Den Menschen vor Augen

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DEN MENSCHEN VOR AUGEN

Künstlerische Strategien seiner Darstellung in italienischen Zeichnungen 1450 – 1750

STAATLICHE GRAPHISCHE SAMMLUNG MÜNCHEN

Katalog zur Ausstellung der Staatlichen Graphischen Sammlung München

DEN MENSCHEN VOR AUGEN

Pinakothek der Moderne, München 23. Januar – 13. April 2025

Die Veröffentlichung dieses Katalogs wurde durch die Ernst von Siemens Kunststiftung ermöglicht.

Inhalt

7 Vorwort und Dank

11 Den Menschen vor Augen.

Künstlerische Strategien seiner Darstellung in italienischen Zeichnungen 1450 – 1750

KATALOG

22 unbefangen und verwundbar

Kat. 1 – 18

62 gewandet und kostümiert

Kat. 19 – 34

98 neben-, mit- und gegeneinander

Kat. 35 – 50

132 privat und offiziell, ideal und grotesk

Kat. 51 – 100

ANHANG

223 Anmerkungen

230 Literatur

236 Personenregister

239 Bildnachweis

240 Impressum

Vorwort und Dank

Als in der Renaissance der Mensch als selbstbestimmtes Individuum aus Fleisch und Blut wiederentdeckt wurde, war es die Zeichnung, die sich rasch bislang künstlerisch unerprobter Mittel bediente, um die neu gesehenen Schichten menschlichen Seins in den Blättern offenzulegen. Gerade der italienischen Zeichenkunst kam dabei eine Vorreiterrolle zu. Sie begleitete die neue Sicht auf den Menschen als kreatürliches Phänomen und soziales Wesen, als Person und Charakter in einem Fortlauf beständiger und intensiver Beobachtung. Diesem Prozess wird in der Ausstellung »Den Menschen vor Augen. Künstlerische Strategien seiner Darstellung in italienischen Zeichnungen 1450–1750« über einen Zeitraum von etwa 300 Jahren anhand ausgewählter Werke nachgespürt. Unter den Gattungen der bildenden Kunst bietet zweifellos die Zeichnung für die Darstellung des Menschen die bei weitem breiteste Skala an Ausdrucksmöglichkeiten. Ihr Zuhause ist die Ideenwerkstatt der Künstler, und im Unterschied zu Werken der Skulptur oder Malerei stehen ihr weit geringere materielle Widerstände entgegen. Auch ist sie durch feststehende Funktionen wie etwa die der Repräsentation und Dekoration viel weniger eingeschränkt als andere Gattungen. Für die Künstler ist die Zeichnung das Vermittlungs- und Versuchsfeld par excellence, um sich in Studien zu Einzelfiguren und Figurengruppen, zu Köpfen und Gesichtern dem Menschen in der ganzen Vielfalt seines Wesens zu nähern.

Die Staatliche Graphische Sammlung München verfügt über qualitativ und quantitativ gewichtige Bestände an Figuren-, Kopf- und Gesichtsstudien der italienischen Schule. Sie werden meist im Hinblick auf das jeweilige Werk ihrer Zeichner betrachtet und im Rahmen von Zuschreibungsfragen diskutiert. Wie unterschiedlich dabei der Mensch in den Blick genommen und vor Augen geführt wird, tritt in den Hintergrund und oft so recht erst ins Bewusstsein, wenn die Blätter dieses Themenkreises vergleichend betrachtet werden. Gerade dies unternimmt die Ausstellung »Den Menschen vor Augen«, um exemplarisch die enorme Bandbreite an Darstellungsweisen des Menschen in italienischen Zeichnungen der Frühen Neuzeit zu beleuchten.

Die Ausstellung gliedert sich in vier Teile. Den Auftakt bildet das Kapitel »unbefangen und verwundbar«. Frühe Blätter erforschen den Körperbau, oft mit Bezug auf antike Skulpturen, während spätere Studien sich vermehrt am lebenden Modell orientieren. Es folgt das Kapitel »gewandet und kostümiert«, das Menschen in Hüllen zeigt, die ihre Träger in die Welt- und Gesellschaftsordnung einreihen. Gruppen und Menschen in Aktion präsentiert der Abschnitt »neben-, mit- und gegeneinander«. Er rückt das Verhältnis des Einzelnen zu anderen in den Fokus – oft in subtil beobachteten, nur in der Zeichnung möglichen künstlerischen Ausdeutungen. Auf besonders bewegende Weise bildet sich das Verständnis und Bewusstsein des Menschen von sich selbst in teils skizzenhaften, teils sorgfältig

Abb. 1a Kat. 15 recto, Agostino Carracci, Madonna mit Kind und zwei männliche Köpfe, Feder in Braun, 204 × 145 mm, Staatliche Graphische Sammlung München

ausgeführten Zeichnungen von Gesichtern und Köpfen ab. Sie setzen im vierten und letzten Abschnitt »privat und offiziell, ideal und grotesk« den Schlusspunkt der Ausstellung.

Den 100 Werken des Katalogs werden in einem Online-Bestandskatalog, der über die Website der Graphischen Sammlung aufrufbar ist (www.sgsm.eu), weitere rund 550 Werke zur Seite gestellt. Sie wurden im Zuge der Ausstellungsvorbereitung großenteils neu erfasst und thematisch gegliedert. Kurz vor Abschluss des Katalogs schenkte der Sammler Dr. Volkmar Schauz dem Münchner Kabinett seine Zeichnungssammlung mit Schwerpunkt auf italienischen Blättern des 17. und 18. Jahrhunderts. Es ist uns eine ganz besondere Freude und erfüllt uns mit Dankbarkeit, aus dieser Schenkung drei Blätter in die Ausstellung aufnehmen zu können (Kat. 34, 97, 100)

Katalog und Bestandsverzeichnis wären ohne die Unterstützung durch die Ernst von Siemens Kunststiftung kaum zu realisieren gewesen. Herrn Dr. Martin Hoernes, ihrem Generalsekretär, sei für die großzügige Förderung verbindlichst gedankt.

