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KOSMOS BLAUER REI TER
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KOSMOS BLAUER REI TER
Von Kandinsky bis Campendonk
Für das Kupferstichkabinett – Staatliche Museen zu Berlin herausgegeben von Andreas Schalhorn
Wir danken Wolfgang Wittrock und Oskar Matzel für die großzügige Förderung dieser Publikation.
Vorwort und Dank
Dagmar Korbacher
Einmal Schwabing und zurück
Das Kupferstichkabinett und der Kosmos des Blauen Reiters
Andreas Schalhorn 18 Wassily Kandinsky
Mit dem Heiligen Georg in die Gefilde der Abstraktion
Andreas Schalhorn 28 Franz Marc Jäger auf neuen Spuren der Kunst
Claudia Lojack
Paradiese auf Papier
Tiere in der Graphik von Franz
Marc und Heinrich Campendonk
Claudia Lojack
Prinz Jussuf und sein blauer Reiter
Else Lasker-Schüler und Franz Marc
Andreas Schalhorn
August Macke
Kritischer Blick und irdische
Harmonie
Andreas Schalhorn
Verehrt, verfemt, vermisst
Zur Sammlungs- und Verlustgeschichte des Blauen Reiters in der Nationalgalerie
Irina Hiebert Grun
Europa zu Gast
Die Schwarz-Weiß-Ausstellung des Blauen Reiters
Andreas Schalhorn
Blaue Reiterinnen
Gabriele Münter, Natalja Gontscharowa und Jacoba van Heemskerck
Claudia Lojack
Kokoschka und Campendonk
Der Blaue Reiter und sein Fortleben im Sturm
Andreas Schalhorn 102 Von blauen Klängen zum druckfrischen Jodeln
Aporien der Avantgarde:
Blauer Reiter, Sturm und Dada
Hans-Jürgen Hafner
Vorwort und Dank
Mit dem Blauen Reiter sind wir in Berlin fernab von dessen süddeutscher Heimat unterwegs. Dies zeigt sich auch darin, dass die teils herausragenden Werke aus diesem Kosmos die Sammlung des Kupferstichkabinetts der Staatlichen Museen zu Berlin zwar wesentlich bereichern, uns selbst und unserem Publikum bislang jedoch wenig präsent gewesen sind. So bringt diese Ausstellung – die erste unseres Museums, die sich dem Thema Blauer Reiter widmet – zahlreiche größere und kleinere Entdeckungen und Schätze ans Licht, etwa den weltweit einzigen Abzug von Wassily Kandinskys Holzschnitt Fuga, den kleinen Weißen Pfau von Natalja Gontscharowa, die zauberhaften Zeugnisse der privaten Bild-Korrespondenz von Else Lasker-Schüler und Franz Marc oder den kubistisch vibrierenden Eiffelturm von Robert Delaunay. Bereits in dieser knappen Aufzählung werden die enorme ästhetische, aber auch geistige Vielfalt des Blauen Reiters und seine gesamteuropäische Dimension deutlich. Die Künstler*innen dieses Kosmos haben auf jeweils eigene Art und in unterschiedlichen Kreisen als Wegbereiter*innen der Moderne gewirkt. Ihre Haltung der geistigen Offenheit kann für uns vorbildhaft sein, wenn wir uns Themen widmen, die auch in der heutigen Gesellschaft von Relevanz sind: die Fragen nach der Rolle von Künstlerinnen und feministischen Perspektiven in der Kunst, nach unserem Umgang mit dem Traditionellen und Volkstümlichen, aber auch mit dem Fremden oder Neuen, die Suche nach Identität sowie der Umgang mit Natur und Umwelt. Der Begriff des Kosmos mag dabei nicht nur auf Dynamiken und Beziehungsgeflechte zutreffen – sei es des Blauen Reiters oder der Gesellschaft im Allgemeinen –, sondern auch, ganz konkret, auf unsere Arbeit an dieser Ausstellung im Kosmos der Staatlichen Museen zu Berlin. So ist dieses Projekt wie kaum ein anderes geprägt vom fachlichen Austausch und Zusammenspiel mit unseren Schwesterinstitutionen, insbesondere der Kunstbibliothek, der Neuen Nationalgalerie, dem Museum Europäischer Kulturen und dem Museum für Islamische Kunst.
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Unser großer Dank gilt daher den Kolleg*innen jener Häuser, die uns als Berater*innen und als Leihgeber*innen unterstützten. Wir danken dem Museum Europäischer Kulturen, besonders Elisabeth Tietmeyer, Jane Redlin, Kirstin Csutor, Maja Bolle und Alicija Steczek, für vier Leihgaben, darunter als besonderes Highlight eine oberbayerische Votivtafel aus dem 18. Jahrhundert. Ein weiterer Dank gilt der Kunstbibliothek für die zeitweilige Überlassung von drei Graphiken von Gabriele Münter, Plakaten von Oskar Kokoschka und Franz Marc sowie zwei Exemplaren des Almanachs Der Blaue Reiter. Hier danken wir Moritz Wullen, Joachim Brand, Katrin Käding, Christina Thomson, Michael Lailach, Martin Rossbacher
Dagmar Korbacher
↑ Gabriele Münter Auf dem Balkon der Ainmillerstraße 36, München (von links: Maria Franck-Marc, Franz Marc, Bernhard Koehler, Heinrich Campendonk, Thomas de Hartmann, sitzend Wassily Kandinsky), 1911, Fotografie, 8,6 × 8 cm
und Dank und Anne Prothmann. Aus der Neuen Nationalgalerie bereichern Gemälde von August Macke, Alexej von Jawlensky und Natalja Gontscharowa die Ausstellung. Dafür sind wir Klaus Biesenbach, Joachim Jäger, Irina Hiebert Grun und Hana Streicher zu großem Dank verpflichtet. Wir wurden dankenswerterweise auch von einem privaten Leihgeber, der nicht genannt werden will, durch Werke unterstützt. Die Berliner Künstlerin Daniela Comani bereichert unsere Ausstellung durch die Leihgabe unter anderem ihrer Photo-Arbeit Die Blaue Reiterin. Sie setzt damit einen besonderen Impuls, für den wir ihr sehr danken.
