sein, aber wer an Berlin gebannt ist der kann die leider nutzlose Klage, ein Gefühl wie angethanes Unrecht was man nicht leiden mögte nicht unterdrücken! Daß ein kluger König so dumm ist! nur eine Stunde mögte ich die Frau Königin sein. Verzeihung, daß ich Ihnen vorklage, hier ist jeder mit getroffen und mitbeteiligt dem man das Edle nimmt und das Gemeine hinwirft um sich damit genügen zu lassen! Immer dankbar ergeben Alwine Frommann“. Dass Meyerbeer, Humboldt und Redern einander mehr als nützliche Bekannte waren, dass sie tatsächlich tiefe Freundschaft verband, machte sich besonders bemerkbar, als nach 1850 niemand mehr Hoffnung haben konnte, unter Friedrich Wilhelm IV. politisch wie an der Hofoper künstlerisch irgend etwas bewegen zu können. Redern und Meyerbeer gestalteten bis kurz vor Giacomos Tod auf hohem künstlerischen Niveau einträchtig die Hofkonzerte; Humboldt vertrat beim König nach wie vor auf kurzem Dienstweg Meyerbeers Interessen. Die Freunde zogen sich allerdings ­zunehmend ins Privat­leben zurück. Man lud sich ein, besuchte gemeinsam kulturelle Veranstaltungen, oder Meyerbeer begutachtete Rederns Kompositionen. Auf jeden Fall blieb man auf vertraulich freundschaftlichem Fuß. Humboldt – inzwischen hoch betagt – sah zu, dass er im stillen Kämmerlein seinen Kosmos vollendete. An Humboldts 78. Geburtstag vertraute Meyerbeer seinem Tagebuch an: „Heute ist der Geburtstag des grossen edeln, trefflichen Alexander von Humboldt, den ich wie ein höheres Wesen bewundre, wie einen Vater verehre & liebe. Ich stattete ihm meine Gratulation ab & verehrte ihm einen Baumkuchen (den er gern isst) mit einem Blumenkranz.“ Meyerbeers überaus herzliche und enge Bindung an Graf Redern wiederum lässt sich aus einem unveröffentlichten Brief an Priscilla Fane Countess of Westmorland vom 5. Januar 1857 erspüren, Gattin des erwähnten Gesandten Earl of Westmorland. Meyerbeer berichtet ihr einfühlsam das große Unglück, das ihrem gemeinsamen Freund Graf Redern („notre excellent ami commun“) und seiner Frau mit dem Tod ihrer einzigen, erst zehnjährigen Tochter widerfuhr. Der Tod der kleinen Gräfin Louise ließ niemanden unberührt, so dass – wie Meyerbeer schrieb – ganz Berlin am Verlust dieses Kindes Anteil nahm, mehr noch: „alle Prinzen & Prinzessinnen & eine große Menschenmenge aller Klassen haben in tiefer Andacht an der Trauerfeier im Palais der Rederns teilgenommen“. Da blitzte sie noch einmal auf: die Utopie einer Berliner Gesellschaft, in der alle „Klassen“ zusammenstanden. Und soll die Stimmung nach 1850 einem Berliner Chronisten zufolge auch insgesamt von „Freudlosigkeit“ geprägt gewesen sein, so lebte in den Herzen unserer Protagonisten zumindest die Gewissheit ihrer verlässlichen Freundschaft fort. 59

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Anmerkungen

1 Meyerbeer an Minna Meyerbeer am 21. Mai 1832, in: Giacomo Meyerbeer. Briefwechsel und Tagebücher, Bd. 2: 1825 – 1836, hrsg. und kommentiert von Heinz Becker, Berlin: de Gruyter 1970 [im Folgenden MBT 2], S. 192f.: 193. 2 Meyerbeer an Ignaz Franz Castelli am 4. März 1860, in: Giacomo Meyerbeer. Briefwechsel und Tagebücher, Bd. 8: 1860 – 1864, hrsg. und kommentiert von Sabine Henze-Döhring, Berlin, New York: de Gruyter 2006, S. 22. 3 Briefwechsel Meyerbeer / Redern im Februar, April und August 1831, in: MBT 2, S. 134f., 142, 147f. 4 Briefwechsel Meyerbeer / Redern am 4. und 13. Februar 1832, in: MBT 2, S. 160 – 163. 5 Michael Beer an Meyerbeer zwischen 20. und 27. April 1832, Sabine Henze-Döhring / Hans Moeller, Unveröffentlichte Briefe Michael Beers an seine Familie, in: Giacomo Meyerbeer – Musik als Welterfahrung. Heinz Becker zum 70. Geburtstag, hrsg. von Sieghart Döhring und Jürgen Schläder, München: Ricordi 1995, S. 121ff.:123. 6 Michael Beer an Meyerbeer am 11. Mai 1832, in: ebd., S. 128ff.:129. 7 Meyerbeer an Minna Meyerbeer am 6. Juni 1832, in: MBT 2, S. 196f. 8 Friedrich Wilhelm von Redern, Unter drei Königen. Lebens­ erinnerungen eines preußischen Oberstkämmerers und Generalintendanten, aufgezeichnet von Georg Horn, bearbeitet und eingeleitet von Sabine Giesbrecht, Köln etc.: Böhlau 2003 [Veröffentlichungen aus den Archiven Preußischer Kulturbesitz, Bd. 55], S. 143. 9 Humboldt hatte die Kammerherrenwürde nach seiner Rückkehr aus Südamerika in Verbindung mit einer Pension von 2500 Talern 1804 bekommen; seit 1827 erhielt er 5000 Taler. 10 Friederike Liman an Rahel Levin Varnhagen am 2. März 1816, in: Birgit Anna Bosold, Friederike Liman. Briefwechsel mit Rahel Levin Varnhagen und Karl Gustav von Brinckmann sowie Aufzeichnungen von Rahel Levin Varnhagen und Karl August Varnhagen. Eine historisch-kritische Edition mit Nachwort, Phil. DisS. Hamburg 1996 [online: http://d-nb.info/962003573/34, Stand 31.8.2014], S. 78f.:79. 11 Vgl. Deborah Hertz, Wie Juden Deutsche wurden. Die Welt jüdischer Konvertiten vom 17. bis zum 19. Jahrhundert, Frankfurt, New York: campus 2010, S. 144. 12 Marcus Robert an Rahel Levin Varnhagen am 4. Februar 1816, zitiert nach Bosold, Friederike Liman, S. 209. – Der Orden und die den beiden Jüdinnen bestimmte Sonderform desselben sind abgebildet bei Sven Kuhrau, Amalie Beer. Salondame, Wohltäterin und Patriotin. Das Programm einer individuellen Akkulturation, in: Juden Bürger Berliner. Das Gedächtnis der Familie Beer – Meyerbeer – Richter, hrsg. von Sven Kuhrau und Kurt Winkler unter Mitarbeit von Alice Uebe, Berlin: Stiftung Stadtmuseum Berlin /Henschel 2004, S. 49 – 66: 61. 13 Meyerbeer an Minna Meyerbeer am 14. August 1836, in: MBT 2, S. 542f.: 543. Es handelt sich um eine Kabinettsorder Friedrich Wilhelms III. vom 19. Juni 1836, die allerdings nicht umgesetzt wurde [vgl. Protokolle des Preußischen Staatsministeriums, Bd. 2, bearbeitet von C. Rathgeb, S. 5. [http://preussenprotokolle.bbaw.de/ bilder/Band_2.pdf, Stand: 22.07.2013]. 14 Vgl. das Unterkapitel „Ausgrenzung der Juden“ in Thomas Stamm-Kuhlmann, König in Preußens großer Zeit. Friedrich Wilhelm III. der Melancholiker auf dem Thron, Berlin: Siedler 1992, S. 548 – 551. 15 Lea Mendelssohn Bartholdy an Henriette von Pereira-Arnstein am 26. Juli 1824, in: Ewig die deine. Briefe von Lea Mendelssohn Bartholdy an Henriette von Pereira-Arnstein, hrsg. v. Wolfgang Dinglinger und Rudolf Elvers, Hannover: Wehrhahn 2010, 2 Bde., Bd. 1, S. 113f.

16 Meyerbeer an Minna Meyerbeer am 23. August 1837, in: Giacomo Meyerbeer. Briefwechsel und Tagebücher, Bd. 3: 1837 – 1845, hrsg. und kommentiert von Heinz und Gudrun Becker, Berlin: de Gruyter 1975 [im Folgenden MBT 3], S. 59f.: 59. 17 Vgl. dazu die Forschungen Peter Honigmanns in der Darstellung von Sebastian Panwitz und Ingo Schwarz, in: Alexander von Humboldt. Familie Mendelssohn. Briefwechsel, hrsg. von Sebastian Panwitz und Ingo Schwarz unter Mitarbeit von Eberhard Knobloch, Berlin: Akademie Verlag 2011 [Beiträge zur Alexander-von-Humboldt-Forschung 34], S. 27f. 18 Stamm-Kuhlmann, König in Preußens großer Zeit, S. 453. 19 Vgl. Redern, Lebenserinnerungen, S. 107ff. 20 Ebd., S. 181f. [Zitat im Original französisch]. 21 Vgl. Walter Bußmann, Zwischen Preußen und Deutschland. Friedrich Wilhelm IV. Eine Biographie, Berlin: Siedler 1990, S. 111. 22 Humboldt zitierte seinen Brief an den König in einem Brief an Johannes Schulze vom 2. Januar 1841. Der Brief wird zitiert nach: Alexander von Humboldt. Friedrich Wilhelm IV. Briefwechsel, hrsg. von Ulrike Leitner unter Mitarbeit von Eberhard Knobloch, Berlin: Akademie-Verlag 2013 [Beiträge zur Alexander-von-HumboldtForschung 39], S. 217. 23 Zu Einzelheiten vgl. Sabine Henze-Döhring / Sieghart Döhring, Giacomo Meyerbeer. Der Meister der Grand Opéra, München: C. H. Beck 2014, S. 83f. und 96ff. In Rederns Lebenserinnerungen heißt es dagegen, dass Mendelssohn und Meyerbeer auf Vorschlag des Grafen als „stimmfähige[n] Ritter dieses Ordens aufgenommen worden“ seien [Redern, Lebenserinnerungen, S. 242]. Rederns Lebenserinnerungen wurden 1882 von dem Schriftsteller Georg Horn verfasst. Bei den Humboldtschen Dokumenten handelt es sich dagegen um Primärquellen. 24 Vgl. dazu Henze-Döhring / Döhring, Giacomo Meyerbeer, S. 94f. 25 Vgl. Meyerbeers Tagebucheintrag am 5. November 1841, in: MBT 3, S. 379. 26 Zitiert nach Redern, Lebenserinnerungen, S. 234. 27 Der undatierte Brief Alexander von Humboldts an Meyerbeer ist in der Biblioteka Jagiellońska, Krakau, überliefert [Ex. Bibl. Regia Berolin, acc. 1915.121; „Ohngeachtet ich wegen der Alceste“]; dort auch ein Hinweis auf die enge Zusammenarbeit zwischen Preuss und Humboldt im Blick auf Friedrich II. 28 Vgl. dazu Georg Seiderer, „Friedrich der Einzige“. Ein Beitrag zum Verhältnis von Aufklärung und Monarchie, in: Geschichtswissenschaft und Zeiterkenntnis: Von der Aufklärung bis zur Gegenwart. Festschrift zum 65. Geburtstag von Horst Möller, hrsg. von Klaus Hildebrand, Udo Wengst und Andreas Wirsching, München: Oldenbourg 2008, S. 21 – 32. 29 Rita Unfer Lukoschik, „Fridericus Rex“ – Facetten eines modernen literarischen Mythos, in: Friedrich der Große in Europa. Geschichte einer wechselvollen Beziehung, hrsg. von Bernd Sösemann und Gregor Vogt-Spira, Stuttgart: Franz Steiner 2012, 2 Bde., Bd. 2, S. 333 – 344. Dem Feldlager in Schlesien nahe stand demnach Antonio Simeone Sografis Il legislatore al campo [Mailand 1816]. 30 Der undatierte Brief Alexander von Humboldts an Meyerbeer ist in der Biblioteka Jagiellońska, Krakau, überliefert [Ex. Bibl. Regia Berolin, acc. 1915.121; „Ew. Konigliche Majestät haben mir schon“]. „Meyerbeer hielt es allerdings für zweckmäßig, die Handlung in den Siebenjährigen Krieg zu verlegen, da zu dieser Zeit – so sein handschriftlicher Vermerk in einem frühen Textentwurf – schon sehr viel Glorreiches geschehen sei und der 3. Akt in Sanssouci spielen könne. Die von Humboldt ins Spiel gebrachte Rettungstat des Bauern Margner in Zindel bei Mollwitz ereignete sich jedoch im 1. Schlesischen Krieg, so dass sie durch die Wohltat eines anderen Untertanen ersetzt wurde, die an eine seit 1786 aus dem 2. Schlesischen Krieg verbreitete Anekdote anknüpft, der zufolge sich Friedrich auf der Flucht vor Panduren unter einer Brücke versteckte und sein Windspiel Biche sanft am Bellen hinderte, damit man Herr und Hund nicht entdecke“, Henze-Döhring / Döhring, Giacomo Meyerbeer, S. 106 [dort weitere Einzelheiten]. 31 Redern, Lebenserinnerungen, S. 260ff. 32 Vgl. Meyerbeers Tagebucheintrag am 15. Juli 1844, in: MBT 3, S. 517. Die Verpflichtung Staudigls für die Partie des Saldorf kam allerdings nicht zustande.


33 Über Humboldt erreichte Meyerbeer zum Beispiel, dass er einen fähigen Regisseur und renommierten Choreographen eigener Wahl nehmen konnte [vgl. Meyerbeer an Humboldt Anfang Oktober 1844, in: MBT 3, S. 535]. 34 Zu Wittgensteins Handeln in dieser Angelegenheit vgl. MBT 3, besonders S. 786 – 791; zu Wittgenstein vgl. Hans Branig, Fürst Wittgenstein. Ein preußischer Staatsmann der Restaurationszeit, Köln, Wien: Böhlau 1981 [Veröffentlichungen aus den Archiven Preußischer Kulturbesitz, Bd. 17], beS. S. 210ff. sowie die Gesamtwürdigung S.  221 – 230. 35 http://www.orden-pourlemerite.de/der-orden-pour-le-merite; Stand 8. 9. 2014. 36 Angaben nach Meyerbeers Tagebuch vom 14. Juli 1846, in: Giacomo Meyerbeer. Briefwechsel und Tagebücher, Bd. 4: 1846–1849, hrsg. und kommentiert von Heinz und Gudrun Becker, Berlin: de Gruyter 1985, S. 95f. 37 Hedwig von Olfers geb. von Staegemann. Erblüht in der Romantik, gereift in selbstloser Liebe. Aus Briefen zusammengestellt [von Hedwig Abeken geb. von Olfers], 2 Bde., Bd. 2, Berlin: Mittler und Sohn 1914, S. 215f. [Zitat S. 216]. 38 Prinz Wilhelm von Preußen an Meyerbeer am 19. April 1845, in: MBT 3, S. 578. 39 Redern an Friedrich Wilhelm IV. am 14. Dezember 1843, Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz, Nachlass Wittgenstein, Rep. 192, f. 66 – 67v, zitiert nach MBT 3, S. 765. 40 Friedrich Wilhelm IV. an Meyerbeer am 5. Juli 1845, in: MBT 3, S. 602. 41 Meyerbeer wandte sich an Henri Vieuxtemps, von dem er annahm, dass er sich in Baden Baden aufhalte. Das war allerdings ein Irrtum, so dass Meyerbeer ihn erst am 8. August 1845 von Köln aus in Cannstadt erreichen konnte. Vieuxtemps sollte demnach am 12. August, spätestens aber am 13. in Köln eintreffen [Meyerbeer an Henri Vieuxtemps am 8. August 1845, Staatliches Institut für Musikforschung, Preußischer Kulturbesitz, Doc. Orig. 73 [unveröffentlicht]. 42 Meyerbeer an Friedrich Wilhelm IV. am 7. Juli 1845, in: MBT 3, S. 602f.: 603. 43 Josef Tichatschek an Meyerbeer am 26. Juli 1845, Klau Library, Hebrew Union College, Jewish Institute of Religion, Cincinnati, Ohio, Kirschstein Collection 18 / 6 [unveröffentlicht]]. Tichatschek teilt mit, dass er „nicht so glücklich [sei[ eine zusagende Urlaubsbewilligung nach Stolzenfels erhalten zu können, da Se Excellenz Seiner Hoheit dem Herzog nach Coburg meine Mitwirkung bei den Empfangs Feyerlichkeiten Ihrer Majesteet [!] der Königin von England bereits zugesagt haben.“ Tichatschek bat Meyerbeer dennoch, sich für ihn zu verwenden: „Es ist also lediglich Ihre Sache für mich diesen Urlaub erwirken zu wollen, da ich mich dabey nur passiv verhalten kann, wiewohl es mir sehr große Freude machen würde, Ihrer Einladung folgen zu können.“ Die Einladung blieb erfolglos. 44 Staudigl sagte Meyerbeer mit Brief vom 18. Juli aus Aachen zu, bedankte sich für die „ehrenvolle Einladung“ und bat ihn, „mein Honorar [zu] bestimmen“ [Joseph Staudigl an Meyerber am 18. Juli 1845, Klau Library, Hebrew Union College, Jewish Institute of Religion, Cincinnati, Ohio, Kirschstein Collection 7 / 5 [unveröffentlicht]]. Im Blick auf die Zusage des Stuttgarter Baritons Johann Baptist Pischek hat sich ein Brief Meyerbeers an den Sänger vom 30. Juli 1845 erhalten [Zentral- und Landesbibliothek Berlin / Berliner Stadtbibliothek, Historische Sondersammlungen EH 3681 [unveröffentlicht]]. In diesem Brief – eine Reaktion auf Pischeks vorläufige Zusage – nennt Meyerbeer ihm das von Redern festgelegte Honorar von 600 Talern für „Ihre Mitwirkung in den drei Konzerten“ [„keiner der fremden mitwirkenden Künstler [erhalte] ein solches hohes Honorar“]. 45 Alexander v. Humboldt an Friedrich Wilhelm IV. o.O u. D. [vermutlich 16. oder 23. 7. 1845], in: Alexander von Humboldt. Friedrich Wilhelm IV. Briefwechsel, S. 309f. 46 Undatierte Einträge im Taschenkalender Januar 1845, in: MBT 3, S. 557f. [die Einträge können nicht vor Juli 1845 erfolgt sein]. 47 Der Entwurf ist überliefert in der Rheinischen Landesbibliothek Koblenz, 492 / 1 – 5. Erstmals publiziert wurde er von Josef Heinzelmann, Präludien ohne Folgen: Der Mittelrhein als

musikalische Bühne preußischer Präsenz [Spontini, Meyerbeer, Onslow], in: Jahrbuch für westdeutsche Landesgeschichte, 28: 2002, hrsg. von Heinz-Günther Borck und Wolfgang Laufer unter Mitarbeit von Jost Hausmann, Koblenz: Verlag der Landesarchivverwaltung Rheinland-Pfalz, S. 499 – 531: 523ff. – Heinzelmann geht irrtümlich davon aus, dass es sich bei diesem Entwurf um das definitive Programm handelt [siehe dazu unten Anmerkung 49]. 48 Lind sang die Arie „Il soave e ben contento“ aus Pacinis Oper „Niobe“, Viardot-García die „Air de Bériot“ genannte Arie „Prendi, per me sei libero“, die Charles de Bériot, dem Gatten ihrer verstorbenen Schwester María Malibran, zugeschrieben wurde, die dieser für eine Mailänder Aufführung von Donizettis „L’elisir d’amore“ am 27. September 1835 als Ersatz für Donizettis Arie komponiert habe. Nachforschungen Cecila Bartolis zufolge beruht diese Zuschreibung auf einem Lesefehler „M. de Beriot“ sei nicht in „Monsieur de Bériot“, vielmehr in „Maria de Bériot“ aufzulösen. Diese Lesart entspräche auch der Zuschreibung Viardot Garcías, die diese Arie ihrer Schwester 1848 in Berlin im Rahmen eines Wohltätigkeitskonzerts als „Grosse Arie von Malibran“ gesungen habe [vgl. Cecilia Bartoli, Genius, Scandal and Death: Maria – ­S inger and Diva, in: Maria Cecilia Bartoli, Booklet, hrsg. von Janina Clark, DVD, Decca 2007, S. 22 [in Übersetzungen auch S. 42, 62 u. 82]. 49 Graf Redern an Meyerbeer am 6. August 1845 aus Koblenz mit dem von Meyerbeer verfassten Programm aller drei Konzerte, Klau Library, Hebrew Union College, Jewish Institute of Religion, Cincinnati, Ohio, Kirschstein Collection 18 / 6 [unveröffentlicht]. 50 Anstelle der zwei Stücke von Liszt ist – im Blick auf die geplante Teilnahme Vieuxtemps – lediglich ein „Solo von Liszt“ und ein „Grand Duo concertant für Piano und Violin [!]“, gespielt von Liszt und Vieuxtemps, vorgesehen. In den Berichten ist von Vieuxtemps bei diesem Konzert allerdings nicht die Rede [wahrscheinlich kam er verspätet an den Rhein; vgl. Anmerkung 41]. 51 Hector Berlioz, Les Soirées de l’Orchestre, Deuxième Épilogue, http://www.hberlioz.com/Writings/SOepilogue2.htm#bonn [Zugriff 10. 9. 2014]; vgl. auch Henze-Döhring / Döhring, Giacomo Meyerbeer, S. 110. – Meyerbeer begleitete Viardot-García am Klavier. 52 Meyerbeer an Friedrich Wilhem IV. am 21. Februar 1844 und Friedrich Wilhelm IV. an Meyerbeer am 22. Dezember 1844, in: MBT 3, S. 552ff. – Zum Musikgeschmack Friedrich Wilhelms IV. vgl. Sabine Henze-Döhring, Friedrich Wilhelm IV. und die Musik, in: Friedrich Wilhelm IV. Künstler und König. Zum 200. Geburtstag. Ausstellungskatalog, hrsg. von der Generaldirektion der Stiftung Preußische Schlösser und Gärten Berlin – Brandenburg, Frankfurt/Main: H. W. Fichter-Edition 1995, S. 126 – 132. 53 Meyerbeer an einen Kabinettsrat [Carl Christian Müller?] am 13. Februar 1845 [?], in: MBT 3, S. 563ff.: 564; zur Förderung deutscher Komponisten siehe auch Meyerbeer an Friedrich Wilhelm IV. am 5. Februar 1845, in: ebd., S. 561f. 54 Vgl. Meyerbeer an Louis Gouin am 26. Juli 1845, in: MBT 3, S. 609 – 612: 610, und Friedrich Wilhelm IV. an Meyerbeer am 8. Oktober 1845, ebd., S. 625f. [Kabinettsorder]. 55 Minna Meyerbeer an Meyerbeer am 19. Oktober 1845, in: MBT 3, S. 629ff.: 630. 56 Redern, Lebenserinnerungen, S. 233 [Fußnote 845]. 57 Geheimes Staatsarchiv, Preußischer Kulturbesitz, BPH, Rep. 192 Nl Wittgenstein, W. L. G. zu, II Nr. 5, 6 – 7. 58 Vgl. Henze-Döhring / Döhring, Giacomo Meyerbeer, S. 87. 59 Alwine Fromann an Meyerbeer November / Dezember 1846 [undatiert; Rahmendatierung ermittelt], Rare Book Manuscript Library, Yale University Library, New Haven, Connecticut [unveröffentlicht]. 60 Tagebucheintrag am 14. September 1847, in: Giacomo Meyerbeer. Briefwechsel und Tagebücher, Bd. 4: 1846 – 1849, hrsg. und kommentiert von Heinz und Gudrun Becker, Berlin: de Gruyter 1985, S. 311. 61 Meyerbeer an Priscilla Fane Countess of Westmorland am 5. Januar 1857 [irrtümlich „56“], Royal Academy of Music Library, London, Special Collections [2010.419] [unveröffentlicht; mein herzlicher Dank für diese Mitteilung gilt Gunther Braam]. Der Schlüsselsatz lautet im Original: „Toute la ville a pris une bien vive part à la perte du pauvre Comte & de la Comtesse, & au service


funebre qui a eu lieu avant hier dans le palais du Comte avant la translation de la décédée à Gerlsdorff [Görlsdorf], tous les princes & et les princesses & une foule immense de toutes les classes assistait avec un réceuillement profond.“ 62 Julius Rodenberg, ein in Berlin bekannter Schriftsteller und Journalist, beschrieb die Situation nach den „Märztagen des Jahres 1848“ wie folgt: „Keine sichtbaren Spuren der Zerstörung bedeckten den Boden. Aber das Angefangene blieb liegen, und es breitete sich ein Grau darüber auS. Berlin war, was es immer gewesen; das tägliche Leben ging seinen Gang weiter. Aber es war ein Tag ohne glückliche Verheißung, ein Leben wie mit matterem Pulsschlag. Es war nicht nur das beschämende Gefühl der halben Entschlüsse, das auf Allem lastete, nicht die Demüthigung des steten ZurückweichenS. Es war schlimmer als daS. Es war die Freudlosigkeit.“ [Julius Rodenberg, Unter den Linden. Bilder aus dem Berliner Leben, Berlin: Paetel 1888 [Unter den Linden. Der „Bilder aus dem Berliner Leben“ dritte Folge: 1887 – 1888], S.  36.




D E R M E I S T G E H A S S T E KO M P O N I S T Meyerbeer und der Antisemitismus

Arnold Jacobshagen

Aus zahlreichen Gründen ist Meyerbeer weitaus stärker als andere jüdische Künstler seiner Zeit zur Zielscheibe unterschwellig oder offen antisemitisch motivierter Kritik geworden. Hierfür waren verschiedene Gründe ausschlaggebend. Im Unterschied zu den meisten anderen herausragenden deutschen Künstlern und Gelehrten jüdischer Herkunft im 19. Jahrhundert (wie beispielsweise Heinrich Heine, Felix Mendelssohn oder Karl Marx) wurde Meyerbeer nicht getauft, sondern blieb seiner Religion ein Leben lang treu. An der tiefen Religiosität Meyerbeers und seinem unabhängigen Willen zur Beibehaltung seines Glaubens kann kein Zweifel bestehen, wie aus seinen Briefen und Tagebüchern hervorgeht. Zweifellos war Neid ein Hauptmotiv des verbreiteten Hasses auf Meyerbeer, der wie kaum ein anderer das Klischee des reichen Juden verkörperte. Meyerbeer war der älteste von vier Söhnen des Fabrikanten Juda Jacob Herz Beer (1769 – 1825), der um 1815 als der reichste Mann Berlins galt. Seine Mutter Amalie Beer (1767 – 1854) war die Tochter des als ‚Crösus von Berlin’ bekannten Bankiers Liebmann Meyer Wulff. Vielen Kritikern mochte es scheinen, als sei ihm seine Karriere gewissermaßen in die Wiege gelegt worden. Aufgewachsen in einem kunstsinnigen und freigiebigen Elternhaus, das einen der bevorzugten Treffpunkte für Künstler und Gelehrte in der preußischen Hauptstadt bildete, erhielt er seit seinem siebten Lebensjahr Musikunterricht bei Franz Lauska, dem Klavierlehrer der Prinzen von Preußen, und trat elfjährig erstmals als Pianist und vermeintliches musikalisches Wunderkind an die Öffentlichkeit. Von dem bedeutenden Gelehrten Aron Wolfssohn als Privatlehrer erzogen, konnte Meyerbeer schon als Kind regelmäßig die Vorstellungen der Berliner Hofoper in der elterlichen Loge erleben und dort mit 18 Jahren sein erstes Bühnenwerk, das Divertissement „Der Fischer und das Milchmädchen“ (1810) zur Aufführung bringen – Möglichkeiten mithin, auf die zahllose andere Komponisten ihr ganzes 135


Leben lang vergeblich warteten. Wegen seines Reichtums wurde der Komponist daher auch als „Rothschild der Musik“ diffamiert. Projektionsflächen des Neides auf Meyerbeer waren nicht nur seine Herkunft und das elterliche Privatvermögen, sondern vor allem seine beispiellosen Erfolge als Opernkomponist. Meyerbeer dominierte die internationalen Opernbühnen seit den 1830er Jahren in einem Maße, wie es zuvor nur Rossini vergönnt gewesen war – ein Komponist, dessen Erfolge zumal in Deutschland vergleichbare Ressentiments ausgelöst hatten wie bei Meyerbeer. Im Unterschied zu Rossini, der bekanntlich kein Jude war und dessen musikalisches Genie seitens der Kritik auch selten wirklich infrage gestellt wurde, hat man Meyerbeers Erfolgsstreben mit Profitsucht identifiziert und angeblich „wahren“ künstlerischen Bestrebungen entgegengesetzt. Im Unterschied etwa zu Mendelssohn, dessen Schaffen vornehmlich auf dem Gebiet der Instrumentalmusik sowie des Oratoriums lag und der somit ohne weiteres als Repräsentant einer sich entwickelnden deutschen musikalischen Nationalidentität wahrgenommen werden konnte, löste Meyerbeers Kosmopolitismus und seine souveräne Synthese italienischer, französischer und deutscher musikalischer Traditionen, zumal auf dem fremden Terrain der Pariser Großen Oper, in Teilen des deutschen Publikums erhebliche Ressentiments aus. Das Paris der Julimonarchie war bekanntlich nicht nur Zentrum eines aufblühenden Finanzkapitalismus, sondern auch Zufluchtsort für emigrierte jüdische Künstler. Deutsche Juden stellten mit Abstand die größte ausländische Bevölkerungsgruppe im damaligen Paris. Meyerbeer wird in zahlreichen Kritiken als Verräter an der deutschen Kultur und speziell dem Projekt einer nationalen deutschen Oper diffamiert. In Anspielung auf die Figur des Judas, der für Geld zum Verräter geworden war, wurde Meyerbeer bereits 1835 an prominenter und nachhaltig wirkungsmächtiger Stelle, nämlich in Gustav Schillings Encyclopädie der gesammten musikalischen Wissenschaften, als „Vaterlands-Genosse“ tituliert, „der sich des scheinbaren Ruhmes erfreut hat“ und dem man „für die Nachwelt kein ehrenderes Denkmal zu setzen vermag, als die Anklage, daß er die Heimat um der Fremde willen treulos verläugnet hat.“ In der Forschung konzentriert sich das Thema Meyerbeer und der Antisemitismus aus nahe liegenden Gründen bislang vor allem auf zwei Aspekte: Zum einen auf das Verhältnis zwischen Meyerbeer und Wagner und insbesondere auf die Polemik des Letzteren über das Judentum in der Musik, und zum anderen auf die Meyerbeer-Rezeption im Nationalsozialismus. Im folgenden Beitrag möchte ich zunächst auf diese beiden Themenfelder eingehen und dabei sowohl den Forschungsstand hierzu zusammenfassen als auch einige weiterführende Überlegungen entwickeln. Im dritten Teil meines Beitrages werde ich sodann chronologisch vor Wagner zurückgehen und den Topos der jüdischen Musik in der Rezeption Meyerbeers 1

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betrachten. Die Meyerbeer-Debatte infolge der Uraufführung von „Le Prophète“, in die auch Wagners Schrift gehört, ist natürlich im Kontext der Revolution von 1848/49 zu sehen, die insgesamt eine deutliche Verschärfung antijüdischer Tendenzen mit sich brachte. In diesem Zusammenhang kann also gar nicht deutlich genug betont werden, dass es keineswegs Richard Wagner war, der dieses Thema aufbrachte. Vielmehr handelt es sich bei Wagners Schrift um einen relativ späten, allerdings besonders umfassenden und gewichtigen Beitrag zu einer bereits in größerer Breite geführten Diskussion. Als ein Nebenaspekt sei in diesem Zusammenhang darauf verwiesen, dass Wagners Schrift über das Judentum in der Musik, die oft als querständig zum Programm der Zürcher Kunstschriften wahrgenommen wird, ihre Sonderstellung innerhalb seines kunsttheoretischen Systems wohl dem Umstand verdankt, dass Wagner hier unmittelbar in eine publizistische Debatte eingreift. Vor allem mit der überarbeiteten zweiten Auflage von 1869 und der inzwischen erreichten Radikalisierung von Wagners politischem Denken haben auch der Antisemitismus und die Schrift über das Judentum ihren zentralen Platz in Wagners Ideologie gefunden. Eine terminologische Präzisierung sei der folgenden Darstellung vorangestellt. In der Forschung ist der Begriff Antisemitismus lange Zeit erst für das späte 19. und das 20. Jahrhundert verwendet worden, nicht aber für das frühe und mittlere 19. Jahrhunderts, da der Begriff selbst erst 1879 geprägt wurde – und zwar von Wilhelm Marr, einem in Hamburg wirkenden Journalisten, Anarchisten und Antisemiten. Marr hatte 1879 die Propagandaschrift „Der Weg zum Siege des Germanenthums über das ­Judenthum – Vom nichtconfessionellen Standpunkt aus betrachtet“ veröffentlicht und die sogenannte Antisemitenliga begründet. Hiermit wurde der Beginn des so genannten Rassenantisemitismus etabliert, im Unterschied zur älteren, primär religiös motivierten Judenfeindschaft, für die man daher auch den Begriff Antijudaismus verwendete. Inzwischen unterscheidet man einen weiteren und einen engeren Antisemitismusbegriff, wobei Letzterer sich auf den genannten Zeitraum beschränkt, während sich hingegen der weitere Antisemitismusbegriff als „Sammelbezeichnung für alle Formen von Judenfeindlichkeit zu allen Zeiten und an allen Orten“ sowohl im wissenschaftlichen als auch im nicht wissenschaftlichen Sprachgebrauch allgemein durchgesetzt hat. In diesem weiteren Sinne sei also auch im Folgenden von Antisemitismus gesprochen, wenn von der Meyerbeer-Rezeption im 19. Jahrhundert die Rede ist. Zunächst also zum Thema Meyerbeer und Wagner. Unter den zahlreichen Arbeiten, die sich mit diesem Thema beschäftigen, ist vor allem die von Jens Malte Fischer herausgegebene und kommentierte Edition von Wagners Schrift über Das Judenthum in der Musik hervorzuheben sowie 4

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Holzstich nach der Zeichnung von Wilhelm Scholz, veröffentlicht im „Kladderadatsch“, 1850

zahlreiche Studien von Sieghart Döhring und Sabine Henze-Döhring zu diesem Thema, zuletzt in einem zentralen Kapitel in der neuen Meyerbeer-Biografie. Jens Malte Fischer hat in seiner Einleitung die wesentlichen Argumentationslinien Wagners herausgearbeitet, die dieser in seiner 1850 in der Neuen Zeitschrift für Musik erschienenen Schrift entwickelt. Ziel des Pamphlets ist es, „die im deutschen Volk verbreitete Abneigung gegen jüdisches Wesen speziell auf dem Gebiet der Kunst und hier vor allem auf dem der Musik zu erklären“, und zwar „unter Auslassung aller religiösen und politischen Aspekte“. Einen zentralen Stellenwert in Wagners Polemik nimmt das Verhältnis der Juden zur deutschen wie zur sogenannten „jüdischen“ Sprache ein, worunter Wagner nicht etwa das Hebräische, sondern das Jiddische versteht. Die Juden seien als Fremde nicht fähig, sich die deutsche Sprache wirklich zu eigen zu machen und seien daher auch nicht in der Lage, den Geist und die Kunst wirklich zu erfassen. Daher könnten sie künstlerisch auch nur nachäffend tätig werden. Der Klang der jiddischen Sprache sei abstoßend, ihm fehle jeder rein menschliche Ausdruck. Diese Behauptung überträgt Wagner auch auf die angeblich unausstehliche Wirkung des jüdischen Gesanges. Allerdings geht Wagner hier nicht auf die deutsche Literatur von 5

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Autoren jüdischer Herkunft wie Heinrich Heine oder Ludwig Börne ein (auf beide wird jedoch am Ende der Schrift Bezug genommen). Erst im Anschluss an diese grundsätzlicheren gesellschaftlichen und kulturellen Fragen kommt Wagner auf die Kunst und Musik im engeren Sinne zu sprechen. Anders als etwa in der bildenden Kunst, so Wagner, könnten Juden in der Musik leichter reüssieren, da Sie hier entweder als reproduzierende Interpreten oder als bloß nachahmende Komponisten Erfolg haben könnten: „Die sinnliche Anschauungsgabe der Juden ist nie vermögend gewesen, bildende Künstler aus ihnen hervorgehen zu lassen: ihr Auge hat sich von je mit viel praktischeren Dingen befaßt, als da Schönheit und geistiger Gehalt der förmlichen Erscheinungswelt sind. Von einem jüdischen Architekten oder Bildhauer kennen wir in unseren Zeiten, meines Wissens, Nichts: ob neuere Maler jüdischer Abkunft in ihrer Kunst wirklich geschaffen haben, muß ich Kennern von Fach zur Beurtheilung überlassen; sehr vermuthlich dürften aber diese Künstler zur bildenden Kunst keine andere Stellung einnehmen, als diejenige der modernen jüdischen Komponisten zur Musik, zu deren genauerer Beleuchtung wir uns nun wenden.“ Wir werden noch sehen, dass sich Wagner gerade in diesem Punkt von anderen antisemitischen Kulturtheorien unterscheidet – und tatsächlich hat es im 19. Jahrhundert natürlich durchaus zahlreiche bedeutende jüdische Künstler und Architekten gegeben. Sodann kommt Wagner ausführlich auf die Musik der Synagoge zu sprechen, die er – in Anlehnung an ältere judenfeindliche Stereotypien, die sich schon im 18. Jahrhundert bei bedeutenden Musiktheoretikern wie Mattheson oder Burney finden – mit Gegurgel, Gejodel und Geplapper in Verbindung findet. Erst gegen Ende des Textes kommt Wagner auf die beiden großen Repräsentanten der Musik seiner Epoche zu sprechen, Felix Mendelssohn und natürlich Meyerbeer; nur den Ersteren nennt er beim Namen und reiht ihn immerhin ein als bedeutenden, wenngleich negativen Repräsentanten einer auf Beethoven aufbauenden historischen Entwicklung: „Die Zerflossenheit und Willkürlichkeit unseres musikalischen Styles ist durch Mendelssohn’s Bemühen, einen unklaren fast nichtigen Inhalt so interessant und geistblendend wie möglich auszusprechen, wenn nicht herbeigeführt, so doch auf die höchste Spitze gesteigert worden. Rang […] Beethoven […] nach klarstem, sicherstem Ausdrucke eines unsäglichen Inhaltes durch scharfgeschnittene plastische Gestaltung seiner Tonbilder, so verwischt dagegen Mendelssohn in seinen Produktionen diese gewonnenen Gestalten zum zerfließenden, phantastischen Schattenbilde […].“ Weitaus schärfer fällt Wagners Urteil über Meyerbeer aus, der persönlich nicht beim Namen genannt wird, aber natürlich für jeden Leser sofort erkennbar ist: „Ein weit und breit berühmter jüdischer Tonsetzer unserer Tage hat sich mit seinen Produktionen einem Theile unserer Öffentlichkeit 7

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zugewendet, in welchem die Verwirrung alles musikalischen Geschmackes von ihm weniger erst zu veranstalten, als nur noch auszubeuten war. Das Publikum unserer heutigen Operntheater ist seit längerer Zeit nach und nach gänzlich von den Anforderungen abgebracht worden, welche nicht etwa an das dramatische Kunstwerk selbst, sondern überhaupt an Werke des guten Geschmackes zu stellen sind.“ Wagner zufolge bestehe Meyerbeers Publikum nur aus „jenem Theile unserer bürgerlichen Gesellschaft, bei welchem der einzige Grund zur wechselnden Vornahme irgend welcher Beschäftigung die Langeweile“ sei. Diese Krankheit sei „aber nicht durch Kunstgenüsse zu heilen, denn sie kann absichtlich gar nicht zerstreut, sondern nur durch eine andere Form der Langeweile über sich selbst getäuscht werden. Die Besorgung dieser Täuschung hat nun jener berühmte Opernkomponist zu seiner künstlerischen Lebensaufgabe gemacht.“ Sodann äußert sich Wagner über den von Meyerbeer betriebenen „Aufwand künstlerischer Mittel“, seine angeblichen Trivialitäten und „die Benutzung der Wirkung von eingewobenen Gefühlskatastrophen“. Dabei täusche Meyerbeer nicht nur das Publikum, sondern auch sich selbst, „und dieses vielleicht ebenso absichtlich, als er seine Gelang­weilten täuscht. Wir glauben wirklich, daß er Kunstwerke schaffen möchte, und zugleich weiß, daß er sie nicht schaffen kann: um sich aus diesem peinlichen Konflikte zwischen Wollen und Können zu ziehen, schreibt er für Paris Opern, und läßt diese dann leicht in der übrigen Welt aufführen, – heut’ zu Tage das sicherste Mittel, ohne Künstler zu sein, doch Kunstruhm sich zu verschaffen. Unter dem Drucke dieser Selbsttäuschung, welche nicht so mühelos sein mag, als man denken könnte, erscheint er uns fast gleichfalls in einem tragischen Lichte: das rein Persönliche in dem gekränkten Interesse macht die Erscheinung aber zu einer tragikomischen, wie überhaupt das Kaltlassende, wirklich Lächerliche, das Bezeichnende des Judenthumes für diejenige Kundgebung desselben ist, in welcher der berühmte Komponist sich uns in Bezug auf die Musik zeigt.“ Um Wagners zutiefst befremdliche und gehässige Charakterisierung Meyerbeers und seiner Kunst auch nur ansatzweise nachvollziehen zu können, ist es erforderlich, einige Stationen der ambivalenten Beziehungen zwischen Meyerbeer und Wagner zu betrachten. Diese Beziehung begann 1837, als der junge Wagner erstmals einen sehr persönlichen und zugleich unterwürfigen Brief an den „verehrten Herrn und Meister“ Meyerbeer richtete. Darin schreibt Wagner: „Künstlerruhm kann Ihnen fast nicht mehr zu Theil werden, denn Sie erreichten schon das Unerhörteste; überall, wo Menschen singen können hört man Ihre Melodien. Sie sind ein kleiner Gott dieser Erde geworden; – wie herrlich ist es nun für den, der diesen Standpunkt erreicht hat, zurückzublicken, und denen, die er so weit hinter sich ließ, die Hand zu reichen, um auch sie wenigstens in Ihre Nähe zu ziehen.“ 9

