Dix – Dietrich

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Otto Dix Adolf Dietrich

Herausgegeben von Andreas Rüfenacht Museum zu Allerheiligen Schaffhausen

Vorwort

Adolf Dietrich und Otto Dix: Passen diese so unterschiedlichen Maler zueinander? Lassen sie sich überhaupt vergleichen? – Das Museum zu Allerheiligen widmet den beiden Künstlern 2025 eine Ausstellung, kuratiert von Andreas Rüfenacht, der ebenfalls diese Publikation verantwortet. Und ich möchte hier schon vorwegnehmen: Ja, der Vergleich ist ausgesprochen ergiebig. Es gibt zum einen die geografische Nähe: Kaum dreieinhalb Kilometer Luftlinie voneinander entfernt, lebten sie beide am Bodensee, Adolf Dietrich seit seiner Geburt 1877, Otto Dix seit Mitte der 1930er Jahre. Sie teilen gewissermaßen ihr Sujet, die Landschaft um den Bodensee. Wir befinden uns kurz vor dem Zweiten  Weltkrieg, und über die Sprache der Bilder treffen auch Weltanschauungen aufeinander: Was bei Dietrich mit dem Blick aus dem Fenster eingefangen wird, ist bei Dix der Versuch, sich über den Weg der Landschaftsmalerei vom Weltpolitischen zu lösen. In der Gegenüberstellung lösen sich aber auf fast schmerzhafte Weise die Gewissheiten der Betrachtenden auf: So schafft es etwa auf der einen Seite der »ungebildete« Dietrich, durch die Einfachheit und Naivität der Sujets Erhabenes zum Vorschein zu bringen; auf der anderen Seite befindet sich Dix, der sich in einer Form von Resignation von den Menschen abwendet und die Landschaft am Bodensee immer und immer wieder malt. Seine Landschaften sprechen zwar die Sprache der Alten Meister, ihnen ist aber auch die Gewalt der Gegenwart eingeschrieben. Die These des Kurators und Herausgebers Andreas Rüfenacht ist es, könnte man sagen, über die Verbindung der beiden Künstler Dinge zum Vorschein zu bringen, die sich sonst dem Blick entziehen: Detail und Wildheit, Gemeinschaft, Sehnsucht, Resignation und Auflehnung. Der Gewinn besteht darin, die zwei so unterschiedlichen Vertreter der Neuen Sachlichkeit miteinander zu deuten.

Die Naivität Dietrichs erweist sich als Schein, die Verzweiflung von Dix wird noch sichtbarer. Entfernt von den Großstädten und den grenzüberschreitenden Erfahrungen, bleibt ihm nichts »Anderes« als Landschaft. Wie diese wiederum bedeutsam wird, wird gerade dank des hier stattfindenden imaginierten Dialogs sichtbar.

Das Museum zu Allerheiligen zeigt eine Ausstellung zu den beiden Malern – dieses Buch hingegen funktioniert als eigene Erzählung. Ich möchte Kurator Andreas Rüfenacht ganz besonders danken für seinen sorgfältigen und sensiblen Zugang zu den beiden Künstlern wie auch für die Idee, sie sich begegnen zu lassen. Ein besonderer Dank geht ebenso an die Sturzenegger-Stiftung, den Kunstverein Schaffhausen, die Jakob und Emma Windler-Stiftung sowie an alle Leihgebenden, ohne die ein solches Unterfangen nicht zu bewältigen wäre. Und schließlich möchte ich dem gesamten Team des Museums für sein Engagement und die Unterstützung dieses Projekts danken.

