Matisse kommt mir vor wie vom Himmel
Hans Purrmann, Karl Ernst Osthaus, Henri Matisse
Der Briefwechsel 1907–1919
Herausgegeben und bearbeitet von Rainer Stamm und Gloria Köpnick
Eine Publikation des Hans Purrmann Archivs, München
Diese Publikation wurde gefördert von:
Die Herausgeber und das Hans Purrmann Archiv danken für die großzügige Unterstützung.
Erbengemeinschaft nach Dr. Robert Purrmann Hans Purrmann Archiv, München
Inhalt
6 Grußwort ‒ Hans Purrmann Archiv
8 Mot de bienvenue – Archives Henri Matisse
9 Grußwort – Archives Henri Matisse
13 Einführung
26 Editorische Hinweise
27 Dank
Briefe und Dokumente
29 Zu den ersten Erwerbungen durch Karl Ernst Osthaus
68 Ein vergessener Schüler der Académie Matisse: Carl Emil Uphoff
71 Interesse für Purrmanns Werke
73 Die Aufträge für Glasfenster und Mosaiken
85 La fenêtre bleue – die letzte Erwerbung
97 Die Fortsetzung des Briefwechsels zwischen Hans Purrmann und Karl Ernst Osthaus 1917 bis 1919
116 Verwendete und weiterführende Literatur
118 Register
120 Impressum
Grußwort ‒ Hans Purrmann Archiv
Dievorliegende Edition erweitert anhand neu aufgefundener Briefe die Kenntnisse über die Beziehung Hans Purrmanns zum Sammler und Mäzen Karl Ernst Osthaus, ebenso wie zu dessen Mentor und Freund, dem französischen Maler Henri Matisse. Daher der titelgebende Ausruf von Purrmann in einem Brief an Osthaus 1908: »Matisse kommt mir vor wie vom Himmel«. Die Publikation vertieft die Einsichten in das Paris von der Jahrhundertwende bis zum Ersten Weltkrieg, in die Verhältnisse innerhalb des Zirkels um Matisse, insbesondere der von Purrmann mitbegründeten Académie Matisse (1908‒1910), sowie in die moderne Sammlungsgeschichte. Die Korrespondenz beleuchtet zudem Purrmanns selbstlosen Einsatz für den damals in Deutschland noch kaum bekannten Fauvisten Matisse, welcher dem Berliner Kunsthändler Paul Cassirer ein Ärgernis war: »Ich habe […] ein derartiges Managertum noch nicht erlebt«, beschwerte sich dieser 1909. Neben der Tatsache, dass Osthaus ein potenter Sammler der Avantgarde war, der zudem seine Vision eines modernen Museums 1902 in Hagen verwirklichte, wird auch das Faktum magisch gewirkt haben, dass er den Urvater der Moderne, Paul Cézanne, in Aix-en-Provence besuchen und einen persönlichen Zugang zu dem als schwierig geltenden Maler finden konnte. Davon zeugt eine inzwischen legendäre Fotografie, welche Gertrud Osthaus im April 1906, ein halbes Jahr vor dem Tod des betagten Meisters, vor dessen Ateliertür machte (2005 erstmals von Rainer Stamm publiziert). Möglicherweise nicht zufällig setzt die erhaltene Korrespondenz während der großen Cézanne-Retrospektive ein, die im Herbst 1907 im Rahmen des Pariser Salon d’Automne stattfand, wo auch Bilder von Matisse ausgestellt waren. Der Briefwechsel legt nahe, dass Purrmann Osthaus zu seinem ersten Ankauf eines Gemäldes von Matisse angeregt haben könnte. Um Bilder Purrmanns, wie nun ebenfalls aus dem Briefwechsel hervorgeht, bemühte sich der Sammler in den Jahren 1917 bis 1919 vergeblich.
Die Edition erweitert wiederum die Quellenbasis zu Hans Purrmanns Leben und Werk. Eine erste Sammlung von Texten und Briefauszügen des
Malers wurde 1961 von Barbara und Erhard Göpel veröffentlicht. Es folgten in der vom Hans Purrmann Archiv begründeten Reihe »Edition Purrmann Briefe« der Briefwechsel mit dem Schriftsteller Hermann Hesse (2011), mit dem Jugendfreund und Dichter Wilhelm Wittmann (2013), mit Purrmanns Ehefrau, der Malerin Mathilde Vollmoeller (zwei Bände, 2019/2020), mit dem bedeutenden Berliner Kunstkritiker Karl Scheffler (2021) sowie zuletzt mit dem pfälzischen Kulturpolitiker Willibald Gänger (2022).