Verantwortlich für Ausstellung und Katalog zeigt sich unser geschätzter Kollege Kurt Zeitler, Konservator für die italienische Kunst an der Staatlichen Graphischen Sammlung München. Er tritt im Frühjahr 2025 in den Ruhestand. Dem Haus gehörte er seit 1996 zunächst als Volontär an. Seit 1997 ist er als Konservator für die alte italienische Kunst tätig. Zu seiner Verabschiedung und ihm zum Dank hat die Graphische Sammlung anlässlich der Ausstellung ein doppelseitiges Blatt von der Hand des Bologneser Malers und Kupferstechers Agostino Carracci (1557–1602) erworben. Der Bruder von Annibale (1560–1609) und Vetter von Ludovico Carracci (1555–1619) war auch als Theoretiker der Accademia degli Incamminati bedeutend. Das Blatt zeigt auf der Vorderseite (Abb. 1a) die

Skizze zu einer sitzenden Madonna, darunter zwei einander zugewandte männliche Köpfe, vergleichbar einem bekannten Blatt Agostinos in der Graphischen Sammlung aus altem Bestand (Abb. 11). Die Rückseite trägt die Darstellung eines sitzenden Jünglingsakts (Abb. 1b), die in der Ausstellung erstmals der Öffentlichkeit präsentiert wird (Kat. 15). Sie ist als eine Studie nach der Natur angelegt, die Agostino auf dem Blatt in eine Idealfigur verwandelt. Herzlicher Dank gebührt unserer ehemaligen Kollegin, Susanne Wagini. Sie hat das Manuskript des Katalogs gelesen und wichtige Anregungen gegeben. Dank gebührt auch allen mit der Ausstellung befassten Mitarbeitern der Graphischen Sammlung: Stefanie Holl für die Eintragung der Daten zu den italienischen Zeichnungen in die Datenbank; der Leiterin des Teams Digitalisierung und Öffentlichkeitsarbeit, Enikö Zsellér; der Leiterin der Restaurierungsabteilung Katrin Holzherr mit Melanie Anderseck, Cornelia Stahl und Dafne Diamante für die restauratorische Betreuung; der Leiterin der Fotothek Sabine Wölfel für die interne und externe Bildbeschaffung und die stets bewahrte beste Übersicht. Gedankt sei auch Gunnar Gustafsson für die Foto- und Scanarbeiten, Bernhard Eglmeier, Joe Holzner und Mizuho Matsunaga für Passepartouts, Buchbindearbeiten und Ausstellungsaufbau sowie KarlHeinz Francota Staat und Rafael Díaz Noguero für die Rahmung der Werke und ebenfalls für den Ausstellungsaufbau.

Mögen der Besuch der Ausstellung und die Lektüre des Katalogs Kurzweil und Freude bereiten!

Michael Hering

Abb. 1b Kat. 15 verso, Agostino Carracci, Sitzender männlicher Akt, frontal, Feder in Braun, 204 × 145 mm, Staatliche Graphische Sammlung München

Den Menschen vor Augen

Künstlerische Strategien seiner Darstellung in italienischen Zeichnungen 1450 – 1750

Die Ausstellung »Den Menschen vor Augen. Künstlerische Strategien seiner Darstellung in italienischen Zeichnungen 1450–1750« präsentiert exemplarische Zugänge zum Bild des Menschen in der italienischen Zeichnung der Frühen Neuzeit. Ausgewählte Blätter, von denen viele selten, manche noch nie ausgestellt waren, geben einen Begriff von der Komplexität und Vielfalt der zeichnerischen Annäherung an den Menschen, dem zentralen Motiv dieser Epoche. Im vorangehenden Mittelalter war die Kunst dem christlich-religiösen Kontext verpflichtet und in der Tendenz körper- und schattenlos. Mit der Frühen Neuzeit wechselt sie über in eine vom Menschen ausgehende und auf ihn gerichtete Wahrnehmung. Die Bildwelt wird nun nach den Gesetzen der Zentralperspektive erschlossen und durch eine von ihr geschiedene Lichtquelle beleuchtet. Das spirituelle Sehen verwandelt sich in ein körperliches Sehen.1 Durch den engen Kontakt mit Werken der Antike und durch seine besonderen ökonomischen und soziokulturellen Verhältnisse wird Italien im Verlauf des 15. Jahrhunderts zum Ausgangspunkt der Renaissance und einer Weltsicht, die den Menschen als Individuum in den Mittelpunkt seines Denkens rückt. Die neue Sichtweise entwickelte zeichnerische Strategien, die von schönliniger Eleganz zu Klarheit und Strenge führen, die vereinfachen oder pointieren, verfeinern oder verfremden. Ein immer wieder anders gewichtender zeichnerischer Erfassungs- und Gestaltungsvorgang lotet das Bild vom Menschen

aus, beleuchtet seine äußere und innere Wesenheit aus neuen Blickwinkeln und führt den Betrachterinnen und Betrachtern in mannigfaltigen zeichnerischen Brechungen das Sein des Menschen vor Augen.

Dass sich die Kunst in der Frühen Neuzeit vom Geist zur Materie hin entwickelt, ist ein fließender Prozess, der von der Materie auch wieder zum Geist führt. In der Ausstellung lässt sich diese Wellenbewegung nachverfolgen. Domenico di Bartolos (um 1400–1447) »Bildnis eines Mannes im Dreiviertelprofil nach links« um 1440/44 (Kat. 51) ist wesentlich von einer jenseitigen Anschauung geprägt, auch wenn es exemplarisch Elemente eines körperlichen Sehens in sich aufnimmt. Fra Bartolommeos (1472–1517) »Porträt eines bärtigen Mönchs« von etwa 1515 zeigt dagegen einen Menschen, der in seiner selbstgewissen Präsenz ganz in der Diesseitigkeit angekommen ist (Kat. 53). Das Blatt »Männliche Aktstudien im Tanzschritt« um 1580 von Bartolomeo Passarotti (1529–1592) präsentiert drei in Feder gezeichnete Figurenvarianten. Eine erscheint fast wie gehäutet, eine zweite modelliert wie eine Skulptur, während eine dritte sich wie transparent darbietet (Kat. 10). Alle drei entrücken den Menschen in eine Sphäre der Künstlichkeit. Wie lebendig nimmt sich gegenüber diesen Gebilden manieristischer Phantasien Lorenzo Lippis (1606–1665) »Sitzendes Kind« von etwa 1655 aus, dem die Unmittelbarkeit des Rötels die Frische des Erlebten gibt (Kat. 17)! In Giovanni Battista Tiepolos (1696–1770) Zeichnung »Kopf eines

Mannes mit alpenländischer Kappe« von etwa 1750 ist von einer derartigen Gegenwart trotz vergleichbarer Zeichenmittel kaum mehr etwas zu spüren (Kat. 98). Durch kalkuliert ausgeblendete Kommunikation tut sich zwischen dem Dargestellten und den Betrachtern eine Kluft zum Rätselhaften und Ungreifbaren auf.