Der Begleitband zur Ausstellung wurde ermöglicht durch die großzügige Förderung von Wolfgang Wittrock und Oskar Matzel. Für die Unterstützung bei der Herstellung des Katalogs gilt unser Dank Marika Mäder (Kunstbibliothek – Abteilung Publikationen und Merchandising) und dem Deutschen Kunstverlag. Ganz besonders danken wir neben der Gestalterin Kathleen Bernsdorf den Autor*innen, die diesen Band mit ihren Beiträgen bereichern und so die vielen Facetten der Bild- und Geisteswelten des Blauen Reiters deutlich werden lassen. Zu ihnen zählen neben dem Kurator der Ausstellung, Andreas Schalhorn, sowie der wissenschaftlichen Museumsassistentin Claudia Lojack auch Irina Hiebert Grun von der Neuen Nationalgalerie und Hans-Jürgen Hafner aus Berlin.
Kosmos Blauer Reiter ist, wie jede Ausstellung im Kupferstichkabinett, das Produkt eines ganz eigenen Kosmos, der von vielen gebildet wird, denen wir zu Dank verpflichtet sind. Ganz besonders zu nennen sind die Kolleg*innen in den verschiedenen Abteilungen der Stiftung Preußischer Kulturbesitz, vor allem Dirk Ueckert und Leif Katterwé. Für die Konzeption des Vermittlungsprogramms danken wir ferner Ines Bellin, für die Presse- und Öffentlichkeitsarbeit Mechtild Kronenberg, Fabian Fröhlich und Markus Farr.
An der Vorbereitung der Ausstellung war das gesamte Team des Kupferstichkabinetts beteiligt; allen Kolleg*innen gilt unser herzlichster Dank: insbesondere Alexandra Ebert (Ausstellungsmanagement), Hanka Gerhold, Georg Josef Dietz (Restaurierung / Konservierung), François Belot (Passepartouts), Christian Jäger, Felix Schreier, Michel Hansow (Rahmung und Ausstellungsaufbau), Andreas Heese und Dietmar Katz (Digitalisierung) sowie Katrin Falbe (Sekretariat). Besonders hervorzuheben sind Claudia Lojack, die sich als wissenschaftliche Museumsassistentin in Fortbildung um die Thematisierung der weiblichen Perspektiven innerhalb des Blauen Reiters verdient gemacht hat, und natürlich der Kurator der Ausstellung, Andreas Schalhorn. Ihm gilt mein größter und herzlichster Dank, denn es gelingt ihm nicht nur, bis heute relevante Themen des Blauen Reiters auf eigene Art anschaulich zu machen, sondern den Kosmos des Blauen Reiters auf ganz besondere Weise zum Klingen zu bringen. ●
Gabriele Münterund Johannes Eichner-Stiftung, München Alex e j von Jawlensk y Weiblicher Kopf III, um 1920 (nach Tuschezeichung, ca. 1912) Lithographie, 30 × 24,5 cm (Druck)
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231-1923
Vorwort
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Wassil y Kandinsk y Umschlag des Almanachs Der Blaue Reiter , (allgemeine Ausgabe), 1. Auflage, 1912
Galvanodruck nach Farbholzschnitt auf Leineneinband, 27,9 × 21,1 cm (Druck) Staatliche Museen zu Berlin, Kunstbibliothek
Andreas Schalhorn
EINMAL SCHWABING UND ZURÜCK
Das Kupferstichkabinett und der Kosmos des Blauen Reiters
Schwabin g und zurück
Einmal
DerBlaue Reiter und das Berliner Kupferstichkabinett, wie passt das zusammen? Was die moderne Kunst angeht, werden viele das Museum eher mit Edvard Munch und Ernst Ludwig Kirchner, mit Max Beckmann oder Käthe Kollwitz in Verbindung bringen. All diese Künstler*innen – Max Liebermann als „Vater“ der Berliner Moderne nicht zu vergessen – lebten zumindest zeitweise in Berlin und waren dem Kupferstichkabinett oft eng verbunden. Sie konnten auf Galeristen, Sammler*innen und Verleger in der Stadt zählen, die Ankäufe forcierten und Schenkungen tätigten.
Diese Grundlage hatte der 1911 von Wassily Kandinsky und Franz Marc in München aus der Taufe gehobene Blaue Reiter nicht. Zwar fand er bereits im folgenden Jahr mit Herwarth Waldens Galerie Der Sturm in Berlin eine engagierte Vertretung S. 95, 104, doch schon 1914, mit dem Beginn des Ersten Weltkriegs, löste sich das lockere Konstrukt um Marc und Kandinsky wieder auf. Letzterer musste als Ausländer Deutschland verlassen, Ersterer zog in den Krieg und fiel 1916 vor Verdun.
