Deutsche Oper Berlin: Tischlerei-Zeitung No. 8 (Februar – Juli 2017)

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Raum fĂźr experimentelles Musiktheater der Deutschen Oper Berlin


Schwerpunkt in dieser Zeitung

Komponieren heute – unterwegs mit acht Komponisten 4

Was heißt Musik?

Hannes Seidl stellt sich der zentralen Frage des Komponierens.

6 Wenn der Ableger Wurzeln schlägt Michael Hirsch erklärt im Keller einer Akkordeon­ werkstatt, was Zimmerpflanzen mit seiner Arbeit an Henry Purcells DIDO zu tun haben. 12 Baustelle Oper Die Gewinner des Kompositionswettbewerbs NEUE SZENEN diskutieren ihre Ideen zum Thema „Die Durchbohrung der Welt“. 18 Punk und Putin Mit Andrej Koroliov im russischen Berlin. 22 Mit kindlicher Neugier Neele Hülcker denkt auf einem Neuköllner Spielplatz darüber nach, warum Komponieren und Spielen untrennbar zusammengehören. 24 Blick zurück nach vorn Alexander Muno beschwört den Geist toter Dichter in einem neuen Werk für die Tischlereikonzerte. 26 E xpedition ins Unbewusste Ein Besuch im Schlaflabor des St. Hedwig-Kranken­ hauses mit dem Instrumentenbauer Stefan Roszak. 30 Alles auf einen Blick Das Tischlereiprogramm von Januar bis Juli 2017.

Auch für diese Ausgabe kooperiert die Deutsche Oper Berlin mit der OSTKREUZSCHULE für Fotografie Berlin. Studierende aus der Klasse von Sibylle Fendt haben die Ausflüge und Gespräche mit den Komponisten begleitet und sich mit den Themen fotografisch auseinander gesetzt.

Die Tischlerei-Zeitung der Deutschen Oper Berlin ist eine Beilage der taz, die Tageszeitung © 2017 Herausgeber Deutsche Oper Berlin – Stiftung Oper in Berlin; Dietmar Schwarz [Intendant]; Thomas Fehrle [Geschäftsführender Direktor] Redaktion Dramaturgie / verantwortlich Dorothea Hartmann Gestaltung Jens Schittenhelm Produktion A. Beig Druckerei und Verlag GmbH & Co. KG; Die Rechtschreibung folgt den Vorlagen Fotografie Kurt Heuvens, Bastian Thiery, Jasmin Wolff


© Stephan Bögel

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Zeitgenössische Künstler sind für mich so etwas wie Brückenbauer: Sie bauen Brücken in den Nebel hinein und wissen nicht, ob das andere Ufer überhaupt da ist. Sie komponieren und komponieren im totalen Vertrauen darauf, dass es ein anderes Ufer gibt und dass es dann irgendwo wieder weitergeht. Das finde ich groß. Und ich habe ein schlechtes Gewissen, dass ich nicht mit in diesem Nebel bin! Nikolaus Harnoncourt

Editorial

Der Berliner Komponist Michael Hirsch überschreibt Henry Purcells DIDO und lädt ein, ein über 300 Jahre altes Werk nicht nur – wie so häufig in der Oper – neu in Szene zu setzen, sondern auch musikalisch neu und in anderen Farben zu denken und dabei dennoch dessen barocke Struktur nicht in Frage zu stellen. Ebenfalls mit einer vorhandenen Partitur setzt sich der Pianist und Komponist Andrej Koroliov auseinander: Er gibt mit seiner eigenen Musik­ sprache einen Kommentar zu Mussorgskijs BORIS GODUNOW in der Late Night-Reihe AUS DEM HINTERHALT. Das bedeutet, der Komponist wird auch zum Dramaturgen, Improvisator und Konzeptkünstler. Eine offene

Arbeitsweise und ein anderes Verständnis von einem musikalischen Kunstwerk sind hier grundlegend. Denn aufgeführt werden keine fertigen, nachspielbaren Kompositionen. Die Abende sind vielmehr singuläre performative Ereignisse, die gerade von ihrer Einmaligkeit und Spontaneität leben. Wie Andrej Koroliov haben wir auch Komponisten und DJs wie Matthew Herbert, Christoph Coburger und Caspar Brötzmann eingeladen, für die HINTERHALT-Kommentare in den kommenden Monaten mit den Möglichkeiten eines sehr schnell produzierten Musiktheaters zu spielen.

Das zeitgenössische Musiktheater in seiner großen Vielfalt zu zeigen, immer wieder neu und immer wieder anders – das ist das Credo der Tischlerei. Wir laden Sie ein: Lassen Sie sich überraschen von den so unterschiedlichen Ideen der Komponisten, die wir Ihnen in den nächsten Monaten vorstellen. Kommen Sie vorbei – wir freuen uns auf Sie!

Einem klassischeren Werkbegriff folgen die jungen Gewinner des Kompositionswettbewerbs NEUE SZENEN: Sie schreiben drei Kurzopern und suchen nach erweiterten Formen und musikalischen Sprachen für das Musiktheater. Dabei gehen sie von der traditionellen Arbeitsweise eines Autoren­duos aus, bestehend aus Librettisten und Komponisten. Für einen wiederum ganz anderen Musikbegriff und Kompositionsprozess stehen Neele Hülcker und Stefan Roszak, die meist mit vorhandenen, vorgefundenen Objekten arbeiten und sie in neue Zusammenhänge bringen. Stefan Roszak Arbeitsweise repräsentiert zudem jenen immer größer werdenden Kreis von Künstlern, der Kompositionen nicht einsam in der Schreibstube erfindet, sondern gemeinsam mit Menschen unterschiedlichster Herkunft Musik im kollektiven Schaffensprozess generiert.

© Bettina Stöß

Die Tischlerei der Deutschen Oper Berlin ist seit ihrer Eröffnung vor knapp fünf Jahren ein Ort für neues Musiktheater. Das heißt, die Arbeit mit lebenden Komponisten bestimmt das Programm dieser Bühne. In den Monaten Januar bis Juli 2017 kommen sie in so großer Zahl in die Tischlerei, dass wir diese Zeitung allein ihnen widmen wollen: Wir haben acht Komponisten begleitet auf Ausflügen zu Berliner Orten, die im Zusammenhang stehen mit den neuen Werken, die sie für die Tischlerei entwickeln. Wir haben sie befragt zu ihren musik­theatralen Ideen, aber auch zum Stand der Neuen Musik im Allgemeinen. Ihre Antworten zeigen die ganze Vielfalt dessen, was Musik und Komponieren heute heißen kann. Ausdifferenziert und vielgestaltig wie nie zuvor zeigt sich der Komponisten-Beruf im 21. Jahrhundert.

Dorothea Hartmann ist seit 2012 Künstlerische Leiterin der Tischlerei an der Deutschen Oper Berlin.


Die Frage, was Musik sei, wird immer wieder neu gestellt und beantwortet, gerade in den Debatten Neuer Musik. Ist Musik eine Sprache, ein Medium für den Ausdruck von Gefühlen? Ist sie Seelennahrung? Disziplinierter Lärm? Klanglich strukturierte Zeit? Jede Definition erzeugt einen Raum und grenzt alles Äußere ab. „Mit Musik hat das nichts zu tun“ ist ein entsprechendes Urteil, das sich durch die europäische Musikgeschichte zieht. Skandale von Strawinskij bis Cage sind größtenteils historisch, und man sollte meinen, spätestens mit dem Eintreten des „anything-goes“ in den 80er Jahren ließe sich zumindest in Fachkreisen kaum noch jemand zu so einer Aussage hinreißen. Zu offensichtlich ist die Geschichte der ewig Gestrigen, die einzelnen Musikstücken oder Kunstwerken ihre Daseinsberechtigung absprachen, nur um später von dem Erfolg genau dieser Arbeiten eines Besseren belehrt worden zu sein. Umso überraschter kann man dann sein, dass es doch immer noch – oder wieder – passiert. Der Musikbegriff ist nach wie vor umkämpft. In den letzten Jahren gab es vielfach Werke, die den Musikbegriff erneut auf die Probe gestellt haben. Stücke, in denen Klänge nur eine untergeordnete Rolle gespielt haben. Arbeiten mit Video, Performance, Höranweisungen für das Publikum, Objekte, Alltägliches. Die Arbeiten wurden für Musikfestivals gemacht und dort gezeigt, es wäre geradezu absurd, ihnen die Musikhaftigkeit abzusprechen. Stattdessen schlage ich einen selbsterklärenden Begriff von Musik vor: Das, was wir Musik nennen, ist auch welche. Neue Musik oder – was ich treffender finde – Klangkunst oder Kunstmusik, ist ein Bereich von Musik, in dem wir uns über die [klingende] Welt mit Musik Gedanken machen. Kunstmusik ist reflektierende Musik über Hören, Alltag, Strukturen. Das Ergebnis muss dabei nicht zwingend aus Klang bestehen. Es kann ebenso ein Film werden, eine Skulptur

oder eine Performance. Entscheidend ist ihr Bezug zum Rahmen Musik: Wir nennen es Musik, deswegen wird es als Musik rezipiert. Ihre eigenen Grenzen immer wieder zu erweitern, ist eine der Grundkonstanten Neuer Musik: also immer genau das zu machen, was bis dahin nicht als Musik galt, mithin als künstlerisch wertlos oder unmusikalisch. Nicht selten haben es genau jene „unkünstlerischen“ Arbeiten rückblickend geschafft, als paradigmatisch für eine bestimmte Zeit und Gesellschaft zu gelten. Ob Dada, Fluxus, früher Serialismus, die Beatles, Punk – den Strömungen, Bands und Künstler wurde zunächst abgesprochen, überhaupt Kunst zu sein, heute werden sie gefeiert. Auch die letzten hundert Jahre „Neue Musik“ lassen sich als eine Geschichte von Werken lesen, denen zunächst ihre Daseinsberechtigung abgesprochen wurde, um später zu Klassikern zu werden. Angefangen mit der Atonalität, der Gleichberechtigung aller Geräusche und – sukzessive – aller weiteren klanglichen Parameter einschließlich der Stille, dem Einbeziehen des Zufalls und so weiter – all diesen Entwicklungen wurde zunächst entgegen

gehalten, nicht länger Musik zu sein. Die Neue Musik hat sich dabei historisch aus der bürgerlichen Konzerttradition entwickelt, aus dieser Richtung kam entsprechend die Kritik. Gegenüber der Unterhaltungsmusik hat die Szene der Neuen Musik sich selbst abgegrenzt: Pop, Schlager, Hiphop, Rock, Folklore, Musical oder Filmmusik blieb das Andere, das Primitive. Gerne ließ man sich durch sogenannte „afrikanische Rhythmen“, „indische Musik“, Punk oder „japanische Musik“ inspirieren, gleichberechtigter Teil eines Diskurses wurden sie nicht. Die Ablehnung durch das klassische Konzert­publikum auf der einen Seite, die selbst gewählte Ablehnung der im Verdacht des Banalen und Vulgären stehenden Unterhaltungsmusik auf der anderen Seite haben der Neuen Musik zunächst geholfen, sich zu formieren und zu institutionalisieren, gleichzeitig hat sie sich so in ihrem Bewegungsrahmen extrem eingeschränkt. Auch wenn diese Strukturen porös werden und Ausnahmen zunehmen – Neue Musik, angetreten als experimentierfreudigster und radikalster Bereich musikalischen Denkens – ist zu einem Genre geronnen, eine Unterkategorie

Für uns Komponisten heißt das, dass wir zuhören müssen. Und reagieren.