Zeichnen förderte seit der Renaissance eine neue Form künstlerischer Projektentwicklung, steuerte als eine Art Denkvorgang auf dem Papier2 den planvollen Zugriff des Menschen auf die Welt und begünstigte eine veränderte, differenziertere Wahrnehmung seiner selbst. Zeichnen wurde zu einem Instrument der Erkenntnis und wirkte als solches auf die Betrachtungsweise der Dinge sowie auf die Entwicklung der Künste und Wissenschaften zurück. Diese Auffassung findet in der italienischen Vokabel disegno ihre Entsprechung. Sie ist viel weiter gefasst als das deutsche Wort »Zeichnung« oder der Ausdruck »ich zeichne«. Disegno steht auch für »Entwurf« oder »Plan«, kann sogar »Idee« meinen und ist in diesem Sinn schon früh zur Grundlage künstlerischer Erfindungsgabe erklärt worden.3 In einem von dem portugiesischen Maler Francisco de Holanda (1517–1585) überlieferten Gespräch präzisiert Michelangelo (1475–1564): »Im Zeichnen, das man mit anderem Namen auch Kunst des Entwerfens nennt, – im Zeichnen gipfeln Malerei, Sculptur und Architektur. Die Zeichnung ist der Urquell und die Seele aller Arten des Malens und die Wurzel jeder Wissenschaft. Wer so Großes erreicht hat, dass er des Zeichnens mächtig ist, dem sage ich, dass er einen köstlichen Schatz besitzt, denn er kann Gestalten schaffen, höher als irgendein Thurm, sowohl mit dem Pinsel als mit dem Meißel, und nie wird er eine Mauer oder Wand finden, die nicht eng und klein wäre für die Unbegrenztheit seiner Phantasie.« 4 Die Theorie Giorgio Vasaris (1511–1574) erklärt das Zeichnen zu einem Erkenntnisinstrument im Range einer Wissenschaft und zum Inbegriff künstlerischer Schaffenskraft überhaupt. In den neunziger Jahren des 16. Jahrhunderts unterscheidet Federico Zuccari (1539/40–1609) »zwischen zwei Begriffen […], die beide mit dem Wort ›disegno‹ bezeichnet werden: Zeichnen als praktische Tätig-

keit (disegno pratico oder disegno esterno) und als geistige Konzeption (disegno intelletivo oder disegno interno)«.5 Das Spannungsverhältnis zwischen Geist und Materie, zwischen disegno interno und disegno esterno wirft die Frage nach der Technik auf und nach den Verflechtungen zwischen den Komponenten Zeichnungsträger, Zeichenmittel und Zeichenweise, die dem Medium immer wieder neue und andere Ausdrucksmöglichkeiten erschließen. »Nach der Technik der Zeichnung zu fragen«, heißt daher, wie Walter Koschatztky formuliert, »nach der Bedeutung von Kunst zu fragen.«6

Zeichnungsträger

Im Verlauf des Quattrocento löst sich das Zeichnen aus seiner auf die Einübung und die Werkvorbereitung beschränkten kurzlebigen Bindung an die Wachs- oder Schiefertafel ab und erobert sich zunächst im Pergament, dann vor allem im Papier dauerhaftere Bildträger.7 Pergament besteht aus dünner gegerbter Tierhaut und hat seinen Namen von der kleinasiatischen Stadt Pergamon. Um als Zeichengrund dienen zu können, muss es aufwendig bearbeitet werden und ist daher kostbar. Zwar bestens geeignet für Metallstifte, Feder- und Pinselzeichnungen sowie für Deckfarbenmalerei, nimmt es den Strich von trocken und breit zeichnenden Stiften wie Kreide und Rötel aber weniger gut an. Diese Eigenschaften schließen ein experimentelles Zeichnen auf Pergament so gut wie aus und verhinderten seinen vielfältigeren Einsatz. Es blieb – von Ausnahmen abgesehen –ein Zeichengrund des Quattrocento, prädestiniert für das Musterblatt oder die mit Sorgfalt ausgeführte Meisterzeichnung, wie in dem Blatt »Zwei Eremiten, auf dem Boden sitzend« (Kat. 36) oder in dem »Bildnis eines Mannes im Dreiviertelprofil nach links« (Kat. 51) 8

Papier, hergestellt aus einem wässrigen und faserigen Brei, der vornehmlich aus Textilresten besteht und sich beim Trocknen zu einer zusammenhängenden Masse verfilzt, wurde seit dem Ende des 14. Jahrhunderts gewerblich fabriziert. »Das

Vorhandensein des Papiers gehört vom Spätmittelalter an zu den wichtigsten Voraussetzungen für die Existenz der europäischen Kultur, und seit der Renaissance muß dieses Material für die Zeichenkunst geradezu als entscheidende Grundlage betrachtet werden.«9 Es eignet sich für Feder- und Pinselzeichnung, für die Pinsellavierung, aber auch für trockene Zeichenmittel wie Kreide, Kohle oder Rötel. Auch trägt seine Oberflächenbeschaffenheit (Struktur, Narbe) nicht selten zur Wirkung einer Zeichnung bei, wie etwa in Guido Renis (1575–1642) Blatt »Kniender nach rechts« (Kat. 32). Papier ist die Voraussetzung für die seit dem Ende des 15. Jahrhunderts sich ausbildenden breiter aufgefächerten Funktionen der Zeichnung in Form von Ideenskizze, Kompositions- und Detailstudie, aber auch von ästhetisch eigenständigen Blättern.10 Als Handelsware war Papier im Verlauf des 15. Jahrhunderts immer leichter und günstiger zu bekommen und wurde in seiner Qualität zusehends stabiler. Das neuartige Material bot der Zeichnung entscheidende Vorteile: Es erleichterte die Bewahrung und den Transfer von Ideen, räumte den Künstlern unabhängig von offiziellen Aufträgen Freiraum für ihre Gedanken und Vorstellungen ein und förderte über die Druckgraphik die Verbreitung von Bildern und bildkünstlerischen Konzepten.