Dr. Gesa Schneider

Direktorin Museum zu Allerheiligen Schaffhausen

Inhalt

Otto Dix –Adolf Dietrich Verbindungen zweier ungleicher Künstler

Im Herbst 1933 erreichte Otto Dix [1891–1969] mit seiner Frau und den drei Kindern das Dorf Randegg am südlichsten Zipfel Deutschlands unweit Schaffhausen und fand Unterkunft im hiesigen Schloss. Der erfolgreiche Künstler, bekannt geworden vor allem mit seiner schonungslosen Darstellung der Gräuel des Krieges und der Abgründe der menschlichen Seele, war von den Nationalsozialisten aus seiner Professur an der Dresdener Kunstakademie entlassen worden. Nun fand sich der zutiefst mit der Großstadtgesellschaft verwobene Mensch in den ruhigen Landschaften nahe der Schweizer Grenze wieder. In Hemmenhofen auf der deutschen Seite des Untersees, dem südwestlichen Arm des Bodensees, baute die Künstlerfamilie 1936 ein Haus mit großzügigem Atelier. Auf Blickdistanz, nur dreieinhalb Kilometer Luftlinie entfernt am Schweizer Ufer, liegt das Dorf Berlingen, wo Adolf Dietrich [1877–1957] wirkte. Seit Jahren malte der Autodidakt seine Umgebung: Landschaften, Stillleben, Tierbilder, Menschen. Mit seinen kleinen Bildern hatte er während der 1920er Jahre in Deutschland stetig mehr Bekanntheit erlangt. Rund um jenes Jahr 1933 stellten Galerien und Museen in mehreren Ausstellungen Werke von Otto Dix und Adolf Dietrich zusammen aus. Sie wurden als Vertreter einer Künstlergeneration wahrgenommen.

Die Verbindungen der beiden Künstler reichen indes bis in die Mitte der 1920er Jahre zurück, als im Sommer 1925 Gustav Friedrich Hartlaub [1884–1963] , Direktor der Kunsthalle Mannheim, seine vieldiskutierte Ausstellung Neue Sachlichkeit. Deutsche Malerei seit dem Expressionismus umsetzte. Die Ausstellung sollte für die Kunst der 1920er Jahre namensgebend werden. Hartlaub umschrieb mit dem Begriff »Neue Sachlichkeit« das Werk von Kunstschaffenden, die sich der nüchternen und wahrhaftigen Darstellung der Wirklichkeit verschrieben hatten und gegenständlich malten. Zu ihnen zählte man Dix und Dietrich. Ihre Netzwerke von Galeristen, Kuratoren und Künstlern begannen sich zu überschneiden und dieselben Kunstkritiker schrieben über ihre Ausstellungen.

An den Polen der Neuen Sachlichkeit

Mit seiner Ankunft im Süden Deutschlands löste sich Otto Dix von seinem motivischen Fokus auf den Menschen und begann, bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs romantisch anmutende Landschaftsbilder in altmeisterlicher Technik zu malen – jene Landschaften am Bodensee, die Dietrich zeitlebens schon dargestellt hatte. Diese Hinwendung zur Landschaft löste eine gewisse Irritation unter denjenigen aus, die bis dahin Dix’ Entwicklung verfolgt hatten – zum Beispiel bei seinem Galeristen Karl Nierendorf [1889–1947], der Ende Dezember 1935 in einem Brief schrieb: »Ich bin der Meinung, daß Du nicht allzu sehr in die Meister der ›kleinen‹ Sachlichkeit abrutschen sollst. Schon jetzt wirst Du zu oft mit den braven, fleißigen Pinslern in einem Atem genannt und man vergißt den eigentlichen Dix darüber.« Nierendorfs Aussage mutet fast so an, als würde er an einen Künstler wie Dietrich denken. Immerhin hatte er diesen 1927 in seiner Berliner Galerie gezeigt. Einige Kunstkritiker hatten angesichts der damaligen Ausstellung für die Kunst des Schweizer Autodidakten ähnliche Worte gefunden, so Karl Scheffler [1869–1951] in der Badischen Presse vom 7. Mai 1927:

Adolf Dietrich auf dem Steg vor seinem Haus, im Hintergrund der Schiener Berg, wo Hemmenhofen liegt. Foto: unbekannt, 1947
Otto Dix im Garten vor seinem Haus in Hemmenhofen, auf die Schweizer Seeseite blickend. Foto: Fritz Eschen (1900–1964), 1952

»Man überlasse den redlichen Amateur seiner stillen Malfreude und rede ihm und uns nicht ein, seine Bilder behaupteten sich neben Werken hohen Ranges. Soll etwas geschehen, so lade man diesen einfachen, am Gegenständlichen klebenden Maler in jene Gesellschaft mit sehr beschränkter Haftung, die sich ›Neue Sachlichkeit‹ (oder wie das Witzwort sagt: sachte Neulichkeit) nennt.«

Die Aussagen von Nierendorf und Scheffler weisen auf eine in die Anfangsjahre der Neuen Sachlichkeit zurückreichende Kritik. Denn bald nachdem Gustav Friedrich Hartlaub den Begriff in die Welt gesetzt hatte, stellte man fest, dass er sehr weit gefasst war. Doch Hartlaub hatte zunächst einmal einen griffigen Ausstellungstitel geschaffen. Mit seinem Projekt versuchte er eine Abgrenzung vom Expressionismus und damit von einer älteren Generation von Kunstschaffenden. Im Katalogvorwort erklärte