Für den nun siebten Band der »Edition Purrmann Briefe« ist an erster Stelle den Autoren Rainer Stamm und Gloria Köpnick zu danken. Nach mehrjähriger Forschungsarbeit haben sie unsere Archiv-Reihe mit einer herausragenden Edition bereichert. Die Publikation scheint gleichsam aus ihrer 2022 erschienenen Biografie Karl Ernst und Gertrud Osthaus. Die Gründer des Folkwang-Museums und ihre Welt erwachsen zu sein und fußt ferner auf ihren zahlreichen weiteren Veröffentlichungen zum Hagener Museumsgründer sowie zur Kunst der Moderne.
Das Hans Purrmann Archiv ist darüber hinaus den Nachkommen des Künstlers für ihre Unterstützung dieser Publikation zu großem Dank verpflichtet, insbesondere der Hans Purrmann Stiftung unter dem Vorsitz von Regina Hesselberger-Purrmann sowie der Erbengemeinschaft nach Dr. Robert Purrmann. Der Rudolf-August Oetker-Stiftung in Bielefeld und ihrer Vorständin Birgit Sander ist für die erneute großzügige Förderung Dank zu sagen, die die Drucklegung erst ermöglicht hat. In diesem Sinne sei ebenfalls der Kulturstiftung Speyer und ihrem Vorsitzenden Peter Eichhorn für ihre Unterstützung gedankt. Ein besonderer Dank gilt Pablo Schneider und Imke Wartenberg vom Deutschen Kunstverlag sowie Rudolf Winterstein und Edgar Endl für ihre engagierte Begleitung der Buchproduktion.
Auch dieser neue Band der »Edition Purrmann Briefe« ist das Ergebnis einer fruchtbaren Kooperation externer Partner mit dem Hans Purrmann Archiv, hier nicht zuletzt der Archives Henri Matisse in Issy-les-Moulineaux, wofür wir Barbara Duthuit und Georges Matisse sowie Anne Théry zu besonderem Dank verpflichtet sind. Wir freuen uns auf die offizielle Buchpräsentation im Frühjahr 2024 und sind dankbar, diese in der Münchner Pinakothek der Moderne veranstalten zu können.
Felix Billeter und Julie Kennedy, Hans Purrmann Archiv München, im Dezember 2023
Mot de bienvenue – Archives Henri Matisse
Letravail des auteurs – Rainer Stamm et Gloria Köpnick – est ici à saluer. En mettant au jour des lettres inédites et en réunissant des correspondances dispersées, ils recomposent cette mosaïque que forment, dans l’histoire de l’art du XXe siècle, Hans Purrmann, Karl Ernst Osthaus et Henri Matisse.
À propos de Matisse, tout particulièrement, l’apport de cette édition est déterminant : elle fournit de nouveaux éléments pour comprendre la relation de l’artiste à son collectionneur, Osthaus, et documente de manière inédite le rôle de son ami et élève, Purrmann, notamment dans les acquisitions effectuées grâce à son intermédiaire. À travers ces éclairages individuels, c’est toute la réception de Matisse en Allemagne qui se trouve enrichie.
Cette correspondance polyphonique a également permis d’identifier des œuvres de Matisse, présentées au Salon d’Automne de 1907, puis acquises par Osthaus avant d’être exposées au Folkwang-Museum en 1909. La description de « 4 plaques» réalisées par Matisse et représentant des femmes entourées de fleurs, faite par Purrmann dans une lettre à Osthaus en date du 8 janvier 1908, entre en résonance avec quatre photographies de carreaux de céramique conservées par les Archives Henri Matisse, pour lesquelles nous ne disposions jusqu’alors d’aucune indication. Cette découverte est un exemple de la manière dont la recherche peut avancer grâce à des échanges incessants aussi bien entre fonds d’archives qu’entre chercheurs et archives.