Die „Marke“ Blauer Reiter – die Namensrechte lagen übrigens bei Kandinsky – war lange Zeit keine Erfolgsgeschichte, auch wenn die Wertschätzung speziell für Franz Marc bis in die Zeiten des Nationalsozialismus hinein groß war und viele Künstler*innen nach dem Ende des Ersten
Weltkriegs ihre Karrieren mit Erfolg fortsetzten. Dies gilt besonders für die am Bauhaus in Weimar als Lehrer wirkenden Paul Klee und Wassily Kandinsky.
bestehen.“ 3 Nichtsdestotrotz gelangten im folgenden Jahr fünf weitere Druckgraphiken des Künstlers ins Museum. Angekauft wurden sie von dem Münchner
„Die Welt klingt. Sie ist ein Kosmos der geistig wirkenden Wesen.“
Wassily Kandinsky
1
Zusammen mit Alexej von Jawlensky und Lyonel Feininger bildeten sie 1924 die Ausstellungsgemeinschaft Die Blaue Vier, die bald von der gebürtigen Braunschweiger Galeristin Galka Scheyer in den USA als The Blue Four vermarktet wurde.
Ein kurzer Galopp durch die Sammlungsgeschichte
1916, im Todesjahr von Franz Marc, gelangte mit der Lithographie Hirschpaar S. 36 eine erste Druckgraphik aus dem Kreis des Blauen Reiters in die Sammlung. Erworben wurde sie in München von der Buch- und Kunsthandlung Hans Goltz, in welcher vom 12. Februar bis 18. März 1912 Die zweite Ausstellung der Redaktion der Blaue Reiter. Schwarz-Weiss stattgefunden hatte S. 69 – 76 . An die Nationalgalerie S. 63 – 67 gelangten drei Jahre nach dem ersten MarcAnkauf des Kupferstichkabinetts seine Postkarten an Else Lasker-Schüler S. 2, 31, 44, 49 – 51 .
Curt Glaser (1879 – 1943), von 1912 bis 1924 am Kupferstichkabinett für die Gegenwartskunst verantwortlicher Wissenschaftler, setzte bei Ankäufen besonders auf Edvard Munch und Ernst Ludwig Kirchner. 1912 hatte er für seine Privatsammlung das Gemälde Die großen blauen Pferde (1911) von Franz Marc erworben,2 das er jedoch einige Jahre später wieder veräußerte. Die Malerei des Blauen Reiters tat Glaser, der als Kunstkritiker sehr aktiv war, als dekorativ ab. So schrieb er 1916 in seiner Rezension der Gedächtnisausstellung für Franz Marc in der Galerie Der Sturm: „Marcs Kunst ist ein Münchner Gewächs, im Guten wie im Bösen. Sie vermochte dem Schauenden manche Lust zu gewähren, und wer sie auf Dauer erträgt, mag sich ihrer, als eines heiteren Wandschmucks, freuen. Aber neben dem, was Malerei uns scheint, ist sie nicht im Stande, ernstlich zu
Antiquar Emil Hirsch, der mit Franz Marc befreundet gewesen war. Von diesen Werken entging nur die Lithographie Spielende Wiesel S. 10 dem Verlust anlässlich der im Sommer des Jahres 1937 durchgeführten NS-Beschlagnahmeaktion „Entartete Kunst“.
Curt Glasers Amtsnachfolger Willy Kurth (1881 – 1963), der in der Sammlungspolitik neue Akzente setzte, wenngleich Ernst Ludwig Kirchner weiterhin im Zentrum stand, bereicherte zwischen 1927 und 1936 den Marc-Bestand um sechs Graphiken, von denen 1937 nur der farbige Holzschnitt Ruhende Pferde S. 34 der Beschlagnahme entging.4 Kurth, der damals mit großem Wagemut viele Werke der Moderne vor dem Verlust rettete,5 hatte 1930 mit dem Buch Klänge S. 23 ein erstes Werk mit Graphiken von Kandinsky für das Kupferstichkabinett erstanden. 1931 gelangte mit dem Holzschnitt Begrüßung ein erster Druck von August Macke in die Sammlung. Er war Teil der Dritten Bauhaus-Mappe (Weimar 1921), die unter anderem Holzschnitte von Franz Marc, Oskar Kokoschka und Jacoba van Heemskerck S. 91 enthielt.
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Marc Spielende Wiesel, 1909 / 10, Lithographie, 28,5 × 19 cm (Druck)
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Von Paul Klee ging 1937 die gesamte, zwischen 1927 und 1932 erstandene Druckgraphik verloren. Dies gilt auch für einen Teil der Werke von Heinrich Campendonk S. 42, 43 und Alfred Kubin, die Kurth bis in die 1930er-Jahre erworben hatte. Wie im Fall von Alexej von Jawlensky, von dem in den 1920er Jahren einige wenige Blätter angekauft wurden S. 7, handelte es sich zumeist um Graphiken, die erst nach der Auflösung des Blauen Reiters entstanden waren.