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Wagners frühe Anbiederung verfehlte ihr Ziel nicht: Rund zweieinhalb Jahre später empfing Meyerbeer den jüngeren Kollegen in Boulogne und ließ sich die „Rienzi“-Partitur zeigen, die er wenig später nach Dresden zur Aufführung empfahl. Bekanntlich sollte Wagners Dresdner Erfolg mit „Rienzi“ seiner weiteren Karriere den Weg bereiten, ein Erfolg also, der sich nicht zuletzt auch der Unterstützung durch Meyerbeer verdankte. Die damalige Bewunderung Wagners verfolgte keineswegs nur strategische Interessen, sondern war durchaus aufrichtig, wie ein oftmals zitierter Satz aus Wagners früher und zunächst unveröffentlichter Schrift „Über den Standpunkt der Musik Meyerbeers“ eindrucksvoll belegt: „Meyerbeer schrieb Weltgeschichte, Geschichte der Herzen und Empfindungen, er zerschlug die Schranken der National-Vorurtheile, vernichtete die beengenden Grenzen der Sprach-Idiome, er schrieb Thaten der Musik.“ Besser könnte man auch heute Meyerbeers historische Rolle kaum beschreiben! In seinen Briefen an Meyerbeer nahm Wagners Unterwürfigkeit immer groteskere Züge an, wie der folgende Brief vom 3. Mai 1840 zeigt: „Mein innigverehrter Herr und Meister […]. Ich bin auf dem Punkte, mich an Jemand verkaufen zu müssen, um Hülfe im substantiellsten Sinne zu erhalten. Mein Kopf und mein Herz gehören aber schon nicht mehr mir, – das ist Ihr Eigen, mein Meister, – mir bleiben höchstens nur noch meine Hände übrig, – wollen Sie sie brauchen?– Ich sehe ein, ich muss Ihr Sclave mit Kopf und Leib werden, um Nahrung u. Kraft zu der Arbeit zu erhalten, die Ihnen einst von meinem Danke sagen soll. Ich werde ein treuer, redlicher Sclave sein, – denn ich gestehe offen, dass ich Sclaven-Natur in mir habe; mir ist unendlich wohl, wenn ich mich unbedingt hingeben kann, rücksichtslos, mit blindem Vertrauen. […] Kaufen Sie mich darum, mein Herr, Sie machen keinen ganz unwerthen Kauf!“ Der äußerst sonderbare Tonfall, den Wagner gegenüber Meyerbeer anschlägt, lässt bereits die psychopathologischen Dimensionen erahnen, die im Verhältnis zwischen beiden Komponisten verborgen sind bzw. die sich mit den künstlerischen Entwicklungen überlagern. Konsequenterweise haben daher Sieghart Döhring und Sabine Henze-Döhring einerseits Wagners Reform der Oper als Weiterführung von Meyerbeers musikalischem Ideentheater nachgezeichnet und andererseits Wagners Verleugnung dieser Abhängigkeit sowie seinen Vernichtungsfeldzug gegen den Juden Meyerbeer im psychoanalytischen Sinne als Vatermord gedeutet. Eine Zuspitzung erfuhr Wagners antisemitischer Reflex auf Meyerbeers Werk nach der Premiere des „Propheten“ und den hierüber geführten Auseinandersetzungen in der deutschen musikalischen Fachpresse. Erst die Überarbeitung, Erweiterung und Neuveröffentlichung des Textes im Jahre 1869 sollte indes eine breite publizistische Wirkung entfalten. Zu diesem Zeitpunkt war Meyerbeer bereits seit fünf Jahren tot, und die antisemitischen 11

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Tendenzen in Teilen der deutschen Gesellschaft und Öffentlichkeit traten in publizistischen Kampagnen immer deutlicher hervor. Sicher mutet es gewaltsam an, von hier aus den Bogen zum Nationalsozialismus zu spannen. Und erst recht ist es gewaltsam, den Nationalsozialismus hinsichtlich der damals vorherrschenden Musikkultur mit Richard Wagner kurzzuschließen bzw. zu identifizieren. Aus Franz-Heinz Köhlers Untersuchung über „Die Struktur der Spielpläne deutschsprachiger Opernbühnen von 1896 – 1966“ geht deutlich hervor, wie sich die Aufführungszahlen Meyerbeers und Wagners in Deutschland seit der Jahrhundertwende entwickelten. 13

Kom ponis ten mi t e i n e m A n t e i l vo n 4% u n d me h r an d e r j e we i l i ge n Ges a m tza hl d e r A u ffü h ru n g e n i n d e n u n t e rs u ch t e n Sp i e l z e i te n

% 60 50 40 30 20 10

1896/97

1906/07

1916/17

1926/27

1936/37

Wa g ner

Moza r t

Lo rt z i n g

Ve rd i

M e y er beer

Weber

d ’A l b e rt

R . St rau ß

1942/43

1956/57

1965/66

G ol d mar k

Diese Grafik zeigt die Entwicklung der Spielanteile der meistgespielten Komponisten, derjenigen, die einen Spielplananteil von mindestens 4 % der Gesamtzahl der Opernaufführungen in Deutschland erreichten. Es zeigt sich, dass Meyerbeer noch um die Jahrhundertwende zu diesen meist gespielten Komponisten zählte, danach allerdings aus dieser Position verdrängt wurde. Zugleich zeigt sich aber auch, dass Meyerbeer nicht erst in der Zeit des Nationalsozialismus aus den Spielplänen verschwand, sondern dass dieser Prozess bereits einige Jahrzehnte zuvor seinen Anfang nahm. Zugleich bietet die Statistik Hinweise, die gängige Annahmen über einige Komponisten zur Zeit des Nationalsozialismus relativieren. Wie aus Köhlers Grafik deutlich zu erkennen, hat etwa Richard Strauss’ Marktanteil in der Oper selbst in Deutschland zu Lebzeiten niemals die Vier-Prozent-Hürde überschritten – ironischerweise gelang ihm dies erst in den fünfziger Jahren, wenn auch nur für kurze Zeit. Zum Vergleich: Meyerbeer hatte demnach auf deutschen Bühnen noch drei Jahrzehnte nach seinem Tod einen 142


wesentlich höheren Spielplananteil als Richard Strauss auf dem Gipfel seiner Opernkarriere. Die eigentliche Überraschung betrifft aber Richard Wagner, der zu Beginn des 20. Jahrhunderts zwar noch unangefochten die Spielpläne dominierte, aber ab diesem Zeitpunkt kontinuierlich Aufführungen verlor, und zwar überwiegend zu Gunsten von Verdi, später auch von Mozart und Puccini. Besonders dramatisch spitzt sich diese für Wagner negative Tendenz ausgerechnet in der Zeit des Nationalsozialismus zu: Nie zuvor hat Wagner in der Spielplanstatistik einen stärkeren Einbruch erlebt als während des Nationalsozialismus. Sein Repertoireanteil ging von 1933 bis etwa 1970 ziemlich k ­ ontinuierlich zurück. Wurden im Jahre 1934 noch rund 1.600 Wagner-Aufführungen in Deutschland gezählt, so waren es 1937 nur noch etwa 1.400, 1940 nur noch 1.200, 1942 nur noch rund 1.000. Von durchschnittlich etwa 800 Aufführungen in den 1950er Jahren ging die Zahl auf ungefähr 500 Aufführungen jährlich um 1970 zurück, und auf diesem vergleichsweise moderaten Niveau hat sich Wagners Spielplananteil bis heute gehalten, weit abgeschlagen hinter Verdi, Mozart und Puccini. Im Zentrum der Diskussionen um Wagner und den Nationalsozialismus stehen drei Tatsachen, an denen nicht zu zweifeln ist: Erstens war Wagner – wie wir gesehen haben – ein fanatischer Antisemit, zweitens war Adolf Hitler ein fanatischer Wagner-Verehrer, und drittens waren die in den 1920er bis 1940er Jahren in Bayreuth tonangebenden Mitglieder der Wagner-Familie sowie deren Entourage in der Mehrzahl überzeugte Nationalsozialisten. Man sollte jedoch nicht den Fehler begehen, den persönlichen Musikgeschmack des Führers und die besondere Rolle Bayreuths mit der Kulturpolitik oder dem Musikleben dieser gesamten Epoche gleichzusetzen. Doch zurück zu Meyerbeer. Die Frage, welchen Anteil der Antisemitismus am Rückgang und schließlich am Verschwinden der Opern Meyerbeers von den Spielplänen hatte, ist nicht leicht zu beantworten. Denn erstaunlicher als der allmählich abklingende Enthusiasmus für die französische Grand Opéra – die abgesehen von Rossinis „Guillaume Tell“ im frühen 20. Jahrhundert nur noch durch Opern der beiden jüdischen Komponisten Meyerbeer und Halévy vertreten war, scheint mir eher die Tatsache, dass sich diese Werke überhaupt so lange gehalten haben. Zum Vergleich bedenke man, dass die italienischen Belcanto-Opern Rossinis, Bellinis und Donizettis – drei Komponisten, die alle jünger waren als Meyerbeer – schon im Laufe des 19. Jahrhunderts hierzulande völlig in der Versenkung verschwunden waren. Ich tendiere insofern zu der Annahme, dass der Antisemitismus für die Frage der Spielplanpräsenz eine eher geringe Rolle spielte. Zum einen erfolgte – wie eben gesehen – der starke Rückgang Meyerbeers bereits viele Jahrzehnte vor Beginn der nationalsozialistischen Herrschaft, und zum anderen verliefen die Entwicklungslinien der Meyerbeer-Rezeption auch im Ausland – beispielsweise in Frankreich, Großbritannien oder in den USA 14

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Holzstich nach der Zeichnung von Wilhelm Scholz, veröffentlicht im „Kladderadatsch“, 1860

– ganz ähnlich wie in Deutschland. Auch hier setzte ein deutlicher Rückgang am Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts ein. Immerhin standen „Die Hugenotten“ in Paris noch bis 1936 regelmäßig auf dem Spielplan, an der Metropolitan Opera in New York sogar noch einige Jahre länger. In Berlin wäre dieselbe Oper womöglich ebenfalls 1935 gegeben worden, hätte man nicht die Intendanz der Staatsoper „auf Anweisung des Herrn Reichsministers“ [ Joseph Goebbels] gebeten, „von diesem spezifisch jüdischen Werk Abstand zu nehmen.“ Tatsächlich wurde die recht erfolgreiche Wiederaufnahme des Werkes aus dem Jahre 1932 kurz nach der Machtergreifung auf politischen Druck hin vom Spielplan gestrichen. Die These, dass die Meyerbeer-Rezeption nicht erst durch den Nationalsozialismus, sondern bereits im Deutschland der Weimarer Republik zu Ende gegangen sei, hat Michael Walter in seinem Buch Hitler in der Oper aus dem Jahre 1995 ausführlich erörtert. Walter zufolge wurden Meyerbeers Opern „nicht ein Opfer des politischen Umschwung nach 1933, sondern der Novemberrevolution und des politischen Umschwung nach 1919, der allerdings das Verschwinden Meyerbeers von den Spielplänen wohl eher beschleunigte als verursachte“. So seien in den zwanziger Jahren die Opern Meyerbeers „mit den beharrenden kaiserzeitlichen Zügen im deutschen 15

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Musikleben“ gleichgesetzt worden. Vermutlich wird man der Frage nach dem Ende der Meyerbeer-Rezeption in Deutschland nicht gerecht, wenn man sich ausschließlich an den Aufführungszahlen orientiert. Wesentlich scheint mir dagegen die konsequente Fortschreibung und Verschärfung bestimmter Rezeptionsklischees in der Zeit des Nationalsozialismus und darüber hinaus – mitunter sogar bis in die Gegenwart. Insofern lohnt es sich, die Rezeption Meyerbeers chronologisch zu ihren Anfängen zurückverfolgen. Hierbei stellt man fest, dass in den deutschen Kritiken judendeindliche Tendenzen bereits seit den 1830er Jahren, also seit der Zeit seines beginnenden Weltruhms, in zunehmendem Maße und in zunehmender Heftigkeit begegnen. Den besten Überblick über den Antisemitismus im deutschen Musikschrifttum vom 18. Jahrhundert bis zum Nationalsozialismus bietet die im Jahre 2007 im Druck erschienene Dissertation von Annkatrin Dahm, „Der Topos der Juden. Studien zur Geschichte des Antisemitismus im deutschsprachigen Musikschrifttum“, auf die sich auch die folgende Darstellung wesentlich stützt. Latente Formen des Antisemitismus durchziehen die frühe Meyerbeer-Kritik auf Schritt und Tritt. Hierauf ist vor allem in Zusammenhang mit Robert Schumanns Rezension der „Hugenotten“ in der „Neuen Zeitschrift für Musik“ oftmals hingewiesen worden. Besonders missfiel Schumann „jener berühmte, fatal meckernde, unanständige Rhythmus, der fast in allen Themen der Oper durchgeht.“ Man hat diese Formulierung Schumanns wiederholt mit den manifest antisemitisch konnotierten Beschreibungen von Synagogalmusik unter Verwendung von Tiermetaphorik („fatal meckernd“) verglichen, insbesondere mit den betreffenden Abschnitten in Wagners Judenthum in der Musik. Ebenfalls unter die latent antisemitischen Rezeptionsklischees ist die Verurteilung des „Effekts“ zu rechnen. Auch hier ist Wagner mit seinem berühmten, in seiner ästhetischen Hauptschrift „Oper und Drama“ niedergelegten Diktum von der „Wirkung ohne Ursache“ keineswegs originell, sondern reiht sich ein in einen langen Diskurszusammenhang, dessen Stoßrichtung sich ebenso gegen das „Jüdische“ wie auch gegen das „Französische“ in der Musik richtete. Auch die Frage nach dem Verhältnis von Judentum und Virtuosität ist in der jüngeren Forschung kontrovers diskutiert worden. Dem Virtuosentum der Interpreten entspricht auf Seiten der ­Komponisten das vermeintliche „Komponieren um des Effektes willen“. Wie etwa Daniel Jütte unlängst argumentiert hat, sei es „möglich, anhand einer Reihe von Künstlerbiographien, aber auch am Beispiel alltagsgeschichtlicher Quellen festzustellen, dass der Virtuosenberuf in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine spezifische Attraktivität für Juden gehabt“ habe. Mehr noch: Virtuosität könne, so Jütte weiter, „als ein Modus musi­ kalischer Praxis begriffen werden, der idealiter […] in der ersten Hälfe des 19. Jahrhundert eine spezifische Affinität zum in der Historiographie oft 17

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beschworenen bürgerlichen ,Wertehimmel’ des deutschen Judentums aufwies.“ Die These, „dass es im frühen deutsch-jüdischen Bürgertum ein genuines Ideal der Virtuosität gegeben“ habe, bildet den Widerpart zur gleichzeitig aufkommenden Virtuositätskritik, die im 19. Jahrhundert ähnliche antisemitische Implikationen annehmen konnte wie die Kritik am „Effektkomponieren“. Ein weiteres Merkmal einer latenten Judenfeindschaft ist in der Namensdiskriminierung zu sehen, der Meyerbeer häufig ausgesetzt war. Zu diesem Thema sei auf die grundlegende Untersuchung von Dietz Bering aus dem Jahre 1987 hingewiesen, „Der Name als Stigma – Antisemitismus im deutschen Alltag 1812 – 1933“. Wie Bering ausführt, besaßen Juden „durchweg keinen Familiennamen. Sie führten nur einen Rufnamen, dem zur weiteren Verdeutlichung, falls nötig, der Rufname des Vaters beigegeben wurde.“ Der Name Meyerbeer ist bekanntlich die Kombination zweier unabhängiger und zugleich jüdisch konnotierter Rufnamen. So wird Meyerbeer in Rezensionen noch in den 1830er und 1840er Jahren oftmals mit seinem ursprünglichen, damals jüdisch klingenden Namen Beer (in Nachschlagewerken also unter Buchstabe B) und dem Vornamen Meyer bezeichnet, obwohl er bereits seit 1817 unter dem uns heute geläufigen Namen Giacomo Meyerbeer publizierte. Vor diesem Hintergrund sind manche Kritiken also in einem ganz anderen Kontext zu lesen. Ein signifikantes Beispiel für diese Form der Namensdiskriminierung sei im Folgenden herausgegriffen. Im Münchner Tagblatt vom 17. November 1838 findet sich eine in dieser Hinsicht bemerkenswerte Abhandlung über „Meyer Beer“, die auch die anderen genannten antisemitischen Topoi enthält: 18

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„Um nun auf den ‚großen‘ Meyer Beer zu kommen, so halte ich ihn zwar für einen von der Natur mit nicht gewöhnlichen Gaben ausgerüsteten, aber doch nicht für einen genialen Mann. Ausserdem stehe ich auch nicht an, zu sagen, daß er seinen Mitschüler A. M. v. Weber (mit dem er bei Vogler studirte) in der technischen Ausbildung übertrifft. Während wir aber Lezteren eine Bahn wandeln sahen, welche, vom deutschen und künstlerischen Standpunkte aus betrachtet, eine durchaus ehrenhafte war, und ihn zum Lieblinge seiner Nation machte, fand der ‚große‘ Meyer Beer es für besser, nach Italien zu ziehen. Dort hat er in seinen Opern ‚Romilde und Kostanze‘, ‚Margarethe von Anjou‘, ‚Emma von Roxburg‘ und ‚Kreuzritter‘ den Rossini nachgeäfft und copirt, seiner Schule und sich zur Schande, der Aestheti zum Hohne, und allen Freunden wahrer Kunst, namentlich K. M. v. Weber zur bitteren Kränkung, worüber sich dieser in seinen hinterlassenen Schriften unzweideutig genug ausgesprochen hat. Glänzende Erfolge hat dieses künstlerisch-unehrenhafte Treiben allerdings gehabt, und was der verdorbene Geschmack nicht goutirte, das würzten Nebenhülfsmittel, so daß ein 146


berühmter Musiker sagen konnte, ‚er wünsche, daß ihm seine Werke nur halb so viel einbringen, als Meyer Beer die seinigen kosteten‘. Das Maaß des Aergernisses war aber noch nicht voll. Den in Folge seiner oben genannten Opern ihm gemachten Vorwurf: Meyer Beer liebe und treibe seine Kunst nicht um ihrer selbst willen, sondern er miß­brauche sie und sein Talent, um seiner Eitelkeit zu fröhnen, der Mann der Mode und des Tages zu seyn: diesen Vorwurf hat der ‚große‘ Meyer Beer in seinen Opern ‚Robert‘ und ‚Hugenotten‘ neuerdings wieder begründet, sowohl, was die Wahl des Stoffes, als auch der äußern unkünstlerischen Effektmittel anbelangt, wobei er namentlich im ‚Robert‘ durchaus nicht edel verfuhr. Damit soll jedoch nicht in Abrede gestellt werden, daß in genannten Opern bisweilen auch sehr gute Piècen vorkommen; diese machen aber den um sie herumliegenden ‚Mist seines Geistes‘ nur um so bemerkbarer, und es gehört eine fabelhafte Verblendung dazu, die hier ausgesprochene Ansicht als die Meinung einzelner Parteigänger zu betrachten.“ 22

Erst im Schlussabschnitt kommt der anonyme Kritiker unverhohlen auf Meyerbeers Judentum zu sprechen, und dies in einer für diesen frühen Zeitpunkt außergewöhnlichen Schärfe: „Da man aber den Mann, welcher in der Kunstgeschichte schon bei seinen Lebzeiten eine so deplorable Stellung einnimmt, fortwährend einen Deutschen zu nennen beliebt, und uns Deutschen sogar noch zumuthet, wir sollten auf ihn uns auch noch was zu Gute thun, so war es eine Genugthuung, die ich als Deutscher mir selbst und den Freunden der wahren deutschen Kunst geben zu müssen glaubte, als ich in Abrede stellte, der ‚große‘ M. B. sey ein Deutscher. Es mag allerdings recht ärgerlich seyn, wenn all das hinausgeworfene Geld und die erkauften oder verwandtschaftlichen Lobpreisungen es nicht verhindern können, daß eine unbefangene Kunstanschauung sich ihnen feindlich gegenüber stellt, und so gegen die frech usurpirte Suprematie protestirt, welche die deutschen Juden auf dem deutschen Parnasse gegenwärtig zu besitzen so eifrig versichern.“ Es lohnt sich, nicht allein das Musikschrifttum im engeren Sinne, sondern größere und allgemeinere ästhetische und kulturgeschichtliche Diskurse im frühen 19. Jahrhundert zu betrachten, die sich mit der Stellung der Juden befassen. So findet sich der Verweis auf Meyerbeer sehr häufig auch in literaturkritischen Schriften, in denen Musik sonst keine oder kaum eine Rolle spielt. 1839 entwarf Herman Marggraff in einer umfassenden Abhandlung über Deutschland’s jüngste Literatur- und Culturepoche ein Bild der zeitgenössischen Literatur, Philosophie, Kunst und Musik, dessen angeblicher Verfall durch den zunehmenden jüdischen Einfluss erklärt wird. Diese Schrift ist in unserem Kontext in verschiedener Hinsicht bemerkenswert. Zum einen war Marggraff keineswegs ein Erzkonservativer, sondern ein 147


Repräsentant des Jungen Deutschland. Zum anderen können wir hier sehr gut die Herkunft bestimmter antisemitischer Denkfiguren aus der Literaturkritik verfolgen, die dann später auch in der Musikkritik und in Wagners „Judenthum“-Schrift Einzug halten. Erwähnenswert ist, dass Marggraff ein enger Weggefährte des radikalen Demokraten Robert Blum war. In den 1830 er Jahren war Blum als Schriftsteller und Theatersekretär beschäftigt und gab in dieser Zeit gemeinsam mit Marggraff eine große Theaterenzyklopädie heraus, auf die noch einzugehen sein wird. 1848 zog er als Abgeordneter in die Frankfurter Nationalversammlung und wurde einer der führenden Repräsentanten der Demokraten. Wegen seiner Teilnahme am Oktoberaufstand 1848 in Wien wurde er verhaftet und trotz seiner Immunität als Abgeordneter standrechtlich erschossen. Im Folgenden sei eine längere Passage aus Marggraffs Buch betrachtet, die zunächst allgemeine Zuschreibungen angeblich jüdischer Charakteristika enthält und diese sodann auf einzelne herausragende Künstler projiziert: „Die Juden haben ihre sehr ernsthaften, gewissenhaften und tiefsinnigen Philosophen und Rabbiner gehabt, es sind aus ihnen sogar sehr ernsthafte, gewissenhafte und tiefsinnige christliche Theologen (wie Neander) hervorgegangen; aber die gegenwärtige Schöngeisterei und Halbbildung begünstigt das Hervortreten des Witzes ganz besonders, und wie sich die schöne Literatur gegenwärtig gestaltet hat, ist sie den leichteren Elementen und Tätigkeiten des Verstandes ungemein zugänglich geworden. Die polemische, krittelnde, boshafte und scheelsüchtige Richtung, in deren Furchen die glitzernde aber tückische Viper unserer Literatur jetzt sich fortbewegt, sagte den jüdischen Schöngeistern ganz besonders zu, und da sie im Ganzen, halb außerhalb der deutschen Nation und wenigstens von Geburt ganz außerhalb dem Christenthum stehend, weniger zu berücksichtigen hatten und für ihre kecksten Behauptungen der Entschuldigungsgrund geltend gemacht werden konnte, sie seien den staatlichen Verhältnissen der deutschen Nation und dem Christenthume zu nichts verbunden, so traten sie überaus dreist und sicher auf; ihre Eitelkeit vermochte sie, und ihr geistreicher Witz unter­ stützte sie darin, sich überall mit ihrem Ich hervorzudrängen, und indem sie die Umstände glücklich zu benutzen wußten, entwickelten sie auf der ganzen Schlachtlinie der Literatur eine ungemeine Thätigkeit, und verstanden es, auf ihre hervorstechenden Gaben auf’s glücklichste zu speculiren. Der Handelsgeist, welcher sich der Literatur bemächtigte und von dem ich bereits im ersten Buche gesprochen habe, wurde von unsern jüdischen Schriftstellern ganz besonders gefördert. Hierzu kam die Richtung der hegelschen Philosophie, deren Resultate den christlichen Cultus als solchen offenbar bedrohen, und die vielen politischen und Emancipationsfragen, unter denen ihre 148


eigene Emancipation eine so gewichtige Rolle spielt — der Stern der Literatur stand offenbar ungemein günstig für unsere jüdischen Schriftsteller! Es bildete sich in der That eine Art Bruderorden, gemischt aus jenen jüdischen und christlichen Jünglingen, welche das Historische ihrer Geburt und Erziehung wegleugneten und in keinerlei Art Religion wurzelten, als in der Religion des reinen Begriffs.“ 23

Und von hier aus wird auch ein Seitenblick auf die Musik geworfen: „Den Namen Meyerbeer, Bendemann, Heine, wurden die Namen Maria Weber, Mozart, Cornelius, Schiller etc. geopfert. Man schlachtete die stattlichen Opferstiere unserer früheren Kunst- und Literaturperiode dem neuen Göttergeschlecht, welches den Olymp der deutschen Kunst und Literatur fortan in Besitz nehmen sollte.“ Im Unterschied zu Wagner benennt also Marggraff durchaus jüdische Repräsentanten aller Kunstsparten. Für den Bereich der bildenden Kunst, den Wagner ausgeklammert hatte, wird hier Eduard Bendemann angeführt, einer der führenden Vertreter der Düsseldorfer Malerschule im 19. Jahrhundert. Am Ende dieses Abschnitts werden dann die so genannten „ehrlichen“ und „edlen“ Juden einerseits und die angeblich eitlen Verderber des literarischen und künstlerischen Geschmacks andererseits gegeneinander ausspielt. Zugleich werden die Juden hier wie generell in der antisemitischen Literatur konsequent aus der deutschen Nation ausgegrenzt und als ihre eigenen „literarischen Landsleute“ gettoisiert: „Die edleren und ehrlicheren Juden – man weiß, daß ein wirklich ehrlicher Jude in der Regel die Ehrlichkeit im strengsten Sinne repräsentirt, und man hat deren genug – haben mit banger Besorgniß und mit Mißbilligung dem Treiben vieler ihrer literarischen Landsleute zugesehen. Man betrachtete sie vom streng jüdischen Standpunkte als Leute, die weder Fisch noch Fleisch, weder Jude noch Christ waren, als Leute, die sich nicht selten ihres Judenthums schämten und ihre große geistige Kraft nicht den Bedürfnissen und der Aufklärung ihrer Nation widmeten, sondern sie ihrer eigenen Eitelkeit wuchern ließen.“ Im selben Jahr 1839, in welchem Marggraff seine Abhandlung über „Deutschland’s jüngste Literatur- und Culturepoche“ veröffentlichte, trat er auch als Mitherausgeber des bereits erwähnten, gemeinsam mit Robert Blum veröffentlichten „Allgemeinen Theaterlexikons oder Enzyklopädie alles Wissenswerthen für Bühnenkünstler, Dilettanten und Theaterfreunde“ hervor. Hier findet sich auch ein biografischer Eintrag zu Meyerbeer, der die in der kulturgeschichtlichen Abhandlung skizzierte Judenpolemik nun ganz gezielt auf den Komponisten ummünzt: „Beer ( Jacob, genannt Giacomo Meyerbeer). Wenn jemals der Biograph in Verlegenheit ist, wie er die laut jubelnde Stimme des Volkes vereinen soll mit der streng tadelnden der Kritik, so ist ers bei B.; wie ein herrlicher Regenbogen stieg er auf am Horizonte der 24

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Kunstwelt, die Masse bewundert seinen Schmelz, seine Farbenpracht und Herrlichkeit, indessen die Kritik die ganze glänzende Erscheinung nur als den erborgten Widerschein eines fremden Lichtes betrachtet und ihr durchaus jede selbstständige Bedeutung abspricht.“ Es folgt eine ausführliche Darstellung von Meyerbeers Werken, die vollkommen von den bereits erörterten antijüdischen Topoi durchdrungen ist. Auffallend ist, dass zwar die Zuschreibungen jenen entsprechen, die Marggraf in seiner kulturgeschichtlichen Darstellung als jüdisch charakterisiert hatte, Meyerbeers Judentum aber in dem biografischen Artikel nicht eigens thematisiert wird. Dennoch waren die Zuschreibungen im damaligen Sprachgebrauch deutlich jüdisch konnotiert, und es bleibt bemerkenswert, dass sich diese Zuschreibungen eben nicht nur in Einzelbeiträgen, sondern auch in verbreiteten Standardwerken und Enzyklopädien finden. Verfolgt man die Meyerbeer-Rezeption in der Presse im 19. Jahrhundert weiter, so zeigt sich bis zum Tode des Komponisten eine zunehmende Verschärfung der Argumentation. Ein wichtiger Kristallisationspunkt für antisemitische Äußerungen in der Rezeptionsgeschichte Meyerbeers ist dessen Ernennung zum Berliner Kapellmeister bzw. preußischen Generalmusikdirektor im Jahre 1842. Thematisiert wurde hier u. a. Meyerbeers Berliner Gehalt und seine gleichzeitige Präsenz in Paris, die man ihm als Geschäftemacherei anlastete. Der nächste Höhepunkt geht mit der Revolution 1848 / 49 einher und konzentriert sich, wie wir bereits gesehen haben, auf die Uraufführung des „Propheten“. Diese Kontroverse ist von Jens Malte Fischer bestens dokumentiert worden und braucht hier nicht erneut aufgerollt zu werden. Unmittelbar vor Meyerbeers Tod erscheint 1863 die „Allgemeine Geschichte der Musik“ von Joseph Schlüter, die gespickt ist mit antisemitischen Ausfällen nicht nur gegen unseren Komponisten. Meyerbeer sei – so Schlüter – „als Opernkomponist die Caricatur des universellen Mozart, der kosmopolitische ‚von allen Nationen profitirende‘ Jude, der Jude, welcher es dem hochverehrten Publikum auf jede Weise recht zu machen weiß. Den Mangel an kräftiger und einheitlicher Erfindung, die Styllosigkeit des Ganzen, welche schon in seiner gestückten und geflickten Melodie hervortritt, hat er durch Zusammenraffung aller nur möglichen musikalischen wie außermusikalischen Effectmittel zu verdecken gesucht.“ Auch wenn diese Polemik in der Sache nichts Neues gegenüber den früheren antisemitisch geprägten Meyerbeer-Kritiken bringt, zeigt sich doch gegen Ende des 19. Jahrhunderts eine Verfestigung solcher Rezeptionsklischees, die nun auch in die allgemeine Musikhistoriographie Einzug hält. Während sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts die antisemitischen Diskurse generell dramatisch verschärfen und polarisieren, gerät Meyerbeer hierbei aber weniger ins Blickfeld. Zielscheiben sind nunmehr die aktuellen Komponisten der Zeit, zunächst Gustav Mahler, sodann vor allem Arnold Schönberg. 26

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Für die Meyerbeer-Rezeption nach dem Zweiten Weltkrieg und bis in die Gegenwart hinein sind latent judenfeindliche Reflexe in gar nicht einmal so marginalen Teilen der deutschen Musikhistoriographie gleichwohl weiterhin präsent. Das zeigt sich im Fortschreiben von allgegenwärtigen Rezeptionshaltungen und ästhetischen Werturteilen, ohne dass heutigen Autoren die Abhängigkeit von Denktraditionen des 19. Jahrhunderts im Einzelnen bewusst sein dürfte. Der beste Weg, solchen Tendenzen zu begegnen, besteht zweifellos darin, im Kontext der gegenwärtigen pluralistischen Musikkulturen mit erstklassigen Aufführungen auf der Grundlage der neuen Edition das heutige Publikum für Meyerbeer unvoreingenommen zu begeistern.

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Anmerkungen

1 Die Bezeichnung Meyerbeers als „Rothschild der Musik“ findet sich vermutlich erstmals in der Neuen Zeitschrift für Musik im Jahre 1837. Vgl. Annkatrin Dahm, Der Topos der Juden. Studien zur Geschichte des Antisemitismus im deutschsprachigen Musikschrifttum, Göttingen 2007, S. 99. 2 Vgl. ebd., S. 103. 3 Gustav Schilling, Encyclopädie der gesammten musikalischen Wissenschaften oder Universal-Lexicon der Tonkunst, Stuttgart 1835, Reprint Hildesheim 1974, S. 510. 4 Vgl. Thomas Gräfe, Antisemitismus in Deutschland 1815 – 1918. Rezensionen, Forschungsüberblick, Bibliographie, Norderstedt 2010, S. 101. 5 Jens Malte Fischer, Richard Wagners Das Judentum in der Musik. Eine kritische Dokumentation als Beitrag zur Geschichte des Antisemitismus, Frankfurt / Main 2000; Sabine Henze-Döhring / Sieghart Döhring, Giacomo Meyerbeer. Der Meister der Grand Opéra, München 2014. 6 Fischer, Richard Wagners Das Judentum in der Musik, S. 21. 7 Richard Wagner, Sämtliche Schriften und Dichtungen: Fünfter Band, S. 124. Digitale Bibliothek Band 107: Richard Wagner: Werke, Schriften und Briefe, S. 2309 [vgl. Wagner-SuD Bd. 5, S. 72 – 73]. 8 Wagner, Sämtliche Schriften und Dichtungen: Fünfter Band, S. 138. Digitale Bibliothek Band 107: Richard Wagner: Werke, Schriften und Briefe, S. 2323 [vgl. Wagner-SuD Bd. 5, S. 81]. 9 Richard Wagner, Sämtliche Schriften und Dichtungen: 5. Bd, S. 141. 10 Zit. nach Sabine Henze-Döhring / Sieghart Döhring, Giacomo Meyerbeer. Der Meister der Grand Opéra, München 2014, S. 143. 11 Ebd., S.  144. 12 Ebd., S.  146. 13 Franz-Heinz Köhler, Die Struktur der Spielpläne deutschsprachiger Opernbühnen von 1896 – 1966. Eine statistische Analyse, Koblenz 1968. 14 Zu diesem Thema vgl. Arnold Jacobshagen, Konstanten und Konjunkturen. Verdi, Wagner und die Deutschen, in: Verdi und Wagner. Kulturen der Oper, hrsg. von Arnold Jacobshagen, Köln / Weimar / Wien 2014, S. 191 – 210. 15 Jens Malte Fischer, Die „Huguenots“ an der Berliner Hof- und Staatsoper, in: Giacomo Meyerbeer – Musik als Welterfahrung, von Sieghart Doehring und Jürgen Schläder, München 1995, S. 89 – 99, hier S. 99. 16 Michael Walter, Hitler in der Oper. Deutsches Musikleben 1919 – 1945, Stuttgart / Weimar 1995, S. 131 – 175. 17 Annkatrin Dahm, Der Topos der Juden. Studien zur Geschichte des Antisemitismus im deutschsprachigen Musikschrifttum, Göttingen 2007. 18 Daniel Jütte, Juden als Virtuosen: Eine Studie zur Sozialgeschichte der Musik sowie zur Wirkmächtigkeit einer Denkfigur des 19. Jahr­hunderts, in: Archiv für Musikwissenschaft, 66 / 2 [2009], S. 127 – 154. 19 Dietz Bering, Der Name als Stigma – Antisemitismus im deutschen Alltag 1812 – 1933, Stuttgart 1987. 20 Ebd., S.  43f. 21 Annkatrin Dahm, Der Topos der Juden. Studien zur Geschichte des Antisemitismus im deutschsprachigen Musikschrifttum, Göttingen 2007, S. 94. 22 Münchner Tagblatt, N° 318, 17. November 1838. 23 Herman Marggraff, Deutschland’s jüngste Literatur- und Culturepoche: Characteristiken, Leipzig 1839, S. 261f. 24 Ebd., S.  262f. 25 Ebd., S.  263. 26 Robert Blum / Carl Herloßsohn / Herman Marggraff [Hrsg.], Allgemeines Theaterlexikon oder Enzyklopädie alles Wissenswerthen für Bühnenkünstler, Dilettanten und Theaterfreunde, Altenburg und Leipzig 1839. 27 Joseph Schlüter, Allgemeine Geschichte der Musik in übersichtlicher Darstellung, Leipzig 1863, S. 160.




M E Y E R B E E R AU F D E R O P E R N B Ü H N E G e d a n ke n e i n e r T h e a t e r i n t e n d a n t i n

J u l i a n e Vot t e l e r Fr a g e s t e l l u n g: 1. Wa r u m w e r d e n M e y e r b e e r s O p e r n s o s e l t e n g e s p i e l t ? 2 . Wa s m a c h t e i n e I n s z e n i e r u n g s c hw i e r i g? 3 . Wa s m a c h t s i e f ü r u n s h e u t e i n t e r e s s a n t ? 4 . W i e k a n n m a n d i e We r ke M e y e r b e e r s h e u t e v e r m i t t e l n?

1. War um we r d e n M e ye r b e e r s O p e rn s o s e l t e n­ gespielt? Meyerbeers Opern verschwanden ab dem Beginn des 20. Jahrhunderts von den Opernbühnen. Neben dem sicher auch bestehenden Grund eines zunehmenden Antisemitismus sind es aber auch ganz praktische Gründe, die dazu beitrugen. Meyerbeer entwickelte ein Genre weiter, er revolutionierte es nicht, sondern schuf mit der Grand Opéra eine „Endform“, die nicht mehr zu steigern war. Weder in ihren Anforderungen an den Orchesterapparat, noch bezüglich der Herausforderungen hinsichtlich der Sänger, der Chöre, der Dekorationen und Effekte, die zur damaligen Zeit auf dem neuesten Stand der Technik waren, gab es Möglichkeiten dies noch zu steigern. Nicht umsonst entwickelte Wagner zwar bei ähnlichen Anforderungen an die Präsentationsformen eine eigene Aufführungsschule, ja ein eigenes Haus, die allen seinen Wünschen Rechnung tragen sollten. Meyerbeer stützte sich auf den Apparat der Opernhäuser, wie sie den Opern Rossinis, Bellinis und Donizettis, Aubers und Halévys zur Verfügung standen. Aber er forderte viel mehr als diese: alle Beschäftigen waren nahezu immer eingebunden, das betraf nicht nur die musizierenden Teile, sondern seine Dekorationswünsche und die vorgesehenen Effekte erheischten auch 155


einen riesigen Stamm an technischem Personal, das zur damaligen Zeit noch unter anderen Bedingungen arbeitete als heute. Das Wesentliche aber ist: Meyerbeer forderte unglaublich lange Probenphasen, viele Wochen, in denen er verlangte, dass ihm alle und alles zur Verfügung standen, insbesondere die Sänger, der Chor und das Orchester. Und wie Wagner entwickelte er Partien für bestimmte Sänger, die darin brillierten, die aber Nachbesetzungen sehr erschwerten und unbefriedigende Ergebnisse in der Rollengestaltung zur Folge hatten. In diesem Sinne kann man sagen, antizipierte Meyerbeer die vollkommene Spezialisierung nur für seine Musik, wie sie Wagner, sicher in der Kenntnis und Erfahrung dieser Werke und dieser Bedingungen, für sich entwickelte. Im Zeichen der absoluten Genie-Verwirklichung kann man von einem Komponisten sprechen, dem buchstäblich eine ganze Institution zur Verfügung stehen musste. Auffallend ist allerdings, dass Meyerbeer auf Bestehendem aufbaute, während Wagner zu Gunsten seiner eigenen Ideen eine quasi schon ideologische Reform durchführte und alles auf seinen „Glauben“ ausrichtete, was in der „Versteinerung“ seiner Person durch Cosima Wagner zu einer Art Kult ausartete und somit einer Ideologie wie der des Nationalsozialismus sofort zur Verfügung stand. Es war vieles kommensurabel, bis auf einige Inhalte, die aber umgedeutet werden konnten. Die Form aber bot sich fast kongenial an. Mit Meyerbeer wäre dies schwieriger gewesen. Man kann sich die Grand Opéra als repräsentative Geste im Kult einer Regierung zwar als Anlass, niemals aber als inhaltlich verwendbar vorstellen, doch darauf komme ich später. Im 20. Jahrhundert erschienen die Opern Meyerbeers als zu bombastisch und im Sinne der Überladenheit „verdächtig“. Auf der Suche nach einer neuen Musiksprache, wie sie Schönberg, Berg, Zemlinsky und Korngold entwickelten, waren die Nummern in ihrer geordneten Abfolge und scheinbaren Stringenz, die sich aber gegen den zu vermittelnden Inhalt wehrten (mitten im Getümmel eine Genreszene mit Balletttänzern) irrational und dekorativ. Auf der Suche nach Darstellungsformen für dramatische Inhalte, die sich auch formal dem Inhalt stellten, das Unaussprechliche versinnbildlichten und das Unerträgliche beispielsweise der sozialen Verhältnisse schonungslos darstellten („Wozzeck“), wirkten die Mittel der Grand Opéra unerträglich unflexibel, statisch, nahezu lächerlich in den Ausdrucksmitteln der Bravour­a rien, die das Geschehen anzuhalten schienen, statt es zu vertiefen. Zudem sind die Personenzeichnungen in psychologischer Sicht bei Meyerbeer zunächst überlagert durch die musikalische „Überforderung“. Eine Figur wie Jean in „Le Prophète“ oder Raoul in „Les huguenots“ sind zunächst wenig „vielschichtig“, eher scheinen sie verblendet oder irre geleitet durch äußeren Schein. 156


Das Wesentliche in den Opern Meyerbeers ist, dass die Figuren nicht psychologisch innerlich gezeichnet sind, sich wenig Rechenschaft über ihr Tun ablegen, als vielmehr psychologisch interessant HANDELN. Die Mutterbindung Jeans, die Angst vor „Unreinheit“ Raouls wirken wie aus dem Lehrbuch Freuds entlehnt. Es sind Männer mit „Komplexen“, die sie zu tragischen Fehlentscheidungen bringen, die sie dann nicht bewältigen können, in denen sie verstrickt bleiben bis zuletzt. (Wotan verschwindet, nachdem er seine letzte „Quelle“, Erda, besucht hat und nun weiß, dass er sein innerstes Problem nicht lösen kann). Bei Meyerbeer können sich diese „Anti-Helden“ nur durch den tragischen Tod entziehen, in welchen sie aber immer gleich ganze Massen mitreißen, als Stellvertreter ihres Versagens, das große Konsequenzen hat. Das ist meiner Meinung nach wenig untersucht worden. Vielmehr wurden die Handlungen immer als monströs, riesige Tableaus erheischend und in der Personenführung nicht inhaltlich genug beschrieben. Eine Analyse der Figuren ist auch dadurch erschwert, dass sie immer in Relation zu den Massenszenen stehen, die wieder ablenken, oder, wie die Ballettszenen, ganz andere stilistische Elemente einführen. Das bedeutet, dass sie sich mit dem Geschehen nur unter dem Verdacht der totalen Entleertheit und Selbstbezüglichkeit als Effekt vermischen: nun kommt etwas zum „Entspannen, zum Staunen, zum Träumen“ … Dieser Eindruck hat sich so festgeschrieben, aber bei genauerer Untersuchung täuscht er. Natürlich hatte das Ballett seinen festen Platz in der Oper. Aber die Ausgestaltung desselben ist keinesfalls als inhaltlich entleert zu sehen: die Nonnen, die Pariser Bevölkerung und die Schlittschuhläufer, sie fokussieren eine Situation, sind ein pars pro toto im Stück. Nur sind sie wahrscheinlich heute mehr unter dem Begriff „Bewegungschor“ übersetzbar auf die Bühne, so vielfach geschehen, auch hier in der Deutschen Oper Berlin in den 1980er Jahren. Kann man das heute noch machen? Will man Heerscharen von Statisten noch sehen, die begeistert spielen, aber den musikalischen Ausdruck nur verdoppeln? Dies zu untersuchen erscheint interessant. Dazu später. Dennoch, der Vorwurf des Dekorativen haftete den Opern Meyerbeers bis weit in die siebziger Jahre an. Sicherlich auch in Deutschland unter der Abkehr von jedwedem dekorativen und bourgeoisen Tand, dem man schon aus ideologischen Gründen misstraute. Das Moderne war schnörkellos, anspruchsvoll in Inhalt und Form und nahezu überwuchert von Intellekt. Alles musste auf ein Anderes und dies auf große Assoziationsräume verweisen. 157