Nous remercions ici vivement les archives Hans Purrmann dont les ressources, le professionnalisme et la générosité sont un soutien constant, et formons nos meilleurs vœux pour que cette collaboration fructueuse se poursuive à l’avenir.
Archives Henri Matisse
Issy-les-Moulineaux, décembre 2023
Grußwort – Archives Henri Matisse
Zunächst möchten wir Rainer Stamm und Gloria Köpnick, die Herausgeber dieses Buches, zu ihrer gelungenen Arbeit beglückwünschen. Durch die erstmalige Veröffentlichung der bislang verstreuten und nun erstmals wieder vereinten Korrespondenz zwischen Hans Purrmann, Karl Ernst Osthaus und Henri Matisse fügen sie ein interessantes Mosaik der Kunstgeschichte des 20. Jahrhunderts zusammen.
Was Matisse betrifft, so liefert dieses Buch wichtige neue Erkenntnisse. Neue Entdeckungen beleuchten einerseits die Beziehung des Künstlers zum Sammler Osthaus, andererseits die Rolle seines Freundes und Schülers Purrmann als Vermittler bei den getätigten Kunstankäufen. Die Ergebnisse dieser Recherchearbeit eröffnen eine neue Perspektive auf die Rezeption von Matisse in Deutschland.
Dank dieser mehrstimmigen Korrespondenz konnten Werke identifiziert werden, die 1907 im Pariser Salon d’Automne erstmalig gezeigt, anschließend von Osthaus erworben und 1909 im Folkwang-Museum ausgestellt wurden. Dabei handelt es sich um »4 Platten« des Künstlers, welche Frauen und Blumen darstellen und in einem Brief Purrmanns an Osthaus vom 8. Januar 1908 beschrieben werden. Bei den »Platten« handelt es sich eigentlich um Keramikfliesen. Sie sind auf vier Fotografien abgebildet, die sich im Bestand der Archives Henri Matisse befinden und über die bisher keine Informationen existierten. Diese Entdeckung illustriert beispielhaft, wie sehr die Forschung vom regen Austausch sowohl über Archivbestände als auch zwischen einzelnen Wissenschaftlern und Archiven profitieren kann.
Ganz herzlich bedanken wir uns beim Hans Purrmann Archiv, das uns mit seinen Ressourcen, seiner Professionalität und seiner Großzügigkeit stets unterstützt. Zugleich freuen wir uns auf die Fortsetzung dieser fruchtbaren Zusammenarbeit.
Archives Henri Matisse Issy-les-Moulineaux, im Dezember 2023Einführung
Hans Purrmann, Karl Ernst Osthaus, Henri MatisseDer Briefwechsel
Am 21. Oktober 1907 erwarb der Industriellensohn und Kunstsammler Karl Ernst Osthaus (1874–1921), der 1902 im westfälischen Hagen mit dem Folkwang-Museum sein eigenes Museum eröffnet hatte, sein erstes Gemälde von Henri Matisse (1869–1954). Zwei Jahre zuvor, mit seiner Beteiligung am Pariser Herbstsalon 1905, hatte der französische Maler von sich reden gemacht: Damals hatten sein Porträt Frau mit Hut (1905) und seine im südfranzösischen Collioure entstandenen Landschaften für Aufregung gesorgt. Die in groben Pinselstrichen und reinen Farben ausgeführten Bilder von Matisse und seinen Malerfreunden Maurice de Vlaminck und André
Derain sollten einem neuen Stil seinen Namen geben. Der Kritiker Louis Vauxcelles hatte den Kontrast zwischen der Arglosigkeit der ausgestellten Skulpturen (von Albert Marque und Aristide Maillol) und der schreienden Farbigkeit der Bilder von Matisse und seinen Weggefährten mit der Aufstellung eines Werks von Donatello in einem Käfig wilder Tiere (»chez les fauves«) verglichen. Die Bezeichnung »Les Fauves« wurde seither zum Inbegriff der wilden, expressiven Malerei in Frankreich.
