Programm
Aribert Reimann [1936 – 2024]
aus L’INVISIBLE
Beginn des Teils „Intérieur“
In Gedenken an Aribert Reimann
Rede des Intendanten Dietmar Schwarz
Aribert Reimann
aus „Eingedunkelt“ (Neun Gedichte nach Paul Celan)
IV Angefochtener Stein
– Pause –
Gustav Mahler [1860 – 1911]
Sinfonie Nr. 9
1. Satz: Andante comodo
2. Satz: Im Tempo eines gemächlichen Ländlers
3. Satz: Rondo-Burleske
4. Satz: Adagio. Sehr langsam und noch zurückhaltend
Mezzosopran Annika Schlicht
L’Étranger Matthew Newlin
Le Vieillard Jisang Ryu
Musikalische Leitung Sir Donald Runnicles
Aribert Reimann an seinem Schreibtisch, 2021Aribert Reimann
4. März 1936 – 13. März 2024
Er habe das Gefühl, wieder nach Hause gekommen zu sein, beschrieb Aribert Reimann 2017 seine Rückkehr an die Deutsche Oper Berlin mit der Uraufführung von L’INVISIBLE. Fast schien es jedoch, als sei er nie wirklich fort gewesen, so eng war die Beziehung, die den Komponisten seit Beginn seiner Laufbahn an dieses Haus knüpfte. Schon mit 19 Jahren trat der frisch gebackene Abiturient hier seine erste Stelle als Korrepetitor an, an der Deutschen Oper – damals noch im Theater des Westens spielend – empfing er seine ersten prägenden Operneindrücke. Begierig sog er in dieser Zeit die künstlerischen Anregungen auf, die seine Heimatstadt zu bieten hatte, und entwickelte schnell – bestärkt von seinem Lehrer Boris Blacher – seine Eigenart als Komponist. Im Zentrum seines Schaffens stand schon zu dieser Zeit die menschliche Stimme, das Lied ebenso wie die Oper. Bereits sein Opernerstling, EIN TRAUMSPIEL nach Strindberg, uraufgeführt 1964, zeigte eindrucksvoll, dass hier jemand einen ganz persönlichen Weg gefunden hatte, die expressiven Möglichkeiten der Stimme zu erweitern. In Zusammenarbeit mit der Deutschen Oper Berlin entstanden in der Folge das Ballett DIE VOGELSCHEUCHEN (1970) sowie die Opern MELUSINE (1970 in Schwetzingen uraufgeführt), DIE GESPENSTERSONATE (1984) und DAS SCHLOSS (1992). In einer Zeit, die in Europa durch das Misstrauen der Avantgarde gegenüber dem tradierten Musiktheater geprägt war, knüpfte Reimann an das große kulturelle Erbe Europas an, suchte die Auseinandersetzung mit den großen Stoffen der Weltliteratur und erschloss Euripides, Shakespeare, Strindberg, Kafka und García Lorca für das Musiktheater ebenso wie Poe, Celan und Sylvia Plath für das Lied. Dabei schrieb Reimann immer für seine Interpreten, für große Künstlerper sönlichkeiten wie Dietrich Fischer-Dieskau, Doris Soffel und Brigitte Fassbaender, mit denen er auch zusammen als Liedbegleiter auftrat. Spätestens seit seinem LEAR, 1978 in München mit Fischer-Dieskau in der Titelpartie uraufgeführt und bis heute eine der meistgespielten zeitgenössischen Opern überhaupt, lernte die Musikwelt auch über die Grenzen Deutschlands hinaus diese Qualitäten zu schätzen und überhäufte Reimann mit Aufträgen und Ehrungen. Dennoch blieb Berlin, wo er ab 1983 auch eine Professur für zeitgenössisches Lied innehatte, sein Lebensmittelpunkt – und mit der 2017 an der Deutschen Oper Berlin uraufgeführten Maeterlinck-Oper L’INVISIBLE, die sein letztes Werk für das Musiktheater bleiben sollte, schloss sich ein Kreis. Ein letztes, ebenfalls für dieses Haus geplantes Opernprojekt, konnte Aribert Reimann nicht mehr vollenden. Nachdem er noch im Februar den Preis der GEMA für sein Lebenswerk entgegennehmen konnte, ist Aribert Reimann nun im Alter von 88 Jahren verstorben. Die Deutsche Oper Berlin trauert um einen großen Künstler, der das zeitgenössische Musiktheater maßgeblich geprägt hat, und um den Menschen Aribert Reimann, der diesem Haus sein ganzes, erfülltes Leben lang verbunden blieb.
Wahrhaftigkeit des gesungenen Wortes
Zwei Vokalwerke von Aribert Reimann
Sebastian Hanusa
Die Bedeutung der menschlichen Stimme für das Komponieren Aribert Reimanns ist ebenso offenkundig wie das Gewicht der Vokalwerke innerhalb seines Gesamtschaffens. Allein die Anzahl der Klavierlieder, ergänzt um die Stücke für Stimme solo, die Werke für Stimme und Kammerensemble, die vokalsinfonischen Werke und nicht zuletzt seine neun vollendeten Opern legen davon Zeugnis ab –und verstellen oftmals den Blick auf das vom Umfang her kleinere, doch damit nicht minder bedeutende Komponieren für rein instrumentale Besetzungen, sei es nun Kammer- oder Orchestermusik.
Hinzu kommt Reimanns Biografie. Schien ihm doch der Weg des Vokalkomponisten bereits in die Wiege gelegt, ergab sich quasi natürlich aus den spezifischen Gegebenheiten seiner künstlerischen Karriere: Als Kind einer Berliner Künstlerfamilie im Jahr 1936 geboren, wuchs Aribert Reimann in einem von Musik und speziell von Vokalmusik geprägten Umfeld auf. Der Vater Wolfgang Reimann war Kirchenmusiker, Organist und Dirigent. Nach dem Krieg baute er das Musikleben Berlins mit auf, war Leiter der Abteilung Kirchenmusik an der Staatlichen Hochschule für Musik und Leiter des Staats- und Domchores. Die Mutter, die Altistin Irmgard Reimann, war Konzert- und Oratoriensängerin und unterrichtete als Gesangspädagogin ebenfalls an der Hochschule für Musik. Vorangegangen waren die Kriegsjahre, in denen die Familie ausgebombt wurde, in denen Reimann seinen fünf Jahre älteren Bruder 1944 bei einem Luftangriff verloren hatte, die Mutter mit dem neunjährigen Aribert unter abenteuerlichsten Umständen aus dem umkämpften Berlin geflohen war und sich in der Zeit nach dem Zusammenbruch zurück nach Berlin durchschlug. Unmittelbar danach begann die Mutter wieder zu unterrichten und mit elf Jahren fing Reimann an, ihre Schülerinnen und Schüler zu begleiten. Bei einem Hauskonzert 1951 lernte er den Pianisten und Klavierbegleiter Michael Raucheisen kennen, der zu einem seiner Mentoren wurde. Bereits mit 19 Jahren trat er, unmittelbar nach seinem Abitur, seine erste Festanstellung als Korrepetitor im Opernstudio der Städtischen Oper Berlin, der heutigen Deutschen Oper Berlin, an. Und im selben Jahr begann er an der West-Berliner Hochschule für Musik und Darstellende Kunst das Klavierstudium bei Otto Rausch sowie sein Kompositionsstudium bei Ernst Pepping und Boris Blacher. Letzterer verbot seinem stimm-affinen Studenten während des Studiums sogar für eine gewisse Zeit, als eine Art pädagogische Maßnahme, für Stimme zu schreiben, um seine satztechnischen Fähigkeiten auch im Instrumentalsatz zu schulen. Später entstanden aber auch, noch während des Studiums bei Blacher,
Reimanns erste, auch später noch in sein Werkverzeichnis aufgenommene Klavierlieder, die „Drei Lieder“ nach Gedichten der spanischen Dichterin Gabriela Mistral von 1959 und seine „Fünf Gedichte von Paul Celan“, die er zusammen mit Dietrich Fischer-Dieskau 1962 in der Berliner Philharmonie zur Uraufführung brachte.