Zeichenmittel und Zeichenweise

Das neue Trägermaterial Papier gestattete gegen Ende des 15. Jahrhunderts eine erhöhte Vielfalt an Zeichenmitteln und damit nicht selten auch eine Vertiefung und Pointierung des Ausdrucksgehalts. Silberstift und andere Metallstifte sowie der feine Pinsel erwiesen sich bald als Relikte aus mittelalterlicher Vergangenheit. Der Akt des Zeichnens selbst hatte sich mit diesen Mitteln als etwas Besonderes dargestellt, das nach einer gültigen, höchst sorgfältigen Ausführung strebt. Bei allem edlen Charakter entbehren aber die Striche des Silberstifts oder auch der feinen Pinselzeichnung der Spontaneität, der inneren Spannung, Prägnanz und Schärfe des Akzents. Gerade diese Qualitäten waren es jedoch, mit denen die

Künstler gegen 1500 auf ihre Motive zuzugreifen suchten, um ihrer individuellen Sicht Ausdruck zu verleihen, den Dingen Leben einzuhauchen und das Moment des Gegenwärtigen zu erfassen. Der künstlerische Schaffensprozess wird in seinem intellektuellen Potenzial erkannt und die Entwurfszeichnung als Ausweis der Schöpfungskraft des Künstlers neu bewertet und zum geschätzten Sammelgegenstand.11 »Die Zeichnung wurde für die Renaissance zur »Formel der künstlerischen Schöpfung, denn sie brachte das Fragmentarische, Unvollendete und Unvollendbare, das schließlich jedem Kunstwerk anhaftet, am auffallendsten zur Geltung.«12 Als Mittel par excellence für die Entwurfszeichnung bot sich neben der Feder zunächst die schwarze Kreide an. Sie war um 1390 als Zeichenmittel noch etwas Neues, verbreitete sich aber im darauffolgenden Jahrhundert in den Werkstätten und bildete eine Voraussetzung für eine nun vermehrt angestrebte, auf die Dinge Zugriff nehmende Zeichenweise. Prädestiniert, Formen körperhaft und mit betonter Licht- und Schattenwirkung wiederzugeben, erzielt die Kreide kräftige Wirkungen, wie in dem Selbstbildnis Franciabigios (1482–1525) (Kat. 59). Den etwas weniger auf kontrastreiche Wirkung zielenden Rötel kannte man ebenfalls schon lange als Schreib- und Markierungsutensil, entdeckte aber seine subtilen Qualitäten als Zeichenmittel erst gegen 1500. Sein Strich ähnelt im technischen Charakter dem der schwarzen Kreide, erzielt aber durch seine Farbe häufig eine viel weichere und lebendigere Wirkung. Rötel eignet sich wegen seiner Tonpalette und seiner lebhaften Modulationsfähigkeit besonders für Skizzen und Studien nach dem menschlichen Körper, aber auch, wie die Münchner Kopien nach Leonardo da Vincis (1452–1519) »Porträt der Isabella d’Este« (Kat. 63, 64) zeigen, für prägnante, an kostbaren Porphyr erinnernde Wirkungen. Auch der Graphitstift wurde ursprünglich zum Schreiben verwendet. Als Mittel zum Zeichnen und Entwerfen entdeckte man ihn im letzten Viertel des 16. Jahrhunderts.13 Etwa zur gleichen Zeit traten farbige Kreiden hinzu, die die Anschaulichkeit einerseits erhöhen, andererseits aber die Vorstellungskraft der Beschauer weniger herausfordern als die schwarze Kreide oder der Rötel.

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Übertragende Zeichenmittel wie Feder und Pinsel handhabten die Künstler häufig gegenstandsbeschreibend, um zu festeren, kontrastreicheren und plastischeren Wirkungen zu kommen, nicht selten aber auch freier, um ihren Arbeiten den Aspekt der Bewegung, ja des Dynamischen zu erschließen, wiederum bauend auf die Vorstellungskraft der Beschauer (Kat. 31). Die Striche der Feder werden durch An- und Abschwellen deutlicher moduliert, und der Pinsel wird nun oft in breiten Schwüngen geführt, anstatt mit dünnen Linien, die an zarte Federstriche erinnern und die Dinge kläubelnd beschreiben. Pinsellavierungen setzen Akzente nach Licht und Schatten, schaffen Raumtiefe und heben einzelne Partien in oft virtuos gesetzten macchie (Flecken) hervor wie in den beiden Blättern »Frontal stehende weibliche Gestalt« von Federico Zuccari (Kat. 27, 28). Das Idiom jedes Zeichenmittels kann bislang unbeachtet gebliebene Aspekte zutage fördern, und jeder Zeichner wird die Wahl seiner Mittel so treffen, dass die im disegno interno begründeten künstlerischen Vorstellungen im disegno esterno anschaulich werden und aufgehoben erscheinen.

Jede Zeichnung entsteht in einem wechselseitigen Verhältnis von Zeichnungsträger, Zeichenmittel und Zeichenweise – alle drei abhängig vom Vermögen der zeichnenden Hand, vom Zeit- und Regionalstil und von der Absicht der Künstler, einen Modus zu entwickeln, in dem der Gegenstand die für ihn adäquate Form annimmt und zu einer spezifischen Gestaltwirkung kommt. Letztere entsteht durch zeichnerische Einfühlung, die gegenüber dem Zeit-, Regional- und Individualstil zwar nicht scharf abzugrenzen, aber für jedes Blatt doch als das »Eigentliche« der künstlerischen Leistung vorauszusetzen ist. »Ogni pittore dipinge sé« (Jeder Maler malt sich selbst), sagt Leonardo da Vinci und benennt damit jenen Freiraum, innerhalb dessen die künstlerischen Entscheidungen primär getroffen werden und aus dem sich die persönliche Handschrift im Wesentlichen speist.14

Abb. 2 Bartolomeo Schedoni, Mutter und Kind, halbfigurig, schwarze Kreide, Rötelspuren, 237 × 172 mm, Staatliche Graphische Sammlung München

Motiv Mensch

In den alltäglichen Erfahrungen, im Vorstellungs- und Gefühlsleben jedes Einzelnen nimmt der Mensch die erste Stelle ein. Zu seinem Abbild stehen die Betrachter in einer beziehungsreichen Verbindung. Es weckt Assoziationen, Anteilnahme und Neugierde und fordert auf, in ihm zu lesen und sich selbst zu ihm zu verhalten. Seit der Renaissance wurde das Abbild des Menschen zum zentralen Thema der Künste und zum Inbegriff idealer Schönheit. Es kann göttliche Vollkommenheit ebenso verkörpern wie Ausdruck sinnenhafter Lebenskraft sein.15 Die Konzentration der Ausstellung auf das menschliche Abbild erscheint besonders geeignet, Möglichkeiten und Methoden des Mediums Zeichnung in einer exemplarischen Werkauswahl in den Blick zu nehmen, um den Fokus auf das »Wie« der individuellen Lösung zu legen. Vor der Folie des Ähnlichen zeichnet sich die Spannweite an Ausdrucksqualitäten von Zeichnungsträger, Zeichenmittel und Zeichenweise deutlicher ab, als wenn verflochtene ikonographische Inhalte die Aufmerksamkeit binden würden.