Nach der Zäsur, welche die Aktion „Entartete Kunst“ und die Zeit des Nationalsozialismus darstellten, wurde der Bestand an Arbeiten von Künstlern aus dem Kreis des Blauen Reiters – zu nennen sind Franz Marc, Wassily Kandinsky, Heinrich Campendonk und Alfred Kubin – ab den 1950er-Jahren am nun geteilten Kupferstichkabinett im Westen und Osten Berlins ergänzt. 1937 beschlagnahmte Marc-Holzschnitte wie Tiger S. 28 oder Trinkendes Pferd S. 39 wurden 1958 vom Kupferstichkabinett Ost neu erworben. Das
Kleinhöhenkirchen, Landkreis
Votivtafel aus
Miesbach Maria hilft bei einem Unglück mit Pferdewagen, 1755
Öl auf Holz, 45 × 54 cm Staatliche Museen zu Berlin, Museum Europäischer Kulturen
Kabinett im Westen der Stadt kaufte in den 1960ern von diesem Druck gleichfalls einen Abzug an.6 Von Wassily Kandinsky wurden ferner ein Exemplar von Klänge und mehrere Einzelblätter vgl. S. 25, 26 erstanden. In Ost-Berlin kamen in den 1960er- und 1980erJahren zahlreiche Titelblätter und ganze Ausgaben von Herwarth Waldens Zeitschrift Der Sturm mit Illustrationen etwa von Oskar Kokoschka S. 97, Max Pechstein S. 80 , Heinrich Campendonk S. 100, 101 und Gabriele Münter S. 84 hinzu, im Westen Berlins 1987 Lithographien von Natalja Gontscharowa S. 86, 87. Von ihr, Michail Larionow und Wassily Kandinsky war vier Jahre zuvor als Schenkung des ehemaligen DDR-Außenministers Lothar Bolz (1903 – 1986) auch Graphik ins Kupferstichkabinett Ost gelangt S. 88 .
All diesen Sammlungsaktivitäten vorausgegangen war 1949 die Wiederentdeckung des Blauen Reiters infolge der großen Ausstellung Der Blaue Reiter. München und die Kunst des 20. Jahrhunderts. Der Weg
Einmal
Schwabin g und zurück
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El Greco Der hl. Johannes der Täufer (1945 zerstört), 1577 –1579 Öl auf Leinwand, 110 × 70 cm (Reproduktion im Almanach Der Blaue Reiter )
Staatliche Museen zu Berlin, Kunstbibliothek
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Europäischer Kulturen
Heinrich Rambold Die Jungfrau Maria, ca. 1934 Hinterglasmalerei, 14,3 × 10,8 cm Staatliche Museen zu Berlin, Museum
g und zurück von 1908 – 1914 im Haus der Kunst in München.7 Ironie des Schicksals: Der im Nationalsozialismus errichtete Ausstellungsbau, der im Juli 1937 als „Haus der Deutschen Kunst“ mit der Großen Deutschen Kunstausstellung eröffnet worden war, befand sich unweit der Hofgartenarkaden, in denen damals zeitgleich die erste Station der Femeausstellung Entartete Kunst mit vielen Werken des Blauen Reiters stattgefunden hatte. In München entwickelte sich nach dem Zweiten Weltkrieg die Städtische Galerie im Lenbachhaus durch eine große Schenkung von Gabriele Münter im Jahr 1957 und den Sitz der Gabriele Münter- und Johannes Eichner-Stiftung (1966) zur ersten Adresse für Forschungs- und Ausstellungsvorhaben zum Blauen Reiter.
Zu dessen Dunstkreis gehören Künstler*innen, die in vielen deutschen Museen fehlen und weder im Kupferstichkabinett (eingeschlossen die nun hier befindliche Sammlung der Zeichnungen) noch in der Neuen Nationalgalerie vertreten sind, wie Albert Bloch, Jean-Bloé Niestlé, Elisabeth Epstein oder David und Wladimir Burljuk. Allerdings handelt es sich dabei keineswegs um Schlüsselfiguren des Blauen Reiters. Viele von ihnen waren zudem keine ausgeprägten Zeichner*innen oder Druckgraphiker*innen.
Der Blaue Reiter und der Geist des Almanachs
Der Blaue Reiter war im Unterschied zur 1905 in Dresden gegründeten Brücke ohnehin kein festes
Kollektiv. Anders auch als die 1909 im „rosafarbenen Salon“ von Marianne von Werefkin ins Leben gerufene Neue Künstlervereinigung München – seine Keimzelle – besaß er weder eine Satzung noch feste Mitglieder oder einen Vorstand. Bei allen Ambitionen blieb er ein loser Verbund an Künstler*innen, die sich mehr oder weniger eng zwischen 1911 und 1914 mit einer Redaktionsgemeinschaft als Zentrum und Schnittstelle verbanden. Diese bestand aus dem gebürtigen Münchner Franz Marc und dem seit 1896 in der bayerischen Residenzstadt – Adresse: Ainmillerstraße 36 in München-Schwabing – lebenden Russen Wassily Kandinsky. Hier hatte der Blaue Reiter, ergänzt durch „Außenstellen“ in Murnau und Sindelsdorf, sein kreatives Zentrum, wie Kandinsky 1930 rückblickend bekräftigte: „Schwabing war eine geistige Insel in der großen Welt, in Deutschland, meistens in München selbst.“ 8 In diesem kreativen Milieu – Paul Klee etwa wohnte in derselben Straße, Marianne von Werefkin in der nahen Giselastraße – nahm der Blaue Reiter im Jahr 1911 Gestalt an. Den finalen Impuls, an die Öffentlichkeit zu treten, gab ein kalkulierter Konflikt Kandinskys mit konservativen Mitgliedern der Neuen Künstlervereinigung München, der neben Gabriele Münter und ihm seit kurzem auch Franz Marc angehörte. Unter anderem Adolf Erbslöh und Alexander Kanoldt lehnten am 2. Dezember 1911 auf einer Jurysitzung Kandinskys abstraktes Gemälde Komposition V (heute MoMA, New York) als Werk für die dritte Ausstellung der Vereinigung ab, da es die maximale Größe für Exponate überschritt. Kandinsky und Marc verließen den Verein ebenso wie Alfred Kubin und Gabriele Münter. Andere Mitglieder wie Alexej von Jawlensky und Marianne von Werefkin zogen diesen Schritt erst später in Erwägung.