Für die führenden Händler und Sammler moderner Kunst in Paris galt Matisse seither als eines der vielversprechendsten Talente unter den zeitgenössischen Künstlern. Galeristen wie Eugène Druet, Ambroise Vollard und Félix Fénéon, der künstlerische Leiter der Galerie Bernheim-Jeune, begannen, um die neuesten Werke des Künstlers zu konkurrieren. Zugleich überraschte Matisse mit immer neuen Wendungen und Wandlungen seiner Kunst: Hatte er 1905 durch seine ›wilde Malerei‹ den Pointillismus überwunden, so begann er mit seinem im Frühjahr 1907 im Salon des Indépendants ausgestellten Gemälde Blauer Akt: Erinnerung an Biskra (1907, Abb. 1), das sogleich von den amerikanischen Geschwistern Leo und Gertrude Stein erworben wurde, bereits den Fauvismus hinter sich zu lassen.
Wer sich in Paris 1907 für das aktuellste Kunstgeschehen interessierte, kam an Matisse somit nicht mehr vorbei. Dem deutschen Maler Hans Purrmann (1880–1966) wie dem Sammler Karl Ernst Osthaus muss es so ergangen sein: Purrmann, der seit 1897, unter anderem bei Franz von Stuck, an der Akademie der Bildenden Künste, in München studiert und hier Künstler wie Albert Weisgerber, Paul Klee und Wassily Kandinsky kennengelernt hatte, war zum Herbstsalon 1905 erstmals nach Paris gekommen und hier, im Künstlerkreis des Café du Dôme und durch die Begegnung mit den Sammlern Sarah und Michael Stein, in den Bann von Matisse geraten, mit dem er sich eng befreundete: »Der stärkste der jungen französischen Maler Henri Matisse, mein bester Freund, gab mir Anregungen, die mir alle Zeit und Gedanken wegnehmen und mich in meiner Kraft förmlich umdrehen«,1 teilte Purrmann seinem Jugendfreund Wilhelm Wittmann im Dezember 1907 mit. Für Purrmann wie für Matisse war die Freundschaft ungemein fruchtbar: Purrmann erlebte in der Zusammenarbeit und durch die Kritik und Anregungen des französischen Malers seine entscheidenden formative years. Matisse wiederum wurde durch den jüngeren Kollegen aus Deutschland dazu angeregt, sein Wissen und seine Erfahrung ab 1908 in der Académie Matisse an eine inspirierende internationale Schülerschar weiterzugeben, und als massier (Obmann) des Meisters führte Purrmann Matisse neue, begeisterte Sammler, vor allem aus Deutschland zu.
In die Zeit zwischen dem Herbstsalon des Jahres 1905 und 1907 ist auch die erste Begegnung Purrmanns mit Karl Ernst Osthaus zu datieren. In seinem privaten Museum waren schon bei seiner Eröffnung 1902 Werke von Renoir, van Gogh und Signac zu sehen, die Osthaus, beraten durch den flämischen Künstler, Architekten und Designer Henry van de Velde, erworben hatte. Auf weiteren Reisen nach Paris hatte der Sammler im folgenden Jahr Skulpturen von Auguste Rodin, Aristide Maillol und Bernhard Hoetger sowie Gemälde von Paul Gauguin, Edvard Munch und Henri Rousseau erworben. Seit 1906 bemühte sich Osthaus, auch Werke von Paul Cézanne für seine Sammlung zu erwerben, den er, gemeinsam mit seiner Frau Gertrud (1880–1975), im April 1906 in seinem Atelier in Aix-en-Provence besuchte.
Wodurch und wann das Augenmerk des Sammlers ein erstes Mal auf die Werke von Matisse gerichtet war, ist nicht mehr zu ermitteln. Mit großem zeitlichem Abstand nahm Purrmann – in einem Brief an die Direktorin des Karl Ernst Osthaus Museums – 1960 für sich in Anspruch, der Anlass für die
Erwerbungen von Matisse-Werken gewesen zu sein. Tatsächlich war Osthaus in Paris zumeist auf Berater und Vermittler angewiesen, da er selbst, im Gegensatz zu seiner Frau, offenbar nur in geringem Maße die französische Sprache beherrschte. Bei seinen Erwerbungen in Paris ließ er sich daher zunächst von Henry van de Velde, seiner Frau oder den in Paris lebenden Künstlern Konrad Ferdinand von Freyhold und Ida Gerhardi beraten. In Hinblick auf Matisse übernahm Hans Purrmann diese Rolle.