Schon in jenen Jahren ergab sich der Kontakt zu einer Reihe von bedeutenden Sängerinnen und Sängern und Reimann wurde zu einem gefragten Klavierbegleiter, der sich einen Namen als hochsensibler Liedbegleiter machte, das klassisch-romantische Repertoire ebenso tief durchdringend, wie er im Zeitgenössischen zu Hause war. Zu den großen Sängerinnen und Sängern, mit denen Reimann im Laufe seines Lebens zusammenarbeitete, zählen Elisabeth Grümmer, Catherine Gayer, Brigitte Fassbaender, Doris Soffel, Dietrich Fischer-Dieskau, Ernst Haefliger und Barry McDaniel – denen er zugleich einige seiner wichtigsten Werke quasi auf die Stimmbänder schrieb, darunter die für Fischer-Dieskau geschriebene Titelpartie seiner 1978 uraufgeführten Oper LEAR oder auch der neunteilige Zyklus „Eingedunkelt“ für Stimme solo auf Gedichte von Paul Celan 1992 für Brigitte Fassbaender. Und auch Reimanns Arbeit als Hoch schullehrer baute auf seiner Karriere auf. Zwischen 1974 und 1983 unterrichtete er als Professor für zeitgenössisches Lied an der Hamburger Musikhochschule, zwischen 1983 und 1998 gab er in derselben Position an der Berliner Hochschule der Künste seine Erfahrungen an eine nachfolgende Generation von Sänger*innen und Klavierbegleiter*innen weiter.
Die Tätigkeit als Klavierbegleiter verschuf Reimann gleichsam in den ersten Jahrzehnten seiner künstlerischen Entwicklung eine Form von Unabhängigkeit, die es ihm ermöglichte, als Komponist seinen eigenen Weg abseits des Mainstreams der Nachkriegsavantgarde zu beschreiten – ein Weg, den er auch selber früh reflektierte und der für sein eigenes Selbstverständnis als Komponist prägend war. So besuchte er bereits 1956 die Darmstädter Ferienkurse und begegnete dort Stock hausen, hörte dessen „Gesang der Jünglinge“, lernte Theodor W. Adorno und die Musik Anton Weberns kennen. Der Versuch einer Aneignung serieller Technik führte jedoch zu der Einsicht, die eigene kompositorische Entwicklung auf anderen Wegen suchen zu müssen – wie Reimann im Interview mit Wolfgang Burde berichtet: „Diese Konfrontation mit der seriellen Sprache hat ungeheuer negativ auf mich gewirkt, aber sehr positiv in dieser negativen Erfahrung, weil ich damals schon wusste, diesen Weg kann ich nicht gehen. Und ich wusste ein halbes Jahr später, ich werde ein Außenseiter sein. Entweder glückt es mir oder nicht. Ich muss den Weg so gehen, wie ich ihn kompositorisch verantworten kann.“
Dass Reimann auf diesem Sonderweg aber dennoch, und hier nicht unähnlich seinem Lehrer Boris Blacher, mit dem hohen Ethos künstlerischer Verant wor tung gegenüber der eigenen Gegenwart eine genuin zeitgenössische Musik komponiert hat, wird durch eine Wahrnehmung seines Schaffens verstellt, die das Sich-Absetzen vom Mainstream der Avantgarde mit einem latenten Konservativismus gleichsetzt. Mit beigetragen zu solch einer Wahrnehmung hat sicher auch der Erfolg Reimanns als Opernkomponist bei einem nicht nur breiteren, sondern oftmals konservativen Publikum. Ein Erfolg der speziell ab dem internationalen Siegeszug des LEAR einsetzte, der bis heute um die 50 Neuproduktionen weltweit erlebte und mit dem Reimann zu einem der meistgespielten deutschen Opernkomponisten wurde.
Dabei macht Reimann hier, wie in seinem gesamten Schaffen, in seiner Klangsprache keinerlei Konzession an kommensurable Bequemlichkeit. Seine Musik ist grundsätzlich atonal abseits der Dur-Moll-Tonalität und wenn tonales bzw. historisches Material in seiner Musik benutzt wird, geschieht dies nicht im Sinne einer eklektischen Verspieltheit oder gar aus naiver Nostalgie heraus, sondern folgt einer kompositorischen oder auch dramaturgischen Logik, ist aus einer
dem jeweiligen Stück immanenten Notwendigkeit heraus motiviert. Auch arbeitet Reimann gerade in seinen früheren Werken mit seriellen Strukturen. Dies geschieht aber eher im Sinne einer - sehr individuellen – Adaption der schönbergschen Reihentechnik, die sich auf die Organisation des Parameters Tonhöhe beschränkt und das Reihendenken nicht, anders als die Darmstädter Schule, auch auf die Parameter Rhythmus, Dynamik und Klangfarbe ausdehnt. Und mit der Komposition hochkomplexer polyfoner Felder, grafischer Notation, komplexer rhythmischer und metrischer Strukturen, von Clustern oder auch der Arbeit mit Vierteltönen und mikrotonaler Harmonik finden sich weitere Techniken der Neuen Musik im reimannschen Werk.
Eine andere, wichtige Entwicklung der Nachkriegsavantgarde hat Reimann hingegen nicht mitvollzogen, nämlich das Aufbrechen des Instrumentalklangs mittels erweiterter Spieltechniken, wie es sich paradigmatisch im Werk Helmut Lachenmanns und dessen „Musique concrète instrumentale“ findet. Und analog hierzu ist Reimann auch in seiner Behandlung der Singstimme der Tradition des europäischen Kunstgesangs treu geblieben und hat lediglich mit Techniken gearbeitet, mit denen bereits in der klassischen Moderne das Ausdrucksspektrum der Stimme erweitert wurde - wie etwa rhythmisches Sprechen oder auch Sprechgesang. Mit den sogenannten erweiterten Vokaltechniken hat er jedoch nicht komponiert. Weder hat er die Physiologie der Klangerzeugung im Stimmapparat erforscht und damit den Klang der menschlichen Stimme dekonstruiert, um zu neuen Formen vokalen Ausdrucks zu gelangen, noch hat er sein kompositorisches Repertoire um Ausdrucksformen und Stimmtechniken aus Kulturen abseits des europäischen Kunstgesangs erweitert.
Zugleich war Aribert Reimann ein Komponist, der wie kaum ein anderer mit den Möglichkeiten wie Grenzen der Singstimme vertraut war und diese auch einzusetzen wusste. Nur war bei ihm Komponieren für Sängerinnen und Sänger stets zunächst Komponieren mit der und nicht für die menschliche Stimme, die von ihm so gut wie nie rein musikalisch, als pures, klangliches Material in den Händen des Komponisten verwendet wurde, sondern die immer als Ausdrucksmedium des semantischen wie emotionalen Gehalts eines vertonten Textes diente. Denn bei aller Eigenständigkeit, Originalität und Kraft seiner individuellen kompositorischen Handschrift stellte sich Reimann zugleich konsequent und mit einem kompromisslosen Anspruch an Wahrhaftigkeit in den Dienst der von ihm vertonten Texte.
In kondensiertester Form wird dies in dem 1992 entstandenen Zyklus „Eingedunkelt“ erfahrbar. Bei diesem handelt es sich um die Vertonung von neun der elf kurzen Gedichte, die Paul Celan unter gleichnamigen Titel in der 1968 erschienenen Anthologie „Aus aufgegebenen Werken“ veröffentlichte, in der sich Reimann für die reduziertestmögliche Form des Gesangs, die Stimme solo, entschied. In der nackten, radikal in den Fokus der Hörwahrnehmung gestellten Behandlung der Singstimme werden dabei grundlegende Formen seiner Stimmbehandlung erfahrbar: Die Stücke werden klassisch gesungen und der Text ist fast durchweg syllabisch vertont und damit sehr gut verständlich – und nur in wenigen, bewusst gesetzten Momenten wechselt die Singstimme ins Melisma, um den Text quasi in Klang „aufzulösen“. Für die rhythmische Gestalt des Stimmverlaufs verwendet Reimann zwei zunächst konträre Notationstechniken. Teilweise ist die Stimme äußerst genau und differenziert ausnotiert in einer Reimann-typischen Weise mit komplexen Überbindungen, Punktierungen, der Unterteilung einzelner Zählzeiten in Triolen und Quintolen, Vorschlägen und unterschiedlich langen Pausen. Daneben nutzt er aber auch eine rhythmisch freie, graphische Notation mit approximativen Tondauern. Und in einigen Teilen des Zyklus, wie etwa auch im vierten Stück „Angefochtener Stein“, werden beide Techniken miteinander kombiniert.
Erstaunlich ist hierbei jedoch, dass im Höreindruck der Unterschied und Wechsel der beiden Notationsweisen nicht wahrnehmbar wird, so scheinbar natürlich folgt die Komposition dem Rhythmus der Sprache. Und gleiches ließe sich auch für kompositorische Parameter wie Dynamik und Agogik sagen – während selbstverständlich mit all diesen Parametern eine Transformation und damit verbunden auch kompositorische Ausdeutung der gesprochenen Sprache in Musik stattfindet. Dass Reimann Celans Texten etwas substanziell hinzugefügt hat, ist nicht zu überhören, hier wird Sprache durch ein zunächst rein musikalisches Bezugsystem ersetzt – das sich aber wiederum in seinem Verlauf eng am Gehalt und den zum Ausdruck gebrachten Gefühlen des Textes orientiert.