Die in Katalog und Ausstellung präsentierten Blätter sind vor allem darstellend, nicht erzählend. Werden damit zwar komplexere Themen weitgehend ausgeklammert, gibt es dennoch Arbeiten, die sich ikonographisch kaum streng abgrenzen lassen. So kann etwa der menschliche Akt zwischen religiösen Themen um Adam und Eva, den Schmerzensmann, Heilige wie den hl. Sebastian und der zeichnerischen Aneignung und Variation antiker Vorbilder oszillieren und können Gewandfiguren biblische Gestalten oder Heilige bedeuten. Auch so manche »Mutter mit Kind« geht fließend in das religiöse Motiv einer »Madonna« über. Nicht selten sind es dann aber gerade auch Zeichenmittel und Zeichenweise, die eine genauere Bestimmung ermöglichen. So legt in dem Bartolomeo Schedoni (1578–1615) zugeschriebenen Blatt »Mutter und Kind« nicht zum Wenigsten die Verwendung der schwarzen Kreide eine Studie nach der Natur nahe (Abb. 2), während die so natürlich anmutende Szenerie »Frau sitzend, das Kind stillend« eines unbekannten Zeichners des 16. Jahrhunderts wegen der sorgfältigen

Ausführung mit Feder eher auf die Absicht einer Madonnendarstellung weist (Abb. 3), als welche das Blatt im alten Inventar von 1804 auch tatsächlich verzeichnet ist.16

Mit der Ausstellung verbunden ist das pragmatische Instrument eines Bestandskatalogs. Er umfasst die Figuren- und Kopfstudien in den italienischen Schulen vor 1800 in der Graphischen Sammlung. Sie sind nicht zuletzt auch wegen ihrer ikonographischen Offenheit bislang kaum erfasst und besprochen. Auf der anderen Seite stellen die Blätter in ihrer zeitlosen Modernität als Bilder vom Menschen einen Sammlungskomplex von besonderer Relevanz und Eindringlichkeit dar.

Den Menschen vor Augen

Abb. 3 Unbekannt, Italien 16. Jahrhundert, Frau sitzend, das Kind stillend, Feder in Braun, 195 × 160 mm, Staatliche Graphische Sammlung München

Die Ausstellung gliedert sich in vier »Blickwechsel«. Der erste, »unbefangen und verwundbar«, zeigt Darstellungen des unbekleideten Menschen, der in der nachantiken Kunst erst in der Renaissance als Motiv wiederentdeckt wird. Zuvor war Nacktheit reduziert auf eine Chiffre. Nun wird sie als eine Qualität des Menschseins neu gesehen. An das Phänomen des unbekleideten Körpers tasteten sich die Künstler zeichnerisch auf vielfältige Weise heran: So legt etwa Benozzo Gozzoli (1420–1497) den männlichen Akt mit kurzen weißen Strichelchen an, die den athletischen Körper keineswegs kraftvoll zeigen (Kat. 1), sondern wie gläsern spröde, empfindlich und verwundbar. Andere Blätter übersteigern die anatomischen Merkmale (Kat. 2), berufen sich in unterschiedlichen Techniken auf skulptierte Vorbilder (Kat. 7, 8) oder vermitteln im Rötelstift durch unruhige Akzentsetzungen einen Eindruck von emotionaler Anspannung und Empfindsamkeit (Kat. 16)

Die Werke des zweiten Blickwechsels »gewandet und kostümiert« zeigen, wie Kleidung nicht nur den Gehalt der Figuren bestimmt, sondern wie durch die zeichnerische Ausformung der Stoffe auch die Wahrnehmung der Betrachter gesteuert wird. Sie kann sich vom leicht lesbaren modello im Sinne einer Vorlage (Kat. 19) über die Vermittlung einer transzendenten Erscheinung (Kat. 20) bis hin zur Signatur des Reichtums spannen (Kat. 25). Andere Figuren werden durch Phantasiekostüme der Lebenswirklichkeit entrückt (Kat. 29, 30) oder sind nach der Natur studiert, wobei staunenswert ist, mit welchem Bedacht die Zeichenmittel auf die jeweilige Funktion der Blätter abgestimmt sind (Kat. 26).

Der dritte Blickwechsel »neben-, mit- und gegeneinander« präsentiert Zeichnungen, in denen Menschen respektive Figuren entweder aufeinander bezogen erscheinen (Kat. 41) oder es wirklich sind (Kat. 36) und sich zueinander verhalten. Es zeigt sich, dass nicht alles, was nach einer Gruppe aussieht, auch tatsächlich eine solche ist (Kat. 39). Andere »Gruppen« zeigen eine Doppelnatur, die eine unterschiedliche Lesart zulässt (Kat. 37). Auch kann ein Gegeneinander-Agieren durch wohlkalkulierte Wahl der zeichnerischen Mittel subtil ausgelotet und dramatisiert werden (Kat. 46, 47)

Der vierte und letzte Blickwechsel »privat und offiziell, ideal und grotesk« thematisiert die Ausdruckskraft der Physiognomie, in der sich das Menschsein am meisten verdichtet. Mit einem oft weit ausdifferenzierten graphischen Instrumentarium spüren die Zeichner ihren physiognomischen Erkenntnissen nach. Wenn Domenico di Bartolo in dem schon genannten Blatt mit Silberstift und feinstem braunen Pinsel auf Pergament zeichnet (Kat. 51), dokumentiert er auch einen visuellen Befund, um den Dargestellten anhand individueller Merkmale zu erinnern. Fra Bartolommeo hingegen hält in einer Zeichnung in schwarzer Kreide (Kat. 52) Zwiesprache mit sich selbst und erforscht seine eigene Hinfälligkeit. Andere Arbeiten entwerfen ein Ideal oder dienen der Vorstellung, dem Wiedererkennen und Erinnern (Kat. 73–87). In Kopfstudien des 18. Jahrhunderts geht die auf den Betrachter gerichtete Aufmerksamkeit gelegentlich in einen Ausdruck beseelter Nachdenklichkeit über (Kat. 89) oder wird, wie bereits angedeutet, der Kontakt zum Beschauer gekappt, um das Fremde und die Unergründlichkeit menschlicher Existenz zu thematisieren (Kat.99 )

Sowohl die meisten der gezeigten 100 Blätter als auch die online im Bestandskatalog abrufbaren (rund 700) stammen aus der Sammlung von Kurfürst Carl Theodor von der Pfalz (1724–1799). Zwölf der im Katalog zusammengestellten Werke wurden bereits nach der Mitte des 18. Jahrhunderts in der Schausammlung des Mannheimer Schlosses gezeigt. Sie umfasste 556 Zeichnungen, von der Historie über die Figurenzeichnung bis hin zur Landschaft in unterschiedlichsten graphischen Modi. Nach Überführung der Sammlung von Mannheim nach München in den 1790er Jahren ließ Kurfürst Max IV. Joseph (1756–1825) die Blätter in einem 1804 abgeschlossenen Verzeichnis, dem sogenannten alten Inventar, erstmals eindeutig identifizierbar nach Nummern auflisten. Im 20. Jahrhundert erfuhren die Bestände eine gezielte Erweiterung. Neben dem schon erwähnten Blatt von Benozzo Gozzoli (Kat. 1) wurden »Zwei stehende Heilige« (Kat. 35) und die bereits genannten »Zwei Eremiten, auf dem Boden sitzend« (Kat. 36) erworben. Die Blätter zählen heute zu den frühesten der italienischen