5 4 Auf diese Weise ist ein Standard entstanden, eine Norm, die Neue Musik zu einem eigenen Genre mit eigenem spezifischem Sound gemacht hat. Böse gesagt, ist sie zu ihrem eigenen Klischee geworden. Nicht wenige Komponisten versuchen, dieser Standardisierung entgegen zu arbeiten, neue Besetzungen und Instrumente einzusetzen, neue Strukturen zu erproben, das unprofessionelle Spiel zuzulassen und sich einen Freiraum zurück zu erobern, um mit Musik über Musik und unser klangliches Umfeld nachzudenken. Viele Komponisten entziehen sich den standardisierten Klangkörpern und etablieren eigene Strukturen. Um einige zu nennen: Jennifer Walshe, Matthias Kaul, David Helbich, ­Michael Maierhof, Ashley Fure, Uwe Rasch, Jagoda Szmytga, Johannes Kreidler, Seth Kim Cohen, Malte Giesen, Christina Kubisch, Ari Benjamin Meyers, Neele Hülcker, Peter Ablinger. Es geht wieder um die Frage, was denn Musik

alles sei, allerdings weniger bezogen auf Klingendes allein, sondern auch und verstärkt bezogen auf Fragen, die andere Künste für sich längst bearbeiten: Fragen nach der Autor­ schaft, nach Professionalität, Gender, Hierarchie, Produktionsstrukuren, Einbeziehung der Rezeptionsästhetik und anderes. Oft werden allerdings Ansätze neuer Hörerfahrungen gleich wieder abgespalten, von Musik getrennt und als Klangkunst bezeichnet. Obgleich es Sinn machen würde, diesen Begriff auf alle Neue Musik anzuwenden, ist die Abspaltung wieder ein Versuch, die „eigentliche“ Neue Musik unangetastet zu lassen und das Andere auszuschließen. Neue Musik, wenn sie etwas signifikant anderes sein möchte als das Subgenre „moderne Klassik“, muss sich öffnen. Zu allen Projekten, die sich mit Musik, mit dem Hören, mit Klang beschäftigen. Sie muss sich den unterschiedlichen Formen des Hörens, den Funktionen und Ideen von Musik in der Welt öffnen. Wenn unser klangliches Umfeld nur noch zu einem ganz geringen Teil aus Klängen von Geigen, Celli, Querflöten oder Fagotten besteht, sondern auch aus Hintergrundmusik in Cafés, Autolärm, experimentellen Elektronikimprovisationen, dem schnellen Durchklicken etlicher Videos im Internet oder in der Werbung, dann sollte diese Hörerfahrung auch in Neuer Musik oder Kunstmusik auftauchen, wenn sie relevant sein will. Die Klänge philippinischer, arabischer, südamerikanischer, westafrikanischer, nord­ indischer Musik sind auch in Europa längst Teil unseres klanglichen Umfelds geworden wie die unzähligen Varianten von sogenannter Unterhaltungsmusik. Vom industriell gefertigten Hintergrundgedudel zu experimentellen Techno-DJs, von Schrei-Sängerinnen, leisen, zarten und untrainierten, aber mikrofonierten Stimmen zu professionell komprimierten und von Auto-Tune standardisierten Popstimmen. Unterschiedlichste Tonsysteme spielen ebenso eine Rolle wie Lautstärken, Wiedergabemedien und Überlagerungen im Stadtraum.

Für uns Komponisten heißt das, dass wir zuhören müssen. Und reagieren. Kaum noch etwas lässt sich mit einem Streichquartett abbilden, von den hierarchischen Strukturen der Produktion eines Stücks mal ganz abgesehen. Für die Institutionen Neuer Musik muss es heißen, sich zu öffnen, Standards zu hinterfragen, Auftragssituationen zu erweitern und die Szene in alle erdenklichen Richtungen zu öffnen. Was Musik ist, wird sich glücklicherweise wohl kaum so schnell festlegen lassen. Mich interessiert, was dieser Begriff für einzelne Menschen bedeutet. Aus diesem Verständnis, aus den Beobachtungen kann ich meine eigene Musik machen; Musik über Musik, über das Hören. Hannes Seidl

© Norman Thörel

des bürgerlichen Konzertbetriebs, vulgo Klassik. Dort hat sie ihre institutionelle Anbindung: in den Hochschulen, Opern- und Konzerthäusern, in den öffentlichen Radioanstalten. Und entsprechend hat sie auch dort ihre klangliche Grundlage, die Rahmenbedingung ihres Sounds: Orchester, Streichquartett, Instrumental- und Vokalensembles, deren Besetzung der Konzertmusik des 19. Jahrhunderts entsprechen. Auch wenn sich zunehmend Instrumentalisten auf Neue Musik spezialisieren, ihre Ausbildung, ihr Instrumentarium, die strukturelle Zusammensetzung, ihre Präsentationsformen – der gesamte ästhetische Apparat ist nach wie vor geprägt von der Konzertmusik des 19. Jahrhunderts. Anstatt sich vom Klassikbetrieb zu trennen, hat eine stetige Spezialisierung und Professionalisierung Neuer Musik auf der Grundlage klassischer Musik stattgefunden, bei gleichzeitiger Ablehnung der restlichen neuen Musik, der „vulgären“ und „unprofessionellen“ Unterhaltungsmusik.

Hannes Seidl, geb. 1977 in Bremen, studierte Komposition in Essen und Graz. Er arbeitete seitdem mit zahlreichen Ensembles zeitgenössischer Musik, wie dem Ensemble Modern, Klangforum Wien oder den Neuen Vocalsolisten Stuttgart. Seit 2008 arbeitet er mit dem Videokünstler Daniel Kötter zusammen an freien Musiktheaterproduktionen, zuletzt an der Trilogie „Ökonomien des Handelns“. Im Mai 2016 initiierte er das Radioprojekt „Good Morning Deutschland“, das seitdem aus Flüchtlingsunterkünften sendet. Hannes Seidl lebt in Frankfurt a. M.


Wenn der Ableger Wurzeln schlägt Michael Hirsch erklärt, was Zimmerpflanzen mit seiner Arbeit an Henry Purcells DIDO zu tun haben.

Der Münchner Komponist Michael Hirsch lebt seit 1981 in Berlin. Neben seiner kompositorischen Tätigkeit ist er auch als Performer im Musiktheater aktiv als Mitglied des „Freyer Ensemble“ und der „Maulwerker“. Seine erste abendfüllende Oper DAS STILLE ZIMMER wurde 2000 in Bielefeld uraufgeführt. Für die „Neuen Vocalsolisten“ schrieb er 2009 die Madrigaloper TRAGICOMEDIA. Elemente des Hörspiels und der Lautpoesie bereichern seine Kompositionen ebenso wie elek­ tronisch und elektroakustisch generierte Klänge.

Wir treffen uns mit Michael Hirsch im Akkordeon Centrum Brusch in Steglitz. Wer DIDO in seiner Fassung kennt, weiß, warum: Das Akkordeon ist allgegenwärtig in dieser Komposition. Sergej Makarenko, Chef der Akkordeon-Werkstatt, führt uns durch einen großen Verkaufsraum und moderne Arbeitszimmer zu einer schmalen Tür, die in den Keller führt: Eng und dunkel die Stiege zur ehemaligen Werkstatt, in der nicht mehr benutzte Werkbänke und Schraubstöcke stehen und unzählige neue und alte Akkordeons in den Regalen lagern: glänzende moderne Instrumente, sorgfältig verpackt, und historische Modelle mit abgenutzten Tasten. Ein geradezu symbolischer Ort zwischen Vergangenheit und Gegenwart für unser Gespräch über ein Werk, in dem Altes und Neues aufeinander treffen: Henry Purcells DIDO in der Bearbeitung von Michael Hirsch und Michael Hirschs eigene Auseinandersetzung mit Vergils Stoff in der Komposition LA DIDONE ABBANDONATA. Wir nehmen Platz auf harten Drehstühlen aus Holz, und Michael Hirschs erste Gedanken kehren zurück zu den Anfängen seiner Beschäftigung mit DIDO:


Hände sind Geschichtenerzähler. Sie erzählen vom Verlangen und dem Versuch, sich zu versöhnen mit dem Unversöhnlichen. Das sind auch die wesentlichen Momente der DIDO-­Geschichte. Händen die volle Aufmerksamkeit zu schenken, war eine bewusste Entscheidung.

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Jasmin Wolff [Ostkreuzschule für Fotografie]

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„Jedes Mal, wenn ich ein Stück anfange, muss ich ganz neu denken, weil ich, anders als viele andere Komponisten, keiner Methode folge. Ich bin weder Spektralist noch Serialist, noch sonst irgendwas. Aber ich muss es irgendwo herholen. Meistens hole ich es von alten Stücken. Ich nehme davon etwas wie den Ableger einer Pflanze. Bei DIDONE ABBANDONATA war der erste Schritt, den Text zu machen, das Libretto – auf Grundlage des berühmten Librettos von Pietro Metastasio aus dem 18. Jahrhundert.

Und dann habe ich den Text rhythmisiert. Ich habe versucht, den Sprechtext, so wie mein Touristen-Italienisch es sich vorstellt, zurechtzulegen. Und aus der Rhythmisierung heraus habe ich versucht, die Sing­s timmen zu komponieren, noch bevor ich irgendein Instrument dazu komponiert habe. Das war die Grund­lage für den Rest. Ablaufpläne sind für mich ein wichtiges Arbeitsmittel. Das Stück auf einer Din A4-Seite überblicken zu können, ist für mich eine Grundlage. In diesem Fall wurde es

dadurch erleichtert, dass ich den Text hatte. Ich habe die Textfragmente vertikal angeordnet und dann eine Struktur für die Instrumente gesucht: Wo kommt welches Instrument vor, wo ist gar keins? Die erste Idee, die ich hatte, ist gleich die auffälligste: dass am Ende bei der verlassenen Dido nur die Bassklarinette übrigbleibt. Und so habe ich für die verschiedenen Teile, die das Stück hat, jeweils ein Instrumentarium gesucht, das nie oder fast nie ganz gleich ist. Verschiedene