Der Name Blauer Reiter als Bezeichnung für die Redaktionsgemeinschaft Kandinsky /Marc war damals bereits in der Welt. Zu seinem Zustandekommen schrieb Kandinsky viele Jahre später: „Den Namen ‚Der Blaue Reiter‘ erfanden wir am Kaffeetisch in Sindelsdorf; beide liebten wir Blau, Marc – Pferde, ich – Reiter. So kam der Name von selbst. Und der märchenhafte Kaffee von Frau Maria Marc mundete uns noch besser.“ 9 Mit der Farbe Blau, bei Marc für das männlich-geistige Prinzip stehend S. 29, wird der besondere Hang zur Spiritualisierung – bei Marc auch
Einmal
Schwabin
„Animalisierung“ – der Kunst deutlich. Im Fall von Kandinsky wurde diese durch die Auseinandersetzung mit der damals im Mode gekommenen Theosophie und der Anthroposophie Rudolf Steiners beflügelt.
Der Blaue Reiter trat zuerst in Form von zwei Ausstellungen im Herzen von München in Erscheinung: Die erste fand vom 18. Dezember 1911 bis 1. Januar 1912 in gezielter Reaktion auf die im selben Gebäude präsentierte dritte Ausstellung der Neuen Künstlervereinigung München in zwei Räumen der Modernen Galerie von Heinrich Thannhauser statt.10 Sie konzentrierte sich auf 43 Gemälde von 12 Künstlern – darunter August Macke und Heinrich Campendonk – sowie von Elisabeth Epstein und Gabriele Münter und ging im Anschluss in modifizierter Form S. 104, 107 auf
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Unbekannt Schattenspielfigur, Ägypten, 15. oder 17. Jh. Kamelleder und Pergament, 91 × 61 cm Staatliche Museen zu Berlin, Museum für Islamische Kunst
Tournee durch Deutschland und das europäische Ausland. Die bald nachgeschobene zweite Ausstellung, Werken der Kunst auf Papier gewidmet und eine deutlich größere Zahl an Künstler*innen umfassend, wurde, wie bereits erwähnt, im Februar und März 1912 in der Buch- und Kunsthandlung Hans Goltz gezeigt.
Im Mai 1912 erschien schließlich der seit Sommer des Vorjahres in Planung befindliche Almanach Der Blaue Reiter, für den anfangs der Name „Die Kette“ in Erwägung gezogen worden war. Den in einer Auflage von 1200 Exemplaren gedruckten Band verlegte Reinhard Piper (1879 – 1953), der kurz zuvor auch Kandinskys Buch Über das Geistige in der Kunst publiziert hatte. Die Luxusausgabe (50 Exemplare) des Almanachs enthielt den von Marc per Schablone handkolorierten Holzschnitt Fabeltier S. 38 als Beigabe. 11 Kandinsky erstellte den in fünf Farben gedruckten Holzschnitt Bogenschütze S. 24
Finanzier war mit dem Berliner Unternehmer Bernhard Koehler (1847 – 1927) S. 6, 105 Onkel von August Mackes Frau Elisabeth, der sich als Sammler von alter und neuer Kunst sowie als Förderer von Franz Marc einen Namen machte. Gewidmet war das Buch dem im November 1911 verstorbenen Hugo von Tschudi (1851 – 1911), Direktor der Staatlichen Galerien München, dem zuvor in Berlin im (schließlich verlorenen) Konflikt mit dem konservativen Kaiser der Einzug des französischen Impressionismus in die Nationalgalerie gelungen war.
Einige der Künstler*innen, die im Almanach oder einer der beiden Ausstellungen mit Werken vertreten waren – man denke an Alfred Kubin –, hatten wie Kandinsky und Marc zuvor der Neuen Künstlervereinigung München angehört, andere wurden für die Ausstellungen des Blauen Reiters gezielt eingeladen. Wie bereits von der Neuen Künstlervereinigung München praktiziert, kam es zu Verbindungen mit der Berliner, Pariser, Moskauer oder Schweizer Kunstszene. Eine einheitliche Formensprache, wie sie der Kubismus in Frankreich etabliert hatte, konnte – und sollte – es dabei nicht geben. Dies bezeugt das aus einem Satz bestehende Vorwort im schmalen Katalog zu Die erste Ausstellung der Redaktion Der Blaue Reiter : „Wir suchen in dieser kleinen Ausstellung nicht eine präzise und spezielle Form zu propagieren, sondern wir bezwecken in der Verschiedenheit der vertretenen Formen zu zeigen, wie der innere Wunsch der Künstler sich mannigfach gestaltet.“ 12
Der gleichwohl hohe Anspruch, der damit verbunden war, geht aus einem Beitrag von Franz Marc für den
Almanach Der Blaue Reiter hervor. In diesem benennt er das von ihm postulierte Ziel der „neuen ‚Wilden‘ Deutschlands“, womit er die damaligen expressionistischen Bewegungen in seinem Heimatland meinte, mit einigem Pathos: „Durch ihre Arbeit ihrer Zeit Symbole […] schaffen, die auf die Altäre der kommenden geistigen Religion gehören und hinter denen der technische Erzeuger verschwindet.“ 13