Abteilung. Eine kapitale Erwerbung stellte auch Donato Bramantes (1444–1514) anatomische Studie »Sitzende männliche Aktfigur« dar (Kat. 2). Zu den Neuzugängen der zweiten Jahrhunderthälfte zählen ferner Federigo Baroccis (um 1535–1612) »Weiblicher Kopf« (Kat. 66), das Simone Bugiardini (1476–1555) zugeschriebene Blatt »Weiblicher Profilkopf nach links« (Kat. 65), die vier Blätter Pirro Ligorios (1513–1583) mit Figurenpaaren zu Mitgliedern der Familie d’Este (Kat. 42–45), Antonio Correggios (1489–1534) »Kopf eines bärtigen Mannes« (Kat. 60), Giulio Cesare Procaccinis (1574–1625) »Zwei Halbfiguren und ein Beobachter« (Kat. 48) und Guido Renis »Herakles und Acheloos« (Kat. 47). Aus einem Nachlass gelangten 1997 der »Schreitende Jünglingsakt« von Cecco Bravo (1601–1661) (Kat. 16) und Jacopo Confortinis (1602–1672) »Studien zu einem Diener« (Kat. 33) ins Kabinett. 2019 konnte mit dem Blatt »Kopf eines Mannes mit alpenländischer Kappe« (Kat. 98) eine erste Kopfstudie Giovanni Battista Tiepolos für die Sammlung erworben werden, zu der sich seit 2024 ein »Orientalenkopf« (Kat. 97) in brauner Feder und Pinsel als Geschenk des Sammlers Dr. Volkmar Schauz gesellt.17 Aus der gleichen Schenkung stammt die große Rötelzeichnung »Heiliger auf Wolken« (Kat. 34) sowie der »Kopf eines Mannes mit breitem Schlapphut« von Pietro Antonio Novelli (1729–1804) (Kat. 100)

Die »Blickwechsel« in Katalog und Ausstellung mögen die Betrachterinnen und Betrachter dazu anregen, auch über sich selbst und ihr Bild von sich zu reflektieren. Dazu sind in der Ausstellung verschiedentlich Spiegelfolien montiert, in denen sich die Besucherinnen und Besucher neben den Zeichnungen unversehens sich selbst gegenüberstehen. Diese Begegnung mit dem eigenen Spiegelbild kann dafür sensibilisieren, dass in den ausgestellten Werken die Kunst niemals nur widerspiegelt oder abbildet, sondern stets auch umbildet und interpretiert, gestaltet und formt: das Objekt, den Bildgegenstand und die Materie ebenso wie das Subjekt, das diesem so geschaffenen Kunstwerk gegenübertritt.18 Die Zeichnungen spiegeln die geistigen Grundlagen ihrer Schöpfer, bezeugen deren Weltverständnis und vermitteln sie – »Den Menschen vor Augen« – in Katalog und Ausstellung zu uns Heutigen.

Fra Bartolommeo

Savignano bei Prato 1472 – 1517 Florenz

Studien zu drei Putten auf Stufen um 1515

Schwarze Kreide, weiß gehöht, auf gelblichem Papier

150 × 200 mm

Inv.-Nr. 2169 Z

Im Unterschied zu erwachsenen Menschen stellte das Studium von Kinderkörpern vor geringere Hemmnisse und moralische Bedenken. Die »Studien zu drei Putten auf Stufen« zeigen, dass Bartolommeo Pagholo del Fattorino, der seit seinem Klostereintritt am 26. Juli 1500 Fra Bartolommeo genannt wird, nackte Kinder vor Augen gehabt hat. Er zeichnete nach ihnen, griff auf diese Blätter für seine Altarbilder zurück und variierte sie nach Bedarf. Fra Bartolommeo bevorzugte dafür den schwarzen Stift als einfach zu handhabendes unprätentiöses Zeichenmittel. Es erlaubt rasches Arbeiten und bringt kindliche Unbekümmertheit und Bewegung aufs Blatt.

Fra Bartolommeo hat die Figuren in eine ausgewogene Dreieckskomposition einbeschrieben, wie sie die Hochrenaissance schätzte. Das wohlgenährte Kleinkind unten links greift über das waagerecht liegende Bein agil hinweg und beugt sich in aller Rundlichkeit nach innen. Sein Kompagnon in der Spitze des Dreiecks sitzt mit abgespreiztem Bein auf einer Stufe. Kopf und Oberkörper weisen in entgegengesetzte Richtungen, sodass sich die Schenkel des Dreiecks in der Figur verschränken. Eine entsprechende Pose zeigen, um nur ein Beispiel zu nennen, die einen Globus haltenden Putten in Fra Bartolommeos um 1516 datiertem Gemälde »Salvator Mundi« für die Billi-Kapelle in Santissima Annunziata in Florenz (Abb. 6). 30 Rechts vorne bilden in dem Blatt die beiden Köpfe Alternativen zu ein und demselben Putto, der, ursprünglich nach links gewandt, durch Überzeichnen in einen Putto nach rechts verwandelt wurde. Diese Umorientierung nimmt in den Strichwirbeln der Köpfe, Körper und Hände eine Dynamik auf, wie sie früheren Zeichnern fremd war. Auch fördern die nur angedeuteten, vielfach offenen Konturen den Eindruck spontaner Bewegung. Er verlangt nach der Kreide, die der zeichnenden Hand flexibel folgt. Die Weißhöhungen deuten Stufen an und lassen das Inkarnat lebendig schimmern. Durch die Schraffen von links nach rechts stellt der Künstler Verbindungen unter den einzelnen Motiven her, durch wechselnde Abstände rhythmisiert er das Strichbild und deutet Gegenständliches an. Im Unterschied zu Rötel, der auf sinnlich Berührendes, erdhaft Gebundenes zielt, bewirkt der Abrieb der schwarzen Kreide Distanz und fördert im Verbund mit den dezenten Weißhöhungen Plastizität.