Kombinationen der Instrumente sind den einzelnen Passagen zugeordnet. Das war der Anfang der Komposition … Wie dann die Töne kommen, das ist bei mir immer sehr irrational. Da gibt es, wie gesagt, keine Methode. Oft geht es von solchen „Ablegern“ aus, also von musikalischen Zellen, die ich irgendwie weiterzuentwickeln versuche. Aber wie das dann jeweils gegangen ist, weiß ich selbst nicht mehr.“ Sergej Makarenko bringt Kaffee und Kekse und lässt uns wieder allein. Was interessierte Michael Hirsch denn inhaltlich an dem alten Stoff von Vergil und dem Libretto von Metastasio? „Das erste Wort des Textes von Metastasio ist ‚no‘. Das ist das erste Wort von Aeneas. Er erklärt, es sei kein Zorn, auch keine Angst, er müsse einfach Dido verlassen. In der ganzen restlichen Oper geht es nur noch darum, wie die Trennung abläuft und welche Intrigen sie noch verzögern. Mich hat interessiert, dass eigentlich nicht die Liebesbeziehung von Dido und Aeneas erzählt wird, sondern nur ihr Ende. Deswegen heißt die Oper auch DIE VERLASSENE DIDO und nicht DIDO UND AENEAS. Daraus habe ich für meine zehnminütige Kurzoper ein Destillat gezogen, ich habe aus dem schwülstigen Stoff dieser barocken Opera seria in äußerster Konzentrierung nur die Beziehung zwischen diesen beiden Personen herausgelöst. Erst viel später ist mir aufgefallen, dass in DIDO AND AENEAS von Purcell die Geschichte ähnlich knapp und telegrammartig erzählt wird. Sie wäre fast genauso kurz und knapp wie meine Oper, wenn nicht Chöre und Tänze drin wären, die gar nicht zu der Geschichte gehören. Eine Liebesszene zwischen den beiden gibt es auch nicht. Es gibt sogar mehr Parallelen zwischen meiner Bearbeitung des Librettos von Metastasio und dem von Purcell, als mir ursprünglich auffielen. Das war für mich dann die Motivation, beides zusammen zu bringen und zu einem DIDO-Projekt zusammen zu schnüren.“ Ein paar Akkordeontöne erklingen weit entfernt: Der Akkordeonbauer oben scheint ein Instrument zu stimmen. Was interessiert Michael Hirsch eigentlich an der alten Musik, an Purcells Komposition? Warum setzt er sich damit auseinander? „Bei Purcell ist mir aufgefallen, dass dieses Stück selbst schon aus vielen verschiedenen stilistischen Ebenen besteht. Das überhört man heute leicht, denn für uns ist es erstmal alles Barockmusik, ähnlich wie in der h-Moll-Messe von Bach. Auch bei Bach denkt man oft: Bach ist Bach und nichts anderes. Aber die h-Moll-Messe ist ein unglaublich polystilistisches Werk, in dem eigentlich alle unterschiedlichen Stile der Barockzeit versammelt sind: Und so verhält es sich auch mit Purcells DIDO AND AENEAS, wo Volksmusik­ artiges neben Lamentos und Arien steht. Die Rezitative selbst sind auch mit ariosen Momenten durchsetzt und gar keine richtigen


„Der Vielfalt der stilistischen Ebenen entspricht die Vielfalt der inhaltlichen Ebenen. Vielleicht ist es historisch nicht ganz korrekt, was ich jetzt sage, aber Purcells DIDO ist für mich eine Collage: Die zugrundeliegende Geschichte von

Und was ist nun mit dem Akkordeon, das von oben nun auch in langen Akkorden zu uns ­hinunter tönt?

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Plötzlich kommt Bewegung in Michael Hirschs Hände, die bislang ruhig auf den Armlehnen lagen.

Dido und Aeneas wird in Rezitativen erzählt, dann gibt es eine große Lamento-Ebene, und einen Abschnitt, den ich ‚Hochzeitskantate‘ nenne. Und außerdem den ‚Hexensabbat‘ und noch eine kleine Mini-Oper als Einlage. Zur Verdeutlichung dieser Ebenen gebe ich jeder einen anderen musikalischen Zugriff der Bearbeitung. Daraus ergibt sich eine Art serielle Skala von Graden der Bearbeitung: vom reinen Original über kleinere Eingriffe bis zur vollständigen Neukomposition.“

„Mich hat das Akkordeon schon immer interessiert, weil es ein unglaublich vielseitiges In­ strument ist. Es ist für Ensemblekompositionen unglaublich brauchbar, weil es alle anderen Instrumente bindet. Man kann schöne Mischklänge erzeugen mit Akkordeon und der Klarinette oder Bassklarinette und auch mit anderen Instrumenten.

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Rezitative mehr, sondern fast schon durchkomponierte Oper.“

Ich bin weder Spektralist, noch Serialist, noch sonst irgendwas.


Es hat einen sehr integrierenden Klang. Dazu hat es eine unglaubliche stilistische Bandbreite und das ist auch der Ansatzpunkt bei der Purcell-Bearbeitung. Weil ich die Idee vieler verschiedener Stile habe, ist das Akkordeon natürlich wunderbar geeignet dafür, weil man mit ihm ganz verschiedene stilistische Ebenen ausdrücken kann. Das Akkordeon ist einerseits ein sehr orgelähnliches Instrument, es ist ja eine kleine Orgel, hat also die Möglichkeit, barocke Klangwelten aufzubauen, und ist

auch ein Continuo-Instrument. Aber es ist auch ein Instrument der Volksmusik. Das wird man mit Sicherheit sehr deutlich hören bei meiner Bearbeitung der Seemannszenen, wo es ein reines Schifferklavier ist. Und dann ist es ein Instrument der Neuen Musik, wunderbar geeignet, vor allem mit seinen hohen Tönen, sich wie elektronische Musik anzuhören. Man kann aus dem Nichts heraus Töne erzeugen. Die tiefen Töne klingen, wenn man Cluster macht, auch fast elektronisch und sehr perkussiv. Und es ist ein wunderbar klangfarbenreiches Instrument.

Zum Stück Die auf Vergils „Aeneis“ basierende tragische Liebesgeschichte von Dido und Aeneas ist das Sujet zahlloser Adaptionen in Literatur, Bildender Kunst und nicht zuletzt auch in der Oper. Die karthagische Königin Dido gewährt dem aus Trojas Untergang entkommenen Helden Aeneas Zuflucht, doch ihre Liebe kann ihn nicht lange halten: Aeneas wähnt sich in dem göttlichen Auftrag, das Römische Reich zu gründen, Dido hat dem nur ihre Liebe entgegenzusetzen. Verzweifelt tötet sie sich, nachdem er sie verlassen hat. „Dido’s lament“, der Abschied vom Geliebten und vom Leben, in Henry Purcells einziger durchkomponierter, 1689 uraufgeführter Oper DIDO AND AENEAS gehört zu den ergreifendsten

Und es gibt die Möglichkeit, Melodien zusammen zu führen und sie verschwimmen zu lassen, wenn man die Tasten gedrückt lässt. Es ist sozusagen ein dramaturgisches Instrument. Das Akkordeon ist bei mir zu einem Standardinstrument für Ensemblestücke geworden, ähnlich wie eine Geige oder ein Cello. Ich hab natürlich nicht in jedem Stück ein Akkordeon dabei, aber da, wo ich viele Instrumente mische, ist meistens ein Akkordeon dabei.“ Curt A. Roesler

In Didos Kopf – zur Inszenierung: Klagegesängen in der Geschichte des ­ usiktheaters. 1724 verfasste dann Pietro M Metastasio sein erstes Seria-Libretto „La Didone Abbandonata“, welches über sechzig Mal vertont wurde – u. a. 2003 von dem Berliner Komponisten Michael Hirsch. Diese beiden autonomen Werke verbinden sich im Musiktheaterabend DIDO: Formal steht Michael Hirschs LA DIDONE ABBANDONATA an der Stelle von Purcells Prologs, von dem aber keine Musik erhalten ist. An diese Kurzoper schließt sich Hirschs Neubearbeitung von Purcells DIDO AND AENEAS an, die ein modernes Instrumentarium verwendet, das neben einem solistischen Streichquartett noch drei Blasinstrumente, zwei Xylophone und ein Akkordeon aufweist.

Die Inszenierung ist eine Rauminstallation des jungen Regisseurs Martin G. Berger, u. a. Gewinner des Karan-Armstrong-Preises der Götz Friedrich-Stiftung. Das Publikum befindet sich in seiner Lesart in „Didos Kopf“ – einem großen Raum im Raum in der Tischlerei, dessen Boden mit einem weichen Material ausgelegt ist. In diesem Raum liegt man zunächst, später sitzt und steht man auch. Das Orchester und die zur Komposition gehörenden Klangeinspielungen sind um die Zuschauer herum positioniert. Die Sänger bewegen sich zwischen dem Publikum. Das Publikum ist den Sängern nahe wie selten in der Oper.


11 10 Purcells Meisterwerk reloaded Premiere: 28. Januar 2017 Musiktheater mit Musik von Michael Hirsch und Henry Purcell 28. [Uraufführung], 31. Januar; 6., 7., 9., 10., 11. Februar 2017

Die Vorstellung ist nur eingeschränkt barrierefrei. Erleben Sie DIDO – ohne Schuhe und von uns ausgestattet mit warmen Socken – in einer außergewöhnlichen Raumsituation mit Sitz- und Liegemöglichkeiten auf gepolstertem Boden. Sollten Sie mobilitätseingeschränkt sein und uns besuchen wollen, nehmen Sie gerne mit uns Kontakt auf.

© Claudia Bühler

Musikalische Leitung: Jens Holzkamp Inszenierung: Martin G. Berger Bühne: Sarah-Katharina Karl Kostüme: Silke Bornkamp Video: Daniel M. G . Weiß Dramaturgie: Katharina Duda, Curt A. Roesler Mit Abigail Levis, Alexandra Hutton, Meechot Marrero, Stephen Barchi, Andrew Dickinson, Jörg Schörner Orchester der Deutschen Oper Berlin


Baustelle Oper

Die Gewinner des Kompositionswettbewerbs NEUE SZENEN diskutieren ihre Ideen zum Thema „Die Durchbohrung der Welt“.