Spätestens 1907 hatte Purrmann den Hagener Sammler nicht nur in das Werk von Matisse eingeführt, sondern auch in dessen Atelier begleitet, das seit Herbst 1907 »an einem Nachmittag in der Woche unangemeldet jedem offen stand«.2 Osthaus war von der Kraft der jüngsten Arbeiten von Matisse vollkommen fasziniert.
Im Pariser Herbstsalon konnte er die aktuellen Werke sehen. Matisse zeigte hier – neben zwei Landschaftsbildern und zwei Zeichnungen – die Gemälde Le Luxe I, La Musique: esquisse und das Porträt seiner Frau Amélie Portrait au madras rouge (1907), die sogleich von Michael und Sarah Stein erworben wurden.
»Ich sah (ohne von ihm erkannt zu sein) gestern Osthaus im Salon, der einiges schien kaufen zu wollen«, berichtete der Schriftsteller Rainer Maria Rilke seiner Frau, der Bildhauerin Clara Rilke-Westhoff, am 21. Oktober 1907.3 Und tatsächlich: Am selben Tag erwarb der Hagener Sammler, in der Galerie Bernheim-Jeune in Paris, mit dem Stillleben mit Affodillen (Abb. 4) sein erstes Werk von Matisse.
Von dem Vermittlungserfolg berichtet Purrmann seinem Jugendfreund Wittmann stolz: »Für Matisse konnte ich nichts tun, als Osthaus zu bewegen, für Hagen ein großes Bild und 6 Zeichnungen zu kaufen […]«.4
Nach dem Erwerb dieses farbstarken Gemäldes, das bis heute zur Sammlung des Museum Folkwang in Essen zählt, setzt der Briefwechsel zwischen dem Hagener Sammler und dem aus Speyer stammenden Maler Purrmann ein, der ohne Umstände anbot: »Sollten Sie Bestellungen machen wollen, ich könnte Ihnen gerne Dienste leisten.«5
Auf den ersten Ankauf folgten alsbald Versuche, das Werk von Matisse in Deutschland publik zu machen: Nachdem Osthaus im Oktober 1907 das im Sommer des Jahres in Collioure entstandene Stillleben mit Affodillen und, wie von Purrmann überliefert, die ersten sechs Zeichnungen von Henri Matisse erworben hatte, zeigte er noch im Dezember des Jahres eine erste kleine
Einführung
Werkschau des Malers in seinem Museum. Bis 1913 erwarb er noch drei weitere Gemälde des Künstlers sowie eine Skulptur, etliche weitere Handzeichnungen und zwei Lithographien und betraute Matisse mit dem Auftrag für ein dekoratives Fliesentriptychon für seine von Henry van de Velde entworfene Villa Hohenhof. Osthaus wurde somit – nicht zuletzt durch die Vermittlung Purrmanns – zu einem der wichtigsten und frühesten Matisse-Sammler in Deutschland. Durch ihn wurden 1907 auch Oskar und Margarete (»Marg«) Moll sowie Hermann und Elisabeth Harkort auf Matisse aufmerksam, die unmittelbar darauf begannen, Werke des Künstlers zu erwerben.