Abb. 6 Fra Bartolommeo, Salvator Mundi mit den vier Evangelisten, 1516, Öl auf Leinwand, 282 × 204 cm, Florenz, Palazzo Pitti, Galleria Palatina

Michelangelo Buonarroti

Caprese 1475 – 1564 Rom

Skelett einer Hand mit Unterarm, männlicher

Torso, rechter Unterarm um 1492

Feder in verschiedenen Brauntönen, Rötel, Rötelgrundierung, Griffelvorzeichnung

317 × 197 mm (Ecke oben links abgeschrägt)

Inv.-Nr. 2191 Z verso

Von dem Münchner Blatt aus der Sammlung Kurfürst Carl Theodors war lange nur seine Vorderseite bekannt. Diese zeigt den hl. Petrus nach Masaccios (1401–1428) Zinsgroschenfresko in der Brancacci-Kapelle in Santa Maria del Carmine in Florenz (Abb. 7). 31 Die um 1492 entstandene Zeichnung gehört zu einer kleinen Gruppe von frühen Werken Michelangelos, in denen er nach Fresken älterer Florentiner Maler kopierte. Sein von der Skulptur geprägtes künstlerisches Interesse ließ ihn dabei vor allem monumental formulierte Figuren auswählen. Für die Studien übernahm der junge Michelangelo die Technik der Kreuzschraffur seines Lehrers Domenico Ghirlandaio (1448–1494), entwickelte sie weiter und kam im Verlauf der neunziger Jahre des 15. Jahrhunderts zu einem neuartigen zeichnerischen Ordnungsprinzip.

Durch ein System von Kreuzschraffuren, formbeschreibender Linien und sich verflechtender Striche gelang es Michelangelo, auf dem Papier plastischer zu modellieren, als es bis dahin möglich schien. Seine Zeichnungen geben einen Begriff von tastbarer Materialität und Stofflichkeit, und in Aktdarstellungen erzielt er im Mit- und Gegeneinander von Freiflächen und feinen Strichverbänden den Eindruck pulsierender Lebendigkeit. Diese Entwicklung spiegelt die Rückseite des Münchner Blattes wider. Michelangelo verzichtete vollständig auf Konturlinien und entdeckte die Aussparung als negatives Umschreibungsverfahren. Sie ist bereits konstitutives Element in den Schüsselfalten des Gewandes des hl. Petrus auf der Vorderseite. Weil der Torso nicht bloß als Form beschrieben, sondern als organische Struktur begriffen ist, der die feinen Strichverbände und Freiflächen nachspüren, wirkt er so irritierend lebendig, wie vom Auf und Ab des Atmens bewegt.

7 Kat. 5 recto, Michelangelo Buonarroti, Hl. Petrus (nach Masaccio), Armstudien, Feder in verschiedenen Brauntönen, Rötel, die Petrusfigur und die untere Armstudie später in hellblauem Aquarell hinterholt

Abb.

Unbekannt

nach Michelangelo Caprese 1475 – 1564 Rom

Männlicher Rückenakt 1. Hälfte 16. Jahrhundert

Feder in Braun

370 × 214 mm (Ecken abgeschrägt)

Inv.-Nr. 13731 Z

Auf das Münchner Blatt »Hl. Petrus« (Abb. 7) (unter Kat. 5) folgt in zeitlichem Abstand der männliche Rückenakt der Casa Buonarroti, den die meisten Michelangelo-Forscher als eigenhändig anerkennen.32 Frederick Hartt datiert die Florentiner Zeichnung zwischen 1496 und 1500, Michael Hirst um 1504, Charles de Tolnay um 1504/05.33 Ein subtiles Netz feiner Schraffuren und Kreuzlagen im Wechsel mit lichten Aussparungen verleiht der Darstellung Bewegtheit und einen metallisch schimmernden Charakter. Die Münchner Zeichnung »Männlicher Rückenakt« gilt, wie Alexander Perrig unter Verweis auf markante Unterschiede herausgestellt hat, zu Unrecht als Kopie nach diesem Blatt.34

Für das Motiv sowohl des Florentiner als auch des Münchner und eines weiteren ähnlichen Blattes in Paris35 wird ein Zusammenhang mit den »Badenden Soldaten« des CascinaKartons gesehen, der in einer Grisaillekopie in Holkham Hall überliefert ist. Dort begegnet der Rückenakt in einer stärkeren Abwandlung.36 Johannes Wilde hat darauf verwiesen, dass der Akt auf das Vorbild eines spätrömischen Sarkophagreliefs mit Herkulesszenen zurückgeht, die Michelangelo über Nachbildungen gekannt haben muss.37 Die detaillierte Gestaltung der Muskulatur zeigt jedoch, dass der Künstler den Körper nicht nur an einem antiken Vorbild, sondern auch am lebenden Modell studiert haben dürfte. Im Unterschied zu Donato Bramantes »Sitzender männlicher Aktfigur« (Kat. 2) erscheint der Rückenakt in seiner komplizierten Perspektive und elaborierten Anatomie ins Dramatische gewendet und könnte sich als mustergültiges Exempel für Michelangelos Stil dargeboten haben.38

Die drei Zeichnungen in Florenz, München und Paris gehen möglicherweise auf eine gemeinsame Vorlage zurück. Das Münchner Blatt weist eine der Wirkung eines Kupferstichs verwandte präzisere Zeichenweise auf als die Version der Casa Buonarroti. Wie dort sind der linke Arm und das linke Bein nicht weiter ausgeführt. Die Figur selbst jedoch ist steiler auf das Blatt gesetzt und erscheint noch mehr ins Bild hineingedreht. Besonders deutlich wird dies an den Gesäßbacken, die im Florentiner Blatt leicht von der Seite, im Münchner nahezu frontal gesehen sind. Der Kopf zeigt in der

Abb. 8 Michelangelo Buonarroti, Karikatur einer Figur beim Bemalen einer Decke, 1512, Feder in Braun, Detail, Blatt 283 × 200 mm, Florenz, Archivio Buonarroti

Münchner Version eine leichte Neigung nach links, sodass die Ohren klarer hervortreten. Neben dieser Passage verdeutlicht auch die genau beobachtete Wadenmuskulatur, dass der Zeichner anatomisches Verständnis hatte. Er suchte die Ausdruckskraft seiner Version aber noch zu steigern und durch Zuspitzung Michelangelos Zeichnen zu interpretieren.39 Die leichte Drehung des Körpers forciert die Streckung zu äußerster Gespanntheit. In seiner dramatischen Formensprache wird der Akt zu einem Sinnbild für das psychologische Moment menschlichen Strebens, vielleicht noch mehr, als dies in dem Blatt der Casa Buonarroti zum Ausdruck kommt. Der gestreckte Rückenakt antizipiert eine kleine Zeichnung des Divino aus dem Jahr 1512, das ihn selbst in gestreckter Haltung beim Malen der Sixtinischen Decke zeigt und seine körperlichen Mühen illustriert (Abb. 8) 40 Eine alte Aufschrift auf der Münchner Zeichnung verweist auf Bartolomeo Passarotti (1529–1592) als möglichen Urheber, doch sind die Schraffuren und Kreuzlagen organischer und weniger schematisch als in Blättern des Bologneser Manieristen. Dass zuletzt ein Sammler die Ecken des Blattes kappte und dessen bildhafte Geschlossenheit damit verstärkte, bestätigt die ikonische Wirkung, die von Motiv und Zeichnung ausgeht.