Die besagte Stilvielfalt besaß ihren Wurzelgrund in den kunsttheoretischen Überlegungen Wassily Kandinskys, die dieser in seinem Buch Über das Geistige in der Kunst (München 1912) erstmals formuliert hatte und im Almanach in seinem Aufsatz Über die Formfrage wieder aufgriff. Neben der von ihm in seiner Kunst angestrebten „Großen Abstraktion“ gibt es als gleichwertigen künstlerischen Gegenpol die „Große Realistik“. Diese umfasst den Bereich der naiven und phantastischen, bisweilen unkünstlerisch anmutenden Bildproduktion, für die etwa auch Kinderzeichnungen oder die eher amateurhaften Gemälde des Komponisten Arnold Schönberg S. 104 einstehen können. Die Zwischenbereiche dieser beiden Pole eingeschlossen, ergibt sich ein weites Feld der Bildproduktion, in der sich Geistiges mannigfaltig manifestieren kann. Auf dieser Philosophie basiert das Konzept des Almanachs, der durch das Mitwirken von Franz Marc – der Kontakt zum Verleger Reinhard Piper geht auf ihn zurück – Realität wurde. Dabei ging es Kandinsky darum, „ein Buch (eine Art Almanach) zusammenzustellen, am dem sich ausschließlich Künstler als Autoren beteiligen sollten. Ich träumte von Malern und Musikern in erster Linie. Die verderbliche Absonderung der einen Kunst von der anderen, weiter der ‚Kunst‘ von der Volks-, Kinderkunst, von der ‚Ethnographie‘, die fest gebauten Mauern zwischen den in meinen Augen so verwandten, öfters identischen Erscheinungen, mit einem Wort die synthetischen Beziehungen ließen mir keine Ruhe.“ 14
Unbekannt Bayerisches Spiegelbild St. Martin (Frontispiz des Almanachs Der Blaue Reiter ), 1912, Lichtdruck nach Vorlage von Gabriele Münter, 16,8 × 12 cm (Druck), Staatliche Museen zu Berlin, Kunstbibliothek
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Ein Holzschnitt wie die Gruppe von sieben Pferden von Hans Baldung S. 40 begleitet dabei den Aufsatz Über Anarchie in der Musik des russischen, in München lebenden Komponisten Thomas de Hartmann S. 6, 105 Eingebunden in einen Beitrag von Arnold Schönberg wiederum wurde dem Heiligen Johannes von El Greco das Gemälde La Tour Eiffel von Robert Delaunay S. 12, 73 gegenübergestellt. Beide Werke gehörten damals Bernhard Koehler.15
Zudem bezieht der Almanach vielfach in kolonialen Zusammenhängen in deutsche Museen gelangte Objekte der Weltkulturen ein, wie etwa Artefakte aus dem asiatischen oder afrikanischen Raum, darunter damals von vielen Künstler*innen geschätzte japanische Farbholzschnitte. Abgebildet wurden auch einige ägyptische Schattenspielfiguren aus der Königlich Ethnographischen Sammlung (heute: Museum Fünf Kontinente) in München, wie sie in Berlin das Museum für Islamische Kunst besitzt S. 14. In beiden Fällen war der Hallenser Forscher Paul Kahle, der sie 1911 aus Ägypten mitgebracht hatte, der Vorbesitzer.
Dementsprechend nimmt der Almanach in Gestalt von 141 zumeist schwarz-weißen Illustrationen neben der Malerei und Graphik der damaligen Gegenwartskunst die gesamte europäische Kultur- und Bildgeschichte in den Blick – vom mittelalterlichen Mosaik in San Marco, Venedig, bis zum Stillleben von Paul Cézanne.
Kein geringes Gewicht kam im Almanach, der neben Kinderzeichnungen auch Notenbeispiele zeitgenössischer Komponisten integrierte, der sogenannten Volkskunst zu: Neben russischen Volksbilderbögen des späten 19. Jahrhunderts S. 22, 70 waren dies vor allem bayerische Hinterglasgemälde und oftmals aus Holz angefertigte, ursprünglich für die Anbringung in Kirchen und Kapellen hergestellte Votivbilder – Zeugnisse
Einmal
Schwabin
der Volksfrömmigkeit, die vielen Künstler*innen des Blauen Reiters aus dem bayerischen Voralpenland bestens vertraut waren. Wie ein Votivbild des 18. Jahrhunderts im Museum Europäischer Kulturen S. 11 eindrucksvoll bezeugt, konnten diese, wie die naiven Gemälde des 1910 verstorbenen Henri Rousseau, für Kandinskys „große Realistik“ einstehen, deren Zauber, ja Magie gerade in ihrem unkünstlerischen Habitus liegt.16 Das Volkstümlich-Religiöse – mit Maria als
1 Wassily Kandinsky, „Über die Formfrage“, in: Wassily Kandinsky und Franz Marc (Hrsg.), Der Blaue Reiter, Dokumentarische Neuausgabe von Klaus Lankheit, München 1984, S. 132 – 182, hier S. 168.
2 Glaser hatte das Gemälde auf der ersten Ausstellung des Blauen Reiters wohl auf der Berliner Station in der Präsentation bei Herwarth Walden vgl. S. 95 erworben. Es befindet sich seit 1942 im Walker Art Center, Minneapolis.
3 Curt Glaser in der Kunstchronik, NF XXVIII.7 (10. 11. 1916), S. 57 – 59, hier zit. n. Andreas Strobl, Curt Glaser. Kunsthistoriker – Kunstkritiker – Sammler. Eine deutschjüdische Biografie, Köln u. a. 2006, S. 315 f.
4 1957 wurde der Verlust von Geburt der Wölfe durch den Ankauf eines anderen Abzugs vom Kupferstichkabinett West kompensiert (Inv. 26-1957).