Für Osthaus bildete das Werk von Matisse den Höhepunkt der zeitgenössischen Entwicklungsgeschichte der bildenden Kunst, wie sie der Publizist Julius Meier-Graefe 1904 skizziert hatte: Nach dem Ende der akademischen Tradition, nach der Auflösung von Umrisslinien und fest gefügten Formen im Impressionismus, dem Divisionismus des Post-Impressionismus und den Farborgien der Fauves repräsentierten die jüngsten Werke von Matisse für Osthaus die Hinwendung zu einem neuen Stil und zur retour à l’ordre. Im Dezember 1907 beschrieb Osthaus – in einem anonym erschienenen Beitrag für die Hagener Zeitung – Matisse bereits als den wichtigsten Nachfolger Cézannes: »Er setzt bewußt jener in Vuillard und Bonnard kulminierenden Tendenz, in Flecken die Formen untergehen zu lassen, eine kräftige Betonung der Form gegenüber. Seine Kunst kennt wieder Umrisse.«6
Durch die intensive – durch Hans Purrmann begleitete und erläuterte –Beschäftigung mit der jüngsten Entwicklung des Künstlers war Osthaus 1908 schließlich einer der wenigen Sammler, die auf die neueste, radikale Wandlung des Malers vorbereitet war, die sich in dem monumentalen Gemälde Badende Frauen mit Schildkröte (Abb. 18) manifestierte. »Die Badenden Frauen mit Schildkröte […] waren das Seltsamste, was Matisse seit Le Bonheur de vivre geschaffen hatte«, urteilte die Matisse-Biografin Hilary Spurling: »Das Bild zeigt drei stilisierte, fast lebensgroße Figuren, die eine kleine Schildkröte betrachten, eine ganz gewöhnliche Mittelmeerschildkröte. Sie bildet das Zentrum des unteren Teils einer in drei horizontale Bänder geteilten Leinwand, die Gras, Wasser und Himmel repräsentieren.«7
Auf dem Weg nach Andalusien, der Osthaus und seine Frau Gertrud über Paris führte, hatte das Ehepaar im Frühjahr 1908 die Gelegenheit, das im Februar des Jahres fertiggestellte Gemälde im Atelier von Henri Matisse erstmals zu sehen. Purrmann versäumte dabei nicht, den Hagener Sammler da-
rauf hinzuweisen, dass Sarah und Michael Stein ebenso fasziniert von dem spektakulären, fast vier Quadratmeter messenden Bild waren und es lediglich aus Platzmangel nicht gleich erworben hätten. Den letzten Ausschlag für den Erwerb des Bildes gab schließlich der Hinweis auf das Interesse eines weiteren, konkurrierenden Sammlers: »Ein Herr aus Moskau, der eine große Cézanne-Sammlung haben soll, war hier und kaufte alles auf was es an Matisse in Paris zu kaufen gab«, berichtete Hans Purrmann Osthaus im Mai 1908: »Er machte auch bei Matisse große Bestellungen z. Bsp. ein ungeheuer großes Stilleben das Matisse schon fest in Arbeit hat und wunderbar wird. Ihr Bild machte den Russen bald verrückt, er sprach immerzu von der Farbe und wollte eine Wiederholung haben, die aber Matisse zu machen ablehnte.«8 Purrmann entpuppt sich somit nicht nur als eifriger Berichterstatter über das Werk seines Freunds und Vorbilds, sondern auch als geschickter Impresario, der dem Werk des Meisters durch klug gesetzte Hinweise auf konkurrierende Sammler zu seiner Geltung verhilft.
Das schließlich von Osthaus erworbene Gemälde sollte den Auftakt zu den großen Dekorationsmalereien bilden, die Matisse für die russischen Sammler Sergej Schtschukin und Iwan Morosow schuf. Programmatisch führte es den Stilwandel vor Augen, den Matisse Ende 1908 in seinen Notizen eines Malers erläuterte:
»Der Ausdruck steckt für mich nicht etwa in der Leidenschaft, die auf einem Gesicht losbricht oder sich durch eine heftige Bewegung kundgiebt. Er ist vielmehr in der ganzen Anordnung meines Bildes: der Raum, den die Körper einnehmen, die leeren Partien um sie, die Proportionen: dies alles hat seinen Teil daran. Die Komposition ist die Kunst, in dekorativer Weise die verschiedenen Elemente anzuordnen, über die der Maler verfügt, um seine Gefühle auszudrücken. […] Wenn in dem Bilde viel Ordnung, viel Klarheit herrscht, so ist es, weil von Anbeginn an diese Ordnung und Klarheit im Geiste des Malers war oder weil der Maler sich doch ihrer Notwendigkeit bewusst war.«9
Mit den Erwerbungen des Jahres 1908 und dem gemeinsamen Besuch von Purrmann und Matisse in der Hagener Folkwang-Sammlung im Januar 1909 verschiebt sich die Bedeutung Purrmanns für Osthaus: Mehr und mehr beginnt der Sammler, ab 1911 unterstützt durch seinen Mitarbeiter Fritz Meyer-
Einführung
Schönbrunn, unter Umgehung Purrmanns, selbst mit Matisse zu korrespondieren. Die Pläne, Matisse für weitere dekorative Entwürfe zu gewinnen, die, angeregt durch das 1909 von Osthaus begründete Deutsche Museum für Kunst in Handel und Gewerbe, von den Berliner Glasmalerei- und Mosaikfirmen Gottfried Heinersdorff und Puhl & Wagner ausgeführt werden sollten, scheiterten jedoch. So kommt es nur zur – etwas halbherzigen – Ausführung eines Entwurfs von Matisse (Abb. 26) und dem späten Erwerb des Gemäldes La fenêtre bleue (Abb. 27) durch Karl Ernst Osthaus 1913, der auch das Ende des Dialogs mit Matisse markiert. Purrmann erinnert sicherlich richtig, dass dieses Bild Osthaus nicht mehr in gleichem Maße zu faszinieren vermochte wie die vorangegangenen Erwerbungen.