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„Die Durchbohrung der Welt“ – dieses Schlagwort haben die drei Gewinner des Kompositionswettbewerbs NEUE SZENEN für ihre Opern gewählt, die im April 2017 in der Tischlerei zur Uraufführung kommen. Bohren, Graben und moderne Technik als Fundgrube für Neue Musik? Was hat das miteinander zu tun? Wir luden sie ein, eine Berliner Großbaustelle zu besuchen. Am S-Bahnhof Sonnenallee trafen die Dramaturgen Curt A. Roesler und Katharina Duda die Komponisten Malte Giesen, Irene Galindo Quero und Thierry Tidrow zu einer Führung über den 16. Bauabschnitt der neuen Stadtautobahn zwischen Neukölln und Treptower Park. In Begleitung von Ingenieur und Projektleiter Arne Huhn ging es bei November-Sturm sodann hinunter in die verregneten Baugruben – „lehnen Sie sich bitte nicht an, das Geländer ist nur symbolisch“ – und einen fertig gestellten Tunnel. Schutzhelme inklusive. Katharina Duda Nachdem wir gerade anderthalb Stunden die verschiedenen Abschnitte einer Großbaustelle erkundet haben, würde mich doch interessieren, was ihr als Komponisten mit diesem Ort für euer Projekt anfangen könnt? In euren Stücken kommen ja keine Bagger oder Lastenkräne vor … Malte Giesen Nun ja, die ursprüngliche Idee war in der Tat keine Baustelle, aber eine Tiefenbohrung auf der russischen Halbinsel Kola in den späten 70er, frühen 80er Jahren. Um diese Bohrung gab es eine ziemlich starke Legendenbildung: In 12 km Tiefe waren plötzlich Geräusche zu hören! Angeblich kamen Stimmen aus dem Loch. Da glaubten manche, man habe die Hölle angebohrt. Daraus konnte man auch eine ideale Propaganda gegen die Sowjetunion spinnen ... Mich hat an dieser Geschichte die Hybris fasziniert: dass Menschen darauf kommen, es sei möglich, die Hölle zu erreichen, eine transzendentale Idee! – durch moderne Technik. In dieser konkreten Form spielt die Bohrung allerdings in unseren Opern keine Rolle mehr. Katharina Duda Aber um Technik bzw. um eine Kritik an einer bestimmten Moderne geht es doch schon? Es ist ja erstaunlich, wie viel Gewalt man dem Erdreich antun muss, damit so ein Bauprojekt sich überhaupt realisieren lässt. Und von Gewalt scheinen auch eure Stücke zu handeln: davon, was man sich antun muss, um irgendwo reinzupassen, etwas zu erreichen … Thierry Tidrow … oder für den Fortschritt! Die Idee, dass es immer weitergehen muss. Ich finde es ja toll, dass wir in sechs Jahren mit dem Auto von der Sonnenallee zum Treptower Park fahren können. Aber die Vorstellung kann einen schon überwältigen: Es gibt so viele Straßen in der Welt, so viel Beton! Was für ein Aufwand an Ressourcen, damit jemand von A nach B kommt – und immer schneller! In meinem Stück geht es viel um

Die Komponisten Der Franco-Kanadier Thierry Tidrow studierte Komposition und Barockgesang an der McGill University in Montréal und als Stipendiat der Fondation Ricard am Conservatorium van Amsterdam sowie bei Brice Pauset an der Hochschule für Musik Freiburg. Seine Werke, zu denen auch diverse musiktheatrale Kompositionen zählen, wurden u. a. vom Ensemble Apparat, Ensemble Garage, hand werk, Sarah Maria Sun, dem Asko | Schönberg Ensemble und der Quatuor Bozzini aufgeführt. 2014 erhielt er den Jules-Léger Preis, die wichtigste Auszeichnung für Komposition des Canada Council for the Arts.

Irene Galindo Quero studierte Komposition bei Pedro Guajardo am Conservatorio Superior Granada sowie an der MHS Freiburg als Stipendiatin der Alexander von Humboldt Stiftung und La Caixa-DAAD und bei Johannes Schöllhorn an der Hochschule für Musik und Theater Köln. Ihre Werke wurden u. a. vom Ensemble Surplus, Aleph Gitarrenquartett, Ensemble Modern, Linea Ensemble Strasbourg und dem Ensemble hand werk aufgeführt. Neben den NEUEN SZENEN arbeitet sie zurzeit an einem Opernauftrag für die Opera Stabile in Hamburg [UA 2017]. Malte Giesen studierte Komposition und Computermusik an der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst Stuttgart bei Marco Stroppa und Oliver Schneller, am CNSM Paris bei Gérard Pesson und bei Hanspeter Kyburz in Berlin. Seit 2014 studiert er zudem Elek­ troakustische Musik bei Wolfgang Heiniger. Er war u.a. Stipendiat der GdF der Musikhochschule Stuttgart und des Fördervereins der HfM Berlin. Zudem ist er Gewinner verschiedener Kompositionswettbewerbe, beispielsweise des Deutschen Musikwettbewerbs Komposition 2009. Aufführungen seiner Stücke erfolgten u. a. bei den Donaueschinger Musiktagen, durch die Klangwerkstatt Berlin, Ars Nova Rottweil, blurred edges Hamburg und beim Stuttgarter Saxophonfestival.


Seit Jahren lebe ich in der Umgebung der Großbaustelle A100 und erfahre die ständigen Veränderungen des Abschnitts. Vom Abriss der Kleingartenanlagen zu den riesigen, mit Grundwasser gefüllten Becken, die einmal die unterirdische Autobahn sein werden … der Aufwand ist enorm. Bastian Thiery [Ostkreuzschule für Fotografie]


Irene Galindo Quero Mein Anknüpfungspunkt zu dem Thema, das Malte mit seinem Bild von der Kola-Bohrung vorgegeben hatte, war die Thematik von Bergarbeitern, die Debo Koetting dann für mich in ein Libretto verarbeitet hat. Eingefangen hat sie vor allem die düstere Stimmung, das Drückende unter Tage. Und dann geht es viel um Menschen, denen wir als Gesellschaft nicht immer gerne zuhören. Das habe ich musikalisch aufgegriffen, indem ich über Stimmen nachgedacht habe, die unangenehm zu hören sind. Zum Beispiel gibt es zu Anfang einen Narren, einen quasi Verrückten, der redet nur in apokalyptischen Verheißungen. Da muss man dann auch darüber nachdenken, wie sich das musikalisch umsetzen lässt. Zum Beispiel schien es mir unsinnig, diesen Narren „normal“ singen zu lassen. Er sagt „uält“ statt „Welt“. Daraus hat sich dann die Sache mit der IPA entwickelt … Katharina Duda … dem Internationalen Phonetischen Alphabet, also der Sammlung von standardisierten Zeichen, mit denen sämtliche Laute der menschlichen Sprachen abgebildet werden sollen … Irene Galindo Quero … genau. Überhaupt ging es mir sehr um Detailarbeit an der Stimme: Lachen und Husten – die ganze Palette. Seit etwa 100 Jahren entwickelt sich Gesang ja weg vom Ideal des schönen Klangs hin zum gesamten Spektrum an Ausdrucksmöglichkeiten der menschlichen Stimme. Schon Janáček hat damit angefangen und Alltagssprache aufgezeichnet. Katharina Duda Das scheint mir ein weiteres verbindendes Moment eurer Stücke: dass ihr

Malte Giesen Bei mir gab es diese grundsätzliche Spannung von Text und Subtext. Ich will etwas erzählen, eine konkrete Handlung, gleichzeitig auch etwas durch die Musik ausdrücken, was keine eigene Zeit hat: eine Stimmung, ein Gefühl. Zum Beispiel habe ich versucht, einen Ausdruck zu finden für das Herz des Protagonisten: eine Art Pulsen, mal regelmäßig, mal unregelmäßig. Es ging mir darum, eine entsprechende Zeitempfindung zu schaffen: sehr gedehnt, langsam. Was den Text angeht, ist eigentlich alles, was gesungen wird, nicht direkt verständlich. Wann immer es wichtig ist, dass man der Handlung folgen kann, werden die Worte per Zuspielung oder Projektion oder als gesprochener Text dazu geschaltet. Der gesungene Text wird dagegen zur bloßen Oberfläche, um etwas Darunterliegendes musikalisch mitzuteilen. Curt A. Roesler Wie geht ihr damit um, als

Komponisten einer Oper in einer langen Tradition zu stehen? Spürt ihr einen besonderen Druck, bloß nicht konventionell sein zu wollen?

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Malte Giesen Für mein Projekt kann ich viel mit dem Bild anfangen, dass einem der Boden unter den Füßen weggezogen wird. In dem Libretto von Fanny Sorgo, das ich vertont habe, verschwindet zu Anfang die gesamte Welt des Protagonisten in einem riesigen Loch, das später mit seinen Tränen, dann seinem Blut aufgefüllt wird. Parallel zu meiner Arbeit habe ich das Buch von Sven Hillenkamp gelesen über die „Negative Moderne“ und den Sturz ins Nichts. Für mich beschreibt das in einem theoretischen Rahmen sehr gut, was auch Fanny in ihrem Libretto darstellt: die Verzweiflung, die ihre Hauptfigur schließlich sogar dazu bewegt, sich das Herz herausoperieren zu lassen, damit es nicht mehr weh tut. Man kann das als Symbol für das Gefühl des modernen Menschen sehen, der Welt nicht gerecht zu werden, überfordert zu sein von zu vielen Möglichkeiten. Und dazu kommen dann die ständigen Nachrichten über das Elend in der Welt, all die Katastrophen – so dass man sich total machtlos fühlt.

euch in euren Kompositionen damit beschäftigt habt, wie und warum jeweils gesungen wird.

Thierry Tidrow Ich halte das für etwas sehr Europäisches: diese Angst vor Konventionen oder dem romantischen Erbe. Als Kanadier geht mir das nicht so. Also ja, natürlich bin ich ein Kind europäischer Auswanderer, deren musikalische Tradition ich mir auch zu Eigen mache. Aber ich habe doch das Gefühl, in diesen Dingen weniger vorbelastet zu sein. Vielleicht ist das auch eine Generationenfrage. Trotzdem schaue ich mir in meinem Stück ein modernes Lebensgefühl sehr kritisch an. Aber diese negative Herangehensweise, dass man so Vieles nicht darf … Da versuche ich lieber, mich einfach inspirieren zu lassen.

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diese Geschwindigkeit. Meine Librettistin Uta Bierbaum lässt die Figuren aus Angst vor der Stille ohne Unterlass sprechen. Sie versuchen, eine existentielle Leere mit Floskeln zu übertünchen – und das habe ich auch komponiert.

Irene Galindo Quero Ich finde, Oper ist etwas sehr Anstrengendes. Man muss gleichzeitig zuhören und zuschauen – da fällt schnell mal etwas unter den


Tisch. Gerade im Repertoirebetrieb, wo bestimmte Stücke immer wieder gespielt werden, erwarten die Zuschauer zwar eine neue Inszenierung. Aber die gute alte Musik glauben sie schon zu kennen und hören deswegen oft gar nicht mehr richtig zu. Neue Musik hat hier die Chance, für Irritationen zu sorgen. Die Leute dazu zu bringen, wieder genau hinzuhören und dann mit dieser aktiven, selbstverantwortlichen Haltung auch das vermeintlich vertraute Repertoire noch einmal ganz neu wahrzunehmen.

Grundsätzlich habe ich mich beim Komponieren immer wieder mit der Regisseurin besprochen und ich hoffe, dass sie später mit mir genauso offen sein wird. Das halte ich für das Beste: wenn man über alles reden kann. Die Eröffnung des Straßenabschnitts nach Treptower Park ist übrigens für 2022 geplant. Unsere Stücke starten schon am 28. April 2017. An

dieser Stelle möchten wir uns sehr herzlich bei der Berliner Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und Umwelt für die Ermöglichung des Baustellenbesuches bedanken. Außerdem bei Arne Huhn persönlich für seine sachkundige Führung! Katharina Duda und Curt A. Roesler

Curt A. Roesler Mich würde noch interessieren, wie ihr die Neuen Szenen insgesamt erlebt. Die Zusammenarbeit mit euren Librettisten liegt bereits hinter euch. Jetzt kommt die Regie dazu: drei junge Regisseure der Hochschule für Musik „Hanns Eisler“ stellen eure Stücke auf die Bühne, benutzen sie – um im Bild der Baustelle zu bleiben – womöglich als Steinbruch. Es soll ja Komponisten geben, die versuchen, dem vorzubeugen, indem sie szenische Vorgänge in die Noten schreiben … Malte Giesen Als Komponist hat man sicher schnell die Tendenz, alles mikromanagen zu wollen. Da muss man sich, finde ich, ein bisschen zurückpfeifen. Ich freue mich vor allem auf die Interpretation der Regie – was die wohl in meinem Stück gesehen haben? Irene Galindo Quero Ich finde, das ist etwas Anderes bei einer Uraufführung. Wenn ein Stück schon sehr bekannt ist, kann die Regie ja eine Interpretation liefern. Aber bei der ersten Aufführung würde ich mir wünschen, dass nicht in die Botschaft eingegriffen wird, um die es uns ging. Thierry Tidrow Auch ich habe Stellen, wo ich genau weiß, was ich will. Da stehen dann Anweisungen daneben, wie das zu gestalten ist, z. B. „slightly pornografic“. Aber anderswo bin ich völlig offen, was die Interpreten anbieten.