Was für die reduzierte Form des Solostückes gilt, lässt sich direkt auf die große Form der Oper übertragen, in der in der Stimmgestaltung neben der reinen Textausdeutung der Kontext der Handlung und die jeweilige dramaturgische Situation hinzukommen: Bei Aribert Reimanns letzter vollendeter Oper L’INVISIBLE, die 2017 an der Deutschen Oper Berlin uraufgeführt wurde, handelt es sich um drei szenische Variationen über die Unausweichlichkeit des Todes, die in umso drastischerer Weise den Lebenden begegnet, als es in den drei Teilen des Stückes um den Tod einer Mutter im Kindbett sowie den zweier Kinder geht. Textgrundlage von L’INVISIBLE sind dabei drei Kurzdramen des belgischen Symbolisten Maurice Maeterlinck, „L’Intruse“ (1890), „Interieur“ (1894) und „La mort de Tintagiles“ (1894), die Reimann, verbunden durch zwei Interludes, als dreiteiliges, abendfüllendes Opern-Triptychon vertont hat. Allen drei Teilen ist eigen, dass die Erfahrung des Todes aus der Perspektive der Lebenden heraus gezeigt wird. Sie sind es, die auf der Bühne singend agieren, während die sterbende Mutter im ersten Teil, „L’Intruse“, nicht auf der Bühne sichtbar ist und nur durch einen Schrei von hinter der Bühne gehört wird, in „Interieur“ die Leiche des ertrunkenen Kindes der Familie bereits zu Beginn des Stückes tot geborgen worden ist und der kleine Junge Tintagiles im dritten Teil auf der Szene lediglich spricht und nicht singt.
Im Mittelteil von L’INVISIBLE wird diese Außenperspektive auf den Tod radikal zugespitzt. Auf der Bühne sind zwei Männer zu erleben, der Alte und der Fremde. Der Fremde findet im nahegelegenen Fluss die Leiche eines Mädchens, dass sich vermutlich dort das Leben genommen hat. Nun stehen die beiden vor dem Haus ihrer Familie und zögern, während sie diese durch das Fenster beim Abendessen beobachten, die Nachricht vom Tod ihres Kindes zu überbringen. In der Vertonung ihres Gesprächs greift Reimann auf die geschilderten Gestaltungsmittel zurück, wobei er hier, auch aus Gründen der metrischen Koordination mit dem Orchester, die Singstimmen exakt ausnotiert – um das Zögern, die Trauer und Hilflosigkeit der beiden die Familie beobachtenden Männer darzustellen. In der Orchesterbegleitung erklingen dabei im gesamten zweiten Teil von L’INVISIBLE lediglich die – groß besetzten – Holzbläser des Orchesters, nachdem im ersten Teil nur die Streicher gespielt haben und Reimann erst im dritten Teil das sinfonisch besetzte Orchester im Tutti verwendet. Eingesetzt haben die Holzbläser im „Interlude I“, zwischen „L’Intruse“ und „Interieur“, mit dem im Fortissimo gespielten „Todesakkord“, der sich aber bis zum Beginn von „Interieur“ zu einem losen Geflecht einzelner, polyfon gesetzter kurzer Bläsergesten aufgelöst hat. Mit diesen begleitet Reimann den Gesang der Solisten, dies jedoch im Sinne eines „Anti-Colla-Parte“: Die Instrumente umranken und umspielen die Singstimmen, treten in Dialog mit ihnen und erschaffen die Klangräume, innerhalb derer sie sich bewegen. Kaum einmal spielen sie aber mit den Singstimmen zusammen. Diese bleiben allein, freigestellt, auf sich selbst, den von den Figuren gesungenen Text und dessen Ausdeutung durch die Vokallinie zurückgeworfen.
ANGEFOCHTENER STEIN, grüngrau, entlassen ins Enge.
Enthökerte Glutmonde leuchten
das Kleinstück Welt aus: das also warst du auch.
In den Gedächtnislücken stehn die eigenmächtigen Kerzen und sprechen Gewalt zu.
„Angefochtener Stein“, Paul Celan, 1966
Vom Doppelsinn des Doppelschlags
Zu Gustav Mahlers Neunter Sinfonie
Tim Martin HoffmannLetzte Werke umgibt ein besonderer Nimbus. Beinahe unweigerlich werden sie in den Kontext von Abschied, Trauer, Schmerz und Tod gerückt – dies selbst dann, wenn es sich bei genauerer Betrachtung gar nicht um das letzte Werk eines Komponisten handelt. Die Wirkmacht jenes rezeptionsgeschichtlichen Topos bezeugen etwa die „Vier letzten Lieder“, die Richard Strauss nicht weniger als ein Jahr vor seinem Ableben fertiggestellt hat. Wenngleich der Gesangstext die Erwartung des Todes wörtlich benennt, handelt es sich nicht um Strauss’ letzten Gattungsbeitrag. Ließ er wenige Wochen später vielmehr das Klavierlied „Malven“ folgen, so erweist sich die heute geläufige Werkbezeichnung als irreführend. Diese jedoch geht nicht auf den Komponisten, sondern den Verlag Boosey & Hawkes zurück, der die vier Lieder posthum als „letzte Lieder“ publizierte. Das damit öffentlichkeitswirksam angebrachte Emblem des Abgesangs gemahnt wohl nicht zufällig an Franz Schuberts „Schwanengesang“, bei dem es sich um nichts Anderes als die eigenmächtige Kompilation des Wiener Verlegers Haslinger handelt. Während Schubert vermutlich einen größeren Liederkreis nach Heinrich Heine projektiert hatte, fügte Haslinger die sechs nachgelassenen Heine-Vertonungen mit sieben Rellstab-Liedern und der „Taubenpost“ zu einem Opus zusammen, das entgegen der Titelgebung weder einen in sich geschlossenen noch einen letzten Gesang darstellt. Entgegen aller Vorsicht, inwieweit der nahende Tod überhaupt künstlerisch antizipierbar ist – allen Anekdoten zum Trotz dürfte selbst Mozart nicht geahnt haben, dass das Requiem den fragmentarischen Schlussstein seines Œuvres bilden würde –, bleiben letzte Werke in den Dunstkreis des Todes gehüllt. Manche Klischees sind eben zäh lebendig.
Was aber, wenn sich ein Werk haargenau in dieses Bild fügen will, wenn es das Klischee des letzten Werkes beinahe übererfüllt? Gustav Mahlers Neunte Sinfonie ist ein solcher Fall. Überdeutlich scheint sie jenen künstlerischen Weltabschied zu artikulieren, den schon die frühen Interpreten erkannt zu haben glaubten. Exemplarisch hielt Mahlers Kollege Willem Mengelberg in seiner Dirigierpartitur fest, die Neunte sei Mahlers „Abschied von allen die Er liebte – und von der Welt! –und von Seiner Kunst, seinem Leben, seiner Musik“. Bestätigend schlug Mahlers Freund Bruno Walter vor, „Der Abschied“ könne als Titel „über der Neunten stehen“. Dass sich Walter dabei auf den Titel des Schlusssatzes von Mahlers „Lied von der Erde“ bezog, ist vielsagend, handelt es sich hierbei doch um dessen, der Chronologie nach, eigentliche Neunte Sinfonie. Wie Walter selbst berichtet, hatte Mahler tatsächlich zunächst im Sinn, die in den Jahren 1908 und 1909 komponierte
„Sinfonie in Gesängen“ als Neunte Sinfonie zu bezeichnen. „Dann aber war er anderen Sinnes geworden; er dachte an Beethoven und Bruckner, deren Schaffensund Lebensgrenze die Neunte gewesen war, und er wollte das Schicksal nicht herausfordern.“ Der melancholische Entschluss, die eigentliche Neunte als „Lied von der Erde“ zu rubrizieren, gab sodann Raum, die unmittelbar nachfolgende, im April 1910 fertiggestellte Sinfonie in vier Sätzen endgültig als Neunte zu zählen. Was vordergründig den sogenannten „Fluch der Neunten Sinfonie“ begründete, bezeugt bei genauerer Betrachtung geradewegs das Gegenteil: eine produktive künstlerische Strategie, die die Neunte auf intrikate Weise zur eigentlichen Zehnten werden ließ. Dass Mahler binnen weniger Monate sogar eine als solche gezählte Zehnte Sinfonie, deren Verlauf er bis Anfang September 1910 im Particell notierte, zwar nicht fertigstellen, jedoch bis hin zum Partitur-Entwurf des ersten und weniger Takte des dritten Satzes gedeihen lassen konnte, unterstreicht, welch fruchtbaren Boden das vermeintliche Problem der Neunten Sinfonie ebnete. Mahlers „Schaffens- und Lebensgrenze“ bildet die Zahl Neun jedenfalls nicht.