Stattdessen hatte Osthaus seine Aufmerksamkeit ab 1910 auch Purrmanns eigenen Werken zugewandt: Auf der in dem Jahr wesentlich von Osthaus mitorganisierten Ausstellung des Sonderbundes westdeutscher Kunstfreunde und Künstler in Düsseldorf war neben dem Akt mit weißem Tuch und – außer Katalog – den spektakulären Badenden Frauen mit Schildkröte von Matisse auch erstmals eine Landschaft Purrmanns ausgestellt, der davon stolz seiner späteren Frau Mathilde Vollmoeller berichtete.
Über seine eigenen künstlerischen Arbeiten hatte Purrmann anfangs nur zurückhaltend Auskunft gegeben: »Ich danke Ihnen, daß Sie sich interessieren und Sachen von mir zu sehen verlangen, aber ich kann Ihnen eigentlich kaum etwas senden, ich mache fast nur einfache Studien um einen Zusammenklang der Farbe und der Linien zu suchen«, hatte Purrmann im Januar 1908 an Osthaus geschrieben: »Wenden Sie lieber Ihr Interesse Matisse zu […]«.10
Der weitere Briefwechsel dokumentiert somit auch das zunehmende Selbstbewusstsein und die Entwicklung des eigenen Werks von Hans Purrmann, der durch Matisse entscheidend zu seiner eigenen Bildsprache angeregt wurde: »Ich bin ganz ein Schüler Matisse geworden«, hatte er Osthaus 1908 berichtet: »Als Matisse meine Arbeiten das erste Mal sah, sagte er dieser Mensch braucht mich, dem kann ich helfen, er fand meine Zeichnung stärker als alles was er unter seinen Bekannten kenne, […] Matisse kommt mir wie vom Himmel, […] ich suche und er zeigt mir Wege […]«.11
1911 bemühte sich Osthaus erfolglos um die Übernahme einer Ausstellung mit Werken von Purrmann und Oskar Moll vom Kunstsalon Cassirer.
Rainer Stamm und Gloria Köpnick
Es dauerte aber offenbar noch bis zum Winter 1916/17, bis der Sammler erstmals einen Blick in Purrmanns – nun Berliner – Atelier nehmen konnte.
Hans Purrmann hatte 1912 die wohlhabende Unternehmertochter und Malerin Mathilde Vollmoeller geheiratet – und war seither wirtschaftlich unabhängig. Im Gegensatz zu vielen anderen Künstlern, die Osthaus in zahllosen Briefen bedrängten, sie durch Ankäufe zu unterstützen, entstand zwischen Purrmann und Osthaus der seltene Fall, dass der Künstler den Sammler in den folgenden Jahren inständig – und erfolglos – bitten ließ, ein Werk von ihm erwerben zu dürfen.