Zum Projekt Die NEUEN SZENEN sind ein Koopera­ tionsprojekt der Deutschen Oper Berlin mit der Hochschule für Musik „Hanns Eisler“ Berlin. Bereits zum dritten Mal wurde ein internationaler Kompositionswettbewerb ausgeschrieben. Unter 50 Einsendungen wählte eine Jury unter Vorsitz von Aribert Reimann drei Gewinner, an die Kompositonsaufträge für ein 30-minütiges Musiktheater vergeben wurden. In Zusammenarbeit mit drei Librettistinnen,

alle Absolventinnen des Studiengangs „Szenisches Schreiben“ der Universität der Künste Berlin, entsteht ein dreigeteilter Musiktheaterabend mit jeweils individuellen Musiktheaterkompositionen – in diesem Jahr zum Schlagwort „Durchbohrung“. Inszeniert werden die neuen Stücke in der Tischlerei durch Regie-Studierende der Hochschule für Musik „Hanns Eisler“, von wo auch die jungen Sänger kommen.


17 16 Die Durchbohrung der Welt Premiere: 28. April 2017 Musiktheater von Irene Galindo Quero, Malte Giesen, Thierry Tidrow [Preisträger des Kompositionswettbwerbs NEUE SZENEN III]; Libretto von Uta Bierbaum, Debo Koetting und Fanny Sorgo 28. [Uraufführung], 29. April; 8., 9. Mai 2017

Mit dem Echo Ensemble und Studierenden der Hochschule für Musik „Hanns Eisler“ Berlin In Zusammenarbeit mit der Hochschule für Musik „Hanns Eisler“ Berlin und der Universität der Künste Berlin

© Claudia Bühler

Musikalische Leitung: Manuel Nawri Inszenierung: Zsófi Geréb, Anna Melnikova, Ulrike Schwab [Absolventen des Studiengangs Regie der Hochschule für Musik „Hanns Eisler“ Berlin] Ausstattung: Ivan Ivanov Dramaturgie: Curt A. Roesler


Punk und Putin Mit Andrej Koroliov auf Spurensuche im russischen Berlin.

Der Komponist Andrej Koroliov wird als Gastkünstler den fünften und letzten Abend in der Reihe AUS DEM HINTHALT in der Spielzeit 2016 / 2017 gestalten. Thema des Abends: Modest Mussorgskijs BORIS GODUNOW. Statt eines Vorgesprächs verbringt Dramaturg Sebastian Hanusa mit ihm einen „russischen Tag“ in Berlin, um mit ihm über den Stoff und seine politischen und historischen Dimensionen zu sprechen. Wir treffen uns an einem Montag Mitte Dezember um 11 Uhr am Bahnhof Friedrichstraße auf dem Bahnsteig der U6. Nachdem der Tag trübe begonnen hat, kommt allmählich die Sonne heraus, als die U-Bahn, in der ich zusammen mit Andrej Koroliov auf dem Weg nach Norden bin, in Reinickendorf den Tunnel verlässt und oberirdisch fährt. Es verspricht, gutes Wetter zu werden, ideal für unser Treffen mit dem ­Fotografen Bastian Thiery. Wir sind verabredet zu einem Ausflug und haben vor, einen kleinen Teil des „russischen Berlins“ zu besuchen. Dort sollen Fotos für die Tischlerei-Zeitung gemacht werden. Ich will aber auch über das bevorstehende gemeinsame Projekt sprechen. Koroliov wird als Komponist, Performer und Pianist den letzten Abend in der Reihe AUS DEM HINTERHALT gestalten. Dessen Thema: Modest Mussorgskijs große russische Nationaloper BORIS GODUNOW. Diese hat als letzte Neuproduktion der Deutschen Oper Berlin in dieser Spielzeit Mitte Juni ihre Premiere auf der Bühne des Großen Hauses. BORIS GODUNOW wird in den „Hinterhalt“ gelockt, wie in der zweiten Spielzeithälfte zuvor Benjamin Brittens TOD IN VENEDIG und Richard Wagners DER FLIEGENDE HOLLÄNDER, künstlerisch neu befragt, in einem Abend zwischen wilder Performance, anarchischem Musiktheater und lustvoll-sinnlich inszeniertem Konzert. Andrej Koroliov wurde 1982 in Hamburg geboren und studierte an der HfMT Hamburg Klavier, Komposition und Musiktheorie. Als Komponist trat er sowohl mit akustischen als auch live-elektronischen Stücken in Erscheinung. Im Vordergrund seines kompositorischen Schaffens, welches verschiedene Werkgruppen vom Solo- bis zum Orchesterstück einschließt, stehen hierbei Komponenten wie der performative Aspekt von Musikausübung und die kritische Durchleuchtung von Musik in ihrer Interaktion mit Individualität, Gesellschaft und Kulturbetrieb. Er wurde mit dem Yamaha-Förderpreis und dem Alfred-Schnittke-Kompositionspreis ausgezeichnet

Die Fahrt mit der U6 endet an der Station „Holzhauser Straße“ in Tegel. Von hier aus führt uns der Weg unter der viel befahrenen Stadtautobahn A 111 hindurch zu einem Ort, den man hier, zwischen Gewerbeflächen, Getränkemärkten und Verkehrswegen, nicht vermutet hätte. In der Wittestraße liegt der russisch-orthodoxe Friedhof Berlins. Er wurde 1893 angelegt, damals noch vor den Toren der Stadt in „Tegel bei Berlin“. Es ist ein Ort der Stille, trotz des Lärms


19 18 der angrenzenden Autobahn. Mit seinen Gräbern, die Zeugnisse der bewegten und wechselhaften deutsch-russische Geschichte sind, und der kleinen Friedhofskapelle, deren leuchtend blaue Zwiebeltürme mittlerweile von der Wintersonne beschienen werden, finden sich zahlreiche Motive für unseren Fotografen. Bei einem Rundgang über den Friedhof rufen einzelne Gräber die Fragen nach den Menschen und ihren Lebensläufen wach. Wer liegt hier begraben? Und warum hat er in Berlin gelebt? Aus der Kaiserzeit finden sich Gräber mit kyrillischen Inschriften, aber auch solche in lateinischer Schrift, mit deutschen Namen, aber orthodoxem Kreuz: Von den engen dynastischen Verbindungen zwischen russischem Zarenhaus und preußischen Königen, von baltendeutschen Adeligen am russischen Hof und ihrer Berliner Verwandtschaft, von russischen Botschaftsangehörigen, deutschen Exilanten, die in Russland zur Orthodoxie konvertierten oder auch Mischehen im damals noch deutschen Ostpreußen mit der dortigen russischen Minderheit – die Fantasie lässt den Spekulationen über mögliche Einzelschicksale weiten Raum. In den 20er Jahren finden viele russische Emigranten, die vor Revolution, Bürgerkrieg und der sowjetischen Herrschaft geflohen sind, in Berlin eine neue Heimat. Viele bleiben auch nach 1933 hier, wie die Gräber auf dem Friedhof verraten – in einer schwierigen Situation, in der die nationalsozialistische Rassentheorie den „slawischen Menschen“ zum „Untermenschen“ erklärt, in der aber zugleich die russisch-orthodoxe Gemeinde in Berlin geduldet wird als gemeinsamer Gegner der UdSSR. Wer verbirgt sich hinter den Kriegsgräbern aus den letzten Jahren des Zweiten Weltkriegs? Auf welcher Seite haben diese Menschen gekämpft, warum mussten sie sterben? Welche Schicksale stehen schließlich hinter den Gräbern jener Menschen, die hier zwischen 1945 und 1989, im Westteil Berlins, beerdigt wurden – von der deutsch-russischen Geschichte des Ostteils

der Stadt durch Sektorengrenze und Mauer getrennt? Und wer hat schließlich nach 1989 hier seine letzte Ruhe gefunden? Es sind zentrale Themen der Oper, speziell des 19. Jahrhunderts, zu denen uns der Friedhofsspaziergang führt. Das Schicksal des Einzelnen, sein Ausgeliefert-Sein an den Lauf der Geschichte, aber auch der Versuch, Macht und Einfluss zu gewinnen, um diese aktiv zu beeinflussen. Das Verhältnis des oder der Mächtigen zum Kollektiv des Volkes und die oft irrationale Dynamik der Masse: BORIS GODUNOW ist ein Repertoirewerk, das wie kaum ein anderes diese Themen verhandelt, ausgehend von einer Episode der russischen Geschichte in den von Bürgerkrieg und politischen Wirren geprägten Jahren um 1600. Darin ist das Stück in Zeiten von neu an Einfluss gewinnenden Demagogen und Populisten


ebenso aktuell wie vor dem Hintergrund, dass Krieg in einer als überwunden geglaubten Form heute wieder Mittel russischer Machtpolitik geworden ist. Wir gehen noch eine weitere Runde über den Friedhof, unser Fotograf ist immer noch mit der Suche nach Motiven beschäftigt. Andrej ­Koroliov erzählt von seiner eigenen Familie. Mit Russland verbindet ihn wenig. Immerhin: Die Eltern, beide Pianisten, haben sich während des Studiums in Moskau kennengelernt und dort leben Verwandte, die Koroliov vor Jahren besucht hat. Die Familie des Vaters hat ihre Wurzeln jedoch in Weißrussland und Zentralasien, die Mutter ist aus Mazedonien. Der Zerfall Jugoslawiens, der blutige Bürgerkrieg, fanatischer Nationalismus und Hass sowie dessen Folgen sind die weitaus prägendere Erfahrung. Wenn auch nicht in unmittelbarer Anschauung, denn Koroliov wurde 1980 in

Hamburg geboren, ist dort aufgewachsen, hat an der dortigen Hochschule Klavier und Komposition studiert und lebt auch heute noch dort. Er versteht sich als Hamburger, einschließlich der leidgeschwängerten Liebe zum HSV. Auch wenn er inzwischen nicht mehr regelmäßig ins Stadion geht, abgeschreckt weniger von den teilweise unterirdischen Leistungen auf dem Platz, sondern eher von rechten Sprüchen im Publikum, die es immer schon und in jedem Stadion gibt, wenn man in der bierenthemmten Gruppenemotion „auch das mal endlich sagen darf“ – während von oben der Norddeutsche Nieselregen tropft. Nun machen wir vor und in der ­Friedhofskapelle noch einige Portraitbilder und gehen weiter zur U-Bahn, um zur zweiten Station unseres Ausflugs zu fahren. Wir bleiben in West-Berlin und fahren zum Restaurant „Samowar“, direkt neben dem Charlottenburger Schloss. Inmitten einer beeindruckenden Sammlung der namensgebenden Teebereiter und einer auch sonst üppigen Dekoration Marke „Zaren­nostalgie“ sprechen wir über Koroliovs Musik. Er sei zunächst von seiner musikalischen Sozialisation und Ausbildung klassisch geprägt gewesen, sei auch Opern- und besonders Wagner-Fan. Wichtig waren aber auch Punk und Hard­ core, Musik, die er gerne und viel gehört und in verschiedenen Bands selber gespielt hat. In der Arbeit mit elektronischer Musik, als Komponist wie auch als Keyboarder, findet er ein verbindendes Element, diese verschiedenen