unbefangen und verwundbar

Unbekannt

nach Raffael (?) Urbino 1483–1520 Rom

Die drei Grazien (antike Gruppe, heute Domopera, Siena), Vorder- und Rückansicht um 1500

Feder in Braun, zart graubraun laviert, links und unten braun umrandet

217 × 289 mm

Inv.-Nr. 36909 Z

Der Münchner »Rückenakt« nach Michelangelo (Kat. 6) reflektiert, wie eine antike Relieffigur im Zweidimensionalen durch ein neuartiges Strichsystem zu plastischer Wirkung geführt und als ein gespannter Organismus aufgefasst werden kann. Auch der Zeichner der »Drei Grazien« bezieht sich auf eine antike Skulptur. Wie das Fehlen des Kopfes und des Unterschenkels der jeweils mittleren Grazie erweist, liegt dem Blatt die römische Kopie eines hellenistischen Originals der »Drei Grazien« zugrunde, die sich Ende des 15. Jahrhunderts im Besitz von Kardinal Francesco Todeschini Piccolomini (1439–1503), dem späteren Papst Pius III. (reg. September–Oktober 1503), befand und heute in der Libreria Piccolomini im Dom zu Siena aufgestellt ist.41 Im Unterschied zu dem »Rückenakt« nach Michelangelo, der das Vorbild plastisch modelliert und belebt, werden im Fall der »Drei Grazien« die Formen linear umschrieben und zeichnerisch sublimiert. In den Drahtlinienkonturen betont das Blatt die Schönlinigkeit der Skulptur und formuliert einen Gegensatz auch zu Benozzo Gozzolis »Männlichem Akt« (Kat. 1), der gerade durch das Vermeiden von Konturen so verletzlich wirkt. Die wie hingehauchten Lavierungen geben den »Drei Grazien« eine luzide Zartheit, in der die antike Körperlichkeit auf einfühlsame Weise aufgehoben erscheint.

In der Frühzeit des Studiums unbekleideter weiblicher Figuren um 1500 wurde kaum nach der Natur gearbeitet. Man hielt sich an das Nachzeichnen von antiken Skulpturen. In ihnen bot sich der menschliche Körper bereits künstlerisch umgesetzt dar, sodass sich dessen Anschauung den Zeichnern über die Bildwerke leichter erschloss als über die Naturvorbilder selbst.42 Die »Drei Grazien« empfahlen sich als Vorbild ganz besonders, insofern das Bildwerk den weiblichen Körper in unterschiedlichen Haltungen und Blickwinkeln zeigt. Das Münchner Blatt gibt die Skulptur zudem in Vorder- und Rückansicht wieder. Da die beiden innersten Figuren überlappen, entsteht ein Rapport aus sechs Ansichten im Wechsel von vorne und von hinten. Der Reigen ist ganz von den Konturen her gedacht, aufs Klarste strukturiert und geht über eine bloße Dokumentation der Figurengruppe weit hinaus. Während eines Aufenthalts in Siena 1502 soll der junge Raffael (1483–1520), dem graphischen Stil Antonio Pollaiuolos (1433–1498) und Maso Finiguerras (1426–1464) folgend, die Konturen der Statuengruppe in ununterbrochenen Federzügen gezeichnet haben. Dieses Blatt, so vermutet Alessandro Angelini, wurde in der Münchner Zeichnung kopiert.43 Somit wäre sie ein künstlerischer Beleg für den Aufenthalt Raffaels in Siena.

Rom 1499 – 1546

Venus Anadyomene um 1515

Rötel

243 × 147 mm

Inv.-Nr. 2459 Z

Das Blatt von Giulio Pippi, gen. Giulio Romano, »Venus Anadyomene«, trägt weder eine alte Inventarnummer noch den Stempel Lugt 2723, sodass seine Herkunft aus der Mannheimer Sammlung Kurfürst Carl Theodors nicht erwiesen ist. Die Zeichnung entstand im Zusammenhang mit einem prunkvollen Badezimmer für Kardinal Bernardo Dovizi da Bibbiena (1470–1520), das Raffael und seine Schüler im Vatikan 1516 ausstatteten.44 Sie entspricht dem stark zerstörten Fresko der »Venus Anadyomene« dort. Ein Stich von Marco Dente († 1527) zeigt seitengleich die Münchner Venus und zusätzlich in den Wolken die Entmannung des Uranus (Abb. 9) 45 Dessen Blut und Samen mit dem Meer vermischt, ließen Venus aus den Wassern entsteigen. Über deren Kopf und im oberen linken Eck des Blattes sind einige Rötelstriche zu sehen, die möglicherweise zu den Wolken gehören, auf denen in Dentes Kupferstich Kronos mit der Sichel und Uranos zu sehen sind. Sie könnten einem Beschnitt, der die Darstellung auf Venus konzentriert, ebenso zum Opfer gefallen sein wie der alte Sammlungsstempel und die alte Inventarnummer am unteren Rand.

Pentimenti in der Münchner Zeichnung entlang des Rückens und oberhalb des rechten Arms belegen, dass das Blatt weder eine Nachzeichnung nach dem Stich Dentes ist noch eine andere Zeichnung im Werkprozess kopiert, sondern selbst eine Studie im finalen Stadium der Bildfindung darstellt. Giulio Romano hat sich über das Standmotiv und die Drehung der Figur bereits Klarheit verschafft, doch sucht er noch nach letzten Feinheiten der Gestik. In der Haltung des rechten Armes spricht sich das Unbewusste des aus dem Schaum Geborenwerdens aus, ebenso in der wie empfangend geöffneten, unsicher tastenden Hand. Zugleich steht Venus in greifbarer Nacktheit mit prallem Schenkel und Gesäß und wringt ihr fülliges Haar aus. All dies ist in hoher Präzision mit dem Rötelstift gezeichnet. Er modelliert die Formen und taucht in den sacht nach rechts abfallenden Schraffuren die Szenerie in ein weiches, in den Schatten tiefrot gesättigtes Licht.

Abb. 9 Marco Dente, Die Geburt der Venus, nach Giulio Romano, nach 1515, Kupferstich, 261 × 172 mm, Cleveland, The Cleveland Museum of Art

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