Die Kontexte waren wesentlich, nicht die „platte“ Geschichte. Das konnte man bei den Opern Puccinis gerade noch ertragen, schon Verdi musste man, besonders deutlich wurde dies durch Hans Neuenfels’ „Aida“-Inszenierung in Frankfurt, entstaubt werden und der Finger in Wunden gelegt werden, die damals dem gängigen Rezeptionsverhalten zum Opfer fielen: so die Vorführung der äthiopischen Gefangenen vor dem ägyptischen Hof. Doch diese neuen Formen der szenischen Umsetzung, die herausarbeiteten, was an Sprengstoff inhaltlich in den scheinbar repräsentativen musikalischen Nummern verborgen ist, waren es, die weite Teile des Publikums verstörten und empörten. Dennoch: zur Wiederentdeckung der Werke Halévys (wie in Stuttgart mit „La Juive“) und der Werke Meyerbeers wird der Weg wohl eben dieser sein: Eine neue Lektüre des Textes und eine Befragung, was sich als für uns heute bedeutsam, verstehbar oder frappierend erweist. Inhaltlich und formal! Dies führt uns zur zweiten Frage:

2 . Wa s macht e in e I n s z e ni e r un g s o s chw i e ri g? Von den Anforderungen an Bühne und musikalischen Apparat war schon recht pauschal die Rede. Nun wenden wir uns den schmerzlichen Details zu und gehen den Weg von der Stückauswahl bis zur Aufführungsserie gemeinsam durch – Einblick in das sorgenvolle Hirn eines Intendanten. – Wählen wir eine Oper für den Spielplan aus, so ist die erste Frage: wie können wir sie aus dem Haus besetzen. In einem mittleren Opernhaus wird man von den 4 Hauptpartien vielleicht 2 oder 3 Partien besetzen können, sonst macht es auch keinen Sinn, ein Stück anzusetzen. Man benötigt also 2 Gäste im großen Stimmfach. Dazu muss man sicher einige Nebenrollen, die man aus numerischen Gründen nicht besetzen kann, auch mit Gästen besetzen. – Die Orchesterbesetzung ist mit einem B-Orchester zu bewältigen, allerdings müssen für die meist geforderte Bühnenmusik zusätzlich Musiker engagiert werden oder es muss an eine Einspielung vom Band gedacht werden. – Der Hauschor muss um den Extrachor verstärkt werden, bei einem Haus mittlerer Größe wird dies nicht reichen, bis zu 90 Personen sollten auf der Bühne stehen (mittlere Häuser haben Hauschöre mit 35 Sängern). Im Fall dieser anspruchsvollen Literatur wird man, wie bei einer Oper wie „Lohengrin“ an einen zusätzlichen Projektchor denken. Dieser studiert die Literatur mit einem eigenen Chorleiter getrennt ein und stößt erst bei den szenischen Proben und den Sitzproben zum Produktionsteam 158


E-Chor und Projektchor kosten sehr viel Geld. Für eine Produktion wie „Les huguenots“ sind es sicher 20.000 Euro, die man veranschlagen muss. Außerdem stehen E-Chor und Projektchor nur bedingt für Proben – und dann nur abends – zur Verfügung. Das bedeutet auch, dass man alle Endproben auf den Abend legen muss, d. h. das Haus ist an mindestens 6 Abenden (3 Bühnen-Orchesterproben, Klavier-Hauptprobe, Orchester-Hauptprobe, Generalprobe), wenn nicht häufiger, geschlossen. – Für die szenischen Proben mit dem E- / Projekt-Chor wird die im Haus vorhandene Probebühne nicht ausreichen. Das bedeutet, man muss eine zusätzliche Räumlichkeit anmieten, die mit öffentlichen Verkehrsmitteln gut erreichbar ist, über sanitäre Anlagen, Belüftung und Heizung verfügt. – Die Opern haben meist eine Länge von mehr als 3 1/4 Stunden. Das bedeutet: › Doppeldienst für das Orchester. › A nfangszeit 17 oder 18 Uhr: man kann die Inszenierung ausschließlich am Wochenende ansetzen, wegen der großen stimmlichen Belastungen nie zweimal hintereinander. – Für die Erarbeitung einer Inszenierung sind für das Regieteam sicher 1 bis 2 Jahre Zeit zu veranschlagen. Das bedeutet eine bedeutend höhere Gage, mehrere Reisen, die für die Beteiligten übernommen werden müssen, wenn sie sich treffen (Regie, Bühne, Kostüme, Dramaturg, Dirigent, musikalischer Assistent, Bühnenmeister). – Die Dekorationen werden zwar nicht den ursprünglichen Anforderungen gerecht werden wollen, aber die Opernstoffe bedürfen einer aufwändigen Umsetzung: häufige Szenenwechsel, die dargestellt werden müssen, Effekte (mit sicherlich anderen Mitteln als damals, aber dennoch notwendig). – Hohe Anforderung an die Beleuchtung. – Immense Kostensteigerungen im Kostümetat durch den großen Chor und häufige Szenenwechsel für Protagonisten. – Für die Vermittlung der Stoffe und der Musik braucht man einen gewissen Vorlauf für die Vermittlungsarbeit: erhöhte Anzahl von Einführungsveranstaltungen, Abende mit musikalischen Beispielen, pädagogische Konzepte für Schulklassen. – Vor jeder Aufführung bedarf es einer Einführung, die von einem Dramaturgen gehalten werden muss. Es wird deutlich: es geht nicht nur um die Kosten, aber sie spielen eine ganz wesentliche Rolle. Hinzu kommen die Belastungen des technischen Apparates; für Aufbau, Einrichtung und Einleuchten vor der Vorstellung sind sicherlich zwei Schichten notwendig. Das bedeutet: morgens kann keine Probe auf der 159


Bühne stattfinden: hierfür muss man den anderen Produktionen, die sich in der Probenphase befinden, Ersatzräume anbieten, die den originalen Bühnen­ bedingungen mehr entsprechen als die normalen Probebühnen. – Eventuell werden für den Chor zusätzlich Garderoben und Aufenthalts­ räume benötigt, die Maske macht Doppelschichten, ebenso die ­A nkleider. Ein Haus der mittleren Größe ist also sehr belastet. Hinzu kommt die geringe Kenntnis der Werke beim Publikum und in der Opernwelt. Das bedeutet auf der einen Seite: – Bei Erkrankungen hat man große Schwierigkeiten, Gäste zu finden, hinzu kommt, dass es immer Strichfassungen gibt und sich auch noch die Frage stellt, in welcher Sprache die Partie vom Sänger einstudiert wurde. – Aufwändige Umbesetzungsproben werden die Regel sein, oder ein unbefriedigendes Singen von der Seite mit agierendem Regieassistenten. – Auf der anderen Seite geht es auch um das Publikum: Es ist ja nicht so, als wenn man „Parsifal“ ansetzt, ein Stück, das sicher vergleichbare Belastungen mit sich bringt, dann aber eine große Anziehungskraft besitzt. – Für die Bewerbung und Gewinnung von Publikum muss man also zusätzliche Strategien entwickeln. – Und ganz wesentlich: das Regiekonzept muss zwingend sein. So kommen wir zur dritten Frage:

3 . Wa s macht di e O p e rn M e ye r b e e r s f ür un s h e u t e int e r e s s ant ? Für mich erscheinen die Opern Meyerbeers besonders interessant, wenn man sie dramaturgisch hinsichtlich ihrer Entstehungsgeschichte und inhaltlichen Gestaltung der Sujets betrachtet. Meyerbeer erlebt in Paris die Julirevolution mit und auch die anschließenden Unruhen um 1847 / 48. In seinen Opern finden sich immer wieder sogenannte „Massenszenen“, in welchen er das sehr wetterwendische Verhalten derselben beschreibt. Die Menge an sich ist musikalisch kompakt gezeichnet, durchaus „geordnet“, aber auch von immenser Gewalttätigkeit. Der Einzelne wird in dieser Situation schnell zum Verlierer oder zum Spielball. Doch scheitert der Einzelne nie an der Masse, die das Geschehen kommentiert oder wie in den „Huguenots“ untereinander zerfällt und aufeinander losgeht. Dazu später. 160


Die Ausgangssituationen in den letzten drei Opern sind historische Ereignisse mit konkretem Hintergrund. Aber auch in „Robert le diable“ wird eine Legende so erzählt, als wenn es sich um eine Staatsangelegenheit handelt. Vergleichen wir nun die Stoffe mit den zeitgenössischen Opern, so sind wir ganz nahe bei Werken wie „Lucia di Lammermoor“, „Don Carlos“ oder auch „Macbeth“, was die Verquickung von Hexenglauben und Politik betrifft. Dennoch: Die Untersuchung der Inhalte führt bei Meyerbeer immer wieder zu einem unbefriedigend erscheinenden Gleichgewicht zwischen Privatheit und öffentlichem Interesse. In fast allen anderen Opern der Zeit stehen dramatische Liebeskonflikte im Zentrum der Handlung, jedoch schieben sie sich im Verlauf der Handlung in den Vordergrund zu Ungunsten der Massen oder politischen Auseinandersetzungen. Wesentlich erscheint jedoch, dass die Konflikte bei Werken anderer Komponisten zwischen den handelnden Personen komplexer, oder vielleicht sollte man sagen, dramatischer sind. Nehmen wir die „Huguenots“: Raoul verweigert sich dem Interesse der Königin, die eine „Vernunftehe“ stiften will, um Frieden zwischen den Konfessionen zu stiften. Sie möchte also im etwas niedrigeren Rang dasselbe Modell stiften, das sie mit der Heirat Heinrichs von Navarra eingeht. Es handelt sich um einen Akt des „Pars pro toto“: Das Königspaar macht vor, was nun die Regel werden soll. Eine Behauptung, der, wie sich bald herausstellt, jede Grundlage fehlt: beim Volk scheint diese „Lösung“ eines brennenden Konflikts weder vorbereitet noch umsetzbar zu sein. Dies erinnert an „Don Carlos“. Aber wie anders ist die Einsicht Elisabeths, wenn man den Fontainebleau-Akt mit einbezieht: wir sehen hungernde und auf der Flucht befindliche Menschen. Sie will Frieden für die Menschen, die unter den Zerwürfnissen leiden. Sie opfert ihr persönliches Glück. Ganz anders bei Marguerite de Valois: Sie macht sich lediglich zur Mittlerin, sie steht nicht selbst im Zentrum des Konflikts. (Dass die Figur Katharina de Medicis als Auslöserin der Bartholomäusnacht von der Zensur gestrichen wurde, ist zwar schade, macht aber die dramaturgische Funktion der Marguerite nicht stärker). Man sieht zwar in der Volksszene im 3. Akt, wie gefährdet die Situation ist, aber im 2. Akt erfährt man von Marguerite nicht die Brisanz der Situation. Man erlebt auch nicht, dass sie sich in einem Glaubenskonflikt oder in einer belasteten Situation befindet. Von den Bedingungen dieser Konventionsehe erfährt man wenig. Die Zurückweisung Raouls, der Valentine für eine Mätresse hält, ist 161


merkwürdig spannungslos, das Missverständnis ist zu „klein“, die Reaktion ist riesig, aber dramaturgisch ist die Verwirrung unglaubwürdig entstanden. Entsteht daraus der Hass, der Aufstand? Ist das die Ursache der Katastrophe der Bartholomäusnacht? Nein, der Vorgang ist nur ein Lackmustest, er spiegelt eine Situation wieder, in welcher ein Missverständnis in einer Situation des Misstrauens als Beweis des Hasses gedeutet wird und sich einige dieser Situation bedienen, um die Gefühle zu verstärken. Die Situation würde radikaler, wenn er den Katholiken unterstellte, er sei als Protestant nur einer Geliebten eines Katholiken zur Heirat würdig. Dann würde der Konflikt an Schärfe gewinnen, doch dies geschieht nicht. Der Umstand, dass ein Einzelner im Interesse der Mächtigen untergeht, ist nicht gegeben. Die Absichten Marguerites sind ernsthaft. Aber der Konflikt, den die Königin auch mit dem Vater Valentines und mit deren Verlobtem eingeht, wird nicht deutlich hervorgehoben. Die Rolle der Macht wird nicht beschrieben, außer in der Musik des 5. Aktes, wenn feierlich die Hochzeit zitiert wird. Ansonsten stehen die Mächtigen merkwürdig im Abseits. Dies ist auch im „Prophète“ der Fall. Oberthals tyrannisches Gebaren ruft den Widerstand des Volkes hervor, doch es wendet sich sofort anderen Tyrannen zu, die es viel mehr drangsalieren als die alte Herrschaft. Und die neuen Herren drängen das Volk noch dazu in die Rolle der Häretiker, des Aberglaubens und isolieren es somit von allen anderen. Auch hier sind die Massenszenen monochrom gestaltet, dekorative, verblendende Inszenierungen der zu Schau getragenen Macht scheinen die Massen zu betäuben und zu lähmen. Das Gerüst der Handlung erscheint also bei aller Dramatik in den Opern Meyerbeers konventionell gelöst: großen Blöcken von Arien und Rezitativen der Handelnden stehen mächtige Chöre gegenüber, die Texte voller Gewalt singen, dazu aber kaum der szenischen Überzeugungskraft fähig sein dürften, handelt es sich doch um Erschießungen und Straßenkämpfe. Der Vorwurf, dass Meyerbeer die von ihm gesehenen Barrikaden und Straßenschlachten in „gesittete“ Bilder übersetzte, ist nicht von der Hand zu weisen. Dennoch: was bewegte ihn, sich immer wieder den großen historischen Stoffen zuzuwenden, bis hin zur Frage der Kolonisation fremder Völker, die von Nationen vereinnahmt und missbraucht werden? Diese Inhalte erscheinen revolutionär in sich. Sie werden auch schonungslos dargestellt: Man erlebt das manipulative Einpeitschen der Katholiken gegen die Protestanten, ja in der Musik thematisiert Meyerbeer die Konfrontation im Luther-Choral gegen die sinnliche Szenerie in Nevers Haus und bei den badenden Damen des Hofes der Königin Marguerite. 162


Aber diese Begegnungen und Konfrontationen bedürften heute wohl anderer Mittel, um sie wirksam und überzeugend zu machen. Sie werden sonst nicht zum Zentrum des Konfliktes, sondern drohen nur zur Folie zu werden, vor der sich das, dann wenig personendramatisch interessante, Geschehen „abspielt“. Ganz im Gegensatz zu den theatralischen Effekten wie dem Einsatz des Gaslichtes, der Elektrizität oder der Verwendung von Wasser auf der Bühne – Effekte, die man heute wohl eher mit Überwältigungsmomenten wie im „Cirque du Soleil“ vergleichen dürfte – müsste es sich meiner Meinung nach um viel reduziertere, radikalere Formen der dramatischen Darstellung handeln. Der von Meyerbeer in den Regieanweisungen praktizierte Naturalismus führt uns vielleicht hier auf eine Spur. Untersucht man das Liebesduett von Raoul und Valentine in den „Hugenotten“ im 4. Akt, so verlegt Meyerbeer den größten Konflikt in die Frage, wer verlässt den Raum? In den Regieanweisungen scheint es allein drei Türen aus dem Raum zu geben, vor die sich immer wieder Valentine „wirft“ oder sich Raoul in den Weg stellt. Es gibt die Mitteltür, die, wie sich für ihn erst spät herausstellt, verriegelt ist, es gibt die Tür in Valentines Schlafgemach, von wo aus Raoul die Pläne der Katholiken und die sogenannte Schwerterweihe verfolgt hat, und es gibt eine Tür links, davor ein hohes gotisches Fenster. Durch dieses springt letztlich Raoul, als er sich keinen anderen Weg weiß, und verlässt die ohnmächtige Valentine. In der genannten siebten Szene gibt es immer wieder nur Bewegungen zwischen den Türen und vorne und hinten. Übersetzt in eine Opern­ szene ist hier nichts, was den Gestus des „Auf und Ab“ gestaltet. Händeringen, auf die Knie fallen, Weinen sind die zur Verfügung stehenden darstellerischen Mittel. Die inneren Zweifel und Konflikte sind in konventionelle Sprache gegossen. Das Überzeugen des Anderen geschieht immer nur aus der Perspektive der Angst. Valentine will Raoul nicht verlieren, Raoul kann sich nicht dazu durchringen, sie zu verlassen, um seine Genossen zu warnen. Viel mehr erfahren wir nicht über die beiden. Dabei hat Meyerbeer die Szene genial in eine Gleichzeitigkeit der Ereignisse gesetzt. Die Liebenden, die sich nicht trennen können, werden immer wieder von den Schlägen der Glocke, die das Massaker ankündigt, aufgeschreckt. Während Raoul seinen Glaubensgenossen helfen will, möchte Valentine nur eins, ihn schützen, ihn behalten. Darüber „läuft die Zeit ab“, genau wie in „Robert le diable“. Und genau wie dort kann sich der Held nicht entscheiden, ein solcher zu werden. Im Grunde versagt er erneut: Erst verweigert er sich der politisch gewünschten Heirat durch ein Vorurteil, das sich gar nicht gegen den Glauben Valentines 163


richtet, dann verliebt er sich in sie, weil sie „rein“ ist und nun kann er sich nicht mehr dazu entschließen, seine Verantwortung gegenüber den Protestanten zu übernehmen. Diese dramaturgische Idee, das Singen gegen die Zeit in einen geschlossenen Raum zu verlegen, die Not der Beteiligten also noch durch die Hermetik der Situation zu verdichten und gleichzeitig das Geschehen außerhalb in das Geschehen im Raum miteinzubeziehen, ja quasi in einen Zusammenhang zu stellen (Raoul vergisst seine „innere“ Berufung als Protestant, indem er sich in eine Katholikin verliebt, die er zurückgewiesen hatte und damit den Konflikt zur Eskalation brachte) ist genial erzählt. Dies müsste meiner Meinung nach einer der Wegweiser sein, wie man Meyerbeer heute inszeniert. Nicht indem man naturalistisch versucht, das Geschehen mit modernen technischen Mittel aufzutakeln, sondern die Gleichzeitigkeit des Geschehens drastisch zu betonen. Somit hat man ein Mittel, die Überforderung der Figuren zu zeigen. In allen Opern spürt man die Verdichtung im Verhältnis zur Zeit, auch im „Prophète“ wird dies deutlich, wenn sich zum Schluss nur noch der Weg der Selbstentzündung und Selbstvernichtung bietet, weil auch hier alle Wege versperrt sind. Die Gleichzeitigkeit erinnert uns aber auch an Techniken des Films (Simultanszenen) oder an die Prinzipien des Zufalls, wie wir sie in Robert Altmans „Short cuts“ finden. Oder wir denken an die dramatischen Zuspitzungen in den Verfolgungsjagden. In Meyerbeers Opern scheint es zum dramatischen Kulminationspunkt ganz am Schluss zu kommen und es scheint im wahrsten Sinne des Wortes als wenn alle Möglichkeiten, aber auch alle Mittel verbraucht sind. Es handelt sich um eine Verausgabung der dramatischen und musikalischen Möglichkeiten, eine Flut, die schwer zu bändigen ist, oder aber: eine Überschwemmung, die, wenn sie geordnet, das bedeutet, gekürzt und geläutert wird, schnell droht, langweilig zu werden. Auch müssen wir die Struktur der Oper beachten, wenn wir kürzen: Das Netz von Verweisen und Anspielungen im musikalischen Kontext wird nicht so konsequent wie bei Wagners Leitmotiven verwendet, sondern variiert oft mehr ein Thema, als dieses zu zitieren. Diese Variationen sind sicherlich auch dramaturgisch und szenisch von Bedeutung. Oft hat man das Gefühl, der Protagonist erlebt ein Déjà-vu, kann aber auf Grund der veränderten Situation darauf nicht mehr angemessen reagieren. In diesem Zusammenhang ist die Thematisierung der Zeit erneut von Bedeutung: Im Zentrum der verdichteten Zeit steht das Zögern. Das Nicht-Handeln, als ein ganz wesentliches Moment des Versagens. Ursache hierfür scheint eine Orientierungslosigkeit der Protagonisten zu sein. Robert, Raoul, Jean, sie alle zaudern, suchen Schutz und Rat bei älteren Personen, 164


die aus einer anderen Zeit, aber auch aus einer anderen Ordnung zu kommen scheinen. Offenbar sind es Zwerge, die Riesen auf den Schultern sitzen und diese Riesen sind nicht bereit, sich in die Richtung zu bewegen, die die Zwerge einschlagen wollen. Noch einmal Wagner: Seine Helden suchen nach Erlösung, nach Auflösung könnte man auch sagen, wenn wir an Wotan oder Amfortas und Tristan denken. Das Verschwinden, das Vergehen scheint für sie letzte Ausflucht zu sein in einer Welt, in der man als Individuum schuldig wird, wenn man sich zu seinen Gefühlen bekennt. Meyerbeers Helden sind anders: Sie bestehen auf ihren Gefühlen. Sie wollen partout ihren einzelnen Willen durchsetzen und dabei noch den mächtigen Autoritäten gefallen, von denen sie beherrscht werden. Ob es der Vater Roberts ist, Marcel, Fidès oder der Großinquisitor: die Protagonisten wollen innerhalb der alten Ordnung die neuen Ideale der Selbstverwirklichung realisieren. Das führt nun zu einem letzten Bereich: Die Thematik der Opern hat immer einen historischen, einen damit politischen Kontext. Diesen zu untersuchen scheint für uns heute interessant:

4 . W i e kann man di e We r ke M eye rb e e r s ve rmi t t e ln? Damit meine ich: Wie kann man die Opern heute in einen Kontext stellen, der die eindeutig nicht zu „übersetzenden“ historischen Bezüge nicht bagatellisiert. Einer der Gründe, warum die Opern selten gespielt werden, liegt meines Erachtens auch darin, dass sie sich nicht in beliebige Szenarien übertragen lassen: Man kann „Die Hugenotten“ nicht einfach in Israel oder in Syrien spielen lassen, obwohl heute vieles dafür spräche. Sicherlich ist „Der Prophet“ auf eine Sekte wie die Scientology Church zu übertragen, was aber gewinnt man? Statt abstrakter Legenden nimmt Meyerbeer das Zeitgeschehen und erzählt es so, dass der Mensch im Paris des 19. Jahrhunderts sofort etwas über seine eigne Situation begreift. Somit nimmt Meyerbeer eigentlich auch die Rolle des Regisseurs in Anspruch und fixiert das Geschehen in bestimmten Dimensionen so radikal, dass es schwierig scheint, andere Bilder zu finden. Und doch: vergegenwärtigen wir uns die Zeit des Naturalismus im Drama und auch die amerikanische Literatur nach 1945, so finden wir überall diese Tendenzen der Autoren, auch noch die Dekoration, ja sogar die Spielweise mitbestimmen zu wollen (Gerhart Hauptmann: Schlesisch / Eugene O’Neills Regieanweisungen). 165


Diese Ängstlichkeit oder Überdeterminiertheit erzählt etwas von der Angst, missverstanden zu werden oder sich durch ungenügende Ausführungen im Gesamteindruck der Lächerlichkeit preiszugeben – was Meyerbeer sein ganzes Leben als Künstler ungeheuer umtrieb. Solche Ängste sind für Dramaturgen immer Indiz für einen „Angelpunkt“. Was ängstlich vermieden werden sollte, die „Zweideutigkeit“, ist vielleicht der Ansatzpunkt, über welchen wir die Werke für uns erschließen können? Was hat es heute damit auf sich? In einer Welt, in der Worte im Zusammenhang mit „political correctness“ auf die Goldwaage gelegt werden, in welcher Moralvorstellungen der vollkommenen Prüderie wieder zu Tage treten und von Politikern oder Personen des öffentlichen Lebens eingefordert werden, während gleichzeitig die Hemmungslosigkeit des Internets auf uns einprasselt, befinden wir uns eigentlich schon recht nah an dem, was Meyerbeer in seinen hermetisch scheinenden Tableaus erzählt. Der Einzelne kann sich nicht „verstecken“, er wird immer entdeckt, zur Rechenschaft gezogen, das bedeutet: Er soll eindeutig Stellung nehmen, zu welchem Lager er gehört. Ein „Dazwischen“, wie es die Helden Robert, Raoul, Jean und auch „Vasco de Gama“ sich wünschen, wird nicht geduldet. Meyerbeer erzählt, indem er sie von religiöser Verachtung und Fanatisierung, von Aberglaube und kolonialen Machtphantasien berichten lässt, auch immer etwas von der totalen gesellschaftlichen Überforderung, bzw. von einem tiefen Pessimismus gegenüber der „Masse“. Die monumentalen Chöre sind auch in gewisser Weise übermalt im Ausdruck: Wie Lautsprecher plappern sie dröhnend eingeflüsternte Parolen nach. Musik und Gestus werden instrumentalisiert zum Großen und Ganzen, das in sich ratlos zusammenfällt, weil es den Einzelnen, das Individuum opfert für eine gemeinsame Aussage, die keine Botschaft mehr ist. Kann dies ein Ansatz sein, sich heute auf der Opernbühne mit Meyerbeer zu beschäftigen und vielleicht auch zu fragen, ob der klassische Theaterraum dafür noch der richtige Ort ist? Ich denke: ja. So wie sich in der modernen Oper oft die Frage stellt, wie man die performativen Elemente der Musik mit in das Geschehen einbeziehen kann, so denke ich, muss man heute über das Ineinanderschneiden von Szenen, die Anwesenheit des Chores und die Funktion von „Hintergründen“, sprich Räumen, nachdenken. Eine Aufführung unter den Bedingungen der Bühne, wie sie uns aus dem 19. Jahrhundert vertraut ist, kann das Rezeptionsverhalten heute nicht mehr befriedigen, es braucht Fokussierungen und wir benötigen Kriterien, die Konflikte der Einzelnen zu vergrößern. Vor allem erscheint es wichtig, die Bedeutung des Chores ins Zentrum zu rücken. Sein Verhalten ist wesentlich für den Fortgang der Handlung. 166


Es lohnt sich die Untersuchung, was eine Teilnahme des Chores am gesamten Geschehen bedeuten würde, bzw. in wie weit wir Meyerbeer in seinen Bestrebungen der verdichteten Zeit folgen können, indem wir Bilder schaffen, die eine Simultaneität zeigen können und die gleichzeitig das Stillstehen der Zeit (als fatale Katastrophe der Selbstvergessenheit) thematisieren. Der Chor als machtvolles Instrument erhält eine eigene Aufgabe. Er ist nicht Projektionsfläche, sondern er projiziert die Erwartungen, denen sich der Einzelne nicht mehr stellen kann. Die Ereignisse überrollen das Individuum. Gleichzeitig diktiert die Masse nun die Richtlinien der Gesellschaft, ohne sich um Strategie oder konsequentes Handeln zu kümmern. Anmerkung: Wagners Hass entzündet sich auch an dieser zeitgeschichtlich bedeutsamen Beobachtung. Seine Rückkehr zum ausschließlich privaten Konflikt und Bedürfnis bedeutet eine Abkehr vom Politischen, die Wagner auch privat vollzog. Meyerbeer stellte sich nicht nur dem Geschmack der Zeit, er erfasste auch wesentlichen Sprengstoff des Geschmackes der Masse und brachte diesen auf die Bühne. Wagner kehrte sich ab dem „Tannhäuser“ von einem „aktiven“ Chor ab. Dessen Erscheinen in den „Meistersingern von Nürnberg“ und im „Parsifal“ hat handlungsstützenden, durchaus dekorativen Charakter, außer in der Fuge am Ende des zweiten Aktes erleben wir hier keine Konflikte mehr. In einer Gesellschaft, die sich mehr und mehr auf Entertainment konzentriert und in der eine einheitliche Kultur nicht gewünscht ist, erzählt uns Meyerbeer etwas über die Verfasstheit einer Gesellschaft im Umbruch, die sich selbst als Protagonist erleben möchte. Nicht in der Identifizierung mit tragischen Helden, sondern im Abbild der Selbstfeier, die durchaus auch in Gewalt umschlagen kann. In der Grand Opéra geschieht dies gebändigt durch die Musik und die Bühne, also durch das, was wir Verabredungen oder Struktur nennen. Aber die Struktur basiert auf den Verabredungen der Form. Und diese wurde „erwartet“. Diese Erwartung aber ist heute keinesfalls mehr herstellbar oder für das Publikum kommunizierbar. Gerade daher sollte man die Form genauer untersuchen und fragen, welche Elemente es sind, die uns heute erreichen. Und dies sind sicherlich die großen Szenen, auch die Ballette, die es vielleicht neu zu entdecken und zu integrieren gilt. Allerdings mit Choreografen, die sich ebenso wie die Regisseure an der Form und am Inhalt „reiben“. Die großen Szenen des Volkes waren es, in denen das Pariser Publikum seine aktuelle Situation wiedererkannte. Und auf diese sollten wir uns vielleicht viel mehr stützen und den Chor in den Vordergrund stellen. Sowohl „Les huguenots“ als auch „Le Prophète“ enden in der Katastrophe. Der Chor bleibt ratlos oder gar nicht zurück, die Dramatik des Geschehens ist nicht gelöst, die Konf likte sind nicht aufgehoben, die 167


Feindschaften oder Utopien sind radikalisiert. Es gibt keine Antworten in Meyerbeers Opern. Ist es auch das, was uns heute „stört“? Ist es die Nähe zu unserer eigenen Situation, der geborstenen Ideologien, der Infragestellung jeder Hoffnung auf eine „Eindeutigkeit“ an Zukunft? Ist es die Parallele der Bartholomäusnacht mit ISIS und das Zerbrechen der Vernunft an einem „Aberglauben“ wie der Anabaptisten-Gemeinschaft? Was zu nah ist, wird oft abgelehnt. Instinktiv wendet man sich dem anderen, dem geschützten Raum zu – auch hier sind wir wieder in Bayreuth. Im Kosmos der „Ring“-Wagnerianer gibt es für jede Figur und deren Verhalten eine Erklärung (nicht nur semantisch ein Motiv, so dass schön Ordnung ist, sondern auch genealogisch und was den Impuls des Handelns betrifft). Wenn wir nach der Selbstfeier des Einzelnen in der Masse fragen, so sind wir in der heutigen Zeit natürlich bei den Socialmedia-Produkten. Wir wollen immer dabei sein, wir wollen alles erleben. Gilt das nicht auch für die Behandlung des Chores bei Meyerbeer? Das bedeutet aber auch, die Frage aufzuwerfen, ob es andere Formen der Rezeption gibt als die klassische Bühnensituation. (Bsp. „Intolleranza“) Frage der „Bürgerbühnen“ und des Themas „Partizipation“ Die Verschleierung der Illusion gilt es zu dechiffrieren als Durchleuchtung des Geschehens. Dann können wir Meyerbeer nicht im Regietheater dekonstruieren, sondern kongeniale Effekte finden zu dem, was Paris einst überwältigte.

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DIE GR AND OPÉR A ALS ZENTR ALES ­G E S A M T K U N S T W E R K D E S 19 . J A H R H U N D E R T S Meyerbeers Originalinszenierungen im Spiegel der Stereographie

Ev a n B a ke r, L o s A n g e l e s , C a l i fo r n i a D t . vo n L i s a We g e n e r „… w e l c h p r a c h t vo l l e s S p e k t a ke l , U n g l a u b l i c h e s w i r d h i e r g e b ot e n; m u s s m a n e s g e s e h e n h a b e n , u m e s z u g l a u b e n . Wu n d e r b a r ! 1 E i nf a c h ­w u n d e r b a r ! “

Das Zitat aus einer Kritik über die ersten Aufführungen von Giacomo Meyerbeers „Robert le diable“ an der Pariser Opéra spiegelt nicht nur das allgemeine Erstaunen über die musikalischen Errungenschaften, sondern auch – und das vielleicht noch deutlicher – die visuellen Eindrücke wieder: die Kulissen und Bühnentechnik. Doch weder die euphorischen Kritiken der Zeit noch die überlieferten Drucke, Lithographien und Gemälde der Produktion vermitteln einen authentischen Eindruck von den Bühnenbildern. Diese Kunstwerke haben beim zeitgenössischen Publikum einen überwältigenden Eindruck hinterlassen, den man unter heutigen Bedingungen schwer nachvollziehen kann. Die Musiktheater-Forschung hegt seit jeher eine große Faszination für die anhaltende Euphorie und Aktualität der Grand Opéras aus der Feder Daniel François Esprit Aubers, Jacques-François-Fromental-Élie Halévys und Giacomo Meyerbeers. Alle visuellen Dokumente beweisen, dass sich die Inszenierungen von der ersten Premiere bis zur letzten Aufführung im beginnenden zwanzigsten Jahrhundert im Wesentlichen nicht verändert haben. Lediglich die im Hause Peletier ansässigen Produktionen wurden ab 1875 neu inszeniert, damit sie den riesigen Bühnenraum des neuen Opernhauses ausfüllen. Von den Kulissen und bühnentechnischen Installationen aus der Zeit der Grand Opéra sind leider keine fotografischen Dokumente erhalten geblieben. In der zweiten Hälfte der 1830er Jahre steckte die Fotografie noch in den Kinderschuhen, die technischen Mittel waren begrenzt. Im 171


ausgehenden 19. Jahrhundert konnten Bühnenbilder und gestellte Szenen im Stil von Tableaux vivants dank aufkommender Blitzlicht-Technologien zwar fotografisch dokumentiert werden, das hochexplosive Blitzlichtpulver erwies sich für Theater und Opernhäuser jedoch als überaus gefährlich. Tatsächlich existieren keine Fotografien des Zuschauerraums der Opéra Le Peletier aus der Zeit vor seiner – ausgerechnet von einem Brand verursachten – Zerstörung im Jahr 1873. Einzig eine Aufnahme der Fassade hat überlebt. Dagegen waren Studioaufnahmen von Sängerinnen und Sängern großer Opernhäuser in den 1840er Jahren weit verbreitet. Sie wurden von erfolgreichen Fotografen wie Gaspard-Félix Tournachon (1820 – 1910), André-Adolphe-Eugène Disdéri (1819 – 1889), Étienne Carjat (1828 – 1906) und Charles Reutlinger (1816 – 1880) portraitiert. Vor diesem Hintergrund und vor allem im Hinblick auf die offensichtlichen Risiken der Theaterfotografie erscheint es umso erstaunlicher, dass die Produktionen selbst scheinbar kaum fotografisch dokumentiert wurden. Es bleibt also die Frage: Wie haben diese prachtvollen Produktionen eigentlich genau ausgesehen? Die Stereoskopie (Stereographie) ist ein fotografisches Abbildungsverfahren, das unter Musik- und Sprechtheaterhistorikern relativ unbekannt ist, sich seit seiner Erfindung im Jahr 1855 bis weit ins 20. Jahrhundert hinein jedoch großer Beliebtheit erfreute. Stereographen nutzten das Verfahren vorwiegend für städtische Motive, Sehenswürdigkeiten, Landschaften und Porträtaufnahmen, doch auch gestellte Szenen des täglichen Lebens waren äußerst beliebt. Eine Stereographie besteht aus zwei fotografischen Abbildungen (insgesamt ca. 14,5 cm × 5,5 cm groß), die nebeneinander auf einen Untergrund aus stabiler Pappe angebracht werden. Beim Betrachten dieser Bilder durch ein Stereoskop kreuzen sich die Betrachtungswinkel der Pupillen. So verschmelzen die zwei einzelnen Bilder vor dem Auge des Betrachters zu einer einzigen, scheinbar dreidimensionalen Darstellung des Motivs. Viele Stereographien oder „French tissue cards“ bestanden aus vier Schichten: Die oberste und unterste Schicht dienten der zweiten Schicht aus Albuminpapier, die Grundlage der doppelten Abbildung, als Ausschnitt. Die dritte Schicht bestand aus dünnem Gewebe, das oft per Hand und nach dem Vorbild des Originalbilds eingefärbt wurde. Betrachtete man Stereographien, die von der Rückseite beleuchtet wurden, so sah man Bilder in Farbe, die oft mit kleinen Löchern versehen waren. Diese konnten wie Kerzen oder Fenster erleuchtet werden oder dienten als Öffnung für das Rampenlicht. Von drei Pariser Verlegern veröffentlicht, sind zwischen 1866 und 1896 Stereographien erschienen, die zeitgenössische Inszenierungen von Opern, Komischen Opern, Opere buffe, Balletten und Feerien an den bedeutendsten Musiktheaterbühnen dokumentierten. Belegt sind mehr als siebzig verschiedene Veröffentlichungen, meist eine Serie aus sechs bis 2

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zwölf Bildern. Im Genre der Grand Opéra publizierte François Lamiche (1808 – ca. 1870) zunächst eine Serie zu Meyerbeers „L’Africaine“ (1866 erschienen) und zwei Jahre später zu „Robert le diable“, doch Adolphe Block (1829 – ca. 1900) kaufte Lamiches Werke innerhalb kürzester Zeit auf. Über vierzig Titel gab dieser im Rahmen seiner „Les théâtres de Paris BK“ heraus, darunter die Grand Opéra „Guillaume Tell“ (1869) von ­Gioachino Rossini, Aubers „La Muette de Portici“ (1868) und „Les huguenots“ (1873) von Giacomo Meyerbeer. Eine ernstzunehmende Konkurrenz Blocks stellte Jules Alexandre Marinier (1823 – ca. 1896) dar. Er veröffentlichte über fünfzig belegte Titel in der Serie „Actualités théâtrales JM“, unter anderem Halévys „La Juive“ (1867) sowie Meyerbeers „Le Prophète“ (1866) und „L’etoile du nord“ (1868). Auf den ersten Blick scheint die verblüffende Täuschung der stereographischen Abbildungen perfekt. Man glaubt tatsächlich, Aufnahmen der Inszenierungen vor sich zu haben. Alles ist da: die Originalkulissen und -kostüme, Solisten, Chöre und Statisten. Sie fügen sich zu einem Tableau vivant, das in allen Einzelheiten, wenn auch auf relativ beengtem Raum, entsprechend der Regieanweisungen aus den livrets de mise-en-scène ­komponierten wurden, die dank einer Veröffentlichung von Louis Palianti (1810 – 1875) erhalten geblieben sind. Bei näherem Hinsehen entpuppen sich die „Darsteller“ jedoch als sorgfältig platzierte Tonfiguren von circa 30 cm Höhe. Die meisten Bühnenarrangements sind im Atelier des außerordentlich talentierten Miniaturfiguren-Künstlers Alfred-Louis Habert (1824 – 1893) und unter Mitwirkung von Louis-Edmond Cougny (1831 – 1900) sowie Pierre-Adolphe Henneitier (1828 – 1888) entstanden. Zudem entwarf Habert eine aus zweiundsiebzig Stereographien bestehende Serie, sogenannte Teufeleien (diableries) – das Leben Satans in den verschiedenen Abteilungen der Hölle (régions infernales) –, die er unter dem Titel „Bal chez Satan“ veröffentlichte. Eine ähnliche, vierundzwanzig Stereographien umfassende Serie über das Leben von Jesus Christus soll im Übrigen deutlich weniger Erfolg gehabt und sich schlechter verkauft haben. Hier sollen drei emblematische Szenen aus drei verschiedenen Opern beleuchtet werden: die Klosterszene mit Robert und den tanzenden Nonnengeistern aus „Robert le diable“ (am 21. November 1831 an der Pariser Opéra uraufgeführt), der große Einmarsch des Kaisers nach Konstanz aus „La Juive“ (23. Februar 1835) und schließlich die Krönung Jan van Leidens in der Kathedrale von Münster aus „Le Prophète“ (16. April 1849). Die Forschung kennt außerdem früher datierte Abbildungen dieser Szenen, die sich im Bestand der Pariser Bibliothèque et Musée de l’Opéra befinden. (S. Abbildungen Folgeseiten.) Pierre-Luc Charles Ciceris Bühnenbild für die ­K losterszene und ein Druck von Arnoult, der den Zuschauerraum sowie die Bühne mit eben dieser Szene 4

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zeigt, zählen zu den berühmtesten Bilddokumenten, sind jedoch nicht in den ersten Jahren der Aufführungen entstanden, sondern entsprechend im Jahr 1824 und 1851. Ähnlich erfolgreich war Ciceris Entwurf für den Einmarsch in Konstanz, der ebenfalls aus dem Jahr 1854 stammt und Teil der gleichen Bühnenbild-Serie ist. Die Krönungsszene wurde in zahlreichen zeitgenössischen Zeitungen abgedruckt, so auch in der „L’Illustration“ vom 28. April 1849. Als Teil eines längerfristigen Publikationsprojekts sind Bildtafeln mit Kostümentwürfen von Louis Maleuvre und A. Lacauchie in Form gestellter Szenen der großen Pariser Musiktheaterhäuser erschienen. Im Katalog der Bibliothèque nationale werden die zwölf Stereographien zu „Robert le diable“ auf „ca. 1874“ datiert, viel wahrscheinlicher ist jedoch, dass Block die Abbildungen bereits im Jahr 1870, und zwar nach einer zweijährigen Spielpause an der Opéra veröffentlicht hat. Bildplatte 1 zeigt den zweiten Teil des Nonnen-Balletts, bestehend aus sechzehn Figuren, darunter die noch schlafende Äbtissin mit der Zauberpflanze im hinteren Bereich der Bildmitte sowie im Zentrum, Robert. Obwohl die Szene aus Platzgründen visuell verdichtet wurde, gleicht der Klosterhof – im Vergleich zum Original – einer wirklichkeitsgetreuen Abbildung von Ciceris Entwurf. Allein die Stufen am Ende des Kreuzgangs fehlen. In der farbigen Version der Stereographie wird der Schauplatz von Mondlicht durchflutet, das die weißen Kleider der Ballerinas noch heller strahlen lässt. Die Lampen leuchten feuerrot, wie der rote Samt und die goldenen Stickereien auf Roberts Kostüm. Für ein Set aus sechs Stereographien aus „La Juive“ (Bildplatte 2) wurde das Urheberrecht mit der „no. 462“ am 6. April 1867 hinterlegt. Die Oper hatte vom 20. Februar bis 14. Juni Spielpause und zweifellos sollten die Stereographien bis zur Wiederaufnahme das öffentliche Interesse schüren. Auf der Stereographie ist die Stadtszene fast vollständig abgebildet. Eléazars Haus kommt hinter dem Papst zum Vorschein, der unter einem von Gefolgsleuten getragenen Baldachin durch die Szenerie reitet. Die ursprünglich am rechten Bildrand befindliche Kathedrale wurde auffallend klein gehalten. Am linken Bildrand sieht man Eléazar und Rachel bei den Angehörigen des Kirchenstaats und kaiserlichen Gefolgsleuten im Gespann des Papstes stehen, die den schmalen Bildbereich ausfüllen. Das Rampenlicht am unteren Rand wird ergänzt von kleinen Lämpchen in eigens dafür vorgesehenen Löchern, die einen „Kerzenlicht“-­Effekt erzeugen, wenn die Stereographie von der Rückseite beleuchtet wird. Das Urheberrecht für sechs Stereographien der Oper „Le Prophète“ wurde am 10. November 1866 unter der „No. 1760“ hinterlegt (Bildplatte 3). Einen Tag später erfolgte die Wiederaufnahme der Oper an der Pariser Opéra. Sie zeigen den vierten Akt in der Kathedrale, kurz nach Jans Krönung. Hoch oben auf dem Treppenabsatz steht van Leiden und streckt die Arme in die Luft, dahinter sein Hofstaat und seine Soldaten, rechts und links zu 9

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seinen Füßen die Bittsteller. Im rechten Bildbereich erkennt man Berthe und Fidès, die sichtlich geschockt zu van Leiden hinaufschauen. Alle Figuren wurden von Hapert und seinen Mitarbeitern geschaffen. Sie formten ihre Posen, zeichneten die Kulissen, achteten auf eine detaillierte Wiedergabe der Kostüme und setzten die Darsteller, jeden mit seiner eigenen Gestik und Mimik, in Szene. Zweifellos haben die Künstler die Aufführungen an der Opéra besucht, doch nie hätten sie die Kulissen und Kostüme in solcher Detailtreue wiedergeben können, wenn sie nicht auf Originalent­ würfe zurückgegriffen hätten. Und auch mithilfe des Bildmaterials allein ist diese Authentizität kaum vorstellbar. Zwar hat man bis heute in den Archiven der Opéra (Archives Nationale, cote AJxiii) für diese Annahme keine Belege gefunden, doch zweifellose erhielt Habert wertvolle Unterstützung von den Kulissen- und Kostümwerkstätten. Wo keine Fotografien der Produktionen überliefert sind, stellen diese Stereographien eine wichtige und ergiebige Informationsquelle dar. Die Bilder tragen dazu bei, die Ästhetik großer Produktionen im ehedem bedeutenden Genre der Grand Opéra verstehen zu lernen. Die Inszenierungen haben nicht nur die musikalische Weiterentwicklung, sondern auch zahlreiche Inszenierungstechniken, Verwaltungsvorgänge und die Entwicklung des Publikumsgeschmacks im Musiktheater-Genre entscheidend geprägt. Zu guter Letzt sind diese Stereographien eine Hommage an die Werke von D.E.F. Auber, Fromental Halévy und vor allem Giacomo Meyerbeer.

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Anmerkungen

1 Le Constitutionnel, 23. November 1831. 2 Die Aufnahme der Fassade, aufgenommen zwischen 1869 und 1873, ist Teil des Bestands der Bibliothek des Pariser Institut national d’histoire de l’art. Vgl.: http://bibliotheque-numerique. inha.fr/collection/4156-paris-ancien-opera/. 3 Laurence Senelick, ein bedeutender Theaterhistoriker, hat eine Einführung zu dieser Technik veröffentlicht: Double Vision: Second Empire Theatre in Stereographs. In: Theatre Research International. Spring, 1999: 82 – 88. 4 Ein Konterfei und eine Karikatur von Alphonse Block finden sich auf der Internetseite: BRUNETTI, Michel: Les Théâtres de Paris par Alfred HABERT: http://michel.brunetti.pagesperso-orange.fr/ genealogie/histoire/cotemichel/page107.htm. 5 Eine einführende Aufstellung Blocks und Mariniers Veröffentlichungen mit Hinterlegungsdatum einzelner Urheberrechte findet sich auf der Internetseite Back to 3D Photography: http://www.backto3d.com/page8.php. 6 Vgl.: COHEN, H.R.: Douze livrets de mise en scène lyrique datant des créations parisiennes und Dix livrets de mise en scène lyrique datant des créations parisiennes, 1824 – 1843. Stuyvesant, N. Y., 1991 und 1998. 7 Für eine Abbildung Haberts mit seinen Miniaturen siehe ebd.: http://www.backto3d.com/page4.php?view=preview&image= 45&category=1. 8 Für eine Auflistung aller 72 Stereographien siehe ebd.: http:// www.backto3d.com/page4.php?view=thumbnailList&category=1. 9 Die Drucke tragen das Datum der notariellen Urheberrechtshinterlegung. Vgl. BAKER, Evan: From the Score to the Stage: An Illustrated History of Continental Opera Production and Staging. Chicago, 2013. Abb. 73, 74 und 76. 10 http://commons.wikimedia.org/wiki/Category:La_Juive#/media/ File:La_Juive_Act1_set_1835_-_NGO2p927.jpg 11 Vgl.: Online-Portal der Bibliothèque nationale de France [BnF]: http://gallica.bnf.fr/ark:/12148/btv1b84056866. 12 Auf der Plattform Gallica der BnF zu sehen: „Robert le diable“ – [costume de Levasseur [rôle de Bertram] / gravé par Maleuvre]: http://gallica.bnf.fr/ark:/12148/btv1b70017634; und „Le Prophète“ – [Gustave Hippolyte dans „Le Prophète“, lithographie de A. Lacauchie]: http://gallica.bnf.fr/ark:/12148/ btv1b84242758.




E I N U R A H N D E R D R E H B U C H AU T O R E N H O L LY W O O D S: E U G È N E S C R I B E U N D S E I N E L I B R E T T O - W E R K S TAT T

J e a n - C l a u d e Yo n

Als der zweifellos bedeutendste französische Librettist des 19. Jahrhunderts Eugène Scribe (1791 – 1861) im Jahr 1828 das Libretto zu seiner ersten Grand Opéra „La Muette de Portici“ („Die Stumme von Portici“) veröffentlichte, war er gerade 37 Jahre alt und verfügte bereits über ein mehr als 200 Werke umfassendes Repertoire. Insgesamt sollte er 425 Werke auf die Bühne bringen, die ihn zum meist gefeierten Dramatiker seiner Epoche machten. Am Pariser Théâtre du Gymnase, das 1820 unter anderem für ihn gegründet wurde, erneuerte er die Gattung des Vaudevilles, indem er es an die Lebensrealität des Bürgertums anpasste und die Plotstruktur optimierte: Scribe galt als Genie, das Handwerk des szenischen Schreibens beherrschte er bis zur Perfektion, was ihm die im 19. Jahrhundert geläufige Bezeichnung „Charpentier“ (Zimmermann) einbrachte. Mit seinen Vaudeville-Stücken feierte er zwischen 1820 und 1830 große Erfolge und revolutionierte das Komödien-Genre grundlegend. Im Jahr 1830 stieg er in den Kreis der Comédie-Française auf, wo er zum meistgespielten zeitgenössischen Autor des 19. Jahrhunderts wurde. Den Grundstein für seine Karriere als Librettist im Genre Opéra comique legte er im Jahr 1822. Seine größten Erfolge feierte er hier mit „La Dame blanche“ („Die weiße Dame“, 1825, Vertonung: Boieldieu) und „Fra Diavolo“ (1830, Vertonung: Auber). Seine Libretti waren bei vielen Komponisten außerordentlich gefragt, denn sie seien bereits „begonnene Musik“, wie es Pierre-Joseph Zimmermann, Klavierlehrer am Konservatorium, treffend formulierte. Scribes musikalisches Genie kommt in mehr als 30 Opernlibretti und 94 Libretti für die Opéra-Comique zum Ausdruck, die von 53 verschiedenen Komponisten vertont wurden, darunter (in chronologischer Ordnung) Auber, Boieldieu, Hérold, Halévy, Rossini, Meyerbeer, Cherubini, Adam, Donizetti, Gounod, Verdi, Offenbach und viele mehr. Während sein großer Erfolg am Hause Salle Favart, der Pariser Opéra-­ Comique, mit der Verwandtschaft der Gattungen Vaudeville und Opéra 181


Eugène Scribe, zeitgenössischer Stich

comique erklärt werden kann, sollte sich die Eroberung der Opéra de Paris etwas schwieriger gestalten. Um sich am Hause Le Peletier zu behaupten, ließ Scribe sich von der allgemeinen Neigung zur Romantik und der Vorliebe seiner Zeitgenossen für historische Sujets inspirieren. Dabei half ihm sein außergewöhnlicher dramaturgischer Instinkt bei der Schaffung neuer szenischer Strukturen. Nachdem der Komödienautor seinen natürlichen Sinn für Ironie zum Schweigen gebracht hatte, gewannen seine Opernlibretti endlich ihren opulenten und tragischen Charakter. Doktor Véron, Operndirektor von 1831 bis 1835, würdigte Scribes Werk mit folgenden Worten: „Lange glaubte man, nichts wäre einfacher als das Schreiben eines Opernlibrettos: in der Welt der Literatur ein großer Irrtum. Eine Oper in fünf Akten wird nur lebendig, wenn sie eine höchst dramatische Handlung hat, die großen Leidenschaften des Herzens in Szene setzt und wirkungsvolle historische Sujets inszeniert; diese Elemente müssen wie die Choreografie eines Balletts mit den Augen verstanden werden; der Chor muss voller Leidenschaft auftreten und damit gleichsam zu einer interessanten Figur im Stück werden. Das Bühnenbild muss sich von Akt zu Akt kontrastreich wandeln, jeder Akt muss sich mittels farbenfroher Kulissen, Kostüme und gekonnt inszenierter Konstellationen hervortun. […] [Die Libretti] des 182


Monsieur Scribe bieten dieses Potenzial an Ideen, kraftvollen dramatischen Situationen und erfüllen die Voraussetzungen aller für die Poetik einer Oper in fünf Akten essenziellen Inszenierungstechniken. […] In allen Entwürfen, die Monsieur Scribe mir vorgelegt hat, fand ich stets glückliche Argumente für originelle und vielfältige Inszenierungen und die damit verbundenen Auslagen, die von einem Operndirektor erwartet werden.“ In Scribe sah Véron den idealen Verbündeten, der die Pariser mit einer Ästhetik verzaubert, die sein Wunschpublikum in die Opéra locken sollte. „La Muette de Portici“ illustriert, wie Scribe die Grand Opéra in ein vielgestaltiges Genre verwandelte, das viele Elemente von anderen Bühnenformen übernahm: von der Pantomime die Titelrolle und eine stärkere Verquickung von Tanzchoreografie und Handlung, vom Diorama die minutiöse Genauigkeit des Bühnenbilds, vom Melodram den spektakulären Ausbruch des Vesuvs am Ende des Stückes und schließlich vom Vaudeville einen (gewiss relativ) starken Willen zum Realismus, der ihn dazu veranlasste, den bis dato starren Chören Leben einzuhauchen.

S c r ib e un d di e O p é r a - C o mi qu e Wie gesagt entfaltete Eugène Scribe sein außergewöhnliches Talent zunächst als dramatischer Dichter im Genre der Opéra comique. Bereits im Jahr 1813 versuchte er sich am Théâtre de l’Opéra-Comique zu behaupten, die ersten Erfolge sollte er jedoch erst im Jahr 1822 feiern. Von da an konnte er am Hause Salle Favart – mit Ausnahme der Jahre 1828, 1846, 1851 und 1857 – Jahr für Jahr mindestens ein Werk zur Aufführung bringen. Den ersten großen Erfolg feierte er 1823 mit „Leicester ou Le Château de Kenilworth“. Das Werk bildete den Auftakt einer langjährigen und fruchtbaren Zusammenarbeit mit dem Komponisten Daniel-François-Esprit Auber. Nicht weniger als 29 seiner 94 Opéras comiques sind in Zusammenarbeit mit Auber entstanden, während dieser lediglich zehn seiner 39 komischen Opern ohne Scribes Beteiligung komponierte. Doch es war die Zusammenarbeit mit einem anderen Komponisten, Boieldieu, und das daraus hervorgehende Werk „La Dame blanche“, die Scribe half, seine Vormachtstellung in diesem Genre zu sichern. Gegen Ende des Jahres 1830 sollte sich sein Produktionsvolumen für die Opéra-Comique weiter vergrößern: 1839 gab er hier zwölf Akte, verteilt auf fünf Werke. In den 1850er Jahren arbeitete er zudem mit dem Théâtre-Lyrique und den Bouffes-Parisiens zusammen. Scribes Libretti waren unter Komponisten sehr gefragt, denn eine Zusammenarbeit mit Scribe galt nicht nur als Garant für einen ausgezeichneten Bühnentext sondern auch als Aufführungsgarantie, denn Scribe stand auch bei den Intendanten der Zeit hoch im Kurs. Allein im Genre Opéra comique kollaborierte Scribe 183


mit 43 verschiedenen Komponisten, von denen die meisten jedoch nicht mehr als ein oder zwei seiner Libretti vertonten. Einen zweiten Auber hatte der Schriftsteller nie wieder gefunden, allein Adam (sieben Werke), Halévy (sechs Werke) und Clapisson (fünf Werke) konnten sich als regelmäßige Kooperationspartner hervortun. Ein Libretto für die Opéra-Comique hatte für Scribe vor allem fröhlich zu sein, wenn auch weniger fröhlich als etwa ein Vaudeville-Stück. Wer in die Komische Oper geht, möchte unterhalten werden. Fremdländisches Flair war garantiert, obwohl das Bühnenbild meist weniger opulent gehalten wurde als an der Opéra. Italien, Deutschland, Russland und nicht selten exotische Länder dienten als Schauplatz einer Handlung, die oft in einer fiktiven Vergangenheit spielte. „Wahres“ zu schaffen interessierte keinen der Autoren dieses Genres, doch die Opéra comique blieb im Rahmen der Konventionen. Es heißt, Auber habe „Manon Lescaut“ (1856) komponiert, ohne Abbé Prévosts Roman je gelesen zu haben. Das Libretto für „Les Diamants de la couronne“ (1841) erfährt folgende Huldigung von Théophile Gautier: „Genau zur richtigen Zeit endlich eine unwahrscheinliche Handlung, die weder Zeit noch Ort braucht, die in Golconde und in Böhmen, aber ebenso gut in Portugal spielen könnte.“ Scribe konnte sich gänzlich von seinem Geschmack

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Filmplakat 1933


leiten lassen, um die verworrenen Intrigen für seine Opéras comiques zu spinnen. Der Kritiker Camille Bellaigue schreibt dazu: „Mit Auber wird die musikalische Komödie hoffnungslos romantisch. […] Sie erfreut sich über, ja klammert sich an nichts anderes als an Regung, Handlung und Intrige: auf bescheidenste Weise, fürwahr, doch zugleich auf äußerst unterhaltsame Weise; dort, wo das Ausmaß naiver Sentimentalität nur noch von der schier unvorhersehbaren Auflösung übertroffen wird.“ Auch ein leichter Anflug von Freizügigkeit ist dem Genre zu eigen, wenn sie auch nur dazu diente, die Schönheit gewisser Sängerinnen wie Madame Pradher, Madame Boulanger oder auch Marie Cabel zur Geltung zu bringen. Unterdessen muss Scribes Komödien eine gewisse Schlichtheit zugestanden werden. Übertreibung sucht man hier vergebens: Heitere oder traurige Regungen werden allenfalls angedeutet, Leichtigkeit und Anmut nehmen gegenüber tiefen Regungen den Vorrang ein. Diese Haltung entspricht jener Ablehnung alles Extremen, die viele Zeitgenossen für typisch französisch halten. Mit den Jahren schien Scribe sich jedoch mehr und mehr selbst den Rang abzulaufen, denn die Opéra comique geriet mehr und mehr unter den Einfluss der Grand Opéra. Der damalige Intendant der Opéra-Comique (und später der Opéra de Paris und der Comédie-Française) Émile Perrin fasst die Situation in einem Brief vom 10. Januar 1851 folgendermaßen zusammen: „[Ich wünsche mir] ein Werk, das vom Charakter heiterer und viel leichter ist als jene, die ich seit einiger Zeit spielen lasse. Denn ich fürchte, dass man sich an den großen Werken, riesigen Dimensionen und einem Zuviel an Musik vergriffen hat; mehr noch als das fürchte ich, das Publikum könnte dessen überdrüssig werden; wenn Sie sich doch bitte wieder solch bezaubernden Meisterwerken widmen würden, für die Sie so viel Interesse geerntet haben, ohne zu ermüden, zu amüsieren, vor allem zu amüsieren; wie dankbar wäre Ihnen das Publikum für diesen Zug, den Sie allein unternehmen können, denn Sie allein haben die Mittel und das nötige Geschick, um die Opéra comique auf ihren rechten Weg zurückzubringen, von dem sie so weit abgekommen ist.“ In den darauf folgenden Jahren sollte sich diese Entwicklung mit der Ankunft Meyerbeers an der Opéra-Comique sogar noch beschleunigen. Der Intendant des Hauses, Alexandre Basset, hatte bereits 1845 gehofft, Scribe würde den deutschen Komponisten in den Wirkungskreis der Opéra-Comique einführen, wirklich gelingen sollte es ihm jedoch erst viel später mit dem Werk „Der Nordstern“ („L’Étoile du nord“, 1854). Zweifellos fügte Scribe sich dem Diktum seines Komponisten nur widerwillig, und das nicht zuletzt aufgrund mangelnder finanzieller Rücklagen. Mit Mélesville ließ ihm einer seiner treuesten Mitarbeiter folgende Worte über das Werk zukommen: „Es enthält zu viel Musik und die meisten Stücke sind zu lang […]. Insgesamt fünf Stunden, und das an der Opéra-Comique!“ Tatsächlich weist „Der 185


Nordstern“ viele Parallelen mit einer Grand Opéra auf. Und als Meyerbeer Scribe um eine zweite Opéra comique bittet, lässt dieser ihm im November 1855 ausrichten, so wie Chateaubriand und Lamartine nie ein Vaudeville-Stück für das Théâtre du Gymnase geschrieben hätten, so sei auch Meyerbeer „für ernstere Aufgaben“ bestimmt. Trotz dieser Absage an eine erneute Zusammenarbeit zeigte Scribe sich verärgert, als Meyerbeer sich für „Le Pardon de Ploërmel“ [„Dinorah“] (1859) an die Librettisten Jules Barbier und Michel Carré wandte. Unter Scribes Freunden gab es keinen einzigen, der in dieser Zusammenarbeit keinen Treuebruch sah. So erklärt Scribes engster Freund Mahérault den Erfolg von Meyerbeers, Barbiers und Carrés Arbeit zum Produkt intensiver Werbemaßnahmen: „Die Zeitungen haben das Werk mit Posaunen und Trompeten angekündigt und kräftig die Werbetrommel gerührt. Ob es Gefallen daran findet oder nicht, das leichte Publikum wurde geradezu in die Vorstellung von „Ploërmel“ gedrängt. Wie sollte es sich dem Gewehrfeuer der Presse entziehen können, wo diese doch so geschickt den Maestro dirigiert.“ Der immense Erfolg von „Le Pardon de Ploërmel“ wog umso schwerer, da Scribes Vormachtstellung unter den Librettisten in der zweiten Hälfte der 1850er Jahre langsam schwächer wurde. Doch der Schriftsteller hatte längst erkannt, dass er gezwungen war, sich weiterzuentwickeln. Im Jahr 1856 machte er mit „Manon Lescaut“ von sich reden: Das Stück hat ein für eine Opéra comique ungewöhnlich tragisches Ende. Trotz der unbestreitbaren Qualität des Librettos drohte die Komödie zu scheitern. Verbittert notiert Scribe in seinem Tagebuch: „Und doch war es ein gutes Werk, und die Musik wirklich zauberhaft. Doch Auber und ich werden alt; das Publikum und die Intendanten wollen uns nicht mehr.“ Vier Jahre später schloss er sich mit Offenbach zusammen, in dem er einen neuen Auber sah. Doch hatte er sich hier zu Klamauk hinreißen lassen, weshalb die Operette „Barkouf“ – die Geschichte eines Hundes, der eine Stadt weit geschickter regiert als die Stadtherren selbst – auf ganzer Linie scheiterte und bei Kritikern herbe Tiraden gegen Musiker und Librettisten entfesselte. Obwohl die jüngsten Libretti von Scribe beim Publikum kaum Anklang fanden, hielten sich seine Opéras comiques selbst in diesen schwierigen Jahren und darüber hinaus auf dem Spielplan. „La Dame blanche“ erlebte im Dezember 1862, fast zwei Jahre nach Scribes Tod, ihre eintausendste Aufführung, „Fra Diavolo“ (1830) und „Le Domino noir“ (1837) wurden bis Ende des 20. Jahrhunderts an der Opéra-Comique insgesamt jeweils 909 und 1209 Mal gespielt. In anderen französischen Städten und im Ausland konnten sich seine Werke sogar noch länger im Stammrepertoire halten. Liebe und Intrigen im Klostermilieu, Herbergen, die von Räuberbanden in Beschlag genommen werden, Karikaturen reicher Engländer mit lächerlichem Akzent: Scribe ­skizziert eine naive und sentimentale Welt, die er im Verein mit seinen Komponisten, von denen ihm Auber unbestreitbar am teuersten war, mit Leben 186


Opéra de Paris, Salle Peletier, ca. 1822

füllte. Wie kein anderer prägte sein Schaffen die Kultur des 19. Jahrhunderts weltweit. Die 1933 entstandene Kinoadaption von „Fra Diavolo“ mit den Stars Laurel & Hardy in den Hauptrollen und unter dem Titel „The Devil’s brother“ („Die Sittenstrolche“) ausgestrahlt, illustriert die im Titel angedeuteten Parallelen zwischen Scribes unermüdlichem Schaffensdrang im 19. Jahrhundert und der Hollywood-Maschinerie des 20. Jahrhunderts.

E in e K ar r i e r e an d e r O p é r a d e P ari s An der Opéra war Scribe nicht weniger in seinem Element als an der Opéra-Comique. Sechs Monate nach der Uraufführung der Oper „La Muette de Portici“, die in Zusammenarbeit mit Auber entstanden war, fand er in Rossini den geeigneten Mitstreiter für die Adaption des Vaudeville-Stücks „Le comte Ory“ („Der Graf Ory“, 1816), das bereits starke Züge einer Opéra comique aufwies. Die Zusammenarbeit zwischen den beiden Künstlern gestaltete sich eher schwierig, und Anfang der 1830er Jahre soll Rossini das Libretto für „Gustave III, ou Le Bal masqué“ („Gustav III. oder Der Maskenball“) abgelehnt haben, das Scribe für ihn geschrieben hatte. In Meyerbeer fand Scribe schließlich einen Komponisten, der seinen fortschrittlichen 187


Gestus mit Gebühr musikalisch untermalen konnte, was Auber bisweilen nur unzureichend gelungen war. Aus dieser Zusammenarbeit gingen neben der bereits erwähnten Opéra comique „L’Étoile du Nord“ vier weitere, sehr erfolgreiche Werke hervor: „Robert le diable“ („Robert der Teufel“, 1831), „Les huguenots“ („Die Hugenotten“, 1836), „Le Prophète“ („Der Prophet“, 1849) und „L’Africaine“ („Die Afrikanerin“), eine Oper, die erst 1865 und damit nach dem Tod ihrer beiden Schöpfer uraufgeführt wurde. Diese Werke haben die großen Opernbühnen des 19. Jahrhunderts lange dominiert und das Musiktheater in einem Ausmaß geprägt, das bisher kaum hinreichend wissenschaftlich erforscht ist. „Welch unglaublich starke Verbindung die beiden Herren pflegen, welch Genie und Schöngeist, und welche überraschenden Ergebnisse“, schwärmt der berühmte Theaterkritiker Jules Janin. Diese Werke sind der vollendete Ausdruck eines lyrischen Talents, das Scribe vor seinem Erfolg als Librettist der Grand Opéra nur schwer entfalten konnte. Zudem fügen sich die Werke, die Scribe und Meyerbeer gemeinsam schufen zu einem Œuvre, das jenes Bürgertum ansprach, das der Doktor Véron, Unternehmer-Intendant der Opéra-Comique, zu seinem Zielpublikum erklärt hatte. In seinen „Mémoires d’un bourgeois de Paris“ („Memoiren eines bürgerlichen Parisers“) schreibt Véron dazu:

Louis-Désiré Véron [1798 – 1867]


„Ich sagte mir: ‚Die Julirevolution ist ein Triumph des Bürgertums; dieses siegreiche Bürgertum wird weiterhin über allem stehen und sich vergnügen; die Oper ist ihr Versailles, in Massen werden sie herbeiströmen, um sich auf den Plätzen der großen Fürsten und geflüchteten Hofleute niederzulassen.‘ Das Vorhaben, eine Oper zu formen, die zugleich brillant und populär ist, schien mir nach der Julirevolution besonders vielversprechend.“ Die Oper „Robert le diable“ war so erfolgreich, dass sie zwischen 2.000 und 10.000 Francs pro Abend einspielte. Besonders das zweite Bild des dritten Aktes übte, nicht zuletzt kraft seiner romantischen Ästhetik, eine so große Faszination auf das Publikum aus, dass sie zum Meilenstein der Operngeschichte wurde. Mehr als 40.000 Francs (120.000 Euro) hatte man in die Dekoration investiert, und sie sogar mit einer speziellen Gasbeleuchtung versehen, um die Atmosphäre des Schauplatzes authentisch wiederzugeben. Das Libretto hat eine große Ausdruckskraft. Dazu meinte ein Kritiker: „Dass der Teufel einen Sohn hat, diesen liebt, ja liebt, um ihn zu verlieren, ist von großer Schönheit, einer Schönheit in ihrer dramatischsten Form.“ Verständlicherweise wollte Véron unmittelbar an den Erfolg von „Robert“ anknüpfen, und so wurde nach einem gescheiterten Projekt mit Alexandre Dumas am 1. Oktober 1832 der Vertrag für „Léonore“ (so der erste Titel der „Huguenots“) geschlossen. Da Meyerbeer nur langsam vorankam, musste die Uraufführung des Werkes auf den 29. Februar 1836 verschoben werden. In der Zwischenzeit schrieb Scribe vier Opern-Libretti, von denen zwei zum Ereignis wurden. „Gustave III“ (1833) litt zwar unter einer unausgewogenen Partitur (komponiert von Auber), doch der fünfte Akt – ein fast durchgängiges Ballet – war so erfolgreich, dass der zweite Teil mit der Zeit wie selbstverständlich als eigenständiges Stück aufgeführt wurde. Er zeigt dreihundert Statisten auf einem prunkvollen Maskenball, erhellt von 1.600 Kerzen. Im Jahr 1835 bildete „La Juive“ den meisterhaften Auftakt der Zusammenarbeit zwischen der Opéra Le Peletier und dem Komponisten Fromental Halévy. Die Handlung der Oper ist im Jahr 1414 angesiedelt und spielt auf dem Konzil von Konstanz, womit die überaus prunkvolle Inszenierung bereits gerechtfertigt schien: Von den 150.000 Francs (460.000 Euro) wurden allein 30.000 Francs für die Sänger und Statisten ausgegeben. Vom Pariser Cirque Olympique lieh man sich die Pferde für den Parademarsch – gleichzeitig die Schlussszene des ersten Akts und Höhepunkt der Oper. Während Vaterschaft wie in „Robert le diable“ auch hier als Leitmotiv dient, führen religiöse Konflikte zur Zuspitzung der Handlung. Die Zeitung „Le Moniteur Universel“ schrieb zum Libretto: „Man muss schon sagen, diese Oper spielt an vielen Stellen selten beglückend mit den lebendigen Formen des weit verbreiteten Dramas.“ Halévy vertonte insgesamt vier Opern-Libretti von Scribe, doch ähnlich wie im Falle Aubers konnte keine der folgenden Werke an den Erfolg des ersten anknüpfen. Dies galt jedoch nicht für „Les huguenots“: Die 189


Oper wurde 1872 zum 500. Mal aufgeführt, womit sie „Robert le diable“ deutlich in den Schatten stellte. In der Adaption von Mérimées „Die Bartholomäusnacht“ versetzt Scribe die Liebesgeschichte zwischen dem protestantischen Raoul und der katholischen Valentine mitten in die Schrecken des im fünften Akt inszenierten Massakers an den „Hugenotten“, was erklärt, warum die Oper in zahlreichen protestantischen Städten wie Nîmes verboten wurde. Einmal mehr werden Liebesdramen von politisch-religiösen Konflikten überschattet und die Individuen vom Mühlrad der Geschichte zermahlen. Nach diesem Triumph wagte sich Scribe an eine Zusammenarbeit mit Donizetti, ohne jedoch die Kollaboration mit Auber und Halévy aufzukündigen. Obwohl „Les Martyrs“ (1840) nur eine Adaption von Poliuto war und sich sein Beitrag zu der Oper „La Favorite“ („Die Favoritin“, 1840) auf die Überarbeitung eines Librettos von Vaëz und Royer beschränkte, setzte Scribe große Hoffnungen in das erste Projekt mit dem italienischen Komponisten: „Dom Sébastien“ wurde 1843 uraufgeführt. Doch die Beisetzung des Königs im dritten Akt evozierte beim Publikum auf peinliche Weise das Begräbnis des ein Jahr zuvor verstorbenen Philippe II. von Orléans, weshalb dem Werk kaum mehr als zwanzig Aufführungen beschieden waren. Die Zusammenarbeit mit Donizetti stand in jeder Hinsicht unter einem schlechten Stern: Im Jahr 1839 weigerte sich Léon Pillet, 1840 bis 1847 Intendant an der Opéra de Paris, ihr eben fertiggestelltes Werk „Le Duc d’Albe“ aufzuführen. Darüber hatte Scribe sich dermaßen mit dem Intendanten überworfen, dass er ihn 1845 um 7.500 Francs Schadenersatz verklagte und es fünf Jahre lang vorzog, einen großen Bogen um das Haus zu machen. In den Jahren 1837 und 1838 legte er Meyerbeer jeweils ein Libretto für „L’Africaine“ und für „Le Prophète“ vor. Die Vertonung der Opern wurde von „Noëma“ verzögert, ein Libretto in drei Akten, das der deutsche Komponist 1846 bei Scribe und Saint-Georges in Auftrag gegeben und später fallen lassen hatte. Die Uraufführung von „Le Prophète“ fand am 16. April 1849 statt. Mit der Revolte von Jan van Leiden ( Jean de Leyde) im Täuferreich von Münster (16. Jahrhundert) hatte er der Oper eine etwas düstere Rahmenhandlung gegeben, die gut zu den politischen Spannungen passte, unter denen die damals gerade ein Jahr alte französische Republik litt. Im Jahr 1850 fuhr Scribe nach London, wo „La Tempesta“ in der Vertonung von Halévy zur Aufführung kam, dessen Libretto – eine Adaption von Shakespeares „Der Sturm“ – Scribe eigentlich für Mendelssohn geschrieben hatte. Die zunächst sehr erfolgreiche Oper geriet zwar schnell in Vergessenheit, galt jedoch noch lange als Symbol für den internationalen Erfolg der Grand Opéra. Zudem wurde Scribe dank dieses Triumphs zum ersten Mal in seiner Karriere die ihm gebührende Anerkennung zuteil. Die Times feierte ihn als „größten lebenden Dramatiker Europas“. Trotz nachlassenden Erfolgs in anderen dramatischen Gattungen, galt der Schriftsteller 190


Anfang der 1850er Jahre weiterhin als bedeutendster Opernlibrettist. Aus der Zusammenarbeit mit Charles Gounod wurde 1854 „La Nonne sanglante“ („Die blutende Nonne“) geboren. Auch dieses Libretto war zunächst für einen Anderen, diesmal Hector Berlioz, bestimmt. Eine überaus miserable Besetzung ließ die Oper und mit ihr eine zunächst vielversprechende Zusammenarbeit scheitern. Im Jahr 1852 unterzeichnete Scribe einen Vertrag mit Giuseppe Verdi. Dieser hatte zuvor zwei Themen abgelehnt, erklärte sich jedoch bereit, „Le Duc d’Albe“ weiterzuentwickeln, und so gelangte die Oper in leicht veränderter Form und einer nach Palermo verlegten Handlung am 13. Juni 1855 unter dem Titel „Les Vêpres siciliennes“ („Die sizilianische Vesper“) zur Zeit der Pariser Weltausstellung zur Uraufführung. Dieses Werk sollte das letzte aus Eugene Scribes Feder sein, was mit der Ankunft Alphonse Royers im Jahr 1856 an der Spitze der Pariser Oper erklärt werden kann. Der neue Intendant hatte sich im Streit um „La Favorite“ mit dem Librettisten überworfen. Als Scribe im Jahr 1861 schließlich starb, lebten seine Werke nicht minder erfolgreich fort: Der nachhallende Erfolg von „L’Africaine“ 1865 an der Opéra le Peletier verlieh ihm posthum große Anerkennung.

D i e K un s t d e s O p e rnlib r e t t o s Von den vier Gattungen, in die sich Scribes Lebenswerk einschreibt (Komödie, Vaudeville, Oper, Opéra comique), weisen seine Grands Opéras die meisten Parallelen auf. Während Scribes Libretti für die Opéra-Comique bereits ausführlich beleuchtet wurden, sollen einige Spezifika seiner Opernlibretti skizziert werden. Ende des 19. Jahrhunderts schreibt Gustave Larroumet dazu: „Scribe behandelte das Drama so wie seiner Zeit Quinault die Tragödie: Er verwandelte es in eine neue Oper, verlieh ihr Farben, Leidenschaft und Lebendigkeit, wie sie die romantische Lyrik dem Land Frankreich verliehen hatte, und zwar dank seines Blicks auf eine Geschichte, die richtiger und uns viel näher ist; überdies vermochte er der Romantik zu entlocken, was diese nie besaß: szenischen Instinkt, das heißt den Sinn für anrührende Situationen und wahrscheinliche Peripetien.“ Scribe verarbeitete viele Sujets in seinen Opernlibretti, die ihm besonders am Herzen lagen: Vaterschaft, die Rolle des Zufalls, das Spiel um Wiedererkennung und Maskerade usw. Geschickt ordnet er sie den Gesetzen der Gattung unter, die er selbst entscheidend prägte. Stets bemühte er sich um eine ausgereifte und vor allem prunkvolle Inszenierung. Hierzu einige Worte von Camille Bellaigue, einem Kritiker aus dem 19. Jahrhundert: „Letztlich scheinen mir die Inszenierung oder das Spektakel an unserer französischen Grand Opéra gleichzusetzen zu sein mit den Dialogen an 191


O euv re t héâ t r a le d e S c r ib e • S c r ib e s Th eat erwerk

Nombre de piéces/ Zahl der S t ü ck e

Vaudev ille

O pér as c omi ques / S ings pi el e

O pér as / O per n

Comédi es / Komödi en

D i ve r s / Verschiedenes

To ta l / Su m m e

24 9

94

30

32

20

425

di vers comédi es opér as

vaudevi l l e s opéra comi ques

der Opéra-Comique, dieser anderen, ebenfalls sehr französischen Gattung. Beide Elemente spielen eine ähnliche Rolle und haben den gleichen Vorteil: Sie bieten uns Ablenkung und Entspannung von der Musik.“ Als Scribe Auber sein Libretto für „L’Enfant prodigue“ („Der verlorene Sohn“) präsentierte, versäumte er es nicht, die Qualitäten einer guten Oper hervorzuheben: „Ihnen biete ich ein musikalisches und vielfältiges Thema, viel Pomp, Tanzeinlagen, Schauspiel, Kulissen! Mir gönne ich das Interesse und sogar etwas Originalität […].“ Das Libretto der Oper „La Reine de Chypre“ seines Kollegen Jules-Henri Vernoy de Saint-Georges lobt er 1841 mit folgenden Worten: „Ein wahres Opernlibretto, das interessante Situationen und aufwendiges Spektakel vereint, um sie auf bewundernswerte Weise der musikalischen Entfaltung unterzuordnen.“ Man bemüht sich um eine große Vielfalt unter den Akten, und jedem Akt gebührt eine eigene Farbe. Die Kulmination der Darbietung sollte dem ähneln, was Meyerbeer in einem Brief als „interessantes Spektakel, das die Massen anzieht“ bezeichnet, wie der große Ball in „Gustave III“, das Bild der Nonnen in „Robert le diable“, die Prozession in „La Juive“ oder die Krönung im „Prophète“. In einem Brief an Scribe, in dem er im Juli 1852 das erste Libretto ablehnt, bezeichnet Verdi Szenen wie diese als „Wunder“ und fügt hinzu: „Ich teile uneingeschränkt Ihre Meinung, nach welcher spektakuläre Darbietungen samt Frauen, Ballett, Luxus usw. in einer Oper vonnöten sind.“ Die Dramaturgie von Scribes Opern ist Gegenstand zahlreicher Studien. Hier soll lediglich auf die wichtigsten Merkmale eingegangen werden, ohne dabei aus den Augen zu verlieren, dass ein Libretto nicht dafür geschaffen ist, alleine zu stehen, sondern stets durch eine musikalische Komposition 192


ergänzt wird. Den Hang zum Pathos erbte die Gattung vom Melodram, mit dem sich Scribe am Anfang seiner Karriere beschäftigt hatte (eine Tatsache, die oft verkannt wird). Der Librettist legt Spannungsmomente an und schafft so die Grundlage für die dramatischen Effekte des Komponisten. Dank seines Talents für Verwechslungen, das er beim Schreiben von Vaudeville-Stücken perfektioniert hatte, war Scribe in der Lage, große Formationen zu schaffen, die jede Figur einzeln, aber ungebunden und damit die Stimmenharmonie ganz besonders zur Geltung bringend, inszenieren. Der Rückgriff auf Transzendenz und Schicksalsfügung begünstigte den Übergang vom Melodram zur Tragödie. Jeder Stimmtyp repräsentiert einen spezifischen Charakter, gleichwohl lässt der Stoff ein größeres Spektrum zu, als oft angenommen. Scribes Libretti werden von jungen, aristokratischen Tenören und väterlichen Bässen, aber auch von den Baritonen der bösen Geister, den Mezzosopranen der Eifersüchtigen und den Altstimmen der Zauberinnen und Romafrauen bevölkert. Unterdessen erhält der Chor die Aufgabe, die Handlung einzurahmen, zu kommentieren und zu untermalen. Diese ist von der Überlagerung zweier Zeiten gekennzeichnet: einer narrativen und reversiblen, der Figur zugeordneten und einer dramatischen und irreversiblen, der Geschichte zugeordneten Zeit. In der Oper korreliert die Auflösung mit der Etablierung einer neuen Ordnung. Da sich die Grand Opéra als Spektakel definiert, bemisst sich die Qualität einer Aufführung im hohen Maße an den prachtvollen Kulissen und Kostümen. Neben vielen anderen Kritikern verhöhnte vor allem Berlioz diese „Duponchelleries“ (benannt nach dem Opernintendanten Duponchel) und „Opéras-Franconi“ (nach der berühmten Kunstreiter-Familie), obwohl das ästhetische Resultat beeindruckend war. Anlässlich eines Paris-Aufenthalts im Jahr 1833 schreibt der von einer Aufführung der Oper „Gustave III“ ganz verzauberte Hans Christian Andersen an einen Freund: „Im dritten Akt sahen wir die Vorstädte Stockholms im Mondlicht erstrahlen. Der Mond spiegelte sich im Wasser. Leichte Wolken zogen am Horizont vorbei und wir blickten zu den blauen Himmeln Gottes auf! Schnee bedeckte die Bühne. Das war keine Kulisse, nein! Das war die Realität, die erhabene, wunderschöne Realität!“ Scribe nahm großen Einfluss auf die Gestaltung des Bühnenbilds: Bevor die Leinwände bemalt wurden, musste jeder Entwurf persönlich von ihm abgesegnet werden. Während der Entstehungszeit von „La Nonne sanglante“ wurde Scribe von Gounod zu einer Bühnenbild-Versammlung eingeladen, „denn Ihre Anwesenheit und Meinung in dieser Angelegenheit sind mehr als hilfreich; sie scheinen mir von verbindlichem Charakter.“ In seltenen Fällen kam es sogar vor, dass Scribe Bühnenbildentwürfe an den Rand seiner Manuskripte zeichnete. Dieser Wille zur Authentizität bei Kostümen und Bühnenbildern steht im Kontrast zum lockeren Umgang mit historischen Fakten, wenngleich er 193


Le s 5 p r in c ip a u x c o lla b o r a t e u r s d e S c ribe S c r ib e s 5 H a u p t m ita r b e it e r Z ahl der Stücke mi t Scr i be

G eburts j ahr

Jahr der e r s te n Mi ta r b e i t

Mélesville

76

1787

1817

Dupin

56

1787

1813

Po i r s o n

36

179 0

1815

Va r n e r

30

178 9

1817

Delavigne

21

179 0

1811

sich hier weniger Freiheit nahm als beim Schreiben seiner Vaudeville-Stücke und Komödien. Im Vorwort zu „Les Vêpres siciliennes“ erklärt er, das Massaker habe nie stattgefunden, wodurch jeder die Möglichkeit bekomme, „so mit dem Thema umzugehen, wie er es versteht“. Beim Schreiben seiner Opernlibretti oder anderer Werke achtete er darauf, dramaturgische Gesetzmäßigkeiten zu beachten. So berief er sich auf ein Grundlagenprogramm, das Beaumarchais 1787 in seinem Vorwort zu „Tarare“ skizziert und versuchte, die Aufmerksamkeit des Publikums zum Libretto zurückzuholen, das die Grundlage für alle kompositorischen Effekte bildet. Er schafft also einen Handlungsrahmen, dessen Essenz allein mittels Vertonung zur Entfaltung gebracht werden kann. Das heißt auch, dass mittelmäßige Libretti, unverdienterweise auch „poème“ (Gedicht) genannt, weniger ins Gewicht fallen, wenn Librettist und Musiker eine symbiotische Einheit bilden. Beide sind sie pragmatische Künstler, die im Dienste des Sängerensembles stehen und möglichst maßgeschneiderte Rollen komponieren, um so die Qualitäten der ihnen zugewiesenen Sängerinnen und Sänger gebührend hervorzuheben. Als die Oper „Guido et Ginevra“ 1848 wieder aufgenommen werden sollte, arrangiert Halévy nur widerstrebend die Neueinrichtung einer bestimmten Szene, da, wie er Scribe in einem Brief erklärt, „der Hauptdarsteller nicht beliebt ist, das Publikum ihm nicht vertraut.“ Unterdessen sorgt Meyerbeer für ein Engagement von Pauline Viardot in „Le Prophète“ und wirft Scribe vor, in der gleichen Oper keine Rolle für Nicolas Levasseur vorgesehen zu haben, „der für einen Erfolg über fünf Akte hinweg viel Unterstützung braucht.“ Während Scribe bereits als Librettist an der Opéra-Comique sehr gefragt war, stieg bald auch sein Marktwert als Librettist für die Grand Opéra. Diese Entwicklung ließ so manchen langjährigen Kollegen den Mut verlieren. So schreibt Varner 1853 in einem Brief an Scribe: „Ich weiß, bei dir muss man jede Gelegenheit ergreifen und die Gunst der Stunde nutzen, 194


denn haben Meyerbeer oder Auber dich einmal zwischen den Fingern, so nehmen sie dich vollkommen in Anspruch.“ Die Pariser Oper und das hiesige Publikum hatten einen hervorragenden Ruf, der Komponisten aus ganz Europa anzog. In einem Brief an Scribe bezeichnet der deutsch-englische Musiker Julius Benedict sie sogar als „bedeutendstes Musiktheater der Welt“ und „Wächter des guten Geschmacks“. Dennoch gab es keine Garantie dafür, an der Oper auch tatsächlich gespielt zu werden, und so „wird das jeweilige Libretto jedem Opernintendanten im Vorhinein präsentiert“, fügt Benedict hinzu. Doch wie gesagt, zahlreich waren die Komponisten, die sich um eine Zusammenarbeit mit Scribe bemühten. Ein anderer englischer Komponist, Balfe, schreibt 1847: „Keiner hat je eine Oper schneller geschrieben als ich, und wäre das Libretto von Scribe, so versichere ich Ihnen, käme eine gute Partitur dabei heraus, selbst wenn ich sie in Eile schriebe.“ Im Jahr 1830 erklärt Berlioz in einem Brief an seinen Vater, dass allein Scribe in der Lage wäre, „eine Partitur reüssieren zu lassen“. Schließlich wurde der Schöpfer der „Huguenots“ von der öffentlichen Meinung dermaßen eng mit der Oper verknüpft, dass Pillet 1846 das Gerücht verbreitete, der Schriftsteller sei krank, „um sich bei der Öffentlichkeit dafür zu rechtfertigen, dass er bei dir nichts bewirkt“, wie ein Freund Scribes diesem in einem Brief mitteilt. Von den insgesamt 53 Komponisten, die je mit Scribe zusammenarbeiteten, hatten nicht mehr als 13 Musiker das Glück, ein Werk für die Pariser Oper mit ihm zu schaffen: Auf Auber (acht Opern) folgten Halévy (fünf Opern), Meyerbeer (vier Opern), Donizetti (drei Opern) und neun weitere Komponisten, die nur ein einziges Mal mit Scribe kooperierten, darunter Rossini, Verdi und Gounod. Lediglich vier Musiker hatten sowohl für die Pariser Oper als auch für die Opéra-Comique mit Scribe kooperiert: Auber, Halévy, Meyerbeer und Clapisson. Diese Liste hätte sich mit weiteren illustren Namen schmücken können. Ende des Jahres 1832 erhält der französische Librettist den Auftrag, eine Grand Opéra für die Berliner Hofoper zu schreiben, wobei man ihm bei der Wahl des Themas „mit Bezug zur neueren Geschichte oder etwas Romantisches“ absolute Freiheit einräumte. Für die Vertonung hatte man bei Mendelssohn angefragt. Scribe nahm das Angebot an und „wollte wissen, welcher Art Monsieur Bartholdys Talent ist“, denn „für Meyerbeer und Rossini würde ich nicht das gleiche Libretto schreiben wie für Auber oder Boieldieu“. Im darauffolgenden Jahr ließ er Mendelssohn wissen, dass er nach einem Thema suche, „das Ihnen neben düsteren und tragischen Partien lebendige und fröhliche Melodien eingibt“. Man entschied sich für „Der Sturm“ von Shakespeare, doch das Projekt kam nie zum Abschluss und, wie weiter oben ausgeführt, „erbte“ Halévy das Libretto nach Mendelssohns Tod. So wurde auch „La Nonne sanglante“ zunächst für Berlioz geschrieben. In seinen Briefen aus den Jahren 1839 bis 1842 finden sich Hinweise 195


auf die Geschichte dieses Projekts: Beide Seiten scheinen zu gleichen Teilen Anteil an seinem Scheitern zu haben. Unterdessen gilt Berlioz in nicht unerheblichem Maße verantwortlich für das Scheitern einer „Faust“-Adaption, die 1848 in London gezeigt werden sollte. Anlässlich seines ersten Paris-Aufenthalts im Jahr 1840 machte auch Wagner Scribes Bekanntschaft und erhielt von diesem die Erlaubnis, einer Probe beizuwohnen. Wagner bot Scribe eine Zusammenarbeit für „Der Fliegende Holländer“ an – jedoch ohne Erfolg, und so ging der Auftrag an Paul Foucher. Durch die für die Grand Opéra typische Abwesenheit gesprochener Passagen kommt die dominante Position eines Musikers gegenüber seinem Librettisten im Vergleich zur Opéra comique noch stärker zum Tragen, und so war die gemeinsame Arbeit an einer Grand Opéra das einzige Feld, in dem Scribe seine Meinung nicht gegen die des Komponisten durchsetzen konnte. Tatsächlich kam es aber aufgrund seines außergewöhnlichen Genies als Bühnenautor nicht selten vor, dass Scribe versuchte, die Arbeit seiner Komponisten zu beeinflussen. In den „Erläuterungen“ zu „Judith“, einem unvollendeten Libretto, schreibt Scribe 1856 dazu an Meyerbeer: „Sie werden mit Recht finden, dass ich nicht weiß, wovon ich rede, wenn ich über Musik spreche, aber Sie als Musiker sollten erahnen können, was ich sagen möchte, und verstehen, was ich nicht selbst verstehe.“ Meyerbeer, den Scribe als „großen Teufel“ bezeichnet, war zweifellos der anspruchsvollste Partner, mit dem er je zusammengearbeitet hat. In einem Brief an Scribe beschwert Roqueplan sich 1852 sich über „seine natürliche Akribie“ und seine „Abneigung […] gegen alles, das ihn kompromittiert oder bindet“. Die Gründlichkeit, mit welcher alle Eventualitäten in den Verträgen zwischen Scribe und Meyerbeer aufgeführt wurden, zeugt von einer spannungsgeladenen Zusammenarbeit, an welcher die Trägheit des Musikers nicht ganz unschuldig schien. Übrigens sah sich dieser nicht selten mit Vertragsstrafen konfrontiert. In dem Entwurf einer Vereinbarung vom 1. September 1857 kommt Scribes Wunsch zum Ausdruck, „die Frucht seiner Arbeit, einer weit weniger wertvollen aber zweifellos ebenso so gründlich, fleißig und mühselig ausgeführten, Arbeit“ nicht zu verlieren. Scribe schreibt weiter: „Das bereits fortgeschrittene Alter von Monsieur Scribe macht es ihm unmöglich, wie im Fall von „Vasco de Gama“ („L’Africaine“) 22 Jahre oder sogar noch länger auf die Aufführung der Oper „Judith“ zu warten.“ Anlässlich einer Zusammenarbeit mit Verdi für „Les Vêpres siciliennes“ zeigte auch Verdi sich anspruchsvoll, jedoch ohne sich zu den gleichen Kapriolen wie sein Berliner Rivale hinreißen zu lassen. „Haben Sie noch etwas Geduld, Monsieur Scribe. Ich habe Sie schon fast genug behelligt“, lautet der Schlusssatz unter einer Notiz voller Änderungsanfragen. Ohne dass sie sich je auch nur über das Thema ihrer gemeinsamen Oper abgestimmt hätten, schickte er seinem Librettisten in spe im August 1852 folgende Erklärung: 196


„Nicht ich habe Schuld daran, so verwöhnt, mäkelig und anspruchsvoll zu sein, sondern Sie. Ihre bisherigen Libretti haben mich dermaßen mitgerissen, ja berauscht, dass ich mir nun auch für mich eine Vorlage wünsche, für die ich brenne und die mich ausrufen lässt: Das ist es! Genau das ist es! An die Arbeit, aber schnell!“ Unbestreitbar gilt Eugène Scribe als bedeutendster Bühnenautor, der je an der Opéra-Comique und der Opéra gewirkt hat, zudem konnte er die Entwicklung beider Gattungen in entscheidendem Maße prägen. Mit Bezug auf den Titel hier noch ein letztes Wort zur Thematik der „Libretto-Werkstatt“, womit das im 19. Jahrhundert relativ geläufige Phänomen der „literarischen Zusammenarbeit“ in den Mittelpunkt rückt: Neben 53 Musikern zählte Scribe 71 weitere Mitarbeiter zu seinem Wirkungskreis. Tatsächlich schrieb er lediglich 102 seiner 425 Stücke ohne Beteiligung Dritter. Vor diesem Hintergrund scheint es nur verständlich, dass der Librettist in dieser Frage Kritik erntete. Nicht nur Alexandre Dumas der Ältere ging davon aus, Scribe habe eine Werkstatt für Bühnentexte geführt und zahlreiche Schriftsteller für sich schreiben lassen. Nach seinem Tod reagierte die Witwe folgendermaßen auf diese Anschuldigungen: „Diese Libretto-Werkstatt ist reine Erfindung. Scribe hatte viel zu viel Respekt vor seiner Kunst, um sich solcher Methoden zu bedienen. […] Zweifellos konnte er an mehreren Werken gleichzeitig arbeiten, doch es ist nicht wahr, dass er die Aktivitäten einer Schar gewöhnlicher oder außergewöhnlicher Mitarbeiter überwachte und anleitete, wo er doch im Gegenteil an jedem Werk gesondert arbeitete und jedem seiner Mitarbeiter als Freund und auf Augenhöhe begegnete, und nicht als Vorgesetzter.“ Alle Schriftsteller, die je mit Scribe zusammenarbeiteten, bestätigen die Aussage seiner Witwe. Scribe brauchte diesen ununterbrochenen ­Austausch mit seinen Mitarbeitern, als wären sie für ihn so etwas wie der erste Zuschauer der Aufführung. Der Textfabrikant war von derart starkem Temperament, dass er stets die Oberhand über seinen Schreibkollegen ­b ehielt. Edouard Mazères, der Scribe bei elf Stücken unterstützt hatte, ­erklärte dazu: „Zunächst muss man klar und deutlich sagen: Die Erfindungen eines Anderen genügen Monsieur Scribe nicht; sie stimulieren, befruchten und beleben seine eigenen Ideen, doch niemals würde er sie übernehmen, ohne sie einer vollständigen Transformation zu unterziehen. […] Wer annimmt er würde sie nur überarbeiten, irrt sich; er bringt immer selbst hervor. […] Sie sind nicht mehr Sie selbst, Sie werden zu ihm. […] [So sah ich stets] wie meine Arbeit vom Feuer seiner immer wieder neu aufflammenden Inspirationen allmählich verzehrt wurde, und jene Seiten, die auf die meinen folgten und sie ersetzten, enthielten kaum mehr als einige Bruchstücke meiner Arbeit.“ 197


Émile Perrin, der weiter oben bereits zitiert wurde, fügt hinzu: „Seine Mitarbeiter waren wie ein Buch für ihn, dessen Gedanken er in einer unglaublichen Geschwindigkeit erfassen und überflügeln konnte. Er hörte die heimliche Stimme seiner eigenen Inspiration aus dem Getöse der Stimmen der Anderen heraus.“ Der bedeutendste Librettist des 19. Jahrhunderts hatte also gar keine Werkstatt nötig. Hätte er etwas später gelebt, so hätte man ihm zweifellos einen Stern auf dem Walk of fame des Hollywood Boulevards verliehen. Die abschließenden und überdies sehr pointierten Worte seien dem großen österreichischen Kritiker Eduard Hanslick gewährt: „Scribe war gar nicht musikalisch; er spielte kein Instrument und hat sicherlich niemals eine Gesangslektion gehabt. Trotzdem darf man ihn einen großen musikalischen Erfinder nennen. Er hat nämlich als der Erste, ja fast der Einzige, das Genie für jene dramatischen Situationen besessen, welche der Musik neue Wege eröffnen und ihren ganzen Werth erst durch die Musik bekommen.“

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V E R H Ä N G N I S VO L L E B Ä L L E U N D TA N Z AU F D E M G L AT T E I S [ p r ä -] k a t a s t r o p h i s c h e Ta n z s z e n e n i n G i a c o m o M e y e r b e e r s O p e r n ko m p o s i t i o n e n

St e p h a n i e S c h r o e d t e r D e r fo l g e n d e B e i t r a g b i et et e i n e n E i n b l i c k i n m e i n e M o n o ­ g r a p h i e P a r i s q u i d a n s e . B ew e g u n g s- u n d K l a n g r ä u m e e i n e r ­G r o ß s t a d t d e r M o d e r n e [Wü r z b u r g: Kö n i g s h a u s e n & N e u m a n n [i m E r s c h e i n e n] ] , d i e z w i s c h e n S e p t e m b e r 2 012 u n d A p r i l 2 015 i m ­R a h m e n e i n e s a n d e r H o c h ­s c h u l e d e r Kü n s t e B e r n d u r c h g ef ü h r t e n Fo r s c hu n g sp r o j e k ­t e s z u G i a c o m o M eye r b e e r s O p e r n ko m p o s i t i o n e n vo m S c hw e i z e r N a t i o n a l fo n d s [S N F] g efö r d e r t w u r d e .

Mehr indirekt als direkt und schon gar nicht plakativ zur Schau gestellt, belegen die Tänze – genauer: die Inszenierungen von Gesellschaftstänzen und letztlich tänzerischen Gesellschafts­insze­n ierungen – in Giacomo Meyerbeers Opernkompo­si­tio­nen, wie aufmerksam dieser Kompo­n ist das Pariser Kulturleben seiner Zeit, in dem der Tanz von zentraler Bedeutung war, be­ob­achtete und musikalisch reflektierte. Meyerbeers Bühnen­tanz­­Kompositionen, deren choreo­grafische Umsetzung er mit größtem Interesse verfolgte (wenn er nicht sogar an ihrer Konzep­tion und Inszenierung unmittel­bar mitwirkte), schöpfen unverkennbar aus dem Reservoir der seinerzeit virulenten „Dansomanie“, für die Paris weit über die Grenzen Frank­­­ reichs hinaus be­k annt war. Als Ausdruck eines seit der Französischen Revolution neu aufkommenden Freiheits­d ranges privater wie politischer Natur zog sich diese (im wörtlichen wie übertragenen Sinn) weit ausgreifende Bewegungslust durch sämtliche Gesell­schafts­k reise, spiegelte dabei gesell­ schafts­poli­tische Veränderungen ebenso wieder­­wie durch sie ein grundsätzlicher Wandel der Gesellschafts­struktur voran­getrieben wurde. Dieses zweifellos faszinierende Phänomen begünstigte eine Entwicklung, die das Tanz­verständnis des 19. Jahrhunderts wesenhaft prägen sollte: Neben einer zuvor ungekannten, aus phantasievollen Neukombi­na­tionen entsprungenen Formenvielfalt zeigen sich stilistisch diver­g ierende, 1

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zu­neh­mend individueller gestaltete Ausprägungen einer und der gleichen Tanzform, die die Kreativität und Originalität der Tänzerinnen und Tänzer unter Beweis stellen sollte. Dabei wurden die alt­hergebrach­ten, noch dem Ancien Régime ver­pflich­teten Bewegungs­kon­ventionen von neuen Tanzmoden verdrängt, die insbesondere für „Charak­ter­is­tisches“ bürgten – allen voran die zu „Charakter­tänzen“ über­formten „Nationaltänze“. Sie wurden auf der Bühne dem dramati­schen Kontext entsprechend durch bewegungs­ technische Stili­sierungen mit einer theatralen Semantik versehen, die ihnen im Vergleich zu ihren ethni­schen Vorlagen (und ebenso ihren Adaptionen für den Ballsaal) künstleri­sche Eigen­ständigkeit verlieh und sie nicht zuletzt in das Zentrum neuer ästhetischer Strö­mungen rückte. Unter dieser Voraussetzung etablierten sich neben den originär französischen Tänzen „französisierte“ Natio­nal­tänze, die aus ethni­schen Tanz­formen hervor­gingen und der franzö­sischen Formensprache angepasst wurden, um ihr „charakter­ istische“ Nuancen zu verleihen: Während beispielsweise Contredanse und Quadrille als „typisch franzö­sisch“ galten, lassen sich Polka, Mazurka, Redowa, Cracovienne, Varsovienne, Sicilienne, Styri­en­ne, Tyrolienne (etc.) sowie die aus ihnen hervorge­gangenen Mischformen wie Polka-Mazurka, Mazurka-Quadrille, Valse de Mazurka, Redowa-Polka, Galopp-Polka (usw.) als „fran­zösisierte“ National­tänze umschreiben. Vor diesem Hintergrund kam es zu einem regen Austausch zwischen urbanen Tanzkulturen, die unter dem Einfluss neuer Migra­tions­bewe­gun­gen innerhalb Europas standen, betont gehobenen (distinguierten) Gesellschafts­tanz-Praktiken einer auf ihren Privilegien beharrenden Klientel und dem Bühnentanz als Reflex eben dieser Entwicklungen: Die Grenzen zwischen dem Theater und der Gesellschaft, respektive der Bühne und der Stadt, wurden insbesondere während der Juli­ -Monarchie fließend, bevor es (spätestens) seit Beginn des Second Empire wieder zu neuen Grenzziehungen kommen sollte. 4

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Mit dieser Ver­städte­r ung des Theaters, die sich besonders augenfällig am (Bühnen-)Tanz nachvoll­z iehen lässt, korrespondierte eine wiederum maßgeblich vom Tanz geprägte Thea­tra­­lisie­r ung der Stadt. Daher lassen sich die Inszenierungen von Gesellschafts­tänzen auf der Bühne auch nicht nur als Tanz im Spiegel seiner selbst („Mise en abyme“), sondern auch als Spiegelungen der Gesellschaft im Tanz „lesen“. Unter diesen Vorzeichen avan­ cierten die über­aus vielfältig gestalteten und facetten­reich konnotierten Gesellschaftstanzinsze­n ierungen zu einem dramatur­g ischen Angelpunkt, gleichzeitig zu einem zentralen choreogra­fischen und drama­tischen Topos des französischen Musik- und Tanz­theaters des 19. Jahrhunderts, der die auf der Bühne darge­stell­ten Vor­gänge dem Publikum nicht nur audi­tiv und visuell (im ursprünglichen Sinn audio­visuell), son­dern auch unmittelbar kör­ per­­lich bewegt und bewegend näherbrachte, um das Geschehen audio­visuell 7

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kinästhe­tisch erfahrbar zu machen: Da ein Großteil des Publi­k ums mit diesen Tanzfor­men praktisch vertraut war, vermochte es das hör- und sichtbar Vorge­f ührte auch (und vor allem) körperlich-sinnlich wahr­zunehmen. Diese klug kalkulierte Wirkungs­­ästhetik bot sich für die Grand Opéra in ihrer Kon­zep­tion als Opéra histo­r ique umso mehr an, als hierdurch die Repräsen­ tation der (vermeint­lich) histori­schen Ereignisse un­ver­sehens sehr präsentische Züge annahm, so dass sich die Darstel­lung zeiträum­lich ungreif­bar entrück­ter Geschehnisse gerade in den Tanzszenen als eine Fassade entlarvte, hinter der sich nur allzu all­tägliche, in greif­barer Nähe liegende Er­fah­r ungs­ wirk­lichkeiten der aufblühenden Großstadt Paris verbar­gen. Insofern sind die Tänze im Musiktheater des 19. Jahrhunderts (insbesondere wäh­rend der Juli-Monarchie) – im Unterschied zu den Divertissements des 17. und 18. Jahrhunderts, die unter gänzlich anderen (ge­sell­ schafts-)politi­schen Konstellationen entstanden und dem­ent­spre­chend auch grund­sätzlich anderen dramaturgischen, dramatischen und nicht zuletzt choreogra­fischen Konzeptionen entsprangen – vor allem als Realitätsfragmente zu begreifen, die sie wie Carl Dahl­haus mit Bezug auf die Bühnenmusik formulierte „als Zitate – als ein Stück Außen­­­welt, wie es scheint – aus einem Kontext hervortreten lassen, in dem die Musik die Sprache der ge­ samten Welt ist, die das Drama um­faßt, und sich, obwohl sie artifiziell und kon­ventionell ist, so präsen­tiert, als wäre sie natür­lich und selbstverständlich“. Von beson­derem Interesse ist dabei, dass just diese tänze­r ischen Reali­ täts­fragmente, die – vergleichbar Mosaik­stein­chen –Bruchstücke der urbanen „Außenwelt“ in die „Kunstwelt“ der Oper trans­ferie­ren, zu­meist an ent­scheidenden drama­tischen Wende­punkten oder auch – als heiter-beschwingte Kon­trast­folie oder kurzfristig ent­s pannendes Retar­d ierungs­ moment – im unmit­telbaren Vor­feld von Augen­blicken größter Gefahr, veritablen Schock­­momen­­ten, positio­n iert sind: Diese Tänze dienen aller­ höchstens vor­dergründig der Unter­hal­tung und Zerstreu­u ng (dem etymologischen Verständnis von Divertisse­ments), tatsächlich haftete ihnen ein Signal­charakter an, der vermutlich seiner­zeit von jedem routinierten Theater­ besucher so­gleich dechiffriert werden konnte. Tanz und Katastrophe avancierten im Theater zu einem Synonym – nicht zuletzt als Wiederspiegelung urbaner Erfahrungs­w irklich ­keiten. Somit trugen gerade die Tänze essentiell zur Potenzierung jener hochgradig katastro­phisch aufgeladenen Szena­r ien bei, auf die das Handlungsgeschehen der Grands Opéras kontinuierlich zusteuert und die der ausgewiesene Paris-Spezialist Walter Benja­m in (allerdings ohne sich dabei auf das Musik­theater des 19. Jahrhunderts zu beziehen) als geschichts­konsti­tu­ie­rend heraus­a rbei­tete: „Ver­gangenes historisch artikulieren heißt nicht, es erkennen, ‚wie es denn eigentlich ge­wesen ist’. Es heißt, sich einer Erinnerung bemächtigen, wie sie im Augenblick einer Gefahr aufblitzt“. Benjamin 9

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veranschaulicht dieses Geschichtsverständnis u. a. an seiner Interpreta­tion von Paul Klees aquarellierter Zeichnung „Angelus Novus“ (1920), die an dieser Stelle wieder­gegeben werden soll, da sie im Hinblick auf die in den Grands Opéras implizierten musikdrama­tischen Geschichts­reflexionen überaus aufschlussreich erscheint – so paradox es auch zu­nächst erschei­nen mag, sich in diesem Zusammenhang auf einen Vertreter eines dezi­d iert anti-illu­ sionis­ti­schen und avant­gardisti­schen Kunst­verständnisses des 20. Jahr­ hunderts zu berufen. „Es gibt ein Bild von Klee, das Angelus Novus heißt. Ein Engel ist darauf dargestellt, der aus­sieht, als wäre er im Begriff, sich von etwas zu entfernen, worauf er starrt. Seine Augen sind aufgeris­sen, sein Mund steht offen und seine Flügel sind aufgespannt. Der Engel der Geschichte muß so aussehen. Er hat das Antlitz der Vergangen­heit zugewendet. Wo eine Kette von Begebenheiten vor uns erscheint, da sieht er eine einzige Kata­stro­phe, die unablässig Trümmer auf Trümmer häuft und sie ihm vor die Füße schleudert. Er möchte wohl verweilen, die Toten wecken und das Zerschlagene zusammenfügen. Aber ein Sturm weht vom Paradiese her, der sich in seinen Flü­geln verfangen hat und so stark ist, daß der Engel sie nicht mehr schließen kann. ‚Der Sturm‘ treibt ihn unauf­haltsam in die Zukunft, der er den Rücken kehrt, während der Trümmerhaufen vor ihm zum Himmel wächst. Das, was wir Fortschritt nennen, ist dieser Sturm.“ 14

Abb. 1 bis 4 Le Diable à Paris – Allgegenwärtige Teufelsdarstellungen in der Großstadt Paris. Im Zuge der Verstädterung wurden die überall lauernden Gefahren eines moralischen Verfalls und damit ein­hergehenden gesellschaftspolitischen und soziokulturellen Abstiegs mit der Metapher des Teufels in Verbindung gebracht. Oben links: Frontispiz aus Le Diable à Paris. Paris et les parisiens: Mœurs et coutu­mes, caractères et portraits des habitants de Paris, tableau complet de leur vie privée, publique, politique, artistique, littéraire, industrielle, etc., Paris 1845 [mit zahlreichen Neuauflagen bis 1857]; rechts: Titelblatt einer Quadrille von Bosisio, die seinerzeit – vergleichbar den „Singles“ des 20. Jahrhunderts oder dem derzeit gängigen MP-Format – weite Verbreitung fanden. Unten links: eine Quadrille zu einer Melodie aus dem „Robert le diable“ mit einer eindrucksvollen Nonnenballett-Illustration; rechts: Verführung einer als „Tyrolienne“ [dem Inbegriff eines naiven Dorfmädchens] verkleideten „höheren Toch­ter“ durch einen als Teufel verkleideten Herrn [einem seinerzeit überaus beliebten Verklei­dungs­topos] auf einem Maskenball. Der städtische Konflikt wurde somit nicht nur im Theater wiederge­spie­gelt, sondern auch auf den Bällen „nachgespielt“, so dass die unmittelbare Wechselbeziehung zwischen der Stadt beziehungsweise den urbanen Tanzkulturen und dem Theater gerade an diesem Topos – aus­gehend von dem Nonnenballett aus „Robert le diable“ – sehr anschauliche und gleichzeitig überaus humor­volle Konturen gewinnt. [BnF Bibliothèque-Musée de l’Opéra und Département de la musique]

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Abb. 1 – 4

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Man ist versucht, in einigen der Protagonisten von Giacomo Meyerbeers Grands Opéras solche Engel zu erken­nen. Und da es sich bei Benjamins Geschichtsverständnis um ein „Geschichtsbild“, gleich­zeitig ein „dialektisches Bild“ handelt, dem Bewegung als „erstarrte Unruhe“ innewohnt, ist man ebenso versucht, Meyerbeers Grands Opéras generell – nicht zuletzt aufgrund ihrer musi­k a­­lisch suggestiven Visualität – als musikdramatische „Geschichts­­­bilder“ im Sinne Benja­m ins zu verstehen. Zu ihrer Konzeption gehört essentiell – gleichwohl weniger als „erstarrte Unruhe“ viel­mehr als explosiv aufgeladende, latent brodelnde Bewe­g ungs­energie – Tanz, ver­ standen als eine originär körperliche Kinetik, die unmittelbar physisch ergreift und emotional tief bewegt. 15

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D a s N o nn e nball e t t d e s „ R o b e r t l e diab l e “ al s S p i e g e l urban e r Tanz kat a s t r o p h e n In einschlägigen Fachkreisen wird bei der Erörterung des zweifellos epochemachenden Nonnen­balletts aus Meyerbeers „Robert le diable“ (1831) immer wieder und in erster Linie auf seine Initial­­zün­dung zur Gestal­tung ätheri­scher Sphären (mit der Herausbildung eines entsprechen­den Bewe­ gungsvokabulars) hingeweisen, um seine Bedeutung als Keimzelle des sogenannten romantischen Balletts herauszustreichen. So verständlich und berechtigt dieser Ansatzpunkt auch ist, er­scheint es mir dennoch sinnvoll, sich dieser Szene von einem diametral gegen­über­liegen­den Pol – den (allzu) irdischen Regionen der Pariser „Dansomanie“ – zu nähern, um seine Bedeutung für nachfolgende Entwicklungen (insbesondere für den Tanz im Musiktheater) noch präziser erfassen zu können. Dieser Zugang ändert nichts Grundsätzliches an dem Umstand, dass diese Szene unbestritten einen ent­scheiden­ den Impuls zu jenen Ballets fantastiques gab, die zum Inbegriff der Ästhetik einer ganzen Epoche stilisiert wurden, obgleich es sich hierbei letztlich nur um singuläre, wenn auch sehr bestechende Produk­tio­nen handelt. Er belegt jedoch einmal mehr, dass im Gegen­satz zu dem Nonnen­ballett aus „Robert le diable“ mit seiner überaus raffinierten Verqui­c kung göttlich-meta­phy­­ sischer und teuf­lisch-irdischer Ebenen die nachfolgenden Ballettpro­duk­ tionen bereits deut­lich im Zeichen einer Profanisierung der romantischen Kunst­ästhetik durch die zuvor skizzierte Verstä­dte­­rung des Theaters und Theatralisierung der Stadt stehen. Die ursprünglich wesen­haft konstituierende religi­öse Kom­ponente romantischer Kunstanschauung schim­mert, wenn überhaupt, nur noch schemenhaft durch, während diaboli­sche Komponenten als Metapher für großstädtische Verführungen in den Vordergrund rücken. Letztere kommen vor allem im Kontext von Gesellschaftstanz­-Insze­ nie­r un­gen bezie­hungs­­weise inszenierten Bällen und Volks(tanz)festen zum 17

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Vorschein, weil Tanz – der urbanen Erfah­r ungs­welt zufolge – gleichsam obliga­torisch größeres Unglück nach sich zieht. Der Teufel bildet somit immer weniger einen Gegenpol zu göttlichen beziehungsweise überirdischen Kräften (wie noch im Meyerbeers „Robert le diable“), vielmehr wird er zum Symbol für die in der aufblühenden Großstadt Paris allgegenwärtigen Gefahren durch neu aufkom­men­de Freizeit­vergnügungen – allen voran jene von den urbanen Tanzver­a nstaltungen ausgehenden, die „Haut-“ und „Demi-Monde“ gleichermaßen anzogen und dabei zu riskanten Grenzüberschrei­ tungen verleiteten. Diese semantische Kippbewegung von metaphysischen zu allzu physischen Konnotationen wohnt dem Nonnenballett bereits wesenhaft inne und sorgt auch gerade durch diese raffinierte Doppelbödigkeit für eine besondere Spannung. Insofern darf bei aller Begeisterung für die erstmalige und auch überaus wirkungsvolle Gestal­tung einer irrealen Sphäre in Meyerbeers „Robert le diable“ als Urzelle der späteren Ballets blancs nicht aus dem Auge verloren werden, dass es sich bei dem Nonnenballett – ebenso wie bei dem zweiten Akt von „Giselle, ou Les Wilis“ – um eine kunstreich verschleierte Ball­szene nach dem Muster der städtischen „Bals publics“ handelt. Wäh­rend in „Giselle“ (und nachfolgenden Inszenierungen) dieser stoff­liche Ur­sprung subtiler kaschiert wird, indem er beispiels­weise auch mit einer fremdländischen Couleur versehen wird – neben einem Walzer und Qua­d ril­lenfrag­menten finden sich Elemente exotischer Tänze –, bleibt in Meyer­beers Non­nen­ballett der Bezug zu den Pariser Tanzkulturen noch „unverfremdet“: In den zweiten Teil des Baccha­nales ist eine Quadrille einge­webt, während die „Séduction par le jeu“ – um die ver­häng­n isvolle Kombination von Tanz und Spiel zu unter­ streichen – von Walzer­rhythmen grun­d iert wird und der schadenfroh aufpeit­schende Chœur dansé schon zu einer veritablen Galop­pa­de einlädt. Er etabliert den Topos einer sich sukzessive beschleuni­genden, zielstrebig auf ein infernales Chaos zusteuernden Dynamik (gleichermaßen Geschwindig­keit wie Lautstärke betreffend), die bereits den Nukleus zum Offenbach’schen Cancan darstellt. Ebenso liegen einigen Gesangs- und einzel­nen Instru­mental­partien des „Robert le diable“ Tanzmelodien zugrunde, die – und das ist der Unterschied zu vergleichbaren Praktiken in früheren Opernkompositionen – auf Charakter- beziehungsweise Natio­naltänze, d. h. „charakte­r istische“ Tänze zurückgreifen, um auf die psy­chische Verfassung eines Protagonisten, seine innere „Gestimmtheit“ zu verweisen: Beispiele hierfür bieten die Sicilienne „L’or est une chimère“, mit der Robert seine freizügig-lockere Lebenshaltung unter­streicht (I. Akt, Nr. 3a), oder das Ländlerfragment, das Alices und Roberts Wiedersehen einleitet und dabei kurzfristig Erinnerun­gen an die gemein­same, unbeschwerte Kindheit wachzurufen scheint (I. Akt, Nr. 2a). 18

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Schließlich verdienen in diesem Zusammenhang auch der Chœur dansé mit anschließen­dem Pas de Cinq im II. Akt des „Robert le diable“, die Valse infernale im III. Akt (wiederum als Chœur dansé konzi­piert) und der Chœur dansé am Beginn des IV. Aktes eigens Beachtung: Es handelt sich hierbei um Szenen, in denen (Chor-)Gesang und Tanz beziehungsweise gestische Bewegung – unmittel­bar aufeinanderfolgend oder direkt miteinander verbunden – Kollektiv­dynamiken ver­sinn­bild­l­i­chen, die den gesellschaftlichen Bezugsrahmen eines Protagonisten bilden. Auch sie sind katastrophisch aufgeladen, indem sie entweder am Beginn eines sich zunehmend drama­ tischer verwickelnden Geschehens stehen (das gilt für den Chœur dansé des II. Aktes mit an­schlie­ßendem Pas de cinq, dem eine Quadrillenformation zugrunde liegt), oder bereits mitten in einer Katastrophe positioniert sind: das trifft für die Valse infernale des Höhlen- bezie­hungsweise Höllenchors zu, die nicht weniger als eine „drama­turgi­sche Schlüsselszene“ des Robert mar­k iert. Der Chœur dansé von Isabelles Hofdamen, der den IV. Akt einleitet („Noble et belle Isabelle“), verbreitet vergleichbar dem des II. Aktes eine ver­meint­­lich ungetrübte, heitere Stim­mung, von der jeder versierte Opernbesucher des 19. Jahr­hun­derts sogleich ahnen konnte, dass es sich hierbei um ein Retardierungsmoment vor einer unmittelbar auf­ziehen­den Katastrophe handelt – in diesem Fall der letzten und schließlich auch ein glückli­ches Ende her­beiführenden. 21

G e s e ll s chaf t s t änz e im U m f e l d p ri vat e r Ko nf lik t e un d ­p o li t i s ch e r K at a s t r o p h e n Dem Modell des „Robert le diable“ folgend, avancierten Ball- bzw. Gesellschaftstanz-Inszenierungen mit latent katastrophischem Potenzial zu einem unerlässlichen Bestandteil von Grands Opéras, der allerdings im Verlauf des Second Empire durch einen allzu routinierten Einsatz an seiner ursprünglichen Sprenghaft erheblich einbüßen sollte. Bereits zwei Jahre nach der Uraufführung des „Robert“ eröffnet die 3. Szene des V. Aktes von Daniel François Esprit Aubers „Gustave III, ou Le Bal masqué“ (1833) mit einem prunk­vollen Ballsaal – genauer: einem Opernballsaal –, in dem sich ein wenngleich privat motivierter, letztlich politischer Skandal ersten Ranges ereignen soll: unmittelbar nach dem Tanz wird kein geringerer Protagonist als der Monarch selbst getötet. Das Publikum, das dieser Katastrophe beiwohnte, sah somit auf der Bühne einen Raum, in dem es sich auch selbst befand: Alljährlich zur Karne­ vals­zeit wurden Bühne und Auditorium der Pariser Opéra durch aufwen­d ige Umbauarbeiten zu einem weitläufi­gen Ballsaal verwandelt, um zu einem Höhepunkt der inner­städtischen Tanzvergnügen einzula­den, der seit der 208


Amtszeit von Louis-Désiré Véron (1831) nicht mehr ausschließlich privile­ gier­ten Gesell­schafts­k reisen zu­gäng­lich war, son­dern seine Tore in erster Linie für ein zahlendes Publikum öffnete. Doch es bleibt nicht bei solchen Anspielungen auf unmittelbare Bezüge zwischen dem „realen“ architek­ tonischen Außen- bezie­hungs­weise Innenraum und den Räumen des dargestellten Geschehens. Es drängen sich auch Analogien zu psychologi­schen Dimen­sionen dieser Erlebnisräume auf, in denen der Tanz gleichsam obligatorisch kata­strophale Folgen nach sich zog – wie zahl­reiche Stiche jener Bals masqués belegen, mit denen die Pariser Opéra zur Karnevalszeit zu einem fulminan­ten Spektakel einlud: Ein sich späte­stens ab Mitter­n acht ent­ wickelndes, verheerendes Chaos, das auch Menschen­leben fordern konnte, war bei diesen Ver­a nstaltungen, die Menschen­massen anzogen und ent­fes­ selten, gerade­zu vor ­program­m iert. Es handelt sich hierbei um eine frühe Form großstädti­scher Massen­ ver­gnü­gungen, mit deren Energetik man seinerzeit noch kaum vertraut war und die daher umso mehr beängstigte, aber auch faszinierte, so dass es sich anbot, sie in das Zentrum eines dramatischen beziehungs­weise katastrophalen Geschehens auf der Bühne zu rücken. Der Um­stand, dass Aubers Grand Opéra „Gustave III, ou Le Bal masqué“ just in der Karnevalssaison – im unmittelbaren Umfeld entspre­chender „Events“ – seine Uraufführung er­ lebte, unterstreicht die hier besonders augenfällig zu Tage tretende, unmittelbare Wechselbe­zie­hung zwischen Theater und Stadt mit der Konsequenz einer Verstä­dte­r ung des Theaters und gleichzeitig Theatralisie­r ung der Stadt (insbesondere während der Juli-Monarchie) einmal mehr. Zweifellos knüpfte Meyerbeer bei seiner Konzeption eines Balls anlässlich der Hochzeits­feier­lich­kei­ten von Marguerite de Valois und Henri de Navarre zu Beginn des V. Aktes von „Les huguenots“ – jener verhängnisvollen Tanzszene, in deren Verlauf es zum Ausbruch eines skrupel­losen Mordens im Umfeld der Bartholomäusnacht kommt – an Aubers Maskenball­ kom­po­si­tion an. Während dieser Ballszene bringen Glocken­schläge um Mitternacht, die das Signal für das Massaker der Katholiken geben, das vermeint­l ich sichere Ordnungs­gefüge des Menuetts mehr­fach kurz zum Stocken, ohne es grund­sätz­lich abzubrechen, um dann unvermittelt zu einem Galopp über­zuleiten, dessen Akzeleration eine außer Kon­trol­le geraten­de Situation schon er­a hnen lässt, bevor sie in ihrem vollem Umfang für den Zuschauer sichtbar wird. Die bereits in Aubers „Gustave III, ou Le Bal masqué“ angedeutete Menuett-Galopp-Dynamik – eine Metapher für das Ancien régime, das durch subversive Kräfte aufgebrochen wird – erhält auf diese Weise noch subtiler und wirkungsvoller, letztlich noch katastrophischer zugespitzte Züge (man bedenke, dass nach diesem Tanz nicht eine einzelne Person getötet wird, sondern ein Massen­morden einsetzt). In Offen­bachs 22

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Abb. 5 – 7

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„Orphée aux enfers“ (1858) avanciert dieser audivisuell-kinästhetische Topos schließlich zur Zielscheibe eines liebens­w ürdig-boshaften, musikdrama­ tischen Galgen­humors – zumal sich zwischenzeitlich die Er­kennt­n is durchgesetzt hat, dass die Risse im System ohnehin nicht mehr zu kaschieren sind und die Kata­strophe unausweichlich ist. Während Meyerbeers Menuett-Galopp-Abfolge den Atem vor Entsetzen anhält, löst die gleiche Tanz­ kombination bei Offenbach eine Lachexplosion aus, die nicht weniger Erstickungsgefahr in sich birgt. Vor dieser finalen Tanzkatastrophe von „Les huguenots“ finden sich jedoch noch zwei weitere Tanzszenen, die aufschlussreiche Ortswechsel von (vermeintlich) sicheren Innen­räumen privile­gierter Gesellschaftskreise in das unsichere Außengelände der Großstadt und gleich­zeitig einen Zeitsprung von der Historie zur Gegenwart mar­k ie­ren, um unterschied­liche Ebenen großstädtischen Lebens mit ihrem untergründig schwe­len­den Konfliktpotenzial ein­a nder kontrast­reich gegenüberzustellen: So verdeutlicht der tänze­ risch bewegte „Chor der badenden Frauen“ (II. Akt: „Chœur des baigneuses – dansé“) in Marguerites Hof eine erotisch aufgeladene, „para­d iesische Idylle, in der Mensch und Natur in Frieden und Liebe mitein­a nder vereint sind“, und verweist gleich­zeitig auf die seinerzeit vor allem in den Ballets panto­ mimes vielstrapazierte Harems­thematik. Er stellt eine kaum zu überbietende Kontrastfolie zu der „Danse bohé­m ienne“ im III. Akt von „Les huguenots“ dar, die den Blick auf das Leben der „einfachen“ Pariser Stadt­bevöl­kerung lenkt – und zwar jener im Paris der Juli-Monarchie und nicht (der Logik des Handlungs­geschehens folgend) des ausgehen­den 16. Jahr­hunderts wie auch der Verweis auf Tänze von Studenten, Grisetten sowie Solda­ten an dieser Stelle der Partitur unmissverständlich zum Aus­d ruck bringt. Auch bei 23

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Abb. 5 bis 7 Transformierung des Zuschauerraums der Pariser Opéra zu einem großzügigen Ballsaal (oben), Innenansicht eines „Bal de l’Opéra“ alias „Bal masqué“ (mittig) und „Sortie du Bal, 1839“ (unten). Alljährlich zur Karnevalszeit wurden Bühne und Auditorium der Pariser Opéra durch auf­wendige Um­bauarbeiten in ein großzügiges Tanzparkett für einen Maskenball verwandelt. Den Kulmi­na­t ionspunkt dieses fulminanten Ereignisses der Pariser Tanzsaison, gleichsam ihre Apotheose, stellte der in den frühen Morgenstunden einsetzende Galop final dar, der obligatorisch zu einem Mensch­enleben fordern­den „Galop infernal“ mutierte. Dieses tänzerische „Ritual“ ist Gegenstand zahlreicher bild­licher Darstel­lungen und avancierte im Tanz- und insbesondere Musiktheater zu einem audivisuell-kin­ä sthe­tischen Topos, da er für die Zuschauer nicht nur hör- und sichtbar, sondern auch (durch eigenes Er­leben ver­gleichbarer Situationen) unmittelbar körperlich emphatisch nachvollziehbar war. [BnF Bibliothèque-Musée de l’Opéra]

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diesem Tanz handelt es sich um ein Retardierungs­moment präkatastrophischen Charakters, das zudem im Zeichen einer „Raum­musik“ steht, d. h. der Tanz dient keinesfalls nur einer Kolorierung der Loka­l ität, sondern kennzeichnet den Bewegungs­raum als einen Klangraum hetero­gener Hand­lungs­ ebenen und letztlich divergie­render Interessen. Bereits im „Gustave III, ou Le Bal masqué“ wurden (freilich nach dem Modell der Ballszene aus Mozarts „Don Giovanni“) durch die Verschachtelung, mehr noch: das Aufeinander­ prallen divergierender Klang­­­schich­ten Interes­s­enskonflikte der Ball­besucher, die unter­schiedliche Gesellschafts­schich­ten präsentieren, hörbar, indem Menuett­zitate von Quadril­len­f ragmenten unter­brochenen beziehungsweise aufge­bro­chenen werden. In „Les huguenots“ wird dieses Verfahren in den Stadt­raum transferiert und musikalisch wesentlich facettenreicher ausdif­ feren­ziert: Während Valen­tine nach ihrer (unfreiwilligen) Trauung zu einer Kapelle geleitet wird, suchen protestan­tische Soldaten den Marienhymnus der Prozession mit einem Kampf- und Trinklied zu über­tönen. Der weiteren Zuspitzung dieser zunächst klanglich ausgetragenen Kontroverse wirken „Bohémiens“ mit ihren Tänzen entgegen und sorgen somit für eine heiter bewegte Ablen­k ung. Doch der Konflikt ist unausweichlich und auch un­ mittelbar bevorstehend – durch den Tanz wird die Spannung nur kurzfristig angehalten und gleichzeitig gesteigert, keinesfalls nivelliert oder gar aufgelöst. Dieser „böhmische Tanz“ ist aber auch noch aus einer anderen Perspektive von Interesse, insofern sich an ihm ein grundlegender Wandel des „Zigeunerbildes“ bezie­hungs­weise Bohé­m ien-Konzepts im Tanz- und Musiktheater des 19. Jahrhunderts andeutet, den Meyerbeer mit dieser Komposition sicherlich maßgeblich vorantrieb. Der Umstand, dass das Handlungs­ge­sche­hen dieser Szene an einer Randzone der Stadt loka­lisiert ist, legt zunächst die Vermutung nahe, dass sich hinter dieser „Danse bohé­ mienne“ ein böhmischer Tanz im weite­ren Sinne ver­birgt: Als „Bohèmes“ wurden im 19. Jahr­hundert bekanntlich generell „fahrendes Volk“ und sogenanntes „Lumpenproletariat“, aber auch Künstler mit unbürgerlichem Selbst­ver­ständ ­n is (gleich­sam Kunstvagabunden) und schließ­l ich Zigeuner als eine ethnisch schwer lokali­sierbare Bevölkerungs­gruppe bezeich­net. Da vor allem Letztere für ihre Tänze bekannt waren, ver­d ichten sich die Indizien auf einen Zigeunertanz. Doch im Gegensatz zu den auf den Pariser Büh­nen der 30er-Jahre im Zeichen einer breitflächig virulenten Spanienmode stehenden Zigeu­ner­tänze gestaltete Meyer­beer seine „Danse bohémienne“ als einen auch im engeren Sinne „böhmi­schen“ Tanz (d. h. Tanz tatsächlich böhmischer Provenienz). Vermutlich intendierte er hiermit, den gängigen, bisweilen allzu phantasievoll-exotischen Zigeuner-Interpreta­ tionen ein ver­g leichs­weise prä­z ises Lokal­kolorit entgegenzustellen. Auf diese Weise finden jüngere, unter südosteuropäischem Einfluss stehende 27

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Tanzmoden Eingang auf die Opernbühne – wie auch das drei Jahre nach „Les huguenots“ uraufgeführte Ballet pantomime „La Gipsy“ (1839) belegt, in dem die Zigeuner-Protago­n istin einen Krakowiak tanzt. Als ur­ sprüng­l ich polni­scher Nationaltanz bahnte sich der Krako­w iak seinen Weg über Böhmen nach Paris, um dort als Cracovienne zu einem salonfähigen Gesell­­schaftstanz zu avancieren – dezent mit moderaten Polka-Schritten alias Pas bohémiens bezie­hungsweise Pas piqués versehen. Abgesehen von der rhyth­m isch-metrischen Verwandt­schaft von Meyerbeers böhmischem und dem polnischen „Zigeunertanz“ aus dem II. Akt von „La Gipsy“ ähnelt sich auch ihr melodischer Duktus durch kleinschrittige Läufe und Figuren vor­nehmlich in Achtel- und Sechzehntel­bewe­g ungen sowie eindringliche staccato-Tonrepe­titionen. 29

Von hier aus ist der Schritt zur Redowatschka (Redowaczka) alias Redowa-Polka nur noch gering, für die sich in dem (musikalisch auf Cesare Pugni zurückgehenden) Ballet pantomime „La Vivandière“ (1848) ein illustres Beispiel findet, das allerdings erst über zehn Jahre nach „Les huguenots“, anders gewendet: ein Jahr vor „Le Prophète“ (1849), zur Uraufführung kam und dessen Schlittschuh-Ballett wiederum vor diesem Hintergrund an Verständlichkeit gewinnt. Doch bevor auf diese – bis in das frühe 20. Jahrhundert auf der Bühne wie im Ballsaal vielrezipierte – Tanz­szene eingegangen wird, soll noch in gebotener Kürze die „Valse villageoise“ aus dem II. Akt von „Le Prophète“ erörtert werden, da sie (ebenso wie die „Danse bohémienne“ aus „Les huguenots“) weniger im Zeichen einer Couleur locale, als einer Couleur sociale beziehungsweise Milieu­schil­de­r ung steht – und zwar eben jenem Milieu, das einen idealen Nährboden für regime­feind­liche Bewe­ gungen bot. Mit ihrem Erklingen in der Nähe von Jean’s Gaststätte in den „Faubourgs de la ville de Leyde“ wird wie­derum weniger eine holländi­sche Szenerie des 16. Jahrhunderts zur Anschauung gebracht, viel­mehr reale Gegebenheiten aus dem Paris der Juli­-Monar­chie vor Augen geführt, in dem die vorstädtischen Wirts­häuser respektive Tanzkneipen („Ginguettes“) der Treff­punkt des revol­tierenden Proleta­r iats waren. 30

Vor diesem Hintergrund ließe sich fragen, warum Meyerbeer an dieser Stelle nicht eine Polka komponierte, die doch gerade an solchen Orten exzessiv prakti­ziert wurde, und die sich somit in idealer Weise für eine sehr präzise „Milieu­schilderung“ ange­boten hätte – zumal er solche Loka­litäten offensichtlich auch mit großem Interesse selbst inspizierte (vgl. hierzu die Bildlegende zu Abb. 8 und 9). Vermut­lich stand die stilisierte Derb­heit der Valse villageoise – unge­achtet allen Be­mü­hens um kolo­r isti­sche ‚Realistik’ – der Ästhetik einer Grand Opéra doch besser zu Gesicht als eine Polka, die Assoziationen an eine Opéra comique oder Opéra bouffe weckte. 213


An dieser Stelle bietet sich ein kurzer Exkurs zur Gestaltung der Tänze in Meyerbeers Opéras comiques an, der punktuell am Beispiel von „L‘Étoile du nord“ (1854) skizziert werden soll, da für ihre Tanzszenen Notationen von Henri Justamant vorliegen. Obgleich sie sich auf eine Einstudierung am Grand Théâtre de Lyon (1854 / 55) beziehen, drängt sich durch frappie­rende Über­einstim­mungen dieser Notate mit den Regieanwei­sun­gen aus Louis Paliantis Mises en scène de Grands Opéras et d’Opéras comiques die Ver­mu­­­tung auf, dass zwischen der Pariser Opéra-Comique und dem Grand Théâtre in Lyon unmit­telbare Beziehun­gen be­standen und sich Justa­ mant bei seinen Choreografien für die Einstudierung dieser Oper in Lyon an der Pariser Urauf­führung orien­tierte. Es liegt nahe, dass es sich hierbei um eine wertvolle Quelle handelt, die Rückschlüsse auf die Uraufführungschoreografie bietet. Die Tänze zu Beginn des II. Aktes von „L’Étoile du nord“ verdienen insofern besondere Aufmerksamkeit, als Meyerbeer hier den bereits in „Le Prophète“ gestalteten Topos tanzender Marketen­derinnen (Vivandières) im Umfeld eines Soldaten­lagers erneut aufgreift, jedoch der Opéra comique anpasst, indem nun eine „Valse russe“ alias Polka-Mazurka – stell­vertretend für das Leben des „einfachen“ Vol­kes – zum Einsatz kommt. Somit scheut sich Meyer­beer auch in der Opéra comique – dem im Vergleich zur Grand Opéra alltagsnäheren Genre – „nur“ eine schlichte Polka erklingen zu lassen, die doch gerade die (allzu) alltäglichen Pariser Tanzkulturen maßgeblich präg­te. Seine Wahl einer Polka-Mazurka dürfte einerseits durch ihren avancierteren tänzerischen Anspruch im Ver­g leich zur herkömmlichen Polka, andererseits durch die Möglich­keit, auf ihrer Basis die lokale Umgebung noch „rea­l istischer“ darstellen zu können, begründet gewesen sein: Die fragliche Szene findet in einem russischen Feldlager statt, das näher an der „polnischen“ Mazurka als an der „böhmischen“ Polka liegt. 31

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Abb. 8 und 9 „La Grande Chaumière“ am Boulevard Montparnasse. Der Charme dieser Tanzlokalität bestand in einer unverstellten Schlichtheit, die vor allem Studenten, Grisetten und Loretten anlockte und nicht zuletzt zu Handgreiflichkeiten verleitete, so dass sie unter ständiger polizeilicher Beobachtung stand. Abb. 5 ist einer auf Honoré Daumier zurückgehenden Serie von Darstellungen der „Grande Chaumière“ entnommen, deren erste mit „1841“, zweite mit „1842“ und dritte schlichtweg nur noch mit „Polka“ untertitelt ist. [BnF Bibliothèque-Musée de l’Opéra]

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Abb. 8 – 9

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Für diese Argumentation spricht auch die Gestaltung des Schlittschuh-Balletts aus dem III. Akt des „Prophète“, das ebenso unverkennbar den Pariser Tanzkulturen der ausgehenden Juli-Monar­chie verpflichtet ist. Es handelt sich hierbei um eine Zusammenstellung von Formen aus dem Reper­toire der gehobenen Salontänze, die den Explosionsstoff dieser präkatastrophischen Szene wiederum vorerst ent­schärfen, um ihn letztlich zu potenzieren: Die fragliche Tanzszene – bestehend aus einer Valse, Redowa, Quadrille des Patineurs und einem ab­schlie­ßen­den Galopp – findet kurz vor dem An­griff auf Münster statt und bildet somit einen schroffen Kontrast zu dem finalen „Baccha­nale“ mit dem heuchle­r isch hul­d i­gen­den Chœur dansé („Hour­ra! Hourra! Gloire au prophète“) und dem sich un­m ittelbar anschließenden „Couplet Bachique“, das einem eupho­r ischen Todesrausch gleicht. Bei dieser Tanzszene fällt im Vergleich zu den anderen Tanz­kompo­si­ tionen Meyerbeers nicht nur die außer­ge­wöhn­­­liche Länge, sondern auch die betont konven­tionell ge­stal­tete for­male An­lage sogleich auf, in der her­kömm­ liche Tanz­modelle nicht bruch­stückhaft zitiert bezie­hungs­weise fragmentiert werden, um sie zu dra­m a­tisieren – wie es in dem Nonnen­ballett und der Menuett-Galopp-Abfolge aus „Les huguenots“ der Fall war. Statt­dessen werden klar geglie­der­te Form­teile mehr­fach wiederholt, um einem ver­gleichs­­ weise undrama­tischen choreografi­schen Formen­spiel den Boden zu bereiten. Ein Grund hierfür war sicher­lich, dass sich allein in dieser Konzeption eine choreo­g rafische Umsetzung anbietet, die der Gesell­schafts­tanz-Praxis eng verpflichtet bleibt und somit den Be­z ug zu den städti­schen Tanz­k ulturen beson­ders nach­d rücklich unterstreicht – anstatt ihn kunstvoll zu verschleiern, wie es in dem Nonnenballett des „Robert le diable“ der Fall war. Dabei haftet der Valse durch einen (paradoxer­weise) marsch­a rtigen Gestus vor allem Introduktions­charakter an, so dass nicht weiter erstaunt, dass sie nur sehr kurz gehal­ten ist. Spätestens mit dem Erklingen der sich daran anschließende Redowa, die als Pas de deux um­gesetzt wurde, wird deutlich, dass auch diese Tanz­szene – unge­achtet der hier zum Einsatz kommenden National- beziehungsweise Charakter­tänze – keinesfalls im Zeichen einer Couleur locale steht, d. h. einer Charaktisierung der örtlichen Gege­ ben­heiten bezie­hungs­weise einer natio­nalen Kolorierung des Gesche­hens dient (immer­h in handelt es sich um eine hollän­d ische und nicht böhmische Winter­­land­schaft, in der diese Szene statt­fi ndet), und auch nicht als Couleur sociale eingesetzt wird (schließlich wird hier eine einfache Landbevölkerung mit Pariser Salon­tanz­repertoire vorge­stellt). Viel­mehr werden hier unterschiedlich nuancierte Bewegungs­skizzen, gleichsam „Bewegungs­charaktere“ vorführt, wobei Be­we­gungscharakteris­ti­k a des Tanzes in das Medium der Musik über­tragen, d.h. zu einer musika­lischen Kinetik über­formt werden, die auch für sich stehen kann, um (imaginär) als tänzeri­sche Bewegung verstanden werden zu können. 35

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Als „Valse bohemienne“, somit einer böhmisch-französischen Walzer­ form geho­be­nen An­spruchs, trat die Redowa erst kurz vor der Uraufführung des Prophète ihren Siegeszug durch die Pariser Salons an, so dass sich nun – und ebenso in Bezug auf die nachfolgende Qua­d ril­le des Patineurs, hinter der sich eine Mazurka Quadrille ver­birgt – die Frage stellt, warum Meyer­beer zur Zeichnung einer einfachen Landbevöl­kerung, die aufständige Soldaten mit Nahrung versorgt, auf ein betont elegantes Tanz­reper­toire zurückgriff. Mehr noch: Auf der Basis dieser Tänze sollte auf einem vereisten See in der Nähe des Feldlagers eine Schitt­schuhlauf-Szene dargestellt wer­den, zu deren choreo­g ra­fi schen Umsetzung eigens Auguste Mabille, ein Vertre­ter einer sehr pro­­m inen­te­n Pariser Gesell­schaftstanz­lehrer­dynastie, verpflichtet wurde. Die Idee hierzu stammte von Meyerbeer selbst, der auch alles in Bewegung setzte, um sie „möglichst realis­tisch“ umsetzen zu können: Er ließ sich eigens von seinem Bruder Wilhelm aus Berlin Rollschuhe schicken, die in Paris nachgebaut wurden. Es liegt auf der Hand, dass durch den fingierten Eislauf die seinerzeit im Gesell­schafts­tanz modischen Schleifbe­wegungen (Pas glissés) in ihrem Be­we­g ungsradius und in ihrer Bewegungs­qualität noch plastischer dargestellt werden konnten, um das kinetische Erlebnis beziehungs­weise die ­k inästhetische Wirkung dieser Szene zu inten­sivieren. Schließlich konnte durch diese überaus wirkungsvolle Inszenierung einer Schlitt­schuhlaufszene eine direkte Brücke zu den urbanen Tanzkultu­ren geschlagen werden: Schlitt­schuhlaufen stellte ein attrak­ti­ves Frei­zeit­vergnügen der Wintermonate dar, für das innerstädtische Tanzlokale eigens umge­r üstet wurden. 39

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Ungeachtet der zweifellos im Vordergrund stehenden ästhetischen Intentionen dürften dieser Tanzfolge aber auch subtile politische Facetten zugrunde gelegen haben, die seinerzeit ver­mut­­lich besser erkannt wurden als man es aus heutiger Perspektive erahnen würde. So unter­streicht bei­ spiels­­weise die Illustration einer „Quadrille des Patineurs“ anlässlich eines von dem Gra­fen Alexan­d re Florian Joseph von Colonna Walewski (1810– 1868) organisierten Balls nicht nur die ursprüng­lich polnische Herkunft der Mazurka und ihre ‚französierte’ Aneig­nung als Mazur­k a-Qua­d ril­le, son­dern auch die Symphatie restaurativer aristo­k ra­tischer Kreise für eben die­sen Tanz: Der Graf war ein uneheliches Kind von Napo­léon I und der Gräfin Maria Walewska, wuchs daher zunächst in Polen auf, bevor er 1833 nach Frankreich zog. Als sein Cousin Napo­léon III an die Macht kam, wurde er Diplomat, später auch Außen­m inister (aus dieser Zeit dür­f te diese Abbildung stammen, die somit nach der Urauf­f üh­r ung des „Prophète“ ent­stand, jedoch ge­wiss einen bereits länger anhaltenden Usus widerspie­gelt). War die Mazur­ ka Quadrille dem­ent­sprechend als Tanzform, die vor allem für jene Pariser Gesell­­­schafts­k reise stand, die nach der Februar-Revo­lu­tion 1848 – kurz vor 217


Abb. 10 – 11

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der Urauf­füh­r ung des „Prophète“ – an die Macht kamen? Sind es dement­ spre­chend Anhänger des späteren Napoléon III, die in dieser Grand Opéra den Regime­­gegnern im Gefolge des falschen Propheten Nahrung bringen und sich dabei (nicht zufällig) über gefähr­lich glattes Eis bewe­gen? Ohne an dieser Stelle in Spekulatio­nen verfallen zu wollen – zumal derart direkte Anspie­lun­­­gen auf politische Kontexte Meyer­beer fern gelegen wären –, verdichtet sich auch noch von einer ande­ren Seite der Ver­d acht, dass die Schlittschuh­-Tanzszene aus dem „Prophète“ seinerzeit durch­aus politisch „ge­lesen“ wurde: Eine Karikatur von Amédée de Noé (1819 – 1879) alias Cham zeigt eine sich aus ihrer Loge vorbeugen­de „La Politique“, die mit Hilfe eines Opern­glases die ver­meint­­lichen „Eisläufer“ einge­hend studiert, um Roll­schuh­­fahren zu lernen. Wohl­wissend, dass sie sich derzeit in einer brisanten Situation – ver­gleich­bar rutschi­gem Eis – be­fi ndet, entdeckt die hier als schwerge­w ichtige Dame personi­fi zier­te Politik in der auf der Bühne vorgeführten Fort­bewegungs­technik eine Möglichkeit, ihre heikle berufliche Lage in den Griff bekommen zu können.

Abb. 12 und 13 In der „Closerie des Lilas“ wurden vor allem frühe, urbane Spielarten des Cancan praktiziert, durch die man sich neue Bewegungsfreiräume zu erschließen suchte. Nach ihrer Übernahme von dem Prado-Be­­sitzer Bullier [1847] wurde sie im Winter zu einer Eislaufbahn adaptiert, um mit einer modischen Frei­zeit­attrak­tion aufzuwarten. Meyerbeer kannte diese Lokalität, wie seinem Tagebucheintrag vom 4. Juli 1852 zu ent­nehmen ist: „Abends besuchte ich zum ersten Male in meinem Leben aus Neugier 2 Tanzlokale nie­dern Schla­ges La chaumière und La closerie des Lilla, beide Boulevard Mont Parnasse, eine ganz aparte, eigen­t üm­li­che Welt.“ In: Giacomo Meyerbeer. Briefwechsel und Tagebücher, Bd. 5 [1849 – 1852], hrsg. von Sabi­ne Henze-Döhring unter Mitarbeit von Hans Moeller, S. 630. Diesen Hinweis verdanke ich Sabi­ne Henze-Döhring als einer ausgezeichneten Kennerin von Meyerbeers Schriften.

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Zu einer stilsicheren Abrundung dieser Tanzszene wurde vermutlich auch der ab­schließende Galopp in seiner Salontanz-Ausformung und nicht als außer Kontrolle gera­tende Massen­dyna­m ik (wofür die Galoppaden aus dem „Robert le diable“ und „Les huguenots“ toposartig stehen) choreografisch umgesetzt. Dass diesem Tanz dennoch große Gefahr inne­wohnt, dürfte zum Zeitpunkt der Uraufführung des „Prophète“ ohnehin im kollektiven Bewusstsein der Opern­besucher tief verankert gewesen sein. Die Attraktion und Innovation des hier betont elegant gestalteten katastrophischen Potenzials bestand nun vor allem darin, dass die Gefahrenquelle nicht plötzlich von außen in das Geschehen ein­d ringt, sondern es von Beginn an (als spiegel­ glatter Boden) grundiert, somit latent vorhanden und auch deutlich sichtbar ist – darüber hinaus ein sehr wirkungsvolles ästhetisches Moment dar­stellt. Insgesamt gleicht diese Tanzszene in ihrer tableau­a rtigen Kon­zeption einem beweg­ten Stilleben, einem kinästhetisch aufge­ladenen Tableau, das ungeachtet seiner beschau­lichen Kinetik die dramatische Zeit (vorüber­gehend) still stellt, somit – gleichsam als „erstarrte Unruhe“ im Benjaminschen Sinne – einen letzten Ruhepunkt vor der sich anschließend sukzessive steigernden Eskalation bietet. Resümierend lässt sich zu Meyerbeers Tanzkompositionen festhalten, dass sie in ihrer ästhetischen Konzeption unmittelbar aus den Pari­s er Tanzkultu­ren schö­pfen und dabei ein Spek­trum abstecken, das deren Wandel vom Beginn bis zum Ende der Juli-Monarchie an neural­g ischen Punkten berührt: sei es durch die grund­sätzliche Thema­tisierung der Gefah­ren, die von den öffentlichen Bällen für Einzel­per­sonen ausgeht („Robert le diable“), oder sei es durch das Auf­greifen politischer Dimensionen, wobei einer­seits die Abfolge von einem histori­sierend einge­färbten, d. h. mit einer Couleur de temps versehenem Menuett mit anschließendem Galopp-Kehraus für den Bruch mit dem Ancien régime steht („Les huguenots“) und andererseits eine Mazurka Quadrille auf restaurative Tenden­zen verweist („Le Prophète“). 46

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Abb. 12 und 13 Schlittschuhlauf als großstädtisches Freizeitvergnügen fand auf der Bühne wie im Ballsaal seinen Wider­hall und sollte auch in tanztechnischen Details – wie den seinerzeit beliebten „Pas glissé ou Pas de la Mazurka“ – seinen Niederschlag finden. Oben: Abbildung aus dem „Album à la Mode“ La Mazourka des Pariser Tanz­meisters Laborde mit einer Illustration des Pas de Mazourka, dessen Schleifbewegung durch den spiegel­glat­ten Tanzboden Nachdruck verliehen wird. Unten: „Quadrille des Patineurs“ auf einem von dem Grafen Alexandre Florian Joseph von Colonna Walewski veranstalteten Ball, der die polnisch-russischen Wurzeln die­ser Tanzform unterstreicht. [BnF Bibliothèque-Musée de l’Opéra]

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Abb. 12 – 13

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Und während die „Danse bohé­m ienne“ („Les huguenots“), „Valse villageoise“ („Le Prophète“) und „Valse russe“ („L’Étoile du nord“) gleichsam als Milieustudien die Tanzkultu­ren an den „Rän­dern“ von Paris wiederspiegeln, somit im Zeichen einer Couleur sociale stehen, scheint in dem Schlitt­­schuhBallett an die Stelle möglichst realisti­scher nationaler, lokaler, sozialer oder politischer „Kolo­r ierungen“ das Bestre­b en getreten zu sein, die Bewe­ gungskinetik als solche in den Mittel­punkt des kompositorischen und choreo­grafi­schen Inter­esses zu rücken, um das Ineinandergreifen von Klang und Bewe­gung besonders plastisch zu gestalten. Anders gewendet: die Musik illustriert nicht allein das tänzerische Geschehen, sondern durchdringt es kinetisch, um das kinästhetische Erlebnis dieser Szene zu intensivieren. Und eben darin liegt Meyer­b eers geradezu hell­s ich­tiges Gespür für wei­tere Entwick­lungen im Bereich der (Bühnen-)Tanz­ä sthetik, bei denen generell fest­z ustellen ist, dass die ursprüng­liche dramatische und dramatur­g ische Kohärenz der Choreogra­fien zugun­sten ihrer Kinetik deutlich abnehmen wird, deren Technik und Virtuosität wiederum kontinuier­lich anwächst.

Abb. 14 und 15 Zeitgenössische Abbildung des Schlittschuh-Balletts aus „Le Prophète“ und Karikatur zu dieser Sze­ne von Cham [Comte Amédée de Noé] aus den „Actualités“ von Le Charivari [undatierter Zeitungs­aus­schnitt] mit dem Kommentar: „La politique allant voir le ballet du Prophète pour tacher elle aussi de marcher sur des roulettes.“ [BnF Bibliothèque-Musée de l’Opéra]

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Abb. 14 – 15

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Anmerkungen

1 Der durchaus irreleitende Begriff des „Divertissements“ wird später diskutiert [vgl. Anm. 10] und soll daher vorerst ver­mieden werden bzw. generell nur behutsam zur Anwendung kommen. 2 Der Begriff des „Bühnentanzes“ ist durchaus analog zu dem der „Bühnenmusik“ zu verstehen: Es handelt sich hierbei um einen auf der Bühne inszenierten Tanz [bzw. eine auf der Bühne inszenierte Musikdarbietung], der [bzw. die] sich in erster Linie an Zuschauer auf der Bühne [als Darsteller und Publikum ihrer selbst] richtet, denen wiederum [gleichsam in zweiter Instanz] die Zuschauer im Audito­r ium zusehen. 3 Vgl. hierzu weiter unten insb. die Hinweise zur Entstehung des Schlittschuh-Balletts aus „Le Prophète“. 4 Aus Gründen einer leichteren Lesbarkeit verzichte ich im Folgenden auf die weiblichen Endungen und ver­s tehe die männliche Endung genderunspezifisch. 5 Obgleich die Termini „Charak­ter­t anz“ und „National­t anz“ häufig synonym verwendet werden, stellen genau­genom­men allein die ethni­schen Formen [alias „Volkstänze“] „National­t änze“ im engeren Sinne dar, während ihre Stilisierungen für die Bühne „Charak­ter­t änze“ sind, die dement­sprechend auch [innerhalb der Rollen­fächer des Theatertanzes] dem „Charakter­fach“ angehö­ren. Sie dienten keines­falls nur einer Personen­charak­ter­istik, sondern wurden ebenso als Couleur locale [d. h. zur Charakteri­sierung der lokalen beziehungs­weise regionalen oder nationalen Umgebung], Couleur sociale [d. h. zur Charakterisierung des sozia­len Milieus beziehungs­weise gesellschaftlichen Um­feldes] und Couleur de temps [d. h. zu einer zeitli­chen Lokalisierung des Geschehens] eingesetzt. Ihre Adaptio­nen für den Ballsaal wurden schlichtweg als „Gesellschaftstänze“ [„danse de société“] bezie­hungs­weise – bei dezidiert geho­b e­nem Anspruch – als „Salontänze“ [„danse des salons“] umschrie­b en. 6 Gerade dieses Bemühen um die Darstellung von „Charakteris­ tischem“, das [spätestens seit Victor Hugo] auch dezidiert „Häßliches“ miteinschließt, darf als wesenliches Kennzeichen der romantischen Kunstästhetik ins­b esondere französischer Provenienz gelten. Insofern ist auch für den [durch eine einsei­t ige Rezeptionstradi­t ionen] sehr miss­verständlichen Begriff des Romantischen Balletts vor allem dieses Moment des Charak­ teristi­schen bedeut­sam, das sich insbesondere in der Thematisierung alltäglicher und letztlich [groß-]städtischer Konflikte [wie Grenzziehungen durch Gesellschaftsschranken bzw. die Kluft zwi­schen vermögenden und un­ter­privile­gierten Bevölkerungskreisen] äußert und in deren Kontext „charakteris­ tische“ Gesellschaftstänze zum Einsatz kamen. Erst vor diesem Hintergrund erklärt sich die neu aufkommende Faszination an der Dar­s tellung über­irdischer Sphären bzw. untoter Erscheinungen [Ele­mentargeister], die metaphorisch für eine Sehn­sucht nach Grenzüber­schrei­t ungen bis hin zu Bewusst­seins­ent­grenzungen bzw. Bewusstseins- / Kontroll­verlusten steht. 7 Vgl. hierzu Anselm Gerhard, Die Verstädterung der Oper. Paris und das Musiktheater des 19. Jahrhunderts, Stuttgart 1992. 8 Der Begriff des Tanz- und Musiktheaters bezeichnet hier – der Terminologie von Pipers Enzyklopädie des Musiktheaters folgend [hrsg. von Carl Dahlhaus und dem Forschungsinstitut für Musiktheater der Universität Bayreuth unter Leitung von Sieghart Döhring, München / Zürich 1986ff] – sämtliche Theaterformen, deren Dramatik und Dramaturgie sich primär über Musik / Klänge respektive Tanz / Bewegung vermitteln. Er bezieht sich somit nicht ausschließlich auf jenes Musik- bzw. Tanztheater im engeren Sinne, das sich seit der historischen Avantgarde des frühen 20. Jahrhunderts von vielfältigsten älteren Opern- und Balletttraditionen dezidiert abzusetzen sucht[e]. 9 Ungeachtet der Beibehaltung der Terminologie wandelt sich die Ästhetik der Divertissements im Musik- und Tanztheater des 19. Jahrhunderts grundlegend. Erst unter Berück­sichtigung

dieser Veränderung des Diver­tissement-Verständnisses, somit einer Historiographie des Divertissement-Begriffs aus einer [musik-]theatra­len Perspektive lässt sich diese Terminologie weiter aufrecht erhalten ohne in grobe Verall­gemeinerungen – wie beispielsweise der Annahme eines primären Unterhaltungscharakters dieser Tanzszenen – abzurutschen. 10 Vgl. hierzu Carl Dahlhaus: Die Bühnenmusik als Realitätsfragment und Zitat, in: ders., Gesammelte Schriften: Allgemeine Theorie der Musik II. Kritik – Musiktheorie / Opern- und Librettotheorie – ­Musikwissenschaft, hrsg. von Hermann Danuser in Verbindung mit Hans-Joachim Hinrichsen und Tobias Plebuch, Laaber 2001, S. 500ff. 11 Ebd. S.  501. 12 Da sich der Begriff der „Dramatik“ insbesondere auf theatrale Phänomene bezieht, sollen durch jenen der „Kata­­strophe“ die vergleichsweise unmittelbaren Bezüge vom Theater zu Lebens- beziehungsweise [alltäg­lichen] Erfahrungswirklich­keiten her­vorgehoben werden. In der Tanz- und Musiktheaterforschung wird dieses kata­s tro­phische Moment [in Hinblick auf die Inszenierungen des 19. Jahrhunderts] auch mit dem Begriff des „éclats“ [Schocks] – als einem dramaturgischen Kunstgriff – ­umschrieben, wobei auch Bezüge zu Benjamins Wirkungskonzept des „Chocks“ hergestellt werden. Vgl. hierzu u. a. Marian Smith, Ballet and Opera in the Age of „Giselle“, Princeton 2000, S. 53ff.; Gerhard, Verstädterung der Oper [s. Anm. 7], S. 174ff. 13 Walter Benjamin, „Über den Begriff der Geschichte“, in: ders., Abhandlungen. Gesammelte Schriften, hrsg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser unter Mitwirkung von Theodor W. Adorno und Gershom Scholem, Frankfurt am Main 1974 / 1991, Bd. I.2, S. 695; vgl. ebs. ders., „Über den Begriff der Geschichte“, in: ebd., Bd. I.3, S. 1243. 14 Walter Benjamin, „Über den Begriff der Geschichte“, in: ders., Abhandlungen. Gesammelte Schriften, hrsg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser unter Mitwirkung von Theodor W. Adorno und Gershom Scholem, Frankfurt am Main 1974 / 1991, Bd. I.2, S. 697f. 15 Vgl. hierzu Ansgar Hillach, Dialektisches Bild, in: Benjamins Begriffe, Bd. 1, hrsg. von Michael Opitz und Erdmut Wizisla, Frankfurt am Main 2000, S. 186ff. 16 Vgl. hierzu Ralf Konersmann, Erstarrte Unruhe. Walter Benjamins Begriff der Geschichte, Frankfurt am Main 1991. 17 Übersieht man das Repertoire der Kern­phase des sogenannten romantischen Balletts, die Ivor Guest als lang­jährig ausgewiesener Forscher in diesem Bereich auf den Zeitraum von 1830 bis 1847 begrenzt, so er­s taunt, wie wenige Produk­tionen letztlich jene Kennzeichen aufweisen, die für dieses Genre, das seinerzeit [sehr tref­fend] als „Ballet fantastique“ bezeichnet wurde, als kon­s titu­ierend gelten: Der Auftritt ätherischer Frauen­ge­s tal­ten, die un­tote Wesen bezie­hungsweise Elemen­t ar­­geister „verkörpern“, dabei – Protagonisten wie Zu­schauer – in un­wirkliche, utopische Gegen­den und gleichzeitig hochgradig trauma­­tisch aufge­ladene Area­le entführen, somit zwischen Traumräumen und Alpträumen changieren, um „unsicht­bare Räume“ mensch­lichen Lebens – „Innen­räume“ des Unbe­wuss­ten und Unter­b e­wuss­ten, die unser Denken, Begehren und Handeln maßgeb­lich be­einflus­sen – sichtbar zu machen. Von den 26 Ballettinszenie­r un­gen, die in dieser Zeitspanne an der Pariser Opéra zur Aufführung kamen, sind es genau ge­nom­­men nur fünf Produktionen – „La Sylphide“ [1832], „La Tempête, ou L’Ile des génies“ [1834], „La Fille du Danube“ [1836], „Giselle, ou Les Wilis“ [1841] und „La Péri“ [1843] – die folge­r ich­tig mit diesem „Label“ zu versehen wären. Für den Zeitraum bis 1870, in dem 27 Neuproduk­tio­nen zu sehen waren, würden zu diesen Ballets panto­mimes origi­när fran­zösischer Pro­ve­nienz noch weitere zehn Inszenierungen hinzutreten, die jene zuvor genannten Topoi aufgreifen, dabei verdichten oder auch nur knapp zitieren, nicht zuletzt routiniert überstrapazieren, um sie zu parodieren oder ironisch zu brechen: „Griseldis, ou Les cinq sens“ [1848], „Le Violon du diable“ [1849], „La Filleule des fées“ [1849], „Les Elfes“ [1856], „Sacountala“ [1858], „Le Papillon“ [1860], „L’Étoile de Messine“ [1862], „La Maschera, ou Les Nuits de Venise“ [1864], „Néméa, ou l’Amour vengé“ [1864] und „La Source, ou Naila“ [1866]. Zu einer Repertoireübersicht vgl. Ivor Guest, The Romantic


Ballet in Paris, Alton / Hampshire [2] 2008; ders., The Ballet of the Second Empire, Binsted / Hampshire [2] 2014. 18 Zu allgemeinen Aspekten der Vergleichbarkeit, aber auch grundsätzlichen Divergenzen zwischen dem Nonnen­ballett und dem „weißen Akt“ von Giselle, vgl. Marion Kant, Das Nonnenballett aus „Robert le diable“ und der II. Akt aus „Giselle“, in: Meyerbeer und der Tanz, hrsg. von Gunhild Oberzaucher-Schüller und Hans Moeller, Paderborn 1998, S. 250ff. Ihr Hinweis, dass seinerzeit in Paris „bals blancs“ veranstaltet wurden, zu denen nur weiß gekleidete Tänzerinnen erscheinen durften und die offensichtlich besonders exzessiv waren, ist nicht nur aus einer historischen Perspektive von besonderem Interesse. Diese Tradition scheint seit Mitte der 1990er-Jahren in Montreal mit „Bals en blanc“ – nun in einer post­modernen Gesellschaft des Spektakels – erneut aufzuleben: Es handelt sich hierbei um alljährlich zu Ostern, bekanntlich dem Fest der Auferstehung [!], veranstaltete, bis zu fünfzehn Stunden andauernde „Rave Parties“ mit bis zu 15.000 Besuchern. Vgl. hierzu beispiels­weise: http://www. montreal-­nightclubs.com/reviews/bal-en-blanc-2013-review/ [letzter Zugriff: 5. Dezember 2014]. 19 Vgl. hierzu die Hinweise in dem Libretto von „Giselle“ im II. Akt, 2. Szene: „[…] les Wilis se rendent à leur salle de bal. [Hervorhebung St. Sch.]“, sowie in der 4. Szene: „C’est Moyna, l’odalisque, exécutant un pas original; puis Zulmé, la Bayadère, qui vient développer ses poses indiennes; puis deux Françaises, figurant une sorte de menuet bizarre; puis des Allemandes, valsant entre’elles … Puis enfin la troupe entière des Wilis, toutes mortes pour avoir trop aimé la danse, ou mortes trop tôt, sans avoir assez satisfait cette folle passion, à laquelle elles semblent se livrer encore avec fureur sous leur gracieuse métamor­phose.“ –L ­ ibrettodruck, Paris 1841, S. 14f. Diese subtil verschleier­ten Gesellschafts- und Nationaltänze werden kurz nach der „Évocation magique“ der Wilis durch ihre Anführerin Myrtha vorgeführt. 20 Der Umstand, dass Tanz im Kontext von Trunkenheit, Spiel und Liebesverführungen zwangsläufig katastro­phisch enden muss, wird auch in Ballettproduktionen immer wieder toposartig aufgegriffen. Zu einer ähn­lichen stofflichen Ausgangsbasis vgl. beispielsweise den Ballet pantomime „Le Diable amoureux“, der jedoch erst 1840 an der Pariser Opéra uraufgeführt wurde. Meyerbeer thematisiert somit vergleichsweise früh eine seinerzeit heikle Problematik großstädtischen Lebens auf der Bühne. 21 Vgl. hierzu die prägnante Beschreibung dieser Szene von Sieghart Döhring: „Von besonderer konzeptioneller Kühnheit in der Ver­bindung von Situationsschilderung und Charakterportrait ist Bertrams Begegnung mit den Dämonen, die drama­t urgische Schlüsselszene des ‚Robert‘; Meyerbeer gestaltet sie nicht als traditionelle ‚Szene und Arie‘, sondern als Tableau, bei dem die räumliche Trennung von Fernchor [mit Sprachrohren] und Solist zugleich als klangliche Chiffre der Gespaltenheit von Bertrams Seele erscheint.“ Ders., Giacomo Meyerbeer: Grand opéra als Ideen­drama, in: Lendemains, Zeitschrift für Frankreichforschung + Französischstudium, Heft 31 / 32, 8. Jg. 1983, S. 11ff., hier insb. S. 13. 22 Diesem zunächst nur aus der Ferne vernehmbaren, erst allmählich näherrückendenden und damit in seiner Gefähr­lichkeit präsenter werdenden Glockenschlag erachtete Meyerbeer selbst als „Culminationspunkt der Oper“, vgl. hierzu seinen Brief an Wilhelm Speyer vom 22. November 1837, in: Meyerbeer, Briefwechsel und Tagebücher, Bd. 3, hrsg. und kommentiert von Heinz Becker, Berlin 1975, S. 64. 23 Vgl. hierzu auch die sehr erhellenden Hinweise von Döhring zum zeitgenössischen Geschichtsdiskurs, der sich in der Opéra historique als einer sich keineswegs „nur“ auf historische Ereignisse stützenden Oper widerspiegelt: „Als historische Oper, die nicht nur in der Geschichte spielt, sondern von der Geschichte handelt, ist das Werk selbst Teil eines Diskurses, der seinerzeit mit Leidenschaft geführt wurde und dem es überhaupt seine Entstehung verdankt. […] Wäre der Begriff nicht bereits in anderem Zusammenhang besetzt, so könnte man „Les huguenots“ als eine Zeit­oper bezeichnen, die im Gewande einer vergangenen Epoche der eigenen den Spiegel vorhält.“ – Sieghart Döhring und Sabine Henze-Döhring, Giacomo Meyerbeer. Der Meister der Grand Opéra, München 2014, S. 61.

24 Ebd. S.  66. 25 Vergleichbare Szenen finden sich [jeweils im II. Akt] in den Ballets pantomimes „La Révolte au sérail, ou La Révolte des femmes“ [1833], choreografiert von Filippo Taglioni zu einer Komposition von Théodore Labarre oder auch „Nisida, ou Les Amazones des Açores“ [1848], choreografiert von Auguste Mabille zu einer Kompo­sition von François Benoist. Zu einer Interpretation dieses Haremtopos als Metapher für die urbane Demi-Monde Szene vgl. Joellen A. Meg­lin, Feminism or Fetishism: Le Révolte des femmes and Women’s Liberation in France in the 1830s, in: Rethin­k ing the Sylph: New Perspectives on the Romantic Ballet, hrsg. von Lynn Garafola, Hanover / New England 1997, S. 69 – 90, hier insb. S. 84 und 86. 26 Vgl. hierzu die Neuausgabe der Orchesterpartitur von „Les huguenots“, hrsg. Oliver Jacob, München [im Erscheinen], S. 110ff. Im Libretto ist hingegen von einer „Danse de bohémiens, des clercs et des grisettes“ die Rede, wobei die „clercs“ auf den Tanzplatz, eine Schreiberwiese bei Paris verweisen [in Anlehnung an „Le Pré aux clercs“, einer seiner­zeit äußerst populären Opéra comique von Ferdinand Hérold, 1832]. Vgl. hierzu den Librettodruck, Paris 1836, S. 81. 27 Gerhard erkennt in diesem Sachverhalt nicht nur einen Reflex großstädtischer Erfahrungswirklichkeiten, insbeson­dere der Simultanität unterschiedlicher Sinneseindrücke, sondern verweist diesbezüglich auch auf Verfahren des Film­schnitts, die hier auf die akustische Ebene übertragen werden. Mag auch das grundsätzliche Phänomen nicht neu sein, so dürfte dennoch seine spezifische Gestaltung, vor allem der Ausdruck beziehungslos nebeneinander herlaufender Wahrnehmungsereignisse, seinerzeit als Innovation empfunden worden sein. Anselm Gerhard, Verstädterung der Oper [s. Anm. 7], insb. der Abschnitt „Musik im Raum“, S. 180ff., hier insb. S. 182. 28 Zu diesem generell für Entwicklungen des Tanz- und Musiktheaters [weit über den hier thematisierten Zeitraum hinaus] sehr bedeutsamen Phänomen vgl. Jerrold Seigel, Bohemian Paris. Culture, Politics, and the Boundaries of Bourgeois Life, 1830 – 1930, Baltimore und London 1986; Luc Ferry, L’Invention de la vie de Bohème 1830 – 1900, Paris 2012; Ingrid Pfeiffer und Max Hollein [Hrsg.], Esprit Montmartre. Die Bohème in Paris um 1900, Frankfurt am Main 2014. 29 Die Choreografie schuf Joseph Mazilier zu einer Komposition von Ambroise Thomas. 30 Zur Redowa-Polka finden sich vor allem in den deutschen Tanzlehrbüchern des 19. Jahrhunderts einschlä­gige Hinweise, während sich die französischen Publikationen vor allem zur Redowa und Polka-Mazurka äußern, die jedoch der Redowa-Polka sehr nahe standen, stellenweise auch synonym behandelt wurden. So bieten aufschlussreiche Erörterungen zur Choreografie der Redowa-Polka [insb. als Galopp-Variation]: Bernhard Klemm, Katechismus der Tanzkunst, Leipzig 1855, hier in der Auflage Leipzig 1901, S. 156f.; ders., Handbuch der Tanzkunst, erweitert von Gustav Engelhart, Leipzig 1910, S. 145f.; Rudolph Voß, Der Tanz und seine Geschich­te. Eine kulturhistorisch-choreografische Studie, Erfurt 1868, S. 388; Friedrich Albert Zorn, Grammatik der Tanzkunst, Leipzig 1887, S. 213ff., sowie im Notenanhang S. 45; Carl Haselberger, Die Tanzkunst. Vollständiges Handbuch der Tanz- und Anstandslehre, München 1896, S. 82; Victor Junk, Handbuch des Tanzes, Stuttgart 1930, S. 193. 31 Paris 1854, S. 11. 32 Die Hypothese, dass Henri Justamant für Lyon nicht in erster Linie Eigenkreationen schuf, sondern sich am Pariser Vorbild orientierte, belegt auch seine Notation von „Giselle, ou Les Wilis“ [als Faksimile hrsg. von Frank-Manuel Peter, Hildesheim 2008]. Auch zu den Tänzen aus „Robert le diable“, „Les huguenots“ und „Le Prophète“ liegen Tanznota­tionen von Justamant vor, die noch einer eingehenden Untersuchung harren. 33 Obwohl diese Valse nur aus zwei Sätzen besteht – einem längeren Allegro moderato pesante [3 / 8] und einem kurzen Peu plus vite-Satz [2 / 4] vergleichbar einem Schlussgalopp –, wartet sie im Detail mit einer Fülle melodischer Raffinessen und markanter Klanggesten auf: Einer kurzen fanfarenartigen Introduktion folgt ein achttaktiges, durch kurze Vorschläge sowie rasche Läufe bestechendes, für eine Redowa charakteristisches


Motiv [A = a + a’], das anschlie­ß end in die Oberstimmen verlegt wird, bevor ihm ein kontrastierendes, ebenfalls achttaktiges Motiv [B = b + b’ + c + d] ge­genüber­gestellt wird, das bei seiner leicht variierten Wiederholung wiederum in den Oberstimmen erklingt, um schließlich zu dem Eingangs­motiv zurückzuführen, das nun unverändert im fortissimo wiederholt wird [erst hier beginnt der Tanz, wie der Regieanweisung „la toile se lève“ über den Schlusstakten von B’ zu entneh­men ist]. Nach einer acht­t aktigen Über­leitung [4 + 4, lourdement und im fortissimo] wird ein neues viertaktiges Motiv [C] eta­bliert, das „doux et légèrement“ in einer Wellenbewegung langsam absteigt. Es leitet nach seiner leicht variierten Wieder­holung zu einem weiteren viertaktigen Motiv [D] über, das durch eine Modulation nach f-Moll [harmonisches Moll bzw. mit er­höh­­ter siebter Stufe], ornamentale Verzierungen und angehaltener Bordun­q uinte in den tiefen Stimmen oriental anmutet und vermutlich „kalmückisches“ Melodiengut der Westmongolei nachzuahmen sucht, somit im weitesten Sinne russische Nationalmusik „französiert“. Auch dieses Motiv wird leicht variiert wiederholt, bevor nochmals C + C’ erklingt und ab­schließend das Eingangsmotiv [A + A’] wieder aufge­nom­­men wird. In dem zweiten, in Tempo und Dynamik kon­t inuierlich ansteigenden Satz werden drei jeweils achttaktige, gleichermaßen spri­t ­zige wie in ihrem jeweils kon­t ras­tie­­renden Bewegungs­ duk­t us fein konturierte Motive [in der Partitur findet sich gleich zweimal der Artikulations­hinweis „con delicatezza“] aneinandergereiht, um den Tanz mit einer Coda affirma­t iven Charakter [das Orchester spielt unisono im fortissimo] abzurunden. 34 Auch zu der „Valse russe“ finden sich insbesondere in den deutschen, stärker unter osteuropäischem Einfluss stehen­den Tanzlehrbüchern wertvolle Hinweise. Dennoch kursierten unterschiedliche Auffassungen über das Wesen und insbesondere die Ausführung dieses „russischen Walzers“: Während Rudolph Voß in seiner Publikation Der Tanz und seine Ge­schichte. Eine kulturhistorische Studie mit einem Lexikon der Tänze, Erfurt 1868, den russischen Walzer als „Hops- oder auch Ecossaisen-Walzer“ im 2∕4-Takt mit vielen Sprüngen charakterisiert – „Der Tanz besteht aus Sprüngen, je auf einen Tact kommen zwei Sprünge [r. u. l. Fuß], in einem Abschnitt von einem Tact, ganze Tour zwei Tacte“ – [ebd., S. 369], und auch Eduard Reisinger in seiner Tanzkunst und die Tänze. Ein vollständiges Handbuch der Tanz­kunst, Wien 1889, S. 216, der Ansicht ist, dass ein russischer Walzer deckungsgleich mit einem „Ecossaisen-Walzer“ sei, verweist Frie­drich Albert Zorn in seiner Gram­matik der Tanzkunst, Leipzig 1887, S. 215, im Anschluss an seine Ausführungen zum „Masurkawalzer – Valse de Mazourka“ auf seinen älteren Kollegen Bernhard Klemm, der eben diesen Walzer auch als „Valse russe – russischen Walzer“ bezeichnen würde. In dessen Katechismus der Tanzkunst, Leipzig 1855, wird dann aller­dings eine Polka-Mazurka als „Valse russe“ bezeichnet [hier nach Auflagen Leipzig 1901, S. 160ff., und ebenso Leipzig 1910, S. 149ff.]. Dass sich hinter der zu Meyerbeers Zeit geläufigen „Valse russe“ auch tatsächlich eher eine Polka-Mazurka als Valse de Mazourka verbirgt, belegt wiederum ein Druck aus Paris: „La Moscowiska-Varin. Polka-Mazurke avec théorie de cette Danse, par Mr. Varin, Professeur au Théâtre de la Nation. Pour le Piano par Lefébure-Wély“, Paris [o. J.] [Ménestrel, Meissonnier-Heugel Pl.Nr. H. 1152], auf dessen Titelblatt auch die für eine Polka-Mazurka charakteristische Armhaltung sehr anschaulich abgebildet wird. 35 Meyerbeer sah für dieses katastrophale Finale zunächst „Gro­tes­q ue­t änze“ vor, zu denen ein „Opium­rausch, in den […] die 3 Anabaptisten [die Tänzer / innen, Erg. St. Sch.] versetzt haben, Recht­fertigung darbieten könnte“ – rückte jedoch später von diesen Plänen wieder ab. Übrig blieben frat­zen­haft flirrende ­S echzehntel-Triolen und Zweiund­dreißigstel-Figuren, die sich übermütig in die Höhe schrauben oder repetitiv um sich selbst kreisen. Vgl. hierzu den undatierten Eintrag in Meyerbeers Tagebuch [vermutlich Ende 1844] in: Briefwechsel und Tagebücher, Bd. 3, hrsg. und kommentiert von Heinz Becker, Berlin 1975, S. 539. Im Vorspann des Librettodrucks, Paris 1849, werden vier Tänzerinnen als „Courtisanes“ sowie neun weitere Tänzer ohne spezifische Rollenzuweisung angeführt. Zudem bevölkerten von Tänzern dargestellte „Seigneurs, Pages, etc.“ diese „Großszene“.

Mit den vorange­gan­genen bacchanali­schen Orgien als einem sich während der Juli-Monar­chie heraus­bilden­den drama­t urgischen und choreo­­grafischen Topos des Tanz- und Musikthea­ters, zu dem das Non­nen­ballett aus dem „Robert le diable“ zweifellos einen wesent­lichen Anstoß gab, hat dieses Unter­gangsszenario nur noch äußere Kriterien gemeinsam: Kontroll­verluste durch Trunkenheit und be­wusst­seins­entgrenzender Tanz­rausch sind nicht mehr die eigentliche Ursache einer [nun sogar von dem Protago­nisten selbst planvoll insze­nier­ten] Katastrophe, allerhöchstens deren Vorwand und de­ko­­ra­t i­ve Aus­s tat­t ung. 36 Sie weist folgendes Formschema auf: ||: A : || – B – ||: A :|| [Überleitung] Instruktive Hinweise [mit Notationen] zur Valse in der zeitgenössischen Tanzpraxis finden sich in Brunets Théorie-Pratique, ou Danseur de société, Paris 1839, S. 103ff. Zudem äußern sich zur Ausführung dieser Tanz­form mit zwei oder drei Schritten pro Takt [„Valse à trois temps“, „Valse à deux temps“,] u. a. in: Carlo Blasis, Manuel complet de la danse, Paris 1830, S. 366ff.; Cellarius, The Drawing-Room Dances, London 1847, S. 26ff..; ders., La Danse des salons, Paris 1849, S. 35ff. [hier findet sich auch eine „Valse à cinq temps“]; Philippe Gawlikowski, Guide complet de danse, Paris 1858, S. 45ff.; Georges Desrat, Méthode de danse de salon, Paris [1864], S. 16ff.; ders., Traité de la danse contenant la théorie et l’histoire des danses anciennes et modernes, Paris [ca. 1880], S. 79ff. [um Überschaubarkeit zu gewährleisten werden an dieser Stelle die deutschen Tanzpublika­t ionen ausgeklammert]. 37 Darauf lässt der Librettodruck, Paris 1849, schließen, in dessen Vorspann M. [Lucien] Petipa und Mademoi­selle [Adeline] Plunkett als Solisten dieses Tanzsatzes genannt werden. 38 Der erste Teil gliedert sich in folgende Abschnitte: ||: A :|| – B – | A | – C – D – C – | A | – E – F – E [mit Überlei tung] – A, wobei vor allem die Zwischenteile durch Vorschläge, Punktierungen, Triolen und rasche Tonrepe titionen oder Läufe rhythmisch akzentuiert werden, um Spezifika des tänzerischen Bewegungsduktus’ zu imitieren. Dagegen ist der zweite Teil von zwei kontrastierenden „Bewegungscharakteren“ gekennzeichnet, die mit einander in einen Dialog treten: Während gleichmäßig auf- und absteigende Melodielinien großzügig kreisende Bewegungen nachzeichnen, bleiben die kurzen, kraftvollen Staccato-Tonrepetitionen des alternierenden Parts einem deutlich engeren Tonumfang bzw. Bewegungsradius verpflichtet. Es liegt nahe, dass es sich hierbei um genderspezifische Bewegungscharakteristika handelt [der erste Teil ist für die Dame, der zweite für den Herrn gedacht], die auch musikalisch ihren Niederschlag finden. Ein galoppartiges Finale rundet diese kleine, in sich geschlos sene Tanzszene innerhalb des Balletts ab. Allein in dem A-Abschnitt des ersten Teils orientiert sich Meyerbeer näher an tanzmusikalischen Standards herkömmlicher Redowa-Kompositionen, um sie im weiteren Verlauf musikalisch noch „bewegungscharakteristischer“ ausdifferenzieren und stilisieren zu können: „Die Eigenthümlichkeit des Musikstücks besteht in der fortlaufenden gleichen Figur zweier Takte, gebildet im Dreiviertel-Takt aus dreimal Zwei-Achtel- und einer Viertel-Note. Die Charakteristik dieses Tanzes liegt in dem abwechselnden Vorwärtsrücken des Tänzers und gleichzeitigen Zurückweichen der Tänzerin. Die Zahl der Umdrehungen bleibt stets dem Tänzer überlassen; durch einen leisen Druck des die Tänzerin umschlingenden Armes, oder eine hemmende Bewegung der linken Hand lenkt er die Dame nach Belieben vor- oder rückwärts oder en ronde, nur muß eine vollständige Harmonie in der gleichmäßigen Bewegung des Paares vor herrschen, weil sonst bei einem oder dem andern Theile der Schritt sehr bald verloren gehen würde.“ – Eduard Reisinger, Die Tanzkunst und die Tänze, Wien 1889, S. 101; vgl. hierzu ebs. Rudolph Voß, Der Tanz und seine Geschichte. Eine kulturhisto risch-choreographische Studie, Erfurt 1868, in Bezug auf die musikalischen Hinweise im gleichen Wortlaut [S. 367], jedoch hinsichtlich der choreografischen Ausführung etwas divergierend und gleichzeitig einen plausiblen Ansatzpunkt für die Umsetzung der Redowa aus „Le Prophète“ bietend: „[…] ein Rundtanz: drei Tacte vorwärts in der Links drehung, dann in der Rechtsdrehung einen Tact rückwärts; diese vier Tacte wiederholen sich, nämlich nun drei Tacte in der Rechtsdrehung vorwärts und einen Tact in der Linksdrehung rückwärts; auch


bleiben oft die Tanzenden [tanzend] während einiger Tacte en place.“ [ebd. S. 388] 39 In seinen 1847 in London und 1849 in Paris erschienenen Publikationen, die inhaltlich weitgehend überein­s tim­men, verweist Cellarius eigens auf die Novität der Redowa und betont zudem, dass seine Kenntnis dieser Tanzform auf Aufenthalte in Prag und Berlin [somit Meyeberbeers deutschen Wohnort] zurück­geht, wobei er bemüht sei, sie so „original“ wie möglich weiterzugeben und nicht – wie es bei den anderen „franzö­sier­­ten“ Nationaltänzen geschehe – eine eigene Version zu kreieren. Unab­hängig von der Frage, ob diesem Be­kenntnis wirklich Glauben zu schen­ken ist, oder der angepriesenen „Origi­na­lität“ nicht letztlich doch wieder vor allem ein geschäftstüchtiges Kalkül zu­grunde liegt, wird hiermit ein Pro­ble­matik angesprochen, die den Zugang zu diesen Tänzen auch aus heutiger Per­spek­t ive erschwert: das Verschwim­men, wenn nicht sogar dezidierte Kaschieren von Grenzen zwischen den ethni­schen, städtischen und theatralen Versionen der National- bzw. Charaktertänze, nicht nur um ein ver­meintliches „Original“ vorzutäuschen, sondern auch „Originalität“ alias „Individualität“ unter Beweis stellen zu können. Zorn bringt Bewegungscharakteristika der Redowa mit ihrer Begriffsetymologie in Verbindung und unter­s treicht damit den rustikalen Ursprung dieser Tanzform, der wiederum ihrem Einsatz in „Le Prophète“ Ver­s tänd­lichkeit verleiht [auch wenn sie dort mit größter Wahrscheinlichkeit in einer anspruchsvollen Stilisie­r ung dargeboten wurde]. Zu­dem weiß dieser Autor von frühen Redowas in Süddeutschland zu berichten, so dass ihr Einzug in die Pariser Salons in den späten 40er-Jahren geradezu altmodisch erscheint: „Das böhmi­sche Wort rejdovat bedeutet ein Hin- und Herdrehen und Schieben, wie wenn man z. B. einen Wagen bei der Deichsel faßt, um ihn durch hin- und herdrehen rückwärts in die Scheune zu schieben. Rejdovak ist das Sub­s tantiv davon. Man gebrauchte diesen Ausdruck, wenn in dem damals fast einzigen Rundtanze, dem Drei­schritt­walzer, das Paar nicht mehr drehte, sondern der Tänzer seine Dame vorwärts schob. […] In Süddeutschland kam diese Walzervariation um das Jahr 1830 in Aufnahme.“ Seine Ausführungen zur Choreografie erscheinen insofern besonders glaubwürdig, als er eigens zwischen älteren und „moder­nen“ Praktiken unterscheidet. – Friedrich Albert Zorn, Grammatik der Tanzkunst. Theoretischer und praktischer Unterricht in der Tanzkunst und Tanzschreibkunst oder Choreographie, Leipzig 1887, S. 205 [in einem als Atlas zur Gram­matik der Tanzkunst bezeichneten Anhang lässt er eigens die „damalige Originalmusik“ abdrucken, vgl. ebd. S. 45]. Vgl. hierzu ebs. – mit Zorn übereinstimmend – Bernhard Klemm, Katechismus der Tanzkunst, Leipzig 1901, S. 148f.; ders., Handbuch der Tanzkunst, Leipzig 1910, S. 136f. Cellarius, La Danse des Salons, Paris 1849, S. 95 und S. 96f.; vgl. ebs. ders., The Drawing-Room Dances, London 1847, S. 75ff.; bzw. ders., Fashionable Dancing, London 1847, S. 76ff. Dagegen äußert sich Desrat sehr anschaulich zu „charakter­ istischen“ Bewegungsqualitäten der Salon-Redowa, die offensichtlich eine besonders geschmeidige Flexibilität in der Beinarbeit erforderte: „Redowa. Danse moderne valsée et abandonnée depuis de longues années; elle a cherché à revoir le jour sous le nom de boston, mais en vain. De 1848 à 1851 elle fit les délices de tous les bons danseurs à cause de ses mouvements de bas en haut gracieusement ondulés par toutes les jambes souples. Elle était dansée sur une mesure en trois temps assez lente et se composait d’un pas de basque et d’un demi-coupé assemblé en arrière. […]“ – George Desrat, Dictionnaire de la danse, Paris 1895, S. 317f.; zu choreografischen Hinweisen vgl. ebs. ders., Méthode de danse de salon, Paris [1864], S. 18ff. Schließlich erwähnt der Pariser Tanzmeister Eugène Giraudet in seiner Publikation La Danse, la tenue, le maintien, Paris [o. J., vermutlich um die Jahrhundertwende], eigens eine Rédowa glissée, in der somit die Schleifbewegung noch stärker akzentuiert wird [S. 155], während die „Rédowa de Marie Taglioni 1834“ in seinem „Traité de la Danse“, Paris 1900, auf eine nostalgische Erfindung des späteren 19. Jahrhunderts zurückgehen dürfte [S. 394]. Das vergleichsweise späte Aufkommen der Redowa in Paris lässt sich auch an entsprechenden Arrangements von Ballett- und Opéra comique-Kompositionen für deren Rezeption jenseits der

Bühne ablesen. Beispielsweise finden sich Redowas zu Edouard-Marie-Ernest Deldevez’ Paquita [1846], Cesare Pugnis „La Vivandière“ [1848], „Le Violon du diable“ [1849] und „Stella, ou Les Contre­bandiers“ [1850], Léo Delibes’ „La Source, ou Naila“ [1866], Aubers’ „Marco Spada“ [1852], „Jenny Bell“ [1855] und „Manon Lescaut“ [1856], Adophe Adams „Le Bijou perdu“ [1853] sowie Meyerbeers „L’Étoile du nord“ [1853] und „Le Pardon de Ploërmel“ [1859]. 40 Sie weist eine einfache Rondoform auf, wobei die Zwischenteile in ihrer melodischen und instrumentalen Gestal­t ung deutlich flexibler gestaltet sind als die betont schwerfällig anmutenden Hauptteile: ||: A :|| – B – ||: A :|| – C – ||: A : || – D [Coda]. 41 Während das Libretto zur Ausführung dieser Szene nur einen knappen Hinweis bietet [„Les jeunes filles, qui ont défait leurs patins, se mettent [en place] à danser, pendant que les soldats anabaptistes, qui se sont assis, boivent et mangent, servis par leurs femmes et leurs enfants.“ vgl. Librettodruck, Paris 1849, S. 15], finden sich ausführliche Regieanweisungen zu dieser Szene in dem Sup­ple­mentband von Louis Paliantis Mises en scène de Grands Opéras et d’Opéras comiques représentés pour la première fois à Paris, Paris 1851ff., S. 77ff., hier insb. S. 87f. Dabei zeigt sich eine grundsätzliche Vergleichbarkeit dieser Szene mit der Ausgangssituation von „La Vivandière“ [1848], in dem die „Titelheldin“, die Marketenderin Kathi, durch eine Redo­­watsch­ka [Redowa Polka] charak­teri­siert wird. Es ist davon auszugehen, dass Meyerbeer den nur ein Jahr vor der Ur­auf­führung seines Prophète an der Pariser Opéra inszenierten Ballet panto­mime sah. Wiederum fällt auf, dass er sich mit seiner Wahl einer „originalen“ Redowa von der etwas derberen Redowa mit Polkaschritten [unge­ach­tet ihrer allgemeinen Beliebtheit] abzugrenzen suchte. 42 Guest erwähnt Auguste Mabille als Sohn des Gründers des Bal Mabille, der ab 1848 auch als zweiter Ballett­meister an der Pariser Opéra tätig war. Aber auch der Umstand, dass Mabille ein gutes halbes Jahr vor „Le Prophète“ die Cho­reo­grafie für „Nisida, ou Les Amazones des Açores“ schuf [1848], dürfte dazu beigetragen haben, ihn als Choreo­gra­fen für das Schlittschufballett zu engagieren. Vgl. Guest, The Ballet of the Second Empire, S. 5. Ein weiteres Schlittschuhballett findet sich in dem drei Jahre nach dem Prophète uraufgeführten Ballet pantomime „Orfa“ [1852], choreografiert von Joseph Mazilier zu einer Komposition von Adolphe Adam. 43 Vgl. hierzu Döhring und Henze-Döhring, Giacomo Meyer­b eer. Der Meister der Grand Opéra [s. Anm. 23], S. 131f. Der [zumindest aus heutiger Perspektive] irritierende Sach­verhalt der „Charakterisierung“ einer ein­fachen Landbevölkerung durch Pariser Salontänze könnte durch die Entstehungsgeschichte dieser Szene begründet sein, für die zunächst ein Tanz gefangener Adelsdamen vorgesehen war, die vor den Wiedertäufern unter Todesandrohung ihr Bewe­gungs­geschick feil bieten sollen – womit die politische Dimension dieses Balletts noch deutlicher zugespitzt worden wäre. Ein Relikt dieser Idee findet sich in der Regieanweisung der ersten Szene des III. Aktes, in der Gefangenen befohlen wird, um die Frauen und Kinder zu tanzen. Vgl. Librettodruck, Paris 1849, S. 14. 44 Vgl. hierzu beispielsweise die Hinweise zur „Patinage“ in Adolphe Joannes Stadtführer Paris illustré, nouveau guide de l’étran­ger et du Parisien, Paris 1863, S. 619, in denen Schlittschuhfahren eigens als ein theatrales Erlebnis dargestellt wird: „Les plaisirs en plein air ne cessent pas à Paris avec les jours été. Lorsque l’hiver fait sentir ses rigueurs, le pati­nage succède aux promenades en canot et à la natation. La rivière et les lacs du bois de Boulogne sont mainte­nant le principal théâtre [Hervorhebung St. Sch.] où se réunissent Parisiens et Parisien­nes pour se livrer à ce gracieux exer­cice, ou pour admirer les mille évolutions des traineaux et des patineurs. […]“ 45 Für den außerordentlichen Erfolg dieser Szene auch und gerade unabhängig von dem Kontext der Opernhand­lung beziehungsweise gerade weil in ihr Bewegung als solche [unabhängig von narrativen Intentionen] thema­t isiert wird, spricht ihre bis in das 20. Jahrhundert – im Gesell­schafts- wie Theatertanz – anhaltende Rezep­t ion beziehungs­weise kreative Neuinterpreta­ tionen. Vgl. hierzu beispielsweise die nun auf einen Schottisch


[Scottish] zurückgehenden „Les Patineurs“ bzw. „Pas de Patineurs“-Choreografien in: Raoul Chéron, Encyclopédie mondaine, Paris 1902, S. 182f, oder A. Ajas, Traité pratique de la danse, Paris 1910, S. 56ff.; zudem – als besonders prominentes Beispiel – Frederick Ashtons Ballett „Les Patineurs“ zu einem Arrangement von Meyerbeers Musik von Constant Lambert [1937]. 46 Auch dieser Galopp ist als Rondo angelegt: Einer kurzen, vermutlich nicht eigens choreografierten Über­leitung von der Mazurka-Quadrille folgen die Abschnitte ||: A : || – B – ||: A :|| – C – ||: A : || – D – ||: A : || – E – ||: A : || – F [Coda], die im Zeichen einer sich zunehmend beschleunigenden, somit wieder [wenn auch dezent] sich katastrophisch zuspitzenden Dynamik stehen. 47 Während in frühen Quadrillen-Anleitungen noch nicht obligatorisch ein Galopp-Schlußsatz erwähnt wird [vgl. hier­zu beispielsweise Carlo Blasis, Manuel complet de la danse, Paris 1830, S. 364], dürfte sich letzterer spätestens ab Be­ginn der 30er Jahre des 19. Jahrhunderts allgemein durchgesetzt haben. Als eigenständiger Salontanz konnte er sich offensichtlich schon ab 1815 etablieren [vgl. hierzu den entsprechenden Eintrag in Georges Desrats Diction­naire de la danse, Paris 1895, S. 151]. Hinweise zur Ausführung einer Galoppade als eigenständiger Salontanz oder Final­satz einer Quadrille bieten: Brunet, Théorie-Pratique du danseur de société, S. 97ff. [mit Zeichnungen zu den Positionen und Bodenwegen], Philippe Gawlikowski, Guide complet de Danse, Paris 1858, S. 26ff; Desrat, Méthode de danse de salon, Paris [1864], S. 18; Lemaitre, Nouveau Manuel complet de la danse, Paris 1866, S. 25f. [in Anlehnung an Carlo Blasis, jedoch nun durch Hinweise zum Galopp ergänzt]; Lussan-Borel, Traité de danse, Paris 1899, S. 80ff.; Eugène Giraudet, Traité de la danse. Tome II, Paris 1900, S. 166f. [mit späteren Galopp-Varianten]; ders., La Danse, la tenue, le maintien, l’hygiène & l’education, Paris o.J., S. 200ff.; vgl. zudem die zahlreichen deutschsprachigen Tanz­publi­katio­nen, von denen hier nur einige Titel herausgehoben werden sollen: Rudolf Voß, Der Tanz und seine Geschichte, Erfurt 1868, S. 340f.; Eduard Reisinger, Die Tanzkunst und die Tänze, Wien 1889, S. 98; Carl Haselberger, Die Tanzkunst, München 1896, S. 75; Margitta Roséri, Katechismus der Tanzkunst, Leipzig 1896, S. 135; Friedrich Albert Zorn, Grammatik der Tanzkunst, Leipzig 1887, S. 194; Bernhard Klemm, Katechismus der Tanzkunst, Leipzig 1901, S. 153; ders., Handbuch der Tanzkunst, Leipzig 1910, S. 284ff. 48 Vgl. hierzu auch die Ausführungen von Döhring, der in dieser Szene eine unmittelbare Vergleichbarkeit mit der Bilden­en Kunst feststellt: „Bei hereinbrechender Dämmerung – so das Programm – nähern sich über den vereisten Teich Bauern, Bäuerinnen und ihre Kinder mit Schlitten voller Speisen und Ge­t rän­ke, die sie bei den Wiedertäu­fern gegen Beutegut eintauschen. Essend und trinkend unterhält man sich mit Tän­zen. Als es Nacht wird, entfernt sich die Landbevölkerung beim Scheine von Fackeln, die Wiedertäufer ziehen sich in ihre Zelte zurück. Die Bild­motive stammen samt und sonders aus der niederländischen Landschaftsmalerei des 16. Jahrhunderts, an der sich auch die Dekorationen der Uraufführung orientierten.“ – Döhring und Henze-Döhring, Giacomo Meyer­b eer. Der Meister der Grand Opéra [s. Anm. 23], S. 130.




S P R AC H V E R T O N U N G U N D G E S T I K I N MEYERBEERS „LE PROPHÈTE“

Anselm Gerhard

Seit den 1820er Jahren, spätestens seit Meyerbeers „Il crociato in Egitto“ von 1824, hat Opernmusik mehr als je zuvor die Aufgabe, die Bewegungen auf der Bühne zu verdeutlichen. Wie im „mélodrame à grand spectacle“, das im 19. Jahrhundert vom Pariser Boulevard aus auf ganz Europa ausstrahlte, verstärkt auch im Opernhaus das Orchester eine szenische Darstellung, die wesentlich von einer neuen ästhetischen Prämisse geprägt ist: Techniken der Pantomime sollen es dem mehr oder weniger aufmerksamen Zuschauer erlauben, die Bühnenereignisse auch ohne die Unterstützung durch das Wort zu entschlüsseln. Louis-Désiré Véron, Direktor der Pariser Opéra in den entscheidenden Jahren von 1831 bis 1835, fasste dieses Verfahren in die Formel: „Un opéra en cinq actes ne peut vivre qu’avec une action très-dramatique, mettant en jeu les grandes passions du cœur humain et de puissants intérêts historiques; cette action dramatique doit cependant pouvoir être comprise par les yeux comme l’action d’un ballet.“ („Eine fünfaktige Oper wird allein durch eine hochdramatische Handlung lebensfähig, die die großen Leidenschaften des menschlichen Herzens und machtvolle historische Belange ins Spiel bringt; diese dramatische Handlung muss jedoch für die Augen verständlich sein wie die Handlung eines Balletts.“) Auch Richard Wagner ist einem solchen Prinzip der „pantomimischen Verständlichkeit“ verpflichtet; für Theodor W. Adorno wird bei ihm „die intermittierende [also „die Gebärden der Figuren auf der Szene“ nachzeichnende] Geste zum tragenden Kompositionsprinzip“. In gewisser Weise gilt diese zentrale Bedeutung des Gestischen aber für alle Opernkomponisten des mittleren und späten 19. Jahrhunderts, für Meyerbeer wie für Gounod, für Verdi wie für Tschaikowsky und Puccini, während sie für Rossini und Bellini noch kaum eine Rolle gespielt hatte. Aus heutiger Perspektive sind solche – im eigentlichen Sinne – melodramatischen Qualitäten von Opernmusik immer dann unüberhörbar, wenn 231


diese auf uns wie die Begleitmusik eines Tonfilms wirkt. Allerdings gibt es im Detail auffällige Differenzen beim Einsatz einer derartigen musikalischen ›Gebärdensprache‹. So kommen Wagner, aber auch Meyerbeer oft dem sehr nahe, was im Hollywood-Jargon als „mickey-mousing“ bezeichnet wird. Als Beispiele für sinnfällige Bewegungen einer Musik, die noch im kleinsten Detail auf konkrete Bühnenbewegungen bezogen ist, könnten der Auftritt Fafners und Fasolts in der zweiten Szene des „Rheingold“ oder die unterwürfigen, gebeugten Gesten der Höflinge auf die als Fugato gesungenen Worte „Vous savez, si je suis un ami sûr et tendre“ im Finale des ersten Aktes von „Les huguenots“ genannt werden. Gleichzeitig ist Meyerbeers Pariser Werk aber noch auf eine ganz andere Weise vom Gestischen geprägt, von gleichsam verinnerlichten Gesten. Wie Donizetti zur selben Zeit oder wenig später Verdi bildet auch er bereits in den 1830er Jahren die emotionale Verfassung seiner Figuren mit melodischen Mitteln ab und sucht dafür den musikalischen Ausdruck dessen, was die zeitgenössische französische Modeliteratur als „Physiologie“ einer Person bezeichnet hat: deren Rollenprofil. So etwa in Meyerbeers „Le Prophète“, wo es um die kriminelle Erlangung von Macht und deren rücksichtslose Stabilisierung durch proletarische Emporkömmlinge geht. Der Berliner Komponist hat für diese zynischen Betrüger eine prägnante rhythmisch-melodische Chiffre gefunden: eine gehetzt wirkende Gruppe von Achteltriolen auf der ersten, der schweren Zählzeit des Taktes. Besonders offensichtlich wird dies, wenn man die berühmteste Nummer der ganzen Oper, den Krönungsmarsch des vierten Aktes 1 einmal anders denkt; nicht mit dem gewohnten volltaktigen Beginn, sondern

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3

mit einem viel weniger auftrumpfend wirkenden Auftakt, wie er für die meisten Militärmärsche charakteristisch ist. (Bei dieser Gelegenheit ließen sich überdies auch zwei weitere Unregelmäßigkeiten ›korrigieren‹ und damit weitere einzigartige Qualitäten der Komposition ruinieren: die hypertrophe fünftaktige Phrase zu Beginn sowie die ungewöhnliche harmonische Konstruktion der ersten neun Takte, in denen auf einen (eben fünftaktigen) Vordersatz, 232


der sich zur fünften Stufe, zur Dominante B-Dur öffnet, am Ende des Nachsatzes nicht die Rückkehr zur Grundtonart Es-Dur folgt, sondern eine Ausweichung in die sechste Stufe, die Tonikaparallele c-Moll.)

Nun ist es sehr auffällig, wie oft Meyerbeer diese Triole auf der schweren Zählzeit, die – zudem mit der Vortragsanweisung „pesante“ – so unglaublich klobig und präpotent wirkt, den Melodien seiner ebenso ungehobelten wie gewalttätigen Emporkömmlinge eingeschrieben hat. Wenn die marodierenden Soldaten im dritten Akt gegen den eigenen Führer revoltieren, weist ihnen der Komponist einen 6/8 -Takt zu, bei dem man gar nicht mehr weiß, ob hier nicht auch die Taktordnung auf den Kopf gestellt ist. Was ist im Chor „Par toi, Munster nous fut promis“ schwere, was leichte Zählzeit?

Ganz ähnlich auch in dem strophischen Lied, das Zacharie anstimmt, als er im dritten Akt aus dem Kampf gegen die kaiserlichen Truppen ins Feldlager zurückkehrt: Hier versucht sich der Revolutionär aus dem 16. Jahrhundert in literarischen Metaphern, wie sie vor allem das italienische Opernlibretto des 18. Jahrhunderts geprägt hatten: „Aussi nombreux que les étoiles / Ou bien que les flots [furieux] de la mer, / En chasseurs, qui tendraient ses toiles / Contre les aigles du désert, / Vers nos phalanges immortelles / Les mécréants furent poussés.“ („So zahlreich wie die Sterne oder aber wie die [tobenden] Wassermassen des Meeres, als Jäger, die ihre Netze gegen die Adler aus der Wüste auswerfen, wurden die Ungläubigen von unseren unsterblichen Schlachtreihen zurückgeworfen.“) 233


An diesem vor Selbstbewusstsein nur so strotzendem Text fallen über die literarische Figur des gleichnishaften Bezugs auf die Natur hinaus zwei weitere Dinge auf, die bisher ebenso wenig entschlüsselt wurden. Die Wortverbindung „nos phalanges immortelles“ war eine bereits am Ende des 1790er Jahre eingeführte und von republikanischen Patrioten immer wieder verwendete Chiffre für die französischen Truppen, die in jenen Kriegen, mit denen das revolutionäre Frankreich nach 1789 ganz Europa überzogen hatte, ihr Leben riskierten. Die Formulierung „Aussi nombreux que les étoiles“ übernimmt hingegen wörtlich eine Wendung, die in der französischen Bibel-Übersetzung zweimal begegnet. Im 5. Buch Mose lesen wir im ersten Kapitel, „der Herr, euer Gott“, habe „euch gemehrt, dass ihr heutiges Tages seid wie die Menge der Sterne am Himmel“, im 28. Kapitel desselben Buchs: „Und wird euer ein geringer Haufe übrigbleiben, die ihr zuvor gewesen seid wie Sterne am Himmel nach der Menge.“ Bei Zacharies Worten handelt es sich also nicht nur um eine groteske Variante der guten alten Gleichnisarie metastasianischer Art, gleichzeitig sorgt das Libretto mit seinen intertextuellen Anspielungen dafür, dass jeder gebildete Franzose des 19. Jahrhunderts den religiösen Fanatismus der Wiedertäufer nicht nur auf eine ›fundamentalistische‹ Auslegung der Texte des Alten Testaments beziehen musste, sondern auch auf die verblendete Idee Robespierres und Napoleons, ganz Europa müsse am revolutionären französischen Wesen genesen. In der Melodie, die Meyerbeer zu diesem Text komponiert hat, irritiert nun wiederum die bereits mehrfach umrissene rhythmische Formel: Zwar wird Zacharie ein Auftakt zugestanden, in der Wahrnehmung haften bleibt aber allein die hässliche, wie zerrissen und bellend wirkende Melodielinie mit Triolen auf der ersten, der schwersten Zählzeit jeden Taktes. Ausdrücklich schreibt Meyerbeer vor, diese Melodie „largement et avec vigueur“, also „breit und mit Nachdruck“ zu singen. In den ersten beiden Takten irritieren überdies die langen, synkopisch gesetzten, weil von der dritten Triole aus übergebundenen Noten mit den jeweils längsten Tönen auf die Silben „-breux“ und „-toi-“, im dritten und vierten die Textwiederholung und das von Meyerbeer ergänzte, im gedruckten Libretto fehlende, weil das regelmäßige Metrum aus acht gezählten Silben zerstörende Wort „furieux“. Es scheint, als fehle dem präpotenten Wiedertäufer der Atem, um den zweiten „octosyllabe“ in einer Linie zu singen; der ‚Mangel’ wird (über)kompensiert durch die überzähligen Silben „fu-ri-eux“ und die meckernde Abwärtsbewegung aus Sechzehnteln und Zweiunddreißigsteln. Ist man nun aber für diese eigenwilligen rhythmisch-melodischen Erfindungen sensibilisiert, verliert auch Jeans Rolle ihre Unschuld. Nicht nur 234


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die abschließenden „couplets bachiques“, die bacchischen Strophen („Versez que toute ivresse“) des verblendeten Selbstmörders verwenden erneut eine wie überstürzt wirkende rhythmische Formel (diesmal aus nur zwei Sechzehnteln), die auf der ersten Zählzeit jeden zweiten Taktes dafür sorgt, dass sich der wiegende Rhythmus des zugrundeliegenden 6/8 -Taktes gerade nicht entfalten kann. Wie in Zacharies Strophen wird dabei die letzte kurze Note der ersten Figur zu einer langen, synkopischen Note übergebunden; wie im Chor der revoltierenden Soldaten aus dem dritten Akt wechselt Meyerbeer im Orchestervorspiel und im weiteren Verlauf wiederholt zwischen einem 6 /8 -Takt mit Taktschwerpunkt auf dem ersten Achtel und einem solchen mit Taktschwerpunkt auf dem vierten Achtel, der also ‚eigentlich’ um einen halben Takt versetzt notiert werden 5 müsste.

JEAN (avec force et une gaîté sauvage) > œ œ œ œ œœ œ œ œ œ > œ œ œ œ œ œ œ œ b 6 œ œ J ‰ J œ J ‰ J J ‰ J & b b8 œ J J J

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Dabei hat Meyerbeer die Folge aus zwei Sechzehnteln und einer langen, übergebundenen Note auf subtile Weise auf Zacharies Rhythmus aus zwei Achteltriolen und einer langen, übergebundenen Note zurückgebunden: Im selben fünften Akt erklingt zuvor im Andante-Teil des großen Duetts von Fidès und Jean – mit der Vortragsanweisung „accentuez toujours un peu la 1re note“ („die erste Note ist jeweils ein wenig hervorzuheben“) – in derselben Tonart E-Dur die rhythmisch geringfügig veränderte Tonfolge, die den Beginn von Zacharies Strophen (mit den charakteristischen Hornquinten im Orchester) markiert hatte. Die semantisch eindeutige Determinierung folgt im zweiten Takt mit Fidès’ ›parlante‹: „Renonce à ton pouvoir, à ceux qui t’ont fait roi!“ („Verzichte auf Deine Herrschaft, auf die, die Dich zum König gemacht haben!“) 235


Auch Jeans Auftrittsarie, der berühmten Pastorale im zweiten Akt hat Meyerbeer dieses rhythmische Signet der zynischen Betrüger eingeschrieben: Trotz aller (geheuchelten) Bescheidenheit ist dem lieblichen Tonfall Jeans nicht zu trauen. Statt mit einem weichen, in pastoralen Tongemälden weit häufiger verwendeten Auftakt zu beginnen, wird seine Melodie ebenfalls durch die hochfahrende Geste der Präpotenz charakterisiert. Von Beginn an ist der sanft wiegende Rhythmus des 9/8 -Taktes beschädigt. Wiederum auf der ersten Zählzeit jeden Taktes skandiert Meyerbeer drei Achteltriolen, die – wie im Krönungsmarsch – als überstürzter Beginn, als „precipitando“ verdeutlichen, dass wir es hier mit einem machtlüsternen Fanatiker zu tun haben, der im Zweifelsfall mit dem Kopf durch die Wand gehen wird, obwohl er im Moment – sublime Ironie des gesungenen Textes – nur davon spricht, dass ihn Berthes Liebe „zum König gemacht“ habe.

Weitere Beispiele für dieses Verfahren der Personencharakterisierung ließen sich vermutlich in allen Pariser Opern Meyerbeers finden. In diesem Beitrag ging es aber nicht um Vollständigkeit, sondern – die Erforschung solcher melodischen Profile in der Oper des 19. Jahrhunderts steht noch ganz am Anfang – um die Entfaltung einer neuen Perspektive auf die einzigartige Kunst des kosmopolitischen Komponisten aus Berlin, der mit ebenso simplen wie wirkungsvollen rhythmisch-gestischen Figuren die psychischen Abgründe seiner Bühnengestalten nachzuzeichnen wusste.

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Bibliographische Notiz Vérons Formel findet sich in dessen Mémoires d’un bourgeois de Paris, Band III, Paris: Gonet 1854, S. 252, Adornos Aperçu zum „Leitmotiv“ bei Wagner in seinem Versuch über Wagner aus dem Jahre 1953, in: Adorno, Die musikalischen Monographien, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1971, S. 33. Erste Hinweise auf die gestische Gestaltung von Melodien in „Les huguenots“ habe ich in Die Verstädterung der Oper. Paris und das Musiktheater des 19. Jahrhunderts, Stuttgart /  Weimar: Metzler 1992, S. 152 – 154, formuliert, das Konzept „melodischer Profile“ in: L’arte della fisionomia vocale. Profili melodici in „Simon Boccanegra“, in: Studi Verdiani 23 [2012 – 2013], S. 71 – 82. Für den Hinweis auf die Nähe von Zacharies Strophen zur metastasianischen Gleichnisarie danke ich Maria Birbili [Berlin]. Beispiele für die Verwendung der Formulierung „nos phalanges immortelles“ finden sich unter anderem im Manuel des autorités constituées de la République française, Paris an 5 [1797], S. 87, im Journal des débats du 28 messidor an VII [16. Juli 1799], S. 469, oder auch in Nanettes Air „Lorsqu’il faut reprendre son poste“, in: Charles Augustin Bassompierre [Sewrin] und André-René-Balthazard Alissan de Chazet, Le chemin de Berlin ou Halte militaire. Divertissement-impromptu mêlé de vaudevilles [Uraufführung: Paris, Théâtre Montansier, 1. November 1806], Paris: Cavanagh 1806, S. 7.

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„ENDLICH REHABILITIERT? Ü B E R D I E Z U K U N F T S C H A N C E N VO N MEYERBEERS WERK IM REPERTOIRE

D iskus sion mi t L aura A ik in [S ä nger in] J oachim K lement [Genera lintenda nt , St a at s t he ater B raunschweig] Eva n B a ker [Musik wis senschaf t ler] Cur t A . Ro e sler und J örg Königsdor f [D ra mat urgen , D eu t schen O p er B er lin] D a s B ew u s s t s e i n , w e l c h e C h a n c e d i e O p e r n G i a c o m o M e y e r b e e r s f ü r d a s O p e r n r e p e r t o i r e d a r s t e l l e n , i s t i n d e n l et z t e n J a h r e n ko n t i n u i e r l i c h g ew a c h s e n . D o c h h a b e n St ü c ke w i e „ D i e H u g e n ot t e n “ u n d „ D e r P r o p h et “ e i n e C h a n c e , s i c h i m O p e r n r e p e r t o i r e d a u e r h af t z u et a b l i e r e n? D i e s e E n t s c h e i d u n g l i e g t n i c ht z u l et z t i n d e n H ä n d e n d e r I n t e n d a n t e n , d i e d i e s e We r ke a u f d e n S p i e l p l a n s et ze n , u n d d e r Kü n s t l e r, d i e s i e e i n s t u d i e r e n m ü s s e n .

Wir haben die Erfahrung gemacht, dass es gar nicht so leicht ist, Regisseure zu finden, die sich Meyerbeer zutrauen. Wie war das in Braunschweig, als Sie sich entschlossen hatten, den „Propheten“ anzu­ setzen, Herr Klement? Joachim Klement: Nein, sicher ist das nicht leicht, aber das ist es doch nie. Erstmal sind Meyerbeers Opern Material wie jede andere Oper auch – und wir müssen uns die Frage stellen: Wie interessant ist dieses Material für uns? Was für Geschichten werden dort erzählt und ist das musikalische Material tragfähig genug? Ich selbst komme vom Schauspiel, aber als unser Operndirektor Philipp Kochheim mit dem Vorschlag zu mir kam, den „Propheten“ zu machen, war ich sowohl von den musikalischen Beispielen angetan, die ich mir angehört habe, als auch von der Art, wie diese Geschichte erzählt wird. An einem Haus wie Braunschweig muss man sich grundsätzlich die Frage stellen, wie man mit der Grand Opéra umgeht. Wir sind ein Mehrsparten-Betrieb, das heißt, dort wo Oper Jörg Königsdorf:

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stattfindet, zeigen wir auch Tanz und Sprechtheater, wir haben circa 30 Premieren pro Jahr, ein Orchester, das nicht nur Oper macht, sondern auch einen großen Konzertbetrieb in und außerhalb der Stadt aufrecht erhält. Und da ist natürlich zuerst die Frage zu beantworten: Wieviel Aufwand kann man betreiben, und wie kann ich es ermöglichen, dass wir dem Publikum einen so interessanten Stoff angemessen erzählen können. Denn um zu spüren, dass der Stoff brandaktuell ist, muss man nur abends die Tagesschau einschalten, um etwas über religiös motivierte Selbstmordattentäter zu hören. Im „Propheten“ findet ja etwas durchaus Vergleichbares statt. Es wird dort ein großer Geschichtsbogen erzählt, der psychologisch aber nur bruchstückhaft motiviert ist. Die Frage ist für mich: Wie bringe ich das in eine ästhetische Form, die sich mit dem Praxisbetrieb und den Möglichkeiten unseres Hauses in Einklang bringen lässt. Denn wir haben – nur um ein Beispiel zu nennen – natürlich nicht die vier Harfen zur Verfügung, die man entsprechend der Partitur bräuchte. Das Entscheidende ist für uns, einen Rahmen zu finden, der sich von seinen szenischen wie musikalischen Anforderungen her in einem Repertoirebetrieb unterbringen lässt. Dabei geht es nicht um eine phänomenale Premiere, sondern um reguläre Aufführungen im Laufe der Spielzeit. Ich glaube darüber hinaus, dass die Chancen für unbekannte Opern wie diejenigen Meyerbeers ohnehin immer mehr von Interesse sind sind, weil die Titel des Kernrepertoires dem Publikum immer weniger bedeuten – teils, weil ihr Nährwert durch sehr viele Inszenierungen erschöpft ist, teils aber auch, weil die Kennerschaft von Stücken im Publikum ganz allgemein sinkt. Außerdem ist es nicht sonderlich interessant, dem Publikum immer die gleichen Stücke zu zeigen und so in einer unsicheren Welt Sicherheit vorzugaukeln. Viel interessanter ist es doch, Stoffe zu finden, die etwas mit den Lebenswirklichkeiten der Menschen heute zu tun ­haben. Das findet man im „Propheten“ von Meyerbeer, davon sind wir überzeugt. Jörg Königsdorf: Ähnliches konnte ich bei meinem letzten Besuch in Brauschweig beobachten. Dort wurde die selten gespielte Vivaldi-Oper „Il Farnace“ in einer sehr packenden und überzeugenden Art, präsentiert. Dabei beeindruckte mich die Bereitschaft der Sänger, sich auf sehr hohem Niveau mit der musikalischen Stilistik auseinanderzusetzen und sich diese zu er­ arbeiten. Ich kann mir vorstellen, dass dies ähnlich wie bei Meyerbeer das Resultat einer langfristigen Strategie ist. Joachim Klement: Das ist richtig. Das bestbesuchte Stück der letzten Spielzeit in Braunschweig war eine Werk, das niemand kannte: „Anna Karenina“ von Jenö Hubay mit einer Auslastung von über 90 Prozent. Das hat uns sehr überrascht und gezeigt, dass man im Musiktheater eine Programmatik entwickeln muss, die das Publikum im Hinblick auf Interessen, 240


Lebenswirklichkeiten und natürlich musikalische Erfahrungen anspricht. Dazu gehören auch Barockopern, wie „Il Farnace“, für die jedoch im Orchester eine Barock-Kompetenz entwickelt werden muss. Ebenso wie die Auseinandersetzung mit den verschiedensten Opernstilen für die szenische Arbeit und die Solisten existenziell ist, können sich auch die Musiker heutiger Opernorchester nicht nur über Wagner und Strauss definieren, sondern müssen ein breites und stilistisch vielfältiges Repertoire beherrschen – nur wenn das auf hohem Niveau geschieht, wirkt es profilbildend und nicht beliebig. Die Produktionen müssen ein Beleg sein, dass es sich lohnt, eine solche Vielfalt anzubieten. Das wird nicht immer erfolgreich sein, markiert aber einen Raum, in dem Musiktheater ausprobiert werden kann. Jörg Königsdorf: Sind Sie zur Verwirklichung dieser Vielfalt auf hohem Niveau in großem Umfang auf Gastkünstler angewiesen? Joachim Klement: Nein, im „Prophet“ nicht! Das machen wir mit unserem Ensemble und das können die auch. Curt A . Roesler: Ich würde gerne eine praktische Frage an Frau Aikin stellen. Für Meyerbeer benötigt man natürlich gute Sänger, jedoch lohnt es meist aus finanzieller Sicht nicht, die schwierigen Partien zu lernen, da die Opern selten gespielt werden. Wenn eine Sängerin die Wahl hat zwischen „La Traviata“ oder einer großen Meyerbeer-Partie, dann ist „Traviata“ doch viel ertragreicher. L aura Aikin: In jeder Sänger-Karriere gibt es solche Repertoire-Partien. Der Großteil meiner Arbeit besteht jedoch darin, Stücke zu lernen, die ich nicht oft singen darf. Ich könnte eine ganze Reihe von zeitgenössischen Opern, aber auch Repertoirestücken, aufzählen, die nur selten aufgeführt werden. Das gehört zum Job, entspricht aber auch meinem Selbstverständnis als Opernsängerin: Ich halte ein breites Repertoire für sehr wichtig – nur so fühle ich mich körperlich und gesanglich gut. Natürlich ist es immer mit einem größeren Risiko verbunden, wenn man Partien in selten gespielten Opern lernt, und das liegt oft nicht einmal an einem selbst. In Straßburg habe ich beispielsweise in der „Hugenotten“-Produktion gesungen. Es handelte sich dabei um die Koproduktion mit Brüssel. Gespielt wurden acht Vorstellungen und es sollten noch zwei zusätzliche in Mulhouse stattfinden. Die Straßburg-Vorstellungen waren ein Riesenerfolg, alles war ausverkauft, aber die beiden zusätzlichen Vorstellungen mussten abgesagt werden, da der Tenor krank wurde. Obwohl das bereits 5 Tage vorher bekannt wurde, konnte kein Ersatz gefunden werden, was einfach die Schwierigkeit dieser Partien wiederspiegelt. Andererseits konnte ich die Marguerite dann doch noch einmal singen, als bei der Produktion in Nürnberg ganz kurzfristig ein Ersatz für die letzte Vorstellung gesucht wurde. 241


Die Produktionen in Straßburg und Nürnberg unterschieden sich in ihrer Spieldauer ganz erheblich: Die Nürnberger Fassung war zwei Stunden kürzer. Macht das für den inneren Rhythmus und die persönliche Spannungskurve des Sängers einen Unterschied? Laura Aikin: Da ich schnell einspringen musste, habe ich die Vorstellung aus dem Orchestergraben gesungen. Die Vorstellung begann um 15 Uhr, ich bin 12 Uhr angekommen und musste gleich die Sprünge in der Partitur lernen. Kurz vor der Vorstellung hatte ich dann noch mit die Möglichkeit, mit dem Dirigenten zu sprechen: es waren dann noch zwei Sprünge zu korrigieren, und er ging dann in den Orchestergraben, während ich mit dem Pianisten weiterüben musste. Aber schlussendlich hat alles gepasst und es war eine sehr schöne Aufführung. Das entschädigt dann auch für die Mühe und zeigt, dass sich der Wert einer Partie nicht an der Aufführungszahl messen lässt. Auch für die konzertante Aufführung von Dietschs „Geisterschiff“ der Deutschen Oper Berlin habe ich eine schwere Partie gelernt und nur einmal gesungen – und es dennoch sehr genossen, diese Musik kennen zu lernen und das Publikum mit ihr bekannt zu machen. Cur t A . Roesler: Worin besteht eigentlich die besondere sängerische Heraus­ forderung bei Meyerbeer ? Laura Aikin: Die Partie der Marguerite hat meiner Stimme einfach gutgetan. Meyerbeer wusste genau, wie man für die Stimme schreiben muss. ­M arguerite ist sehr facettenreich, sehr verführerisch, aber auch eine ­Politikerin, die Katholiken und Protestanten versöhnen will – eine Figur mit ganz verschiedenen Seiten, bis hin zu operettenhaften Momenten. Dieser Facettenreichtum wurde auch in der Inszenierung umgesetzt und ich musste von einem Augenblick auf den anderen die Persönlichkeit wechseln. Das war nicht nur schauspielerisch, sondern auch gesanglich eine große Herausforderung. Diese Wandlungen der Stimme wurden unglaublich gut von Meyerbeer komponiert. Jörg Königsdorf: Haben Sie bemerkt, ob sich in letzter Zeit auch bei ihren Sänger­ kollegen eine Neugier auf Meyerbeer entwickelt hat? Laura Aikin: Unter meinen Kollegen gibt es wohl keinen, der Meyerbeer nicht singen würde. Es ist natürlich jedem bewusst, dass es sich um sehr anspruchsvolle und schwierig zu besetzende Partien handelt, aber dennoch steigt die Neugier auf Meyerbeer und er findet den Weg ins Repertoire. Cur t A . Roesler: Herr Baker, Sie verfolgen die amerikanische Opernszene seit langer Zeit. Welche Rolle spielt Meyerbeer dort auf den Bühnen? Evan Baker: Leider so gut wie gar keine. In den letzten 40 Jahren hab es nur drei Inszenierungen in Amerika: die erste Produktion war „Le Prophète“, dann „L’Africaine“ in San Francisco und schließlich an der University of California in Los Angeles „Les huguenots“. Das problematische in Jörg Königsdor f:

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Amerika sind die fehlenden staatlichen Subventionen – denn Meyerbeer ist teuer, sowohl was die Besetzung als auch was die szenischen Anforderungen angeht. Ohne diese Gelder und die passenden Besetzungen können die Werke nicht auf die Bühnen gebracht werden. In dieser Hinsicht hat sich die Situation für Meyerbeer in den letzten Jahren sogar noch verschlechtert, weil der finanzielle Rahmen gerade für die kleineren Opernhäuser immer enger geworden ist. Joachim Klement: Dazu möchte ich gern etwas ergänzen. Natürlich ist die Geschichte der Grand Opéra mit bombastischen Ausstattungen verbunden, aber das tut einer Erzählung nicht zwingend gut. Ich glaube nicht, dass man einen großen Ausstattungspomp betreiben muss, um Meyerbeer gerecht zu werden. Es gibt natürlich in jeder Handlung Ortswechsel, die glaubhaft umgesetzt werden müssen, aber das Modell einer solchen großausgestatteten Oper hatte sich auch bereits in der Mitte des 19. Jahrhundert überlebt und konnte nicht gehalten werden. Man darf nicht vergessen, was da an Aufwand getrieben werden musste, um diese Werke auf die Bühne zu bringen. Ich glaube nicht, dass man das heute noch so machen muss. Natürlich gibt es einen Chor, auch einen Extrachor und Kinderchor, aber es gibt eben auch rein pragmatische Voraussetzungen in einem deutschen Repertoirebetrieb. Sie haben Aufbauzeiten, die eingehalten werden müssen, damit morgens Proben auf der Bühne stattfinden können, wenn sie nicht über ein Probenzentrum verfügen, auf dem die Bühnenbedingungen eins zu eins nachempfunden werden können. Auch die Opern Meyerbeers mussten schon in ihrer Entstehungszeit diesem normalen Repertoirebetrieb mit seinen technisch-organisatorischen Gegebenheiten eingepasst werden. Das war aber schon damals eher ein Grund, nach kreativen Lösungen zu suchen, aber kein Grund, sie nicht zu spielen. Curt A . Roesler: Mich interessieren eher die Gründe, die sich hinter diesen öffentlichen Begründungen verbergen. Auch als wir 1987 „Die Hugenotten“ aufführten, gab es im Vorfeld viele Probleme und Vorurteile. So wurde behauptet, dass die Partien unsingbar seien, was schließlich aber die Chance für das triumphale Debut von Richard Leech eröffnete. Aber auch damals erschienen mir all diese Bedenken als vorgeschobene Vorurteile, denn wo ein Wille ist, ist auch ein Weg. Aber offensichtlich ist dieser Wille nicht vorhanden. Gibt es dafür Gründe? Evan Baker: Schwierig! In Amerika fehlt beispielsweise die Tradition. Hier in Deutschland, und ich meine das nicht im negativen Sinne, gehört Oper zum Alltag. Die Menschen kommen zu den Vorstellungen und akzeptieren die Oper als Teil des Lebens. Der Opernbesuch hier ist vergleichbar mit dem Besuch eines Konzertes von Lady Gaga in Amerika. In Amerika hingegen ist die Oper hingegen immer noch etwas Elitäres und dazu 243


gehört auch, dass die Operntitel berühmt sein müssen. So ist es schwierig, dem Publikum einen Komponisten wie Meyerbeer zu verkaufen. Ich sehe nur dann eine Chance, dass sich daran etwas ändert, wenn die berühmtesten Sänger heute von sich aus an die Häuser herantreten und Meyerbeer singen wollen, so wie damals Enrico Caruso an der Met den Raoul in den „Hugenotten“ gesungen hat. Auf eine ähnliche Weise hat es ja vor einigen Jahren dank Placido Domingo auch Franco Alfanos „Cyrano de Bergerac“ wieder auf die Bühne der Met geschafft. Oder – in den siebziger Jahren – „Der Prophet“ mit Marilyn Horne als Fidès. Jörg Königsdorf: Herr Klement, ist es für eine Meyerbeer-Produktion aus Ihrer Sicht angesichts einer abgebrochenen Rezeptionstradition besonders ­nötig, auf ihr Publikum zuzugehen? Muss mehr Vermittlungsarbeit geleistet werden als bei bekannteren Werken? Joachim Klement: Ich kann das nur aus meiner Erfahrung beschreiben. Anfang der 90er Jahre habe ich mit Frank Baumbauer am Deutschen Schauspielhaus in Hamburg gearbeitet. Da gab es einen Regisseur, den keiner kannte: Er hieß Christoph Marthaler. Wir haben bewusst versucht zu vermitteln, warum er etwas macht, nicht, was er macht. Woher seine Art, Kunst zu machen, kommt – und nicht, was man auf der Bühne sieht. Ich denke, dass Vermittlung nicht bedeutet zu erklären, was man auf der Bühne sieht. In Braunschweig gibt es die Erfahrung, dass die Einführung zeitlich vorverlegt werden musste, um eine zweite Einführung aufgrund des Andranges zu ermöglichen. Ich habe den Eindruck, dass es beim Publikum ein großes Bedürfnis gibt zu wissen, worauf man sich einlässt. Auch im Falle des „Propheten“ wird es das geben und wir informieren das Publikum sehr gern diesbezüglich. Cur t A . Roesler: In diesem Zusammenhang würde ich Ihnen, Herr Klement, nochmal konkret die Frage nach der Fassung des „Propheten“ stellen. Sie haben bereits im Vorfeld angedeutet, dass Sie nicht die ganze Oper spielen werden, sondern kürzen werden. Wie und unter welchen Voraussetzungen haben Sie Striche vorgenommen? Joachim Klement: Dazu müssen Sie wissen, dass der Vorlauf für eine solche Produktion bereits mehr als ein Jahr vor der Premiere beginnt. Bevor Rollen erarbeitet werden können, muss es einen Vorlauf geben, bei dem zunächst über Striche diskutiert wird. Ebenso muss es die Möglichkeit geben, auch im Laufe der Probenzeit noch etwas zu ändern, aber die Strichfassung der Aufführung liegt im Grunde ein Jahr im Voraus fest. Natürlich gibt es ein Bewusstsein über eine ursprüngliche Fassung, aber es gehört im Musiktheater – wie im Schauspiel – dazu, Striche zu machen. Das hat inhaltliche, dramaturgische aber auch klar ökonomische Gründe. Das ist Theateralltag und es geht letztlich auch darum, wie plausibel man erklären kann, was auf der Bühne passiert. Beispielsweise der Beginn des 244


dritten Aktes. Dort sind Ballette eingeplant. Wie kann oder muss man mit diesem choreografischen Element heute umgehen? Macht das noch Sinn, was damals als ästhetisch galt, heute aber die Handlung aufhält. Was in einem Stück passiert, benötigt einen historischen Anschluss und natürlich braucht jede Zeit eine eigene Übersetzung und jede Inszenierung ist an ihre Zeit gebunden. Und da stellt sich eben die Frage, ob bloß spielerisch auf eine Rezeptionsgeschichte, auf musik- und sozialgeschichtliche Aspekte eingegangen wird, oder ob seriös gearbeitet wird, was für mich eine Grundvoraussetzung ist. Aber es gibt eben auch praktische Rahmenbedingungen, die eingehalten werden müssen. So geht es beispielsweise um Verträge, Arbeitszeiten und das Arbeitsschutzgesetz. Das sind alles Dinge, die gegeneinander abgewogen werden müssen. Das bestimmt nicht unmittelbar den Inhalt eines Stückes, bildet aber den Rahmen einer Produktion. Das muss so möglich sein, da bestimmte Werke sonst gar keinen Platz mehr im Theaterbetrieb finden können. Curt A . Roesler: Ich muss mich schuldig bekennen, damals an diesen brutalen Kürzungen der „Hugenotten“ mitgewirkt zu haben. Aber das gehört mit zu diesen Vorurteilen, mit denen wir konfrontiert waren. Eines davon war, dass nur eine Wagner-Oper mehr als drei Stunden dauern darf und alles andere gekürzt werden muss. Ich habe in diesem Zusammenhang Tschaikowskijs „Pique Dame“ gesehen, auf lächerliche zweieinhalb Stunden gekürzt. Aber wir waren daran gebunden und mussten das machen. Aber mittlerweile bröckeln diese Vorurteile. Zum einen, dass Meyerbeer unsingbar sei, zum anderen aber auch, dass seine Opern viel zu lang seien. Inzwischen hat sich das Repertoire auch mit längeren Werken aus dem 17. und 18. Jahrhundert gefüllt. Darüber freue ich mich sehr und hoffe, dass sich diese Entwicklung positiv auf die Meyerbeer-Rezeption auswirken wird.

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BIOGRAFIEN

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Dank ihres Stimmumfangs von über drei Oktaven beinhaltet das Repertoire der amerikanischen Sopranistin Laura Aikin Werke vom Barock bis zur zeitgenössischen Musikliteratur. Die Sopranistin ist sowohl auf der Opern- als auch auf der Konzertbühne ein immer gern gesehener Gast. Nach einem Jahr als Franz-­Josef-WeisweilerStipendiatin an der Deutschen Oper Berlin begann sie ihre Laufbahn als Mitglied des Ensembles der Deutschen Staatsoper Berlin von 1992 bis 1998 unter der künstlerischen Leitung von Daniel Barenboim, wo sie in mehr als 300 Aufführungen Partien wie Lulu, Königin der Nacht, Zerbinetta, Amenaide / „­Tancredi“, Sophie, Adele sowie die Titelrolle in „Zaide“ sang. Als regelmäßiger Gast an den weltweit führenden Opernhäusern tritt sie an der Wiener Staatsoper, der Mailänder Scala, der Bayerischen Staatsoper München, dem Opernhaus Zürich, der De Nederlandse Opera, der Opéra National de Paris, Semperoper Dresden, dem Gran Teatro del Liceu Barcelona, der Oper Frankfurt, Chicago Lyric Opera, Santa Fe Opera, San Francisco Opera sowie der Metropolitan Opera New York auf. Laura Aikin sang in der konzertanten Aufführung der Oper „Le vaisseau fantôme“ von Pierre-Louis Dietsch nach einem Szenario von Richard Wagner die Partie der Minna. Evan Baker, geboren 1952 in Los Angeles, arbeitete als Regieassistent und Dramaturg in Deutschland und der Schweiz. Er hat unzählige Ausstellungen zur Geschichte von Theatern und zur Aufführungsgeschichte von einzelnen Opern kuratiert, u. a. für das Teatro alla Scala, Milano, und schrieb Beiträge für Programmhefte, Journale und Fachpresse. 2001 gehörte er zu den Referenten beim von den drei Berliner Opernhäusern gemeinsam getragenen Verdi-Kongress. Seine neueste Publikation ist “From the Score to the Stage. An Illustrated History of Continental Opera Production and Staging” [2013, University of Chicago Press]. Seine musikalische Ausbildung erhielt Frank Beermann an der Musikhochschule in Detmold. Erste Engagements führten ihn an das Staatstheater Darmstadt und an das Theater Freiburg. Von 1997 bis 2002 war Frank Beermann durch einen Residenzvertrag der Staatsoper Hamburg verpflichtet, an der er ein weit gefächertes Repertoire [u. a. „Otello“, „Turandot“, „Der fliegende Holländer“ und „Jenůfa“] betreute. Erfolgreiche Gastspiele führten den Dirigenten, der seit 2007 Generalmusikdirektor der Theater Chemnitz und Chefdirigent der Robert-Schumann-Philharmonie ist, in den letzten Jahren u. a. an die Staatsoper Unter den Linden, die Semperoper, die Oper Leipzig, die Finnische Nationaloper Helsinki, die Deutsche Oper Berlin, die Bayerische Staatsoper, die Hamburgische Staatsoper, an die Opéra de Marseille, die Königliche Oper Stockholm, das Teatro Municipal Santiago de Chile und an das Liceu in Barcelona. Er arbeitete weiterhin u. a. mit den Bamberger Sinfonikern, dem Gewandhausorchester Leipzig, dem Helsinki Philharmonic Orchestra, dem Rundfunkorchester des BR, der Radiophilharmonie des NDR, der Deutschen Radiophilharmonie des SR, dem Rundfunkorchester des WDR, den Bochumer Sinfonikern, der Nordwestdeutschen Philharmonie, den Orchestern in Bilbao, Sevilla, Barcelona. 248


Matthias Brzoska, Deutscher Musikwissenschaftler, geb. 1955, studierte Musikwissenschaft bei Reinhold Brinkmann und Sieghart Döhring in Marburg sowie Romanistik bei Hermann Hofer. 1981 – 1986 wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Hochschule der Künste Berlin; 1986 Promotion bei Carl Dahlhaus mit einer Arbeit über Franz Schreker. Anschließend als Stipendiat der DFG Durchführung eines Forschungsprojektes in Paris. 1992 Habilitation an der Universität Bayreuth mit einer Schrift über die Idee des Gesamtkunstwerks in Frankreich. Berufung zum Professor für Musikwissenschaft an der Folkwang Universität der Künste Essen [Lehr- und Forschungsschwerpunkte: Operngeschichte, französische Musik, Musikästhetik in Frankreich und Deutschland]. Mitarbeit an verschiedenen Forschungsunternehmungen und Lexika [Institut für deutsche Musikkultur im östlichen Europa, Robert Schumann Forschungsstelle Düsseldorf, New Grove Second Edition, Pipers Enzyklopädie des Musiktheaters, Lexikon der Oper, Lexikon der Violine, Lexikon der Renaissance, Lexikon der Kirchenmusik [Laaber], sowie an theaterpraktischen Projekten. Herausgeber der kritischen Ausgabe von Meyerbeers Oper „Le Prophète“ [Ricordi], Mitherausgeber einer „Geschichte der Musik“ und Herausgeber des Nachdrucks der Schriften von Hector Berlioz [sämtlich bei Laaber]. 2011 wurde er in die Nordrhein-Westfälische Akademie der Wissenschaften und der Künste und in den Ausschuß für musikwissenschaftliche Editionen der Union der deutschen Akademien der Wissenschaften berufen. Anselm Gerhard, geboren 1958 in Heidelberg, studierte in Frankfurt am Main, an der Technischen Universität Berlin, am Istituto di Studi Verdiani [Parma] und in Paris. Danach Tätigkeiten an den Universitäten von Münster [Westfalen], Augsburg, Basel und Heidelberg, seit 1994 ordentlicher Professor für Musikwissenschaft an der Universität Bern. Sein Buch „Die Verstädterung der Oper. Paris und das Musiktheater des 19. Jahrhunderts“ [Stuttgart/Weimar: Metzler 1994] gilt als Standardwerk zur französischen „Grand Opéra“, das gemeinsam mit Uwe Schweikert herausgegebene „Verdi Handbuch“ [Stuttgart/Weimar: Metzler 2001, 2013] als unverzichtbares Nachschlagewerk. 2008 wurden seine „outstanding contributions to musicology“ mit der „Dent Medal“ der Royal Musical Association [London] ausgezeichnet. Sabine Henze-Döhring, geb. 1953, studierte Germanistik, Geschichte und Musikwissenschaft. Seit 1992 lehrt sie als Professorin für Musikwissenschaft an der Universität Marburg. Zusammen mit ihrem Mann Sieghart Döhring legte sie „Oper und Musikdrama im 19. Jahrhundert“ vor [Laaber: Laaber 1997]. Sie ist Herausgeberin von „Giacomo Meyerbeer. Briefwechsel und Tagebücher“, Bände 5 – 8 [Berlin: de Gruyter 1999 – 2006]. Es folgten „Adel mit Bürgersinn“ [Bamberg: Heinrichs 2007] und „Markgräfin Wilhelmine und die Bayreuther Hofmusik“ [Bamberg: Heinrichs 2009]. Ihre jüngsten Buchpublikationen – alle München: C.H.Beck – sind „Friedrich der Große – Musiker und Monarch“ [2012], „Verdis Opern. Ein musikalischer Werkführer“ [2013] und – zusammen mit Sieghart Döhring – „Giacomo Meyerbeer. Der Meister der Grand Opéra. Eine Biographie“ [2014]. 249


Arnold Jacobshagen, geboren 1965 in Marburg, studierte Musikwissenschaft, Geschichte und Philosophie sowie Kultur- und Medienmanagement in Berlin, Wien, Paris und Tours. 1996 Promotion an der Freien Universität Berlin, danach Musikdramaturg am Staatstheater Mainz, Wissenschaftlicher Assistent und Oberassistent an der Universität Bayreuth, dort 2003 Habilitation. Seit 2006 Professor für Historische Musikwissenschaft an der Hochschule für Musik und Tanz Köln. Buchveröffentlichungen u. a. „Der Chor in der französischen Oper des späten Ancien Régime“ [1997], „Strukturwandel der Orchesterlandschaft“ [2000], „Opera semiseria“ [2005], „­ Händels Opern – Das Handbuch“ [2009, Mitherausgeber], „Gustav Mahler und die musika­ lische Moderne“ [2011], „Verdi und Wagner – Kulturen der Oper“ [2013], „Gioachino Rossini und seine Zeit“ [2015]. Joachim Klement wurde 1961 in Düsseldorf geboren und studierte in Köln und München. Nach Engagements als Dramaturg u. a. am Theater Graz und am Deutschen Schauspielhaus in Hamburg war er leitender Schauspieldramaturg am Nationaltheater Mannheim. Ab 1999 wechselte er als Chefdramaturg und Stellvertreter des Generalintendanten an das Bremer Theater. Ab der Spielzeit 2006 / 2007 war er in gleicher Funktion am Düsseldorfer Schauspielhaus engagiert. Zusammenarbeit u. a. mit den Regisseurinnen und Regisseuren Karin Beier, Barbara Frey, Karin Henkel, Johann Kresnik, Martin Kušej, Elke Lang, Konstanze Lauterbach, Wilfried Minks, Amélie Niermeyer, Stephan Rottkamp, Michael Talke und Herbert Wernicke. Seit der Spielzeit 2010 / 2011 ist Joachim Klement Generalintendant am Staatstheater ­Braunschweig. Seit Oktober 2013 ist er Mitglied im Vorstand der European Theatre ­Convention [ETC]. Jörg Königsdorf wurde 1965 in Itzehoe / Schleswig-Holstein geboren. Nach dem Studium der Volkswirtschaftslehre und der Kunstgeschichte arbeitete er seit 1995 als Musikkritiker unter anderem für die Süddeutsche Zeitung, den Tagesspiegel und die Opernwelt. Seit August 2012 ist er Chefdramaturg der Deutschen Oper Berlin. Er betreut die Neuinszenierungen von „Vasco da Gama“, „Die Hugenotten“ und „Der Prophet“. Der italienische Dirigent Enrique Mazzola ist seit 2012 Musikdirektor des Orchestre National d’Ile de France. Er gilt als Experte sowohl des Belcanto als auch der klassischen und frühromantischen Musik. In Barcelona in eine musikalische Familie hineingeboren, begann er sehr früh, Geige und Klavier zu studieren. Später schloss sich ein Dirigier- und Kompositionsstudium am Giuseppe Verdi Konservatorium in Mailand an. An der Deutschen Oper Berlin dirigierte er „Der Barbier von Sevilla“ und „Das Geisterschiff“ [Dietsch, konzertant], am Bolschoi Theater Moskau „La sonnambula“ und beim Glyndebourne Festival „Don Pasquale“. Weitere Verpflichtungen führten ihn zum Prague Philharmonic, zum Orchestre de Lyon, zum Scottish Chamber Orchestra, zur New Japan Philharmonic, an die Opéra du Rhin und das Théâtre des Champs250


Elysées, Paris. Als ausgewiesener Interpret auch zeitgenössischer Musik dirigierte er u. a. die Uraufführung von Collas IL PROCESSO an der Scala, IL RE NUDO von Luca Lombardi am Teatro dell’Opera di Roma, MEDUSA von Amaldo De Felice an der Bayerischen Staatsoper, ISABELLA von Azio Corghi beim Rossini Opera Festival sowie zahlreiche Konzertprogramme mit dem Orchestre National d’Ile de France, dem Orquestra Nacional da Porto und anderen namhaften europäischen Orchestern. Curt A. Roesler ist der Deutschen Oper Berlin seit 1980 verbunden – zuerst als Leitender Dramaturg, dann als Leiter des 1986 gegründeten KinderMusikTheaters, ab 2012/2013 als Dramaturg und Bibliotheksbeauftragter. 1987 betreute er die Wiederentdeckung der „Hugenotten“ in der Inszenierung von John Dew. Er studierte zunächst Orgel, Musik- und Literaturwissenschaft, Dirigieren in Winterthur, Zürich und Basel. Daran schloss sich das Studium der Musiktheater-Regie bei Prof. Götz Friedrich in Hamburg an. Ein Schwerpunkt seiner Tätigkeit lag in der Betreuung von Sonderprogrammen im Parkett-Foyer, darunter speziell für Kinder entwickelte Opernbearbeitungen [„,Hänsel und Gretel‘ für die ganz Kleinen“ „Klein-Siegfried“, „Opa / er Hoffmann erzählt“], in denen er auch selbst auftrat. Seit 1985 unterrichtet er an Berliner Universitäten, Hochschulen und Volkshochschulen. Jürgen Schläder von 1987 bis 2014 Professor für Theaterwissenschaft mit Schwerpunkt Musiktheater an der LMU München. Studium der Germanistik und Musikwissenschaft an der Ruhr-Universität Bochum. 1978 Promotion in Musikwissenschaft mit der Dissertation „Undine auf dem Musiktheater“ [Bonn 1979]. 1986 Habilitation mit einer Studie über das Opernduett [Tübingen 1995]. Weitere Buchveröffentlichungen u. a. über das Nationaltheater München und die Bayerische Staatsoper, das Münchner Prinzregententheater und Giacomo Meyerbeer sowie zum zeitgenössischen Regietheater [„OperMachtTheaterBilder“, Berlin 2006], zu ästhetischen Entwürfen im Neuesten Musiktheater [„Das Experiment der Grenze“, Berlin 2009] und zu medialen Wechselwirkungen im experimentellen Gegenwartstheater [„PerformingInterMediality“, Leipzig 2010]. Stephanie Schroedter arbeitet seit ihrer Promotion am Salzburger Institut für ­Musikwissenschaft [2001, Auszeichnung mit dem Tanzwissenschaftspreis Nordrhein-Westfalen] an der Schnittstelle von Tanz-, Musik- und Theaterwissenschaft. Als wissenschaftliche Mitarbeiterin des Forschungsinstituts für Musiktheater der Universität Bayreuth initiierte sie ein DFG-gefördertes Projekt zu „Musik in Bewegung: Tanzkulturen des 19. Jahrhunderts“. Im Rahmen eines vom Schweizer Nationalfonds [SNF] geförderten Projekts widmete sie sich den Tanzszenen im französischen ­Musiktheater zwischen 1830 bis 1870 sowie deren Rezeption durch Arrangements für den Ballsaal und den musikalischen Salon. Ihre Habilitationsschrift „Paris qui danse. Bewegungs- und Klangräume einer Großstadt der Moderne“ [2015] wird in Kürze publiziert. 251


Thomas Seedorf, geb. 1960 in Bremerhaven, studierte zunächst Schulmusik und Germanistik, dann Musikwissenschaft und Musikpädagogik in Hannover. Nach der Promotion mit einer Arbeit über die kompositorische Mozart-Rezeption im frühen 20. Jahrhundert war er von 1988 bis 2006 als Wissenschaftlicher Angestellter am Musikwissenschaftlichen Seminar der Universität Freiburg tätig; seit dem Winter­ semester 2006 / 07 wirkt er als Professor für Musikwissenschaft an der Karlsruher Hochschule für Musik. Zu seinen Forschungsinteressen gehören u. a. die Bereiche Liedgeschichte und -analyse, Aufführungspraxis sowie insbesondere die Theorie und Geschichte des Kunstgesangs. Er ist Sprecher der Fachgruppe Aufführungspraxis und Interpretationsforschung in der Gesellschaft für Musikforschung, Vorstands­ mitglied der Internationalen Händel-Akademie Karlsruhe, Mitherausgeber der Reger-Werkausgabe, 1. Vorsitzender der Internationalen Schubert-Gesellschaft sowie Projektleiter der Neuen Schubert-Ausgabe. Juliane Votteler studierte an den Universitäten Erlangen, Wien und Frankfurt am Main Alte und Neue Deutsche Literaturwissenschaft, Theater-, Film- und Fernsehwissenschaft und Philosophie. Als Schauspieldramaturgin war sie am Nationaltheater Mannheim unter dem Intendanten Arnold Petersen und am Theater Basel unter Intendant Frank Baumbauer sowie als geschäftsführende Dramaturgin am Schauspiel Hannover mit Intendant Prof. Ulrich Khuon tätig. Juliane Votteler unterrichtete Dramaturgie, Regie, Operngeschichte und Aufführungstradition unter anderem an der Hochschule für Angewandte Kunst in Wien, der Kunstakademie Stuttgart, der Hochschule für Gestaltung Karlsruhe. Sie ist externes Mitglied des Hochschulrats der Staatlichen Hochschule für Musik Trossingen. Von 1996 bis 2006 war Juliane ­Votteler Chefdramaturgin und Direktorin für künstlerische Koordination an der Staats­ oper Stuttgart während der Intendanz von Prof. Klaus Zehelein. Jean-Claude Yon hält eine Professur für zeitgenössische Geschichte an der Université de Versailles Saint-Quentin-en-Yvelines inne. Als Spezialist der Theatergeschichte des 19. Jahrhunderts ist er Leiter des Centre d’histoire culturelle des sociétés contemporaine [CHCSC]. U. a. veröffentlichte er Biografien von Offenbach [Gallimard, 2000, réédition 2010] und Scribe [Librairie Nizet, 2000]. Außerdem, bei Armand Colin, eine „Kulturgeschichte Frankreichs im 19. Jahrhundert“ [„Histoire culturelle de la France au XIXe siècle“, 2010]. Er betreute den Band „Das Theater im Second Empire“ [„Les Spectacles sous le Second Empire“, Armand Colin, 2010] und veröffentlichte 2012 bei Aubier „Eine Geschichte des Theaters in Paris von der Revolution bis zum Ersten Weltkrieg“ [„Une histoire du théâtre à Paris de la Révolution à la Grande Guerre“]. Als Letztes erschien, zusammen mit Pascale Goetschel „Ins Theater! Ausgehen zu den Bühnen [19. Bis 21. Jahrhundert“ „Au théâtre ! La sortie au spectacle [XIXe-XXIe siècles]“, eine Publikation der Sorbonne [2014].

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Wir lieben Oper Werden Sie Mitglied in unserem aktiven und engagierten Kreis von Opernliebhabern. Mehr Informationen? Sprechen Sie uns an: Silke Alsweiler-Lรถsch: +49 [30]-343 84 240 foerderkreis@deutscheoperberlin.de www.deutscheoperberlin.de/foerderkreis

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Der Förderkreis – loyaler Partner und gesellschaftlicher Impulsgeber Impulsgeber und Partner der Deutschen Oper Berlin zu sein, ist das Anliegen des Förderkreises der Deutschen Oper Berlin. Seit mehr als 30 Jahren begleitet er sein Opernhaus mit dem Ziel, das Anliegen der Deutschen Oper in den gesellschaftlich relevanten Gruppen zu etablieren, die künstlerischen Visionen der Deutschen Oper Berlin nachhaltig zu fördern, sie verstärkt in das Bewusstsein der Öffentlichkeit zu rücken und die Wirkung über Berlin und die Bundesrepublik Deutschland hinaus zu erhöhen. Um diese Visionen zu erreichen, sind die Deutsche Oper Berlin und der Förderkreis in einem lebendigen und positiven Dialog. Seit seiner Gründung 1982 bis heute stellen die Mitglieder des Förderkreises einen wesentlichen Teil des gesellschaftlichen Lebens in Berlin dar. Diese Mitglieder sind wichtige Multiplikatoren mit Kontakten zu wesentlichen Entscheidungsträgern in Politik und Wirtschaft in Deutschland. In den vergangenen mehr als 30 Jahren verzeichnet der Förderkreis stetig steigende Mitgliederzahlen – vor allem im Bereich der Partner und Mäzene. Knapp 550 Mitglieder gehören heute zum Förderkreis und begleiten aktiv und engagiert ihr Opernhaus. Der Förderkreis investiert maßgeblich in die Förderung junger Nachwuchs-Talente [fünf Stipendiaten p. a.] und unterstützt die Oper im Schnitt mit ca. 350.000 € p. a. – zudem unterstützt er durch gezielte Spendenaufrufe. Seinen Mitgliedern bietet der Förderkreis ein umfassendes Programm [Proben, Künstlergespräche etc.], um sie in besonderer Weise an die Deutsche Oper Berlin zu binden. Zudem setzt der Förderkreis gesellschaftliche Glanzpunkte, um das Anliegen der Deutschen Oper Berlin lokal und deutschlandweit in relevanten gesellschaftlichen Gruppierungen zu etablieren. Die Dinner des Förderkreises sind gesellschaftliche Ereignisse, mit bis zu 200 Gästen, die regelmäßig beträchtliche, zusätzliche Fördermittel einbringen. Fördern Sie das größte und modernste Opernhaus in der pulsierenden Metropole! Auszug aus den Aktivitäten des Förderkreises: – Charity Gala-Dinner auf der Großen Bühne [7. Mai, 2016] – Premieren-Pausen-Empfänge: Berliner Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und Förderkreis [ca. 250 Personen] – Ausgewählte Empfänge und Dinner für Mäzene und Unternehmens-Partner – Musik-Reisen des Förderkreises 255


Impressum Copyright Stiftung Oper in Berlin Deutsche Oper Berlin, Bismarckstr. 35, 10627 Berlin Spielzeit 2015 / 2016 Intendant: Dietmar Schwarz Geschäftsführender Direktor: Thomas Fehrle Redaktion: Jörg Königsdorf und Curt A. Roesler Gestaltung: Benjamin Rheinwald [STUDIO BENS, Berlin] Druck: trigger Medien, Berlin Die Texte basieren auf den Vorträgen und Diskussionen des Symposions „Europa war sein Bayreuth“, das vom 29. September bis zum 1. Oktober 2014 in der Tischlerei der Deutschen Oper Berlin stattfand. Die Rechtschreibung folgt den Vorlagen. Bildnachweise akg-images [Titel, S. 25, 50, 80, 85, 102, 110, 114, 117, 121, 138, 144] Die übrigen Abbildungen wurden von den Autoren zur Verfügung gestellt.


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