Im Restaurant „Samowar“ sollten sich ­Besucherinnen unbedingt die verschiedenen Samoware erklären lassen. Einer wurde, laut Besitzerin, mal in Peter ­Jacksons Hotelzimmer geliefert. Bastian Thiery [Ostkreuzschule für Fotografie]


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musikalischen Sphären in die eigene Musik zu transformieren und dort miteinander zu verschmelzen. Die hat die Energie und Wucht des Punk, versteht sich ebenso als eine, die kritisch, politisch und subversiv ist. Es ist eine Musik, die sehr oft den Körper in den Mittelpunkt stellt, teilweise bis hin zur physischen oder auch psychischen Schmerzgrenze, die aber zugleich auch von ihrer Komplexität und ihren Strukturen her zeitgenössische Kunstmusik ist. Immer geht es dabei jedoch um künstlerischen Ausdruck. Dabei komponiert Koroliov oft nicht nur abstrakt für ein Instrument, sondern für einen Musiker, seine Persönlichkeit, seine Fähigkeiten und seinen Körper – etwa auch im Einsatz von seiner Stimme, von Gesten und Bewegungen. Und er arbeitet mit performativen und intermedialen Elementen wie Video, sei es als Fundstück aus den sozialen Medien oder auch eigens produziertes Material. Viele seiner Stücke entstehen für und mit dem Decoder Ensemble. Zusammen mit sechs anderen Musikern, darunter zwei weitere Komponisten, hat er 2011/12 in Hamburg das Ensemble gegründet, um eine kontinuierliche Arbeit an einer die Mitglieder verbindenden gemeinsamen Ästhetik zu realisieren. Die zeichnet sich dadurch aus, Neue Musik aus den Enklaven herauszutragen und sie von ihrem Klang und ihrer Performanz her als „Band“ zu spielen und damit auch an Orten der Rockund Popmusik – inzwischen sehr erfolgreich – aufzu­treten. Dabei wird der Avantgardeanspruch nicht verraten, sondern vielmehr weiter entwickelt. Für den Schlagzeuger des Decoder Ensemble, Jonathan Shapiro, entstand das Stück, das für Alexandra Holtsch, die künstlerische Leiterin der Reihe AUS DEM HINTER­ HALT und mich die Erstbegegnung mit ­Koroliovs Musik war: „Resist Mix“ für einen Schlagzeuger und Elektronik .

Sebastian Hanusa

Late-Night-Performances zur Großen Oper Konzept, Künstlerische Leitung: Alexandra Holtsch Raumkonzept: Sabine Mader Dramaturgie: Sebastian Hanusa

27. Februar 2017

Aus dem Hinterhalt: TOD IN VENEDIG Mit Matthew Herbert, Jean-Paul Pruna u. a.

6. Mai 2017

Aus dem Hinterhalt: DER FLIEGENDE HOLLÄNDER Mit Caspar Brötzmann, Christoph Coburger, Susanne Husemann, Christopher White u. a.

24. Juni 2017

Aus dem Hinterhalt: BORIS GODUNOW Mit Andrej Koroliov, DJ Illvibe, Jonathan Shapiro, Sebastian Berweck, Georgios Vagianos u. a.

© Claudia Bühler

Jonathan Shapiro und den Keyboarder Sebastian Berweck wird Koroliov auch im Juni für seinen HINTERHALT zu BORIS GODUNOW mitbringen, als weiterer Gast kommt DJ Illvibe [Vincent von Schlippenbach] hinzu. Soviel steht fest, als wir im Restaurant „Samowar“ nach dem Essen beim Tee sitzen. Zu klären wird sein, wer aus dem Ensemble der Deutschen Oper Berlin mit hinzukommt – das Konzept der Reihe AUS DEM HINTERHALT beinhaltet schließlich auch, sich nicht nur mit einem Werk des Opernrepertoires auseinanderzusetzen, sondern auch mit den Künstlern zu arbeiten, die dieses auf die Bühne bringen. Und es bleibt offen, wie wir die verschiedenen Eindrücke des Tages dramaturgisch umsetzen – als wir uns am Bahnhof „Charlottengrad“ trennen, um die Arbeit am Schreibtisch fortzusetzen …


Neele Hülcker denkt darüber nach, warum Komponieren und Spielen untrennbar zusammengehören.

© Jasmin Wolff

Mit kindlicher Neugier


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Musiktheater für die Jüngsten? Was bedeutet Musik für zwei Jahre alte Kinder? Was ist Theater für sie? Diesen Fragen gehen zwei Forschungslabore nach, die beauftragt vom Theater o.N. in Kooperation mit der Deutschen Oper Berlin von Januar bis März 2017 zusammenkommen. Composer/ Performer*in Neele Hülcker ist auch dabei und entwickelt im Team mit einer Geigerin und einem Puppenspieler musiktheatrale Skizzen für das jüngste Publikum. Die ersten Ideen werden vorgestellt beim Festival Fratz des Theaters o.N., mit dem die Deutsche Oper Berlin nach der Produktion KLEINES STÜCK HIMMEL zum zweiten Mal zusammenarbeitet. Wir verabreden uns mit Neele Hülcker auf einem Spielplatz in Neukölln – leider einer ohne Seilbahn, was das Lieblingsgerät von Neele Hülcker gewesen wäre.

… spielend und hörend zu denken. Mich selbst konzeptuell mit meiner Umwelt auseinander zu setzen und diese aus einer anderen ­Perspektive zu beobachten und beobachtbar zu machen. Komponieren heißt für mich, das Ungewohnte oder Unbekannte zu erkunden [aber nie damit fertig werden]. Komponieren heißt, überrascht zu werden. Versuchsan­ordnungen aufzubauen und zu bespielen. Rahmen zu setzen. Situationen zu schaffen, die auf unterschiedlichen Ebenen wahrnehmbar sind.

Komponieren für Kinder ist für mich … … eine schöne Herausforderung, für kleine Menschen zu spielen, die anders wahrnehmen und anders begeistert werden. Ich habe als Kind selbst viel gebastelt, mir im Keller, im Müll, von überall her, Dinge zusammengesucht und mit ihnen gespielt. Ich erkunde bis heute die Welt auf diese kindliche Art. Ich spiele und komponiere häufig mit Objekten, die ich finde, und benutze sie anders, als sie gedacht sind. Zum Beispiel hat mich einmal kompositorisch der Klang von Knisterkaugummis interessiert. Ich habe Spielzeugmäuse unter einer Perücke laufen lassen. Ich habe Gläser, Muscheln, Löffel in Bewegung gesetzt und sie zum Wackeln gebracht. Spielen und komponieren – das hat viel miteinander zu tun.

Ein Spielplatz ist für mich … … ein wunderbarer Ort, den ich als Musik- oder Klangspielplatz einmal gerne selbst gestalten würde.

© Jasmin Wolff

Komponieren ist für mich …

Neele Hülcker ist Composer-Performer*in und wurde 1987 in Hamburg geboren. Hülcker konzentriert sich auf Musik als anthropologische Forschung in Alltagsumgebungen, die Gestalt in Form von Situationen, Installationen, Performances, Aktionen oder Interventionen annimmt. Studium bei Dieter Mack, Harald Muenz, Manos Tsangaris und Franz Martin Olbrisch. Gemeinsam mit Stellan Veloce und Katie Lee Dunbar gründete Neele Hülcker den YouTube-Kanal „feminist ASMR" und den Kanal „ASMR studio berlin" [mit mam.manufaktur für aktuelle Musik]. Neele Hülcker tritt als ASMR artist Thousand Tingles auf und ist Teil der Agentur „ASMR yourself", die im HAU Berlin, PACT Zollverein, der Akademie der Künste Berlin und den Münchner Kammerspielen zu Gast war. Neele Hülckers Kompositionen wurden u.  a . vom ensemble ascolta, Ensemble Garage, MOCREP, mam.manufaktur für aktuelle Musik und dem Decoder Ensemble auf Festivals wie Wittener Tage für neue Kammermusik, Wien Modern, London Contemporary Music Festival, Münchener Biennale, soundacts festival Athens und den Darmstädter Ferien­ kursen aufgeführt.

FRATZ International vom 10. – 15. März in Berlin Seit 2013 veranstaltet das Theater o.N. in Berlin FRATZ International, ein Festival, Symposium und Kita-Begegnungsprogramm für die jüngsten Zuschauer. Der Fokus liegt auf den darstellenden Künsten mit einem besonderen A ­ ugenmerk auf der Erforschung und Präsentation experimenteller und hybrider Formen zwischen Theater, Tanz, Musik und ­Bildender Kunst. FRATZ 2017 legt einen Schwerpunkt auf das Musiktheater für die Jüngsten und setzt hierin die Zusammenarbeit mit der Deutschen Oper Berlin fort, die mit der Koproduktion KLEINES STÜCK HIMMEL für Kinder ab 2 Jahren 2016 begann.

Neben diesem Auftragswerk werden ZWEIEINANDER, eine von zwei Instrumentalisten entwickelte Performance vom Staatstheater Mainz und dem Ensemble LebiDerya sowie die partizipative musikalische Installation CABAN des Theater de Spiegel aus Belgien ­gezeigt. Zwei weitere Inszenierungen arbeiten ausschließlich mit der Stimme als Ausdrucksform: die Solo-Perfor­mance „Icilà“ von Benoit Sicat aus Frankreich sowie „Affinity“, die neue Arbeit von Alfredo Zinola mit dem Ensemble des Theater o.N.. www.fratz-festival.de


Blick zurück nach vorn

Alexander Muno, geboren 1979 in Saarburg, studierte Komposition bei Theo Brandmüller und Heinz Winbeck; seit 2008 lebt er als freischaffender Komponist in Berlin. Bisher entstanden zwei abendfüllende Opern [zuletzt SOGNO D’UN MATTINO DI PRIMAVERA für das Landestheater Detmold], Orchesterwerke [u. a. ein Violinkonzert], Kammermusik und Liederzyklen. Er wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, darunter der Bayerische Kunstförderpreis und der Förderpreis der Ernst von Siemens Musikstiftung.

© Kurt Heuvens

Alexander Muno schreibt ein neues Werk für die Tischlereikonzerte.