Selbstbewusst ließ Purrmann den Museumsmann immer wieder abblitzen: »Sie sollen mit einem Ankauf noch warten, da ich nicht so ganz zufrieden bin mit meinen Arbeiten […] und mir selbst noch kein rechtes Urteil darüber formen konnte!«, schreibt Purrmann im Januar 1917: »Ich habe die feste Absicht im nächsten Winter eine Ausstellung zu machen und bis dahin überhaupt keine Bilder aus dem Atelier zu geben, hätten Sie nicht dann freiere Wahl und ich selbst mehr Genugtuung? […] ich freue mich von Herzen, wenn ich Ihr Interesse wach halte und Sie mich bei Gelegenheit wieder in Berlin besuchen.«12
Purrmann ließ den Sammler zappeln; seine Bilder wurden dadurch für Osthaus immer begehrenswerter. Die erhaltene Korrespondenz zwischen Purrmann und Osthaus der späteren Jahre liest sich daher wie eine Ausnahmeerscheinung unter all den Briefwechseln des Sammlers mit den Künstlern, die sich einen Ankauf durch Osthaus erhofften: In sieben Briefen und über drei Jahre ließ Purrmann den begierigen Sammler um die Möglichkeit, ein Bild von ihm erwerben zu können, bitten: »Ich halte eine schon lange geplante Neuordnung meiner Sammlung noch immer in dem Gedanken zurück, dass ich Ihre Werke dabei zu einem Ausgangspunkt machen möchte«, beschwor Osthaus den Maler.13
Nachdem es Osthaus scheinbar mühelos gelungen war, vier Gemälde, ein Fliesentriptychon, eine Plastik und eine ganze Reihe früher Zeichnungen von Matisse für sein Museum zu erwerben, ließ Purrmann, sich nun der Eigenständigkeit der Entwicklung seiner eigenen Malerei bewusst, den Sammler erfolglos bitten. Es war ihm damit gelungen, dass Osthaus sich intensiv mit seinem Werk auseinandersetzte.
Einführung
Den Weg zu Purrmann hatte Osthaus über seine Begeisterung für Matisse gefunden, nachdem Purrmann ihm das künstlerische Werk des französischen Meisters erschlossen hatte. Kurz vor dem frühen Tod von Karl Ernst Osthaus im April 1921 fanden die drei Namen, die, jeder für sich, für den Aufbruch in das Abenteuer der modernen Kunst am Beginn des 20. Jahrhunderts stehen, noch einmal zueinander: In der 1919 gegründeten Zeitschrift Genius, die sich im Untertitel programmatisch als Zeitschrift für werdende und alte Kunst bezeichnete, stellte Osthaus seine Ideen für ein Museum der Zukunft vor – und auf der darauf folgenden Seite erschien einer der ersten Essays des Kunstschriftstellers Hans Purrmann, der natürlich dem Werk von Matisse galt. Es ist zugleich einer der kürzesten Essays Purrmanns, der später noch in umfangreichen Texten an das Werk seines großen Lehrmeisters erinnern sollte. Purrmann bringt hierin das einschneidende Erlebnis der Kunst von Matisse, die sein Leben und Werk nachhaltig beeinflusst hat, auf den Punkt. Wie auch Osthaus in seinem Museum und seiner Wahrnehmung von Matisse, setzt Purrmann bei Cézanne ein. Für beide, den Sammler, wie den Maler, galt Matisse als der Überwinder und Vollender dessen, was Cézanne begonnen hatte. Purrmann schreibt: »Cézanne ein Mystiker, seine Malerei wirkt wie Musik, verhalten, leidenschaftlich und tief! Matisse durchdringt Cézanne, hebt ihn mit Enthusiasmus und einem höchst empfindsamen Auge zu großem Farbenreichtum und Lebendigkeit! Matisse zwingt seine Darstellung in eine Architektur; ornamental vielleicht, aber einfach, modern, und direkt!«14
Zum Überlieferungsstand
Obwohl die Ankäufe der Werke von Matisse durch Karl Ernst Osthaus zu den weitsichtigsten und avantgardistischsten Erwerbungen des Folkwang-Museums zählten, war deren Geschichte lange nicht näher bekannt: Nach dem Tod des Sammlers 1921 wurde der schriftliche Nachlass von dessen Schwager Adalbert Colsman verwaltet, der das umfangreiche Briefarchiv in einzelne Konvolute untergliederte: In dem größten Teil des Archivs, der 1963 in das Karl Ernst Osthaus Museum in Hagen gelangte, fehlten die Briefe von Matisse und Purrmann fast vollständig. Erst in den 1990er Jahren erhielten Kunsthistoriker, wie der damalige Direktor des Museum Folkwang in Essen Georg W. Költzsch und die amerikanische Kollegin Laurie A. Stein, Einblick in die noch in der Familie Colsman verbliebenenen Schriftstücke und konnten daraus