5 Siehe zu Willy Kurth, der ModerneSammlung des Kupferstichkabinetts und der Beschlagnahmeaktion von 1937: Anita Beloubek-Hammer, Die Aktion „Entartete Kunst“ 1937 im
Hans Krötz studieren konnten. Es war jedoch Gabriele Münter, im Kopieren religiöser Hinterglasbilder geübt, die für das Frontispiz des Almanachs ein bayerisches Spiegelbild des Heiligen Martin in eine farbige Vorlage S. 15 übersetzte. Neben der abstrahierten Georgsfigur auf Kandinskys Umschlag S. 8, die ursprünglich ebenfalls auf einem Hinterglasbild des Künstlers fußt, nimmt somit gleich zu Beginn des Almanachs ein weiterer Heiliger zu Pferde eine prominente
Berliner Kupferstichkabinett. Kustos Willy Kurth rettet Meisterblätter der Moderne, Berlin 2023.
6 Bei Marc waren es oft von Maria Marc autorisierte Drucke aus dem Nachlass (Stempel: „Handdruck vom Originalholzstock bestätigt“) S. 30, 32, 34, die angekauft wurden.
7 Die Kunsthalle Basel zeigte ein Jahr später Der Blaue Reiter. 1908 – 1914. Wegbereiter und Zeitgenossen.
8 Wassily Kandinsky, „Der Blaue Reiter (Rückblick)“, in: Max Bill (Hrsg.), Kandinsky: Essays über Kunst und Künstler, Bern 1955, S. 133 – 138, hier S. 134.
9 Ebd., S. 137, Fußnote 1.
10 An der dritten Ausstellung der Neuen Künstlervereinigung München nahmen mit Wladimir von Bechtejeff, Alexej von Jawlensky und Marianne von Werefkin drei Künstler*innen teil, die sich später dem Blauen Reiter anschlossen, ohne bei den beiden Ausstellungen beteiligt zu sein.
11 Von der geplanten Museumsausgabe (10 Exemplare), die ein Aquarell oder eine Zeichnung erhalten sollte,
Verkörperung einer Wunder wirkenden Spiritualität – wurde von Kandinsky und Marc als verwandt zur eigenen Suche nach dem Geistigen als Movens ihrer Kunstproduktion begriffen.
Die Hinterglasmalerei hatte Gabriele Münter in Murnau, wo sie für Kandinsky und sich 1909 ein Haus erworben hatte, bei Heinrich Rambold (1872 – 1953) erlernt, von dem das Berliner Museum Europäischer Kulturen mehrere Werke besitzt S. 13. Auch Wassily Kandinsky und Heinrich Campendonk schufen Hinterglasbilder, deren Technik und Geschichte sie in der reichen Sammlung des Murnauer Braumeisters
ist nur ein Exemplar überliefert (Städtische Galerie im Lenbachhaus und Kunstbau München).
12 Die erste Ausstellung der Redaktion Der Blaue Reiter, Ausst.-Kat. Moderne Galerie Thannhauser, München 1911, o. S. (Fettschrift im Original).
13 Franz Marc, „Die ‚Wilden‘ Deutschlands“, in: Kandinsky / Marc (wie Anm. 1), S. 28 – 32, hier S. 31.
14 Vgl. Kandinsky (wie Anm. 8), S. 134 f.
15 Beide Werke wurden Ende des Zweiten Weltkriegs zerstört.
16 Zu diesem Thema vgl. Anm. 1, S. 81 – 85 und S. 93 f. (zu Rousseau und Schönberg). Zu den Illustrationen des Almanachs siehe Katharina Erling, „Der Almanach Der Blaue Reiter“, in: Christine Hopfengart (Hrsg.), Der Blaue Reiter, Ausst.Kat. Kunsthalle Bremen, Köln 2000, S. 188 – 239., hier S. 215.
17 Wassily Kandinsky, „Franz Marc (1936)“, in: Max Bill (Hrsg.), Kandinsky. Essays über Kunst und Künstler, Bern 1955, S. 195 – 201, hier S. 198.
18 Vgl. Kandinsky (wie Anm. 8), S. 135.
Stellung ein und wird zum zweiten Schutzpatron der Publikation. Wie der heilige Martin den Mantel mit einem Bettler teilte, so möchte der Almanach mit seinen Leser*innen als „Bedürftigen“ die in ihm ausgebreiteten „geistigen Güter“, so der Titel des Einführungstextes von Franz Marc, teilen!
Während der Almanach zu einem Erfolg wurde – 1914 erschien die zweite Auflage –, blieb die Kunst des Blauen Reiters, sofern sie überhaupt wahrgenommen wurde, für die Öffentlichkeit lange Zeit eine Zumutung. Dies galt nicht nur für die in die Abstraktion führenden Bilder von Wassily Kandinsky, sondern
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auch für die Werke seines Mitstreiters Franz Marc. So schrieb Kandinsky 1936 anlässlich des 20. Todestags seines Künstlerfreundes, die in NS-Deutschland damals bereits grassierende Verfolgung der modernen Kunst völlig ausblendend: „Ich denke, daß es heute ziemlich schwierig ist, jemanden zu finden, der sich verletzt fühlt und sich erzürnt, wenn er auf einer Leinwand eine zitronengelbe Kuh sieht, ein ultramarinblaues Pferd, einen zinnoberroten Löwen. Aber damals ging das Publikum ‚an den Wänden hoch‘ und war bis in die Tiefen seiner Seele beunruhigt von diesen ‚Grimassen‘ und der Tendenz, ‚den Bürger zu verblüffen‘ und ihn zu beleidigen. Man fühlte sich
Ste p han
Arndes Die Zerstörung der Mauern Jerichos durch den Klang der Posaunen (aus der Lübecker Bibel), 1494, Holzschnitt, 10,3 × 19,7 cm (Druck) Im Almanach verwendet zur Illustration von Kandinskys Beitrag Der gelbe Klang Ident.-Nr. Sign. 2666
angespuckt, mehr noch, man spuckte selber auf unsere Werke.“ 17
Diese Zeiten sind seit langem vorbei. Doch wie die in diesem Band vereinten Arbeiten von Kandinsky bis Campendonk, von Derain bis Kirchner, von Münter bis van Heemskerck auf ihre jeweils eigene Weise bezeugen, war der Kosmos Blauer Reiter im Spannungsfeld der zahlreichen Kunstbewegungen seiner Zeit auch mit seiner Kunst auf Papier ein wahres Laboratorium der Moderne. Denn, um noch einmal Wassily Kandinsky zu Wort kommen zu lassen: „Es dampfte nur so!“ 18 ●
Einmal
Schwabin g und zurück
Andreas Schalhorn
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WASSILY KANDINSKY
Mit dem Heiligen Georg in die
Gefilde der Abstraktion
▶ Wassily Kandinsky (1866 – 1944), der Älteste im Kreis des Blauen Reiters, kam Ende 1896 nach München, wo er zuerst eine private Malschule besuchte, ehe er an der Kunstakademie bei Franz von Stuck studierte. Zuvor hatte der gelernte Jurist, Nationalökonom und Ethnologe als künstlerischer Leiter einer Druckerei in Moskau gearbeitet. Seine frühe Malerei
Kandinskys Monogramm die Ausrichtung vorgibt. Denn während eine festlich gekleidete Frau mit Kopfschmuck, die wir auch in anderen Holzschnitten desselben Jahres finden, sich am rechten Rand weiteren Personen zuwendet, stürzt eine zweite Frau –den Kopf in eine Kapuze gehüllt und aus dem Bild schauend – mit vorwärts gestreckten Armen in die
„Die Farbe ist die Taste, das Auge ist der Hammer, die Seele ist das Klavier mit vielen Saiten.“
Wassily Kandinsky 1
und Graphik sind bis etwa 1908 – von impressionistischen Anklängen abgesehen – noch von Jugendstil und Symbolismus geprägt. Vielfach stehen dabei Motive im Zentrum, die aus der russischen Fabel- und Märchenwelten stammen.
Der farbige Linolschnitt Der Spiegel S. 21, für den Kandinsky zuerst den Titel Dichtung in Erwägung gezogen hatte, entstand während seines Aufenthalts in Sèvres bei Paris, wo er mit Gabriele Münter von 1906 bis 1907 lebte. Es fällt auf, dass die schwarz gedruckten Partien dominieren. Die aus der Linoleumplatte geschnittenen, im Druck weißen Linien und Strukturen wurden mittels eines zweiten Druckstocks koloristisch ergänzt. Dies gilt für die in einer Blumenwiese stehende Frau, die den Betrachter*innen einen Handspiegel zeigt, ebenso wie für das landschaftliche Setting. Auffallend sind am Himmel, der viel Raum einnimmt, die ornamental anmutenden Wolken, die in ein abendliches Rosa getaucht sind.
Während von Der Spiegel immerhin einige Abzüge existieren, ist der im selben Jahr entstandene Holzschnitt Fuga S. 20 ein Unikat. Bei der nur in Schwarz gedruckten Komposition ist auf den ersten Blick unklar, ob es sich um ein Hoch- oder Querformat handelt, auch wenn
Horizontale. Sie trägt ein wallendes, gepunktetes Kleid, das in ihrem Rücken von wirbelförmig auslaufenden Tüchern ergänzt wird. Aus diesen ragt eine zarte Hand heraus, die nach einer Blume greift. Wem die Hand zuzuordnen ist, bleibt ebenso offen wie das Thema der märchenhaften Darstellung. Das Motiv hat Kandinsky nicht weiterverfolgt; das Werk könnte daher ein Probedruck sein. Bemerkenswert ist der aus der Musik stammende Titel Fuga, den Kandinsky erst 1914 wieder für mehrere Gemälde verwenden sollte.
In dem farbigen Holzschnitt Abschied (große Fassung) S. 18 , bereits 1903 entstanden, findet sich ein Motiv, das Kandinskys Schaffen in den folgenden Jahren begleiten wird: Es ist die Figur eines in manchen Fällen bewaffneten Reiters. In Abschied begegnen wir ihm in der Gestalt eines neben seinem Pferd stehenden, im Aufbruch befindlichen Ritters, der von einer Frau umarmt wird. Er besitzt das Profil des von Kandinsky verehrten, wie er in Schwabing lebenden symbolistischen Dichters Stefan George. 2 Bereits 1901 hatte Kandinsky für das Plakat zur ersten Ausstellung der von ihm gegründeten Malschule Phalanx das Motiv eines Kämpfers mit Schild und Lanze verwendet, der eine Burg – Sinnbild des überholten Akademismus der Kunst – ins Visier nimmt.3 Im als Farbholzschnitt entwickelten Umschlag des Almanachs Der Blaue Reiter S. 8 ist es dann eindeutig der im russisch-
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Wassil y Kandinsk y Fuga, 1907 Holzschnitt, 29,1 × 44,6 cm (Druck)
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Wassil y Kandinsk y
Wassil y Kandinsk y Der Spiegel, 1907 Farblinolschnitt, 32,1 × 15,7 cm (Druck)