Als vor einigen Monaten IL SOGNO DI UNA NOTTE DI PRIMAVERA, die neue Oper von Alexander Muno nach einem Drama des italienischen Symbolisten Gabriele d’Annunzio, am Landestheater Detmold uraufgeführt wurde, reagierten die angereisten Kritiker deutlich verunsichert. Sicher, man musste zugeben, dass das alles eindrucksvoll klang und dass dieser junge Komponist den Opernapparat auf virtuose Weise zu nutzen verstand. Aber sollte das nun eine moderne Oper für das 21. Jahrhundert sein? Müsste ein 37-Jähriger heute nicht viel eher Musik schreiben, die widerborstiger, irgendwie moderner klingt, statt sich mit offenen Ohren der Vergangenheit zuzuwenden und eine klassische Literaturoper vorzulegen? Oder könnte vielleicht doch ein klarsichtiger Blick zurück die selbstbewusste Antwort auf die oft hermetische Klangsprache der Avantgarde sein? Die Kompositionen, die Alexander Muno in den letzten Jahren geschrieben hat, machen jedenfalls klar, dass die Bezugnahme auf große „Vorbilder“ bei ihm System hat: Seine eigene Sprache hat er nicht aus dem Nichts herausgefunden, sondern durch die Auseinandersetzung mit der Tradition. So wie es auch beispielsweise Hans Werner Henze oder Aribert Reimann in den fünfziger und sechziger Jahren getan haben – gerade Reimann, gibt Muno zu, sei in seiner Unbeirrbarkeit ein Vorbild für ihn gewesen. Und wie bei Reimann umfasst dieser Horizont auch bei Muno nicht nur die Musik, sondern ebenso stark die Literatur. Das merkt man im Wohn- und Arbeitszimmer seiner Weddinger Hinterhauswohnung schon auf den ersten Blick: Neben dem Klavier stapeln sich Partituren und Klavierauszüge von Werken wie TRISTAN, SALOME, DAPHNIS und PELLEAS, und die Billy-Regale scheinen unter der Last der Bücher schier zusammenzubrechen, während ein leerer Haufen Amazon-Kartonagen verrät, dass diese Sammlung stetig erweitert wird. Die Ratlosigkeit der Kritiker angesichts seiner Oper habe er für sich eher als Bestätigung

gewertet, sagt Muno gelassen. Schließlich habe es ihn ja gerade gereizt zu sehen, was passieren würde, wenn er sich die alten Pathos-Maschinen der Oper zu eigen machen würde, erklärt er. „Und außerdem greife ich einfach gern in die große Kiste: Emphase und starke Gefühle gehören für mich bei Oper einfach dazu.“ Schon im Klavierunterricht als Jugendlicher habe er viel lieber Klavierauszüge aus Opern und Oratorien gespielt, statt sich an virtuosen Etüden abzurackern, erzählt er. Und die Technik, Musik von Wagner bis Messiaen zunächst gründlich zu inhalieren, ja sogar zu imitieren, um dann zu entscheiden, was davon für ihn selbst passt, ist sicher kein schlechter Weg, um die Wirkungsmechanismen von Musik zu verstehen – zumal, wenn das spielerische Ausprobieren verschiedenster Stile auch solche Avantgardisten wie Helmut Lachenmann einschließt. Eine Strategie nicht des radikalen Bruchs, sondern der persönlichen Weiterentwicklung anhand divergierender Orientierungspunkte. „Ich setze Instrumente zunächst erstmal im Rahmen ihrer traditionellen Spieltechniken ein und schaue dann, was sich für mich daraus machen lässt“, erläutert Muno – was heißt, dass beim Klavier erstmal die schwarzen und weißen Tasten bedient werden und Sänger auch kantable Linien singen dürfen. Eine beachtliche Liste von Werken, neben Opern auch Orchesterstücke, Kammermusik und Lieder, hat Muno bislang geschrieben und kann auf eine recht eindrucksvolle Reihe von Stipendien, Preisen und Aufträgen zurückblicken. Für das Tischlereikonzert im April ist nun ein neuer Auftrag dazugekommen. Kann gut sein, dass es ein Quintett für Harfe, Flöte und Streicher wird, eine ganze Menge Ideen für dieses Stück hat Muno schon mit Bleistift in seinem Skizzenbuch festgehalten. „Das Thema des Konzerts – ,Geistermusik‘ – hat mich gleich zu

Anfang gereizt. Denn was ist Kunst schließlich anderes als Kommunikation unter Geistern?“ Viele seiner Stücke hätten deshalb auch den Charakter einer Hommage, erläutert er, und mit August von Platen, dem lange Verkannten unter den Lyrikern der deutschen Romantik, hat er sich auch schon einen großen Geist ausgesucht, mit dem er in dem neuen Stück kommunizieren will. Jörg Königsdorf

Die Tischlereikonzerte März bis Juli 2017 4. Tischlereikonzert: Thomas Manns „Doktor Faustus“ Werke von Mahler, Webern, Schubert, Beethoven 13. März 2017

5. Tischlereikonzert: „Geistermusik“ Werke von Alexander Muno, Beethoven, Schubert u. a. 24. April 2017 [Foyer]

6. Tischlereikonzert: Das mächtige Häuflein Akademistenkonzert. Werke von Rimskij-Korsakow, Balakirew, Borodin u. a. 29. Mai 2017 [Foyer]

Mit Orchestermusikern der Deutschen Oper Berlin

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Denn was ist Kunst schließlich anderes als Kommunikation unter Geistern?

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Geisterstunde in der Tischlerei: Der Begegnung mit dem Übersinnlichen ist das fünfte Tischlereikonzert gewidmet. In ihrer spiritistisch-kammermusikalischen Sitzung beschwören die Musiker des Orchesters der Deutschen Oper Berlin nicht nur die Geister von Komponisten wie Beethoven, Saint-Saëns und André Caplet, sondern haben den jungen Berliner Komponisten Alexander Muno eingeladen, den Dialog mit einem großen Geist aufzunehmen: August von Platen, der große Außenseiter unter den deutschen Dichtern der klassisch-romantischen Ära, ist geistiger Widmungsträger des neuen Kammermusikwerks, das an diesem Abend seine Uraufführung erleben wird. Chefdramaturg Jörg Königsdorf traf Alexander Muno in dessen Weddinger Wohnung.


Expedition ins Unbewusste


Beim Winter ferien- Musiklabor „Was träumst Du?“ forschen 50 Kinder und Jugendliche gemeinsam mit fünf Laborleitern nach Klängen und Geräuschen – und nach ihren Träumen. Tamara Schmidt traf den Instrumentenbauer Stefan Roszak, einer der fünf Künstler des Projekts, und die Psy­ chiaterin und Schlafmedizinerin Christiane Hirn im Schlaflabor der Klinik für Schlaf­ medizin des St. Hedwig-Krankenhaus ­B erlin. Ein Gespräch über Nachtträume, Tagträume, Albträume und Lebensträume. Tamara Schmidt Wir befinden uns hier in einem Patientenzimmer des Schlaflabors. Ich hatte mir ein Labor nüchterner vorgestellt. Christiane Hirn Zu uns kommen Patienten wegen unterschiedlicher Schlafstörungen. Daher ist es wichtig, dass der Patient zur Ruhe kommen kann. Erst nach einer Gewöhnungsnacht schauen wir uns in zwei Diagnostik­ nächten den Schlaf an. Der Patient bekommt Elektroden an den Kopf und ins Gesicht, zur Aufzeichnung der Gehirnströme, der Augenbewegungen und der Spannung der Kinn­ muskulatur. Außerdem bekommt der Patient ein Schnarchmikro an den Hals, Gurte an Brust und Bauch, einen Nasensensor und Elektroden an die Beine, um Beinbewegungen festzustellen. Eine Infrarotkamera filmt den Patienten. Tamara Schmidt Was wird gemessen? Christiane Hirn Anhand der Hirnströme können wir verschiedene Schlafstadien bestimmen: die Einschlafphase, den leichten Schlaf und den Tiefschlaf. Und wir sehen den REMSchlaf, typisch sind hier die schnellen Augenbewegungen. Außer ein paar Zuckungen der Beine kann man sich grundsätzlich im Schlaf nicht bewegen – eine wichtige Funktion, weil es sonst zum Ausleben von Trauminhalten kommen würde. Wir nennen den REM-Schlaf auch Traumschlaf, obwohl wir mittlerweile ­wissen, dass Träume auch in den anderen Schlaf­ stadien stattfinden. Tamara Schmidt Hängen die Augenbewegungen im REM-Schlaf mit Trauminhalten zusammen? Christiane Hirn Man hat bisher nur Hinweise gefunden: Wenn man zum Beispiel träumt, dass man etwas still Stehendes anschaut, sind die Bewegungen geringer als wenn man träumt, dass man rennt. Wie oder was der Patient genau träumt, können wir aus dem Schlafprofil nicht ablesen.

Stefan Roszak ist Musikpädagoge und Instrumentenbauer. Der gelernte Klavierbauer studierte Musikwissenschaft, Philosophie, Kunstgeschichte und Schulmusik in Bochum und Berlin. Von 2005 bis 2013 arbeitete er als Wissenschaftlicher Mitarbeiter für Ästhetische Erziehung an der UdK Berlin. Heute ist er als Musikvermittler mit den Schwerpunkten experimentelle Musik und Instrumentenbau, auditive Wahrnehmungsförderung, Improvisation und Kompositionspädagogik tätig. Christiane Hirn studierte Humanmedizin in Berlin und Innsbruck. Nach ihrer Facharztausbildung und langjähriger Tätigkeit als Schlafmedizinerin an der Universitätsklinik für Psychiatrie Regensburg arbeitete sie als Fachärztin an der Schmerzklinik Basel. Seit 2014 ist sie als Psychiaterin an der Klinik für Schlaf- und Chronomedizin des St. Hedwig-Krankenhaus Berlin tätig. In der Ambulanz für Schlafstörungen und im Schlaflabor ist sie überwiegend klinisch tätig in der Patientenversorgung.

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Ein Besuch im Schlaflabor des St. HedwigKranken­hauses mit dem Instrumentenbauer Stefan Roszak.


Wenn etwas ein Geräusch macht, kann man darauf spielen. Kurt Heuvens [Ostkreuzschule für Fotografie]

Tamara Schmidt Warum träumen wir überhaupt? Christiane Hirn Es gibt nur Hypothesen. Vielleicht ist es eine emotionale Reinigung, vielleicht ein Blick ins Unbewusste oder ein Mittel, um Platz für Neues zu schaffen. Beim REMSchlaf glaubt man, dass er vor allem das emotionale Gedächtnis stärkt. Meine persönliche Hypothese ist, dass man im Traum Varianten seines Alltagserlebens gestaltet. Tamara Schmidt Traum, also im weitesten Sinn Fantasie, scheint in erster Linie einen Selbstzweck zu haben. Wie klingen für dich Träume – Tagträume, Lebensträume, Nachtträume? Stefan Roszak Arhythmisch, mit flächigen, ­o rgelpunktartigen Grundtönen auf langen ­S aiten, und metallische Klänge, die sich darüber setzen. Meine Tagtraum-Musik ist nicht narrativ, sondern zufällig und sinnlos. Albtraum hingegen hat tiefe Basstöne, mit geräuschhaften Klängen wie das Reiben eines Gummiballs auf einer Trommel. Ich kann mich allerdings oft monatelang an keinen Nachttraum erinnern. Träumt man denn jede Nacht? Christiane Hirn Jeder Mensch träumt jede Nacht. Nur die Erinnerung ist bei jedem anders. Der Durchschnitt erinnert sich ein- bis zweimal die Woche. Während des Traumschlafs sind andere Areale im Gehirn aktiviert als im Wachen. Auf diesen Inhalt kann man außerhalb des Traumschlafs nicht zugreifen. Aber man kann das Erinnern trainieren, zum Beispiel, indem man den Traum nach dem Aufwachen sofort aufschreibt. Die Erinnerung kann aber auch vom Schlaf abhängen: Man kann sich gut erinnern, wenn man direkt aus einem Traum aufwacht. Tamara Schmidt Stefan, was würdest du gerne mal träumen?