Ist damit zwar klar, dass es sich bei der Neunten weder faktisch noch der Intention des Komponisten nach um ein letztes Werk handelt, kann dennoch nicht geleugnet werden, dass sie den Gestus eines letzten Werkes annimmt. Sprechend ist insbesondere der Schluss. Ganz den Streichern vorbehalten, verklingt die Musik „Äußerst langsam“ und im dreifachen Piano. Die von Mahler gebrauchte Vortragsbezeichnung „ersterbend“ ist dabei auch insofern Programm, als sich im Partitur-Entwurf unzweideutige Eintragungen finden. „O Schönheit! Liebe! Lebt wohl! Lebt wohl!“, notiert Mahler zu Beginn des Adagissimo-Teiles; „Welt! Lebe wohl!“, heißt es auf der letzten Manuskriptseite. Doch Düsternis sucht man vergebens. Vielmehr hält ein weiterer Ausruf Einzug in den Subtext – diesmal durch ein hörbares Zitat aus Mahlers viertem „Kindertotenlied“. So bezieht sich die letzte mehrtaktige, von den ersten Violinen vorgetragene Melodie des Werkes auf die Gesangsphrase zu den Worten „Wir holen sie ein auf jenen Höh’n im Sonnenschein! Der Tag ist schön auf jenen Höh’n!“. Der Satz verklingt in lichtem Des-Dur. Weltabschied ist zur musikalischen Physiognomie geworden.
Krise und Neubelichtung
Dass Mahlers Schlussgestaltung auf das vierte „Kindertotenlied“ und dessen Licht-Symbolik zurückgeht, scheint ferner in biografischer Hinsicht auszustrahlen. Im Juli 1907 war Mahlers älteste Tochter Maria völlig unerwartet verstorben. Zu einem veritablen „Krisensommer“ (Jens Malte Fischer) taten die eigene Demission vom Amt des Hofoperndirektors in Wien sowie die durch den behandelnden Arzt der Tochter vorgenommene Diagnose einer schweren Herzerkrankung ihr Übriges. Vor dem Hintergrund der in der letzten Strophe formulierten Einsicht, dass die verstorbenen Kinder den Eltern „nur vorausgegangen“ seien, beanspruchte das 1901 komponierte „Kindertotenlied“ plötzlich unerwartete Aktualität.
Den „panischen Schrecken“ des Sommers 1907, der ihn allerdings nicht von einer ausgeprägten Dirigiertätigkeit abhielt, benennt Mahler rückwirkend in einem Brief an Bruno Walter. Damals habe er „nichts Anderes gesucht, als wegzusehen und wegzuhören. – Sollte ich wieder zu meinem Selbst den Weg finden, so muss ich mich den Schrecknissen der Einsamkeit überliefern.“ Jene selbstverschriebene Einsamkeit fand Mahler in Alt-Schluderbach bei Toblach, wo er die Sommer 1908 bis 1910 verbrachte. „Es ist wundervoll hier“, bekundete er 1908 an Adele Marcus, „und die Abgeschlossenheit und Ruhe dieses Plätzchens erlaubt mir, mich wieder
in gewohnter Weise einzuspinnen. Vielleicht klingt es auch einmal in Ihre Welt, was mir hier im Herzen und im Kopfe herumrumort.“ Klingt im letzten Satz bereits die Arbeit am „Lied von der Erde“ an, verbrachte Mahler den Sommer parallel damit, die eigene Situation zu reflektieren. Wie er Walter berichtet, habe er im Vorjahr „mit einem Schlage alles an Klarheit und Beruhigung verloren“, „vis-à-vis de rien“ gestanden und müsse nun „am Ende eines Lebens als Anfänger wieder gehen und stehen lernen“. „Ich muss eben ein neues Leben beginnen – bin auch da völliger Anfänger.“
Unter sich aufhellenden Vorzeichen kommt Mahler Anfang 1909, wiederum in einem an Bruno Walter gerichteten Brief, noch einmal auf jene „ungeheure Krise“ zu sprechen, die ihn „seit anderthalb Jahren“ „so unendlich viel“ durchleben lasse. Am Begriff der Krise sind dabei zwei Dinge auffällig. Zum einen macht Mahler keinen Hehl daraus, Zweifel an der Artikulierbarkeit seines Befindens zu hegen. Dass er „kaum darüber sprechen“ könne, was er durchlebe, seine „Lebenstage“ mit den „sibyllinischen Bücher[n]“ vergleicht, deren enigmatische Orakelsprüche in Krisenzeiten des alten Rom konsultiert wurden, dass er im bereits erwähnten, früheren Walter-Brief bekennt, „doch nur in Rätseln“ zu sprechen, während es für das, was in ihm vorgehe, „vielleicht überhaupt keine Worte gibt“ – all das lässt Züge einer Sprachkrise erahnen, die an Hugo von Hofmannsthals epochalen „Brief des Lord Chandos“ erinnert. Mit Blick in die Untiefen der eigenen Psyche – im Folgejahr sollte er Sigmund Freud persönlich konsultieren – teilte Mahler offenbar jene Skepsis gegenüber der Wortsprache, der Hofmannsthal 1902 ein literarisches Denkmal gesetzt hatte. An die Stelle abstrakter Worte, die schon dem fiktiven Lord Chandos „im Munde wie modrige Pilze“ zerfielen, trat für Mahler nun bezeichnenderweise die Musik: „Merkwürdig! Wenn ich Musik höre – auch während des Dirigierens – höre ich oft ganz bestimmte Antworten auf alle meine Fragen – und bin vollständig klar und sicher. Oder eigentlich, ich empfinde ganz deutlich, dass es gar keine Fragen sind.“ Zum anderen versteht sich Krise ganz im Sinne des lateinischen Wortes „crisis“ eben nicht bloß destruktiv als persönlicher Tiefpunkt, sondern zugleich konstruktiv als künstlerischer Wendepunkt. Wie der Musikwissenschaftler Martin Pensa aufgezeigt hat, markieren die im Brief unmittelbar nachfolgenden Worte „Ich sehe alles in einem so neuen Lichte – bin so in Bewegung“ eine produktive Neubelichtung des eigenen Schaffens. Stärker als in den Sinfonien Nummer fünf bis acht scheint sich die Neunte zurück auf Mahlers erste vier Sinfonien, die sogenannten „Wunderhorn-Sinfonien“, zu beziehen.
Dies tritt bereits am Beginn des ersten Satzes der Neunten zu Tage. Über dem markant rhythmisierten, alternierend von den Celli und dem vierten Horn getragenen Orgelpunkt A hebt zunächst eine viertönige Wendung in der Harfe an. Was man für eine simple Umspielung ebendieses Tons A halten könnte, erweist sich in Mahlers an „Vokabeln“ (Hans Heinrich Eggebrecht) reicher Tonsprache als Referenz an die Dritte Sinfonie. Genauer bezieht sich das Harfenmotiv, wie Pensa gezeigt hat, auf deren fünften Satz, dem unter Einbezug von Knaben-, Frauenchor und Alt-Solo der Text „Es sungen drei Engel einen süßen Gesang“ aus der von Achim von Arnim und Clemens Brentano besorgten Sammlung „Des Knaben Wunderhorn“ zugrunde liegt. Vergleicht man die beiden Satzbeginne miteinander, so lässt sich das Harfenmotiv als Krebs des in der Dritten von Glocken und Knabenchor zu den lautmalerischen Worten „Bimm bamm bimm bamm“ vorgebrachten Viertonmotivs deuten. Die frühe Rezeption der Neunten bestätigt jenen intertextuellen Verweis. Von der erst nach Mahlers Tod, genauer am 26. Juni 1912 unter Bruno Walter in Wien, realisierten Uraufführung berichtete der Musikkritiker Julius Korngold sodann das Folgende: „In den tiefen Harfentönen, mit denen der Satz einsetzt, tönt Glockenklang.“ Auch jenseits des „Bimm bamm“-Motivs setzen
sich die Bezüge zur Dritten Sinfonie fort. So schließt in der Neunten unmittelbar ein Hornmotiv an, das sich mit Pensa als Allusion an das ebenfalls von den Hörnern vorgetragene Hauptthema des ersten Satzes der Dritten verstehen lässt. Zwar differiert die harmonische Einbettung – in der Dritten steht das Thema in d-Moll, der Beginn der Neunten jedoch leitet dominantisch nach D-Dur –, doch weisen Intervallstruktur und rhythmische Kontur merkliche Parallelen auf. Zusätzlich plausibel wird jene Form der distanzierenden Bezugnahme mit Blick auf die Instrumentation. Während die Dritte „Kräftig. Entschieden“ anhebt und diesen Gestus dadurch untermauert, dass das Thema gleich von acht Hörnern unisono vorgetragen wird, verbleibt die Allusion am Beginn der Neunten solistisch im zweiten Horn. Noch dazu macht Mahler vom markanten gestopften Hörnerklang Gebrauch, den er alsbald in einen offenen überführt, wobei dieser in der Partitur wörtlich als „Echo“ ausgewiesen wird. Das Resultat, die feinsinnige instrumentatorische Neubelichtung des Motivs, macht in nuce bereits deutlich, was Mahler damit gemeint haben mag, „alles in einem so neuen Lichte“ zu sehen.
Unsterblichkeit der Seele und künstlerische Potenz
Den wundersamsten Teil des besagten Briefes an Bruno Walter bildet der folgende Passus: „ich würde mich manchmal gar nicht wundern, wenn ich plötzlich einen neuen Körper an mir bemerken würde. (Wie Faust in der letzten Szene.)“ Vordergründig scheint sich hierin die im Umkreis der Wiener Schule verfochtene Deutung der Neunten zu spiegeln, hielt Theodor W. Adorno das Werk doch für „todverfallen“, hörte Alban Berg gar den „Tod in der Rüstung“ klappern und postulierte Arnold Schönberg, in der Neunten würde die Auflösung des Komponistensubjekts evident: „Dieses Werk ist nicht mehr im Ich-Ton gehalten“. Der von Mahler gesetzte Bezug zu Johann Wolfgang von Goethes „Faust“ offenbart jedoch eine weniger pessimistische Deutungsoption, die zurück auf das philosophische Gebäude der Achten Sinfonie verweist. Die Schlüsselstelle vertont Mahler dortselbst. Nachdem Engel die Seele des zu Grabe gelegten Faust oder, wie es bei Goethe heißt, „Faustens Unsterbliches“ dem Teufel geraubt haben, besingt Gretchen dessen „neuen“, nun himmlischen „Körper“: „Sieh, wie er jedem Erdenbande der alten Hülle sich entrafft, und aus ätherischem Gewande hervortritt erste Jugendkraft!“ Obwohl um den Preis des physischen Todes verlangt, kann die hier zu Werke schreitende, schließlich im „Chorus mysticus“ besungene Macht des „EwigWeiblichen“ wohl kaum pessimistisch gedeutet werden. Vielmehr belegt ein Brief an Alma aus dem Juni 1909, wie sehr Mahler selbst jener optimistischen Vision der Unsterblichkeit verhaftet war: „Das, was uns mit mystischer Gewalt hinanzieht, was jede Kreatur, vielleicht sogar die Steine, mit unbedingter Sicherheit als das Zentrum ihres Seins empfindet, was Goethe hier […] das Ewig-Weibliche nennt –nämlich das Ruhende, das Ziel […] – Du hast ganz recht, es als die Liebesgewalt zu charakterisieren. Es gibt unendlich viele Vorstellungen, Namen dafür. (Denke nur, wie es das Kind, das Tier, wie es ein niederer oder ein hoher Mensch lebt und webt).“ Die Vorstellung des „Ewig-Weiblichen“ oder der „Liebesgewalt“ als alle Lebensformen durchwirkende Kraft gemahnt deutlich an das zunächst projektierte, dann jedoch zurückgezogene Programm der Dritten Sinfonie. Schreiten die Sätze der zweiten Abteilung demgemäß die Stufen des Daseins von den „Blumen auf der Wiese“ über die „Tiere im Wald“ bis hin zum Menschen und den Engeln ab, so nimmt es nicht Wunder, dass das Adagio-Finale einst den Titel „Was mir die Liebe
Die Totenmaske von Gustav Mahler, verstorben am 18. Mai 1911, auf Veranlassung Carl Molls, abgenommen durch den Bildhauer August Sandig. Fotografie, um 1920.
tragen sollte. Der Musikwissenschaftler Constantin Floros hat gezeigt, dass sich Mahler mit jenem avisierten Programm der Dritten auf den Schriftsteller
Siegfried Lipiner bezog, der 1894 nicht zufällig mit einer Arbeit „über Faust und die Philosophie Goethes“ promoviert wurde. Quasi aus Lipiners Händen scheint
Mahler Goethes Geist empfangen zu haben, wenn er in der Achten genau jene Schlussszene des „Faust“ vertont, die Goethes Vorstellung von der sogenannten Entelechie am deutlichsten hervortreten lässt. Der auf Aristoteles zurückgehende Begriff der Entelechie bezeichnet dabei eine nicht religionsgebundene Vorstellung, die näherungsweise mit dem Begriff der Seele gleichzusetzen ist. Wie sein Vertrauter Johann Peter Eckermann überliefert, ging Goethe fest vom Fortbestand der menschlichen Entelechie jenseits des physischen Ablebens aus: „Ich zweifle nicht an unserer Fortdauer“, soll Goethe im September 1829 bekannt haben, „denn die Natur kann die Entelechie nicht entbehren“. Der Nachsatz jedoch bringt eine beträchtliche Eingrenzung: „Aber wir sind nicht auf die gleiche Weise unsterblich, und um sich künftig als große Entelechie zu manifestieren, muss man auch eine sein.“
Der hierin verbürgte Glaubenssatz, dass man sich die eigene „Fortdauer“ auch verdienen müsse, macht letztlich deutlich, wie eng der Entelechie- mit dem Genie-Begriff verbunden ist. Und dies nicht nur bei Goethe, denn auch Mahler ging davon aus, dass die Unsterblichkeit der Seele an die genialische Schöpferkraft geknüpft sei – nicht umsonst beginnt die Achte mit dem Pfingsthymnus „Veni creator spiritus“ („Komm, Schöpfer Geist“). Im gleichen Brief an Alma formuliert er sodann: „Der Mensch – und alles Wesen wahrscheinlich – [ist] unaufhörlich produktiv. – Auf allen Stufen geschieht dies unzertrennlich vom Wesen des Lebens: wenn die Produktionskraft versiegt, so stirbt die ‚Entelechie‘, d. h. sie muss einen neuen Leib erhalten“. Wenn Mahler in der Entstehungszeit der Neunten die Neubelichtung des eigenen Schaffens mit der faustischen Vision, „einen neuen Leib [zu] erhalten“, engführt, zeugt dies folglich nicht von Resignation, sondern formuliert die Gewissheit der eigenen künstlerischen Potenz. Oder wie er selbst gegenüber Alma bekundet: dem „Ewig-Weiblichen“ steht auch immer das „ewige Sehnen, Streben“, das „Ewig-Männliche“ zur Seite.
Weltabschied und erotisches Potential
Abseits der aus heutiger Sicht freilich höchst problematischen Genderung bahnt die für Mahler evidente Gleichsetzung des „Ewig-Weiblichen“ mit Almas Begriff der „Liebesgewalt“ einen bislang unterschätzten Zugang zur Neunten Sinfonie. Wenn für Mahler das Genie als Verkörperung des „Ewig-Männlichen“ letztlich danach strebt, in die Sphäre des „Ewig-Weiblichen“, der „Liebesgewalt“ einzugehen, so trägt der in der Neunten formulierte Abschied durchaus erotische Züge. Was zunächst als freudianischer Gemeinplatz der Verschwisterung von Eros und Thanatos erscheinen mag, lässt sich in Mahlers Gesamtwerk differenziert und beziehungsreich nachvollziehen. Paradigmatisch vereint finden sich die einander vermeintlich so widerstrebenden Elemente des Weltabschieds und der Erotik im Rückert-Lied „Ich bin der Welt abhanden gekommen“. Zumeist wird der Titel pessimistisch verstanden, doch greift dies bereits mit Blick auf das Gedicht zu kurz. Abstrahiert man einmal vom rezeptionsgeschichtlichen Ballast, wird deutlich, welcher selbstbewussten Aussage das 1901 komponierte Lied zustrebt: „Ich leb’ allein in meinem Himmel, in meinem Lieben, in meinem Lied.“ Der hier besungene
Welt abschied ist der eines Künstlers, der im doppelten Sinne um die eigene Potenz weiß. Dass Mahler sein Werk einst mit den bekenntnishaften Worten bedachte „Das ist Empfindung bis in die Lippen hinauf, die sie aber nicht übertritt!
Und: das bin ich selbst“, leistet einer autobiografischen Lesart Vorschub, die durch die Zitation des Liedes im Adagietto der Fünften Sinfonie klarere Konturen gewinnt. „Dieses Adagietto war Gustav Mahlers Liebeserklärung an Alma!“, überliefert Willem Mengelberg in seiner Dirigierpartitur der Fünften. „Statt eines Briefes sandte er ihr dies im Manuskript; weiter kein Wort dazu. Sie hat es verstanden und schrieb ihm: Er solle kommen!!! (beide haben mir dies erzählt!)“
Sind es im Adagietto vor allem expressive Melodiesprünge und Kreuzmotive (Chiasmen), die den Tonsatz prägen, erweist sich andernorts der sogenannte Doppelschlag als Mahler’sche „Vokabel“ erotisch grundierten Weltabschieds. Als Doppelschlag bezeichnet man eine musikalische Figur, bei der der Hauptton sowohl mit der oberen als auch der unteren Nebennote umspielt wird. Prominent tritt er bei Mahler etwa im bereits erwähnten Adagio-Finale der Dritten Sinfonie –„Was mir die Liebe erzählt“ – in Erscheinung, besonders stark in der „sehr ausdrucksvoll und getragen“ zu spielenden Melodie, die nach wenigen Takten zunächst den Celli, darauf den zweiten Geigen überantwortet wird. Für den Beginn des Satzes prägend ist vor allem der polyphon geführte Streichersatz, Bläser treten erst später und sukzessive hinzu. Auf jene an Anton Bruckner gemahnende langsame Final-Architektur sollte Mahler erst wieder im Adagio der Neunten Sinfonie zurückkommen. Nachdem Doppelschlagfiguren hier bereits im dritten Couplet der RondoBurleske erklingen, hebt der vierte Satz der Neunten mit einem Oktavsprung in den unbegleiteten Geigen an, der den sogleich folgenden Doppelschlag unumwunden als Motto des Satzes exponiert. Im sich anschließenden Streichersatz bleibt der Doppelschlag omnipräsent und trägt zur polyphonen Verdichtung bei.
Zwar hat die Forschung mit einigem Recht darauf hingewiesen, dass die Doppelschlagfigur bereits im zitierten vierten „Kindertotenlied“ sowie im „Abschied“ aus dem „Lied von der Erde“ eine gewisse Rolle spielt. Nimmt man, neben der polyphonen Schreibweise und der oftmals trugschlüssigen harmonischen Einbettung, jedoch ernst, dass Mahlers Œuvre eine philosophische Konstellation formiert, in der Abschied und Tod aufs Engste mit erotischer Liebe verknüpft sind, so liegt ein anderes Vorbild nahe: Richard Wagners TRISTAN UND ISOLDE. Beredt ist vor allem der „Liebestod“, in dem Isolde den bereits im Orchester eingeführten Doppelschlag erstmals zu den Worten „Wonne klagend“ singt. Gleichsam als sei die Idee des „Liebestodes“ damit in der Welt, verdichtet sich im Orchestersatz der nun als Ostinato gebrauchte Doppelschlag zu den besungenen „Wellen sanfter Lüfte“, die Isolde ganz „in des Welt Atems wehendem All“ „ertrinken, versinken“ lassen. Wenn Mahler dem Adagio der Neunten mit den gleichen musikalischen Mitteln die Physiognomie eines letzten Werkes angedeihen lässt, scheint auch er die wogende Luft des TRISTAN zu atmen. So birgt der Weltabschied der Neunten nicht zuletzt ein erotisches Potential. Dies ist der Doppelsinn des Doppelschlags.
Biografien
Sir Donald Runnicles
Der aus Schottland stammende Donald Runnicles ist seit 2009 General musikdirektor der Deutschen Oper Berlin. Seit 2006 leitet er außerdem das Grand Teton Music Festival und ist Principal Guest Conductor des Atlanta Symphony Orchestras. Von 2009 bis 2016 war er zudem Chefdirigent des BBC Scottish Symphony Orchestras, seitdem ist er dessen „Conductor Emeritus“. Sein Debüt an der Deutschen Oper Berlin gab er 1989 mit Verdis IL TROVATORE. 2007 machte er mit dem fulminanten Dirigat zweier Zyklen von DER RING DES NIBELUNGEN von sich reden. Seit seinem Amtsantritt leitete er die Premieren von LES TROYENS, TRISTAN UND ISOLDE, DON CARLO, JENŮFA, LOHENGRIN, PARSIFAL, PETER GRIMES, FALSTAFF, BILLY BUDD, LA DAMNATION DE FAUST, LADY MACBETH VON MZENSK, ROMEO UND JULIETTE, VÊC MAKROPULOS, DIE ENTFÜHRUNG AUS DEM SERAIL, COSÌ FAN TUTTE, TOD IN VENEDIG, DER FLIEGENDE HOLLÄNDER, DER RING DES NIBELUNGEN, FIDELIO sowie die Uraufführung von L’INVISIBLE. Weiter dirigierte er u. a. Aufführungen von HÄNSEL UND GRETEL, MANON LESCAUT, DER ROSENKAVALIER, OTELLO, TANNHÄUSER, PELLÉAS ET MÉLISANDE, DON GIOVANNI, TOSCA und DIE MEISTERSINGER VON NÜRNBERG.
Runnicles, der in Edinburgh und Cambridge studierte, begann seine Karriere in Deutschland und war u. a. Generalmusikdirektor in Freiburg. Sein USA-Debüt geriet zur Sensation, als er 1988 kurzfristig eine LULU-Produktion an der MET in New York übernahm. Zwei Jahre später leitete er DER RING DES NIBELUNGEN an der San Francisco Opera, was zu seiner Berufung zum dortigen Music Director führte. Diese Position bekleidete er von 1992 bis 2009. Während seiner Amtszeit dirigierte er dort mehr als 60 Produktionen, so auch die Uraufführungen von Adams’ DOCTOR ATOMIC, Susas THE DANGEROUS LIAISONS oder Wallaces HARVEY MILK. Er ist regelmäßiger Gast an international führenden Opernhäusern und gilt als einer der bedeutendsten Dirigenten sowohl des symphonischen als auch des Opernrepertoires. Dirigate führten ihn zu den Festspielen von Bayreuth, Glyndebourne und Salzburg, an die Metropolitan Opera New York, die Opéra National de Paris, die Mailänder Scala, die Staatsoper Unter den Linden, die Kölner Oper, die Bayerische Staatsoper München, die Hamburgische Staatsoper, die Königliche Oper Kopenhagen, die Oper Zürich und die Netherlands Opera. Eine besondere Beziehung verbindet ihn mit der Wiener Staatsoper, wo er regelmäßig DER RING DES NIBELUNGEN dirigierte. Weitere Wiener Premieren waren LADY MACBETH VON MZENSK, PARSIFAL, BILLY BUDD und DIE TOTE STADT sowie DER FEURIGE ENGEL und TOD IN VENEDIG am Theater an der Wien. Darüber hinaus arbeitet er regelmäßig u. a. mit der Sächsi schen Staatskapelle Dresden, dem Tonhalle Orchester Zürich, dem Royal Concertgebouw Orchestra, dem Chicago Symphony Orchestra, dem Philadelphia Orchestra, dem Cleveland Orchestra, dem Sydney Symphony Orchestra und sowohl den Berliner als auch den Wiener Philharmonikern. Zahlreiche Einspielungen dokumentieren sein Schaffen, darunter Gesamtaufnahmen von HÄNSEL UND GRETEL, ORPHEE ET EURIDICE, BILLY BUDD und TRISTAN UND ISOLDE. Seine CD mit Wagner- Arien mit Jonas
Kaufmann und dem Orchester der Deutschen Oper Berlin wurde 2013 vom Gramophone Magazine als beste Vokaleinspielung des Jahres ausgezeichnet. Die DVD-Aufzeichnung von JENUFA mit dem Orchester und Chor der Deutschen Oper Berlin erhielt 2015 eine Grammy-Nominierung in der Kategorie „Best Opera Recording“. Im Mai 2018 brachte Oehms Classics eine Aufnahme der Uraufführung von Aribert Reimanns L’INVISIBLE mit dem Orchester der Deutschen Oper Berlin unter Leitung von Donald Runnicles heraus. 2019 folgte Zemlinskys DER ZWERG bei Naxos.
Neben seinen Aufgaben als Dirigent ist Donald Runnicles auch ein gefragter Pianist und tritt bei Kammerkonzerten und als Liedbegleiter auf. Für seine Verdienste um die Musik wurde Donald Runnicles mit Ehrendoktoraten für Musik der Universität Edinburgh, des San Francisco Conservatory of Music und der Royal Scottish Academy of Music and Drama sowie der Royal Medal der Royal Society of Edinburgh ausgezeichnet. 2004 ernannte ihn Königin Elizabeth II. zum Offizier des „Order of the British Empire“ [OBE]. Generalmusikdirektor Donald Runnicles wurde im Oktober 2020 im Rahmen der Queen’s Birthday Honours von Queen Elizabeth II. in den Ritterstand erhoben. Damit würdigte die Queen die Verdienste, die sich Sir Donald um das internationale Musikleben erworben hat.
Annika Schlicht
Die deutsche Mezzosopranistin wurde in Stuttgart geboren und studierte an der Hochschule für Musik Hanns Eisler in Berlin bei Prof. Renate Faltin. Seit der Spielzeit 2015/16 ist sie Ensemblemitglied der Deutschen Oper Berlin und sang hier in den vergangenen Spielzeiten Fricka in DAS RHEINGOLD und DIE WALKÜRE sowie Waltraute in GÖTTERDÄMMERUNG im neuen RING DES NIBELUNGEN. Das breite Rollenspektrum der Sängerin umfasst darüber hinaus Fenena in NABUCCO, Adriano in RIENZI, Mrs Quickly in FALSTAFF, Prinz Orlovsky in FLEDERMAUS, Magdalene in DIE MEISTERSINGER VON NÜRNBERG, Hänsel in HÄNSEL UND GRETEL, Olga in EUGEN ONEGIN, Dorabella in COSÌ FAN TUTTE, Marchesa Melibea in IL VIAGGIO A REIMS, Maddalena in RIGOLETTO, Auntie in PETER GRIMES, Page in SALOME, Flosshilde in DAS RHEINGOLD und GÖTTERDÄMMERUNG, Siegrune in DIE WALKÜRE, Contessa di Coigny in ANDREA CHENIER und Princesse Clarisse in DIE LIEBE ZU DEN DREI ORANGEN. Jüngste Gastengagements führten sie an die Royal Opera Houses von London und Muscat sowie nach Frankfurt, Hamburg in die Elbphilharmonie und an die Bayerische Staatsoper, die Opera Bastille nach Paris, die Dresdener Semperoper und die Berliner Staatsoper sowie die Deutsche Oper am Rhein. Noch während ihres Studiums wurde Annika Schlicht in das Internationale Opernstudio der Staatsoper Berlin engagiert und debütierte in den Spielzeiten 2013/14 und 2014/15 in diversen kleineren und mittleren Fachpartien.
Ergänzt wird Annika Schlichts umfangreiche Operntätigkeit als Konzertund Liedsängerin. Gustav Mahlers „Lied von der Erde“ in Klagenfurt und Pordenone sowie seine 3. Sinfonie in Dresden, Antonín Dvořáks „Stabat Mater“ in Polen, Giuseppe Verdis „Messa da Requiem“ in Essen, Ludwig van Beethovens 9. Sinfonie in Brüssel, Berlin und Antwerpen, Giovanni Battista Pergolesis „Stabat Mater“, Johannes Brahms‘ Alt-Rhapsodie, Johann Sebastian Bachs „Weihnachtsoratorium“, Richard Wagners „Wesendonck-Lieder“, Antonio Vivaldis „Gloria“, Wolfgang Amadeus Mozarts „Requiem“ in Riga, Felix Mendelssohn Bartholdys „Paulus“ und „Elias“, Lili Boulangers „Au Fond de l’abîme“ in München sowie Igor
Kuljerićs „Glagolitisches Requiem“ in Zagreb sind nur Beispiele ihres schon aufgeführten Repertoires.
Sie arbeitete bisher mit renommierten Dirigenten wie Daniel Barenboim, Zubin Metha, Sir Donald Runnicles, Ivan Repušic, John Fiore, Alondra de la Parra, Enrique Mazzola, Asher Fisch, Edward Gardner, Stéphane Denève, Sebastian Weigle, Kent Nagano, Ingo Metzmacher, Christopher Moulds, Alexander Soddy, Ulf Schirmer, Axel Kober, Stefan Soltesz und namhaften Regisseuren wie Harry Kupfer, Hans Neuenfels, Stefan Herheim, Luc Bondy, Claus Guth, Jossi Wieler, Dmitri Tschernjakow und Johannes Erath sowie Klangkörpern wie dem Orchester der Deutschen Oper Berlin, der Staatskapelle Berlin, den Wiener Symphonikern, dem Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin, dem Münchner Rundfunkorchester, dem Deutschen-Symphonie-Orchester Berlin, der Sächsischen Staatskapelle Dresden, der Dresdener Philharmonie, dem Philharmonischen Staatsorchester Hamburg, den Brüsseler Philharmonikern, den Bremer Philharmonikern und dem Ensemble Modern zusammen.
Matthew Newlin
Geboren in Georgetown studierte Matthew Newlin an der Southern Illinois University Edwardsville, später am Chicago College of Performing Arts. 2012 gewann er den Opera Birmingham Competition, 2011 den American Opera Society of Chicago's Scholarship Competition, 2012 errang er den 3. Platz beim Metropolitan Opera National Council Audition. 2012/13 war er im Young Artist Studio der Florida Grand Opera, ebenfalls war er Mitglied des Santa Fe Opera Apprentice Program und des Young Artist Program des Chicago Opera Theater. Als Mitglied des Merola Opera Program interpretierte er u. a Don Curzio in LE NOZZE DI FIGARO sowie Lindoro in L'ITALIANA IN ALGERI. In Florida sang er den 1. Geharnischten in DIE ZAUBERFLÖTE, Un notaro in LA SONNAMBULA, in Santa Fe Condulmiero in MAOMETTO II unter Leitung von Fredric Chaslin und Nikolaus in SILENT NIGHT. Weitere Engagements führten ihn als Tamino in DIE ZAUBERFLÖTE und Chip in JUST FOR THE NIGHT zum Chicago College of Performing Arts. Sein Repertoire umfasst Partien wie Fredrick in THE PIRATES OF PENZANCE, Un soldato in L'INCORONAZATIONE DI POPPEA, Le Mari in LES MAMELLES DE TIRÉSIAS, La Théière in L'ENFANT ET LES SORTILÈGES, Flamand in CAPRICCIO, Satyavan in SAVITRI, Hussar in MAVRA, Garcin in NO EXIT, Baby Bear in GOLDILOCKS AND THE THREE BEARS und The English Tailor in THE LAST SAVAGE. Auf dem Konzertpodium interpretierte der junge Künstler bisher am Chicago College of Performing Arts den Solo-Tenor-Part in Vaughan-Williams' „On Wenlock Edge“, Mozarts „Requiem“, Saint-Saëns „Weihnachtsoratorium“ sowie Händels „Messiah“.
Mit der Saison 2012/2013 wurde Matthew Newlin Stipendiat des Förderkreises der Deutschen Oper Berlin und wechselte 2014/2015 ins Ensemble des Hauses an der Bismarckstraße, wo er u. a. als Almaviva in DER BARBIER VON SEVILLA, Tamino in DIE ZAUBERFLÖTE, Don Ottavio in DON GIOVANNI, Pong in TURANDOT, Italienischer Sänger in DER ROSENKAVALIER, Arturo in LUCIA DI LAMMERMOOR, Belmonte in DIE ENTFÜHRUNG AUS DEM SERAIL, Alfredo in LA TRAVIATA, Froh in DAS RHEINGOLD und Don José in CARMEN.
Jisang Ryu
Jisang Ryu, Bass, stammt aus Südkorea und absolvierte sein Studium an der Yonsei Universität in Seoul sowie bei Prof. Henner Leyhe an der Hochschule für Musik in Köln, ergänzt durch Unterricht bei u. a. Kurt Moll und Bonaldo Giaiotti. Nachdem er beim 38. Internationalen „Maria Callas“ Wettbewerb 2014 den Grand Prix gewann, debütierte an der Staatsoper Hannover, in der Partie des Grafen Horn in Verdis UN BALLO IN MASCHERA sang. Von 2016 bis 2018 war er Ensemblemitglied des Stadttheaters Klagenfurt und seit der Spielzeit 2018/19 gehört Jisang Ryu zum Opernensemble des Staatstheaters Braunschweig. Engagements führten den Sänger u. a. an die Opernhäuser in Aachen, Mainz, Schwerin, Hannover, Gent und an die Greek National Opera in Athen. Darüber hinaus pflegt er bis heute eine rege Konzerttätigkeit in Europa, Korea, Japan und China. Sein Repertoire umfasst Partien wie Zaccaria in NABUCCO, Ramfis in AIDA, Scarpia in TOSCA, Wassermann in RUSALKA, Fürst Gremin in EUGEN ONEGIN, Raimondo in LUCIA DI LAMMERMOOR, Don Basilio in IL BARBIERE DI SIVIGLIA, Colline in LA BOHÈME, Giorgio Talbot in MARIA STUARDA, Lodovico in OTELLO, Hunding in DIE WALKÜRE, Fafner in DAS RHEINGOLD und Sarastro in DIE ZAUBERFLÖTE.
Das Orchester der Deutschen Oper Berlin
Im Jahr 2012 feierte die Deutsche Oper Berlin und mit ihr das Orchester des Hauses den 100. Geburtstag. Die wechselvolle Geschichte des Orchesters ist eng mit der der Stadt Berlin verknüpft. Es war fast eine kleine Kulturrevolution, die Berlins Bürger wagten, als sie vor mehr als hundert Jahren ein eigenes Opernhaus gründeten, das mit seinem Verzicht auf Logen das Ideal eines „demokratischen“ Opernhauses verkörperte und von allen Plätzen die volle Sicht auf die Bühne bot. In den 1920er Jahren arbeiteten berühmte Gastdirigenten wie Wilhelm Furtwängler und Bruno Walter regelmäßig an der Deutschen Oper, und es entstanden damals schon die ersten Schallplatteneinspielungen. Nach der Zerstörung des Hauses im Zweiten Weltkrieg musste sich die Deutsche Oper lange mit Ausweichquartieren arrangieren. 1961 wurde schließlich das Opernhaus in der Bismarckstraße eröffnet, in dem sie bis heute residiert. Seitdem ist die Deutsche Oper Berlin mit ihren 1860 Plätzen nicht nur das größte Opernhaus Berlins mit hervorragenden Sicht- und Akustikverhältnissen, sondern auch eine erste Adresse in der internationalen Opernwelt.
Die Reihe der Dirigenten, die als Gast oder als Chefdirigent am Pult des Orchesters der Deutschen Oper Berlin standen, ist beeindruckend und reicht von Lorin Maazel und Herbert von Karajan bis zu Giuseppe Sinopoli und Christian Thielemann, der von 1997 bis 2004 als Generalmusikdirektor der Deutschen Oper amtierte. Seit 2009 hat das Orchester der Deutschen Oper Berlin mit Sir Donald Runnicles einen international renommierten Dirigenten als Generalmusikdirektor. Die herausragende Zusammenarbeit zwischen dem Orchester und seinem Chefdirigenten wird nach einer vorzeitigen Vertragsverlängerung bis zum Jahr 2026 fortgesetzt.
Ein künstlerischer Schwerpunkt der Deutschen Oper Berlin liegt in der Pflege der Werke von Richard Wagner und Richard Strauss. Die besondere Wagnertradition des Orchesters schlägt sich auch darin nieder, dass viele seiner Mitglieder im Orchester der Bayreuther Festspiele musizieren. Ein weiteres wichtiges Element im künstlerischen Profil des Orchesters der Deutschen Oper Berlin ist die kontinuierliche Auseinandersetzung mit der Musik der Gegenwart. Zahl reiche Komponisten arbeiteten eng und produktiv mit dem Orchester zusammen, so kam es 2017 mit der Premiere der Oper L’INVISIBLE zu einer letzen Zusammenarbeit mit Aribert Reimann, den bereits eine längere Uraufführungsgeschichte mit dem Orchester des Hauses verband. Detlev Glanerts 2019 entstandene Oper OCEANE wurde mit einem International Opera Award für die „Beste Uraufführung des
Das Orchester
Jahres“ ausgezeichnet, kurz darauf erlebte Chaya Czernowins HEART CHAMBER die erste Aufführung.
Neben den Opernvorstellungen gibt das Orchester der Deutschen Oper
Berlin regelmäßig Sinfoniekonzerte mit führenden Solist*innen und ist dabei sowohl im Haus in der Bismarckstraße wie in der Berliner Philharmonie zu erleben.
Zudem bereichern zahlreiche von Mitgliedern des Orchesters gebildete Ensembles – vom Streichquartett bis zur Bigband – mit ihren Konzerten den Spielplan der Deutschen Oper. Die Diskografie des Orchesters umfasst mehr als 200 Titel, zu denen zahlreiche herausragende Einspielungen gehören. Die Aufnahme mit Jonas Kaufmanns Wagner-Recital wurde vielfach ausgezeichnet, u.a. erhielt der Sänger für diese Aufnahme den „Echo Klassik“. Die DVD von Leoš Janáceks
JENUFA mit dem Orchester und Chor der Deutschen Oper Berlin unter Sir Donald Runnicles erhielt 2015 eine Grammy-Nominierung in der Kategorie „Best Opera Recording“. Der Aufnahme von Aribert Reimanns L’INVISIBLE folgte Erich
Wolfgang Korngolds DAS WUNDER DER HELIANE und Alexander von Zemlinskys DER ZWERG, 2020 ebenso für einen Grammy nominiert.
1. Violine
Nathan Giem, Anna Matz, Dietmar
Häring, Piotr Prysiaznik, Martina Klar, Franziska Genetzke, Keiko Kido-Lerch, Hannah Müller, Magdalena Heinz, Charlotte Veihelmann, Tomasz Kobel, Oskar Kaiser, Theresa Giehl, Tomoko
Ishida, Sarah Wieck, Pauliina Quandt
2. Violine
Ikki Opitz, Daniel Draganov, Kai
Franzke, Iris Menzel, Ivonne Hermann, Kurara Tsujimoto, Gabriele Mollicone, Peter Fritz, Jae-Shin Song, Ebru Sahin, Katharina Häger, Kyrill Tkachenko, Laure Kornmann, Julia Kraft
Bratsche
Liisa Randalu, Kirsikka de Leval
Jezierski, Kangryun Nam, Irmgard
Donderer-Simon, Axel Goerke, Lothar
Weiche, Liviu Condriuc, Alexander
Mey, Sebastian Sokol, Manon
Gerhardt, Mariana Vozovik, Hyeri Shin
Cello
Stefan Heinemeyer, Johannes Mirow, Johannes Petersen, Georg Roither, Ulrike Seifert, Claudio Corbach, Margarethe Niebuhr, Christian Strienz, Xiaotang Xu, Leslie Riva-Ruppert
Kontrabass
Ilka Emmert, Florian Heidenreich, Bernd Terver, Sebastian Molsen, Martin Schaal, Katri-Maria Leponiemi, Theo J. W. Lee, Ulrich Schneider
Flöte
Eric Kirchhoff, Jochen Hoffmann, Akiko Asai, Ruth Pereira Medina, Avner Geiger
Oboe
Max Vogler, Yijea Han, Holger Burke, Iveta Hylasova-Bachmannova, Antje Thierbach
Klarinette
Matthias Höfele, Leandra Brehm, Dieter Velte, Sven Möller, Thomas Byka, Joachim Striepens
Fagott
Paul-Gregor Straka, Isabella Homann, Holger Simon, Vedat Okulmus
Horn
Daniel Adam, David Brox, Berat Efe Sivritepe, Luis Diz
Trompete
Martin Wagemann, Ulrich Riehl, Josa Malich
Posaune
Guntram Halder, Rúben Tomé, Thomas Leyendecker
Tuba
Péter Kánya
Pauke / Schlagzeug
Kobus Prins, Ralf Gröling, Rüdiger
Ruppert, Thomas Döringer, Lukas Zeuner
Harfe
Maria Smirnova, Noelia Cotuna
Spielleitung Gerlinde Pelkowski Inspizienz Daniel Pfeiffer
Licht Ulrich Niepel
Leiter der Tonabteilung Andreas Gockel
Tontechnik Athanasios Karakantas
Impressum
Copyright Stiftung Oper in Berlin
Deutsche Oper Berlin, Bismarckstraße 35, 10627 Berlin
Intendant Dietmar Schwarz; Geschaftsführender Direktor Thomas Fehrle; Spielzeit 2023/24; Redaktion Konstantin Parnian; Gestaltung Sandra Kastl; Druck: trigger.medien gmbh, Berlin
Textnachweise
Die Texte sind Originalbeiträge für dieses Heft.
Bildnachweise
S. 2 & 9 © Bernd Uhlig. Das Foto auf S. 9 entstand auf der Orchesterhauptprobe zur Uraufführung von Aribert Reimanns L’INVISIBLE im Oktober 2017.
S. 14 © akg-images / brandstaetter images