Stefan Roszak Ich würde gerne mal von einem Engel träumen und dass er mir etwas erzählt, mir den Weg weist. Oder mit einer packenden Melodie im Ohr aufwachen, die mich nicht mehr loslässt. Tamara Schmidt Kann man beeinflussen, was man träumt? Christiane Hirn Es ist noch ein großes Forschungsgebiet. Das im Wachen Erlebte bestimmt die Trauminhalte und Reize können in den Traum eingebaut werden. Die Situation, die fast jeder kennt: Man baut das Weckerklingeln in den Traum ein. Träume haben auch Einfluss auf die Befindlichkeit und umgekehrt: Nach einem schlimmen Traum beginnt der Tag nicht so gut wie nach einem schönen Traum und es gibt Studien darüber, dass Depressive negativer träumen als gesunde Menschen. Ein Tipp für schöne Träume ist also, dass es einem im Leben gut geht.

Stefan Roszak Ich erlebe Träume als Filme, keine linear erzählten, aber mit starken visuellen Bildern. Aber kann man auch Klänge träumen? Richard Wagner soll beim Schlafwandeln Inspiration erfahren haben. Oder Paul McCartney soll „Yesterday“ geträumt haben. Ich selbst bin Musiker, aber ich habe noch nie eine Melodie geträumt. Christiane Hirn Der Großteil im Traum sind visuelle Eindrücke, es gibt aber auch auditive. Laut einer neuen Studie träumen Musiker doppelt so viel Musik wie Nichtmusiker. Man kennt das Phänomen auch von Malern oder Filmemachern, selbst bei Wissenschaftlern wird davon gesprochen. Man kann es halt nur nicht belegen. Tamara Schmidt Folgen Träume einer Logik? Oder herrscht Anarchie im Kopf? Christiane Hirn Naja, je nachdem. Es gibt


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unterschiedliche Traumformen: relativ realistische, die einen Großteil der Träume ausmachen, und bizarre, in denen man fliegt oder irgendwelche Fantasiegestalten auftauchen. Und es gibt bizarre Elemente in realistischen Träumen. Das ist allerdings keine wissenschaftliche Einteilung. Dafür bräuchte man objektivierbare Skalen, mit denen man sie bewerten kann. Deshalb ist die Traumforschung relativ schwierig. Auch wenn es keine Logik des Traumes gibt, erkennt man konstante Elemente: 90 Prozent träumen Ich-Träume. Tamara Schmidt Stefan, wie wirst du dich im Winterferien-Musiklabor diesem komplexen Thema nähern? Stefan Roszak Ich möchte zuerst erfahren, welche Träume und Traumvorstellungen die Teilnehmer haben. Dann werden wir Bilder in Klänge transformieren. Im Laufe der Projektwoche bauen wir eine Klangskulptur, mit der wir experimentieren und am Ende komponieren. Tamara Schmidt Du arbeitest häufig mit Alltagsobjekten, die man anfassen und zum Schwingen bringen muss, damit sie klingen. Welche Materialien wirst du beim Thema „Traum“ einsetzen? Stefan Roszak Ich denke zum Beispiel an Glasscherben. Glas ist fragil, zerbrechlich, jenseitig – Spiegelung und Reflektionen sind nicht greifbar. Ich bin gespannt, ob die Kinder und Jugendlichen, mit denen ich arbeite, ähnliche Klangvorstellungen haben wie ich. Tamara Schmidt Träumen Kinder und Erwachsene denn unterschiedlich? Christiane Hirn Der Unterschied bei Albträumen ist interessant: Erwachsene erzählen von Existenzängsten, Kinder fürchten Bilder oder Figuren. Egal in welchem Alter: Der Bezug zum Wachzustand ist das Entscheidende.

Stefan Roszak Bei mir werden die Träume im Alter immer konkreter und im Vergleich zu früher bin ich ein Tagträumer geworden, der die Stille sucht, Zustände der Kontemplation. Ich kann mich an Orten der größten Unruhe in diesen Zustand versetzen, die Augen schließen, alles Äußere ausblenden. Tamara Schmidt Gibt es einen Zusammenhang zwischen Tag- und Nachttraum? Christiane Hirn Der Tagtraum findet im Wachzustand statt, ist also ein Abschweifen von der Realität. Das „Klarträumen“ oder „luzide Träumen“ ist eine besondere Form des Nachttraums: Der Träumende ist sich des Träumens bewusst und kann die Träume gestalten. Viele

streben das an, weil sie dann tolle Sachen im Traum machen können. Diese Technik muss man richtig erlernen. Stefan Roszak Meine Tagträume sind sehr diffus. Wenn ich mich zurückziehe, versuche ich traumhafte Fetzen, Schockzustände, Flash­ backs zuzulassen, aber nicht festhalten. Es sind Wahrnehmungen der Umgebung, Visionen in die Zukunft, Erinnerungen aus der Vergangenheit. Zum Beispiel erinnere ich mich an eine Person, der ich vor vielen Jahren zum letzten Mal begegnet bin. Sie blitzt auf und verblasst schnell wieder. Dann fand eine Zufallsverkettung statt. Scheinbar Zusammenhangsloses ergibt aufregend Neues!

„Was träumst Du?“ Winterferien-Musiklabor der Jungen Deutschen Oper mit 50 Teilnehmern zwischen 9 und 14 Jahren in den Winterferien 2017 Laborleiter: Bernadette La Hengst, Johannes Müller, Kati Obermann, Stefan Roszak, Ute Wassermann Projektleitung: Tamara Schmidt Abschlusspräsentation: Radio-Show „Träum weiter!“ am 5. Februar 2017 in der Tischlerei Die Radio-Show „Träum weiter!“ wird am 26. Februar 2017 zwischen 8.05 und 9.00 Uhr bei Kakadu – der Kindersendung von Deutschlandradio Kultur [89.6 UKW] – gesendet.


Alles auf einen Blick DIDO

Dido

Jazz & Lyrics

© Eike Walkenhorst

Purcells Meisterwerk reloaded von Michael Hirsch und Henry Purcell Die Klage der von ihrem Geliebten Aeneas verlassenen Dido ist seit der Antike einer der beliebtesten Stoffe in Literatur, Bildender Kunst und Oper. Der Berliner Komponist Michael Hirsch überschreibt Purcells berühmte Oper. Regisseur Martin Berger führt das Publikum direkt in die Gedankenwelt der verlassenen Dido und lädt ein, in der Tischlerei mit bequemen Matten auf dem Fußboden Oper ganz anders zu erleben. 28., 31. Januar; 6., 7., 9., 10., 11. Februar 2017

TISCHLEREIKONZERTE Mit dem Orchester in die Tischlerei Von den Musikern selbst zusammengestellte und moderierte Programme. 30. Januar; 13. März; 24. April [Foyer]; 29. Mai 2017 [Foyer]

„TRÄUM WEITER!“ Radio-Show ab 8 Jahren 50 Kinder und Jugendliche zeigen die Ergebnisse ihres Winter­ferienMusiklabors „Was träumst du?“ in einer Radio-Show. 5. Februar 2017

JAZZ & LYRICS © Georg Roither

Jazz-Konzerte mit Musik und Poesie Außergewöhnliche Programme verspricht die Reihe Jazz & Lyrics mit Gästen und Musikern der Deutschen Oper Berlin. Meet & Greet in der anschließenden Artists’ Lounge. 12. Februar; 1. Mai; 3. Juli 2017

AUS DEM HINTERHALT

Aus dem Hinterhalt

Late-Night-Performances zur Großen Oper Im Februar, Mai und Juni u. a. mit Matthew Herbert [zu TOD IN ­VENEDIG], Caspar Brötzmann / Christoph Coburger [zu DER ­FLIEGENDE HOLLÄNDER] und Andrej Koroliov [zu BORIS ­GODUNOW], sowie mit Sängern und Musikern der Deutschen Oper Berlin. 25. Februar; 6. Mai; 24. Juni 2017

Begegnungen – Symposium – Festival für die Jüngsten Das Festival zeigt herrausragende Produktionen für die Jüngsten an sechs Spielorten in Berlin, u. a. in der Tischlerei [KLEINES STÜCK HIMMEL, CABAN]. Programm, Akkreditierung und Tickets: www.fratz-festival.de 10. – 15. März 2017

© Eike Walkenhorst

FRATZ-FESTIVAL


31 30

Das Tischlerei-Programm bis Juli 2017

© Eike Walkenhorst

Kleines Stück Himmel

KLEINES STÜCK HIMMEL

Neue Szenen II

Musiktheater ab 2 Jahren von Ania Michaelis und Nuria Nuñez Hierro Im Zentrum des 30-minütigen Musiktheaters für unser jüngstes Publikum steht das Spiel mit Klängen, Worten, Bewegung und gesungenen Tönen. Mit einem Sänger, einem Musiker, einer Schauspielerin. Nominiert für den IKARUS-Preis 2016. 9., 10., 11., 12., 14., 15., 16. März 2017

TRYOUT: DANCE\\\RUPTION Choreografen-Labor des Staatsballetts Berlin Im choreografischen Labor „DANCE\\\RUPTION“ werden ausgewählte Tänzerinnen und Tänzern des Staatsballetts Berlin zu Choreografen und erarbeiten mit ihren Kollegen eigene Werke. 4., 5. März 2017

NEUE SZENEN III „Die Durchbohrung der Welt“ – Ein Opern-Triptychon Die drei Gewinner des Kompositionswettbewerbs NEUE SZENEN III stellen sich mit drei Musiktheaterwerken vor. Ausgangspunkt für die Stofffindung ist die Legendenbildung um die Tiefenbohrungen auf der russischen Halbinsel Kola, in der die Rede davon ist, dass die Hölle angebohrt worden sei. 28., 29. April; 8., 9. Mai 2017

Abschluss-Präsentationen des Kinder- und Jugendclubs Eine Spielzeit lang wird in den Clubs experimentiert, recherchiert, gesungen, gespielt und ein Musiktheaterstück entwickelt. Nun wird alles aufgeführt. Präsentation [Kinderclub]: 1., 2. Juli 2017 „Innenseiter“ [Jugendclub]: 1., 2. Juli 2017

Das komplette Programm unter www.deutscheoperberlin.de

© Thomas Aurin

CLUBAUFFÜHRUNGEN


Deutsche Oper Berlin Bismarckstraße 35 10627 Berlin Tischlerei Richard-Wagner-Straße / Ecke Zillestraße 10585 Berlin Karten und Infos +49 [30]-343 84 343 www.deutscheoperberlin.de Immer gut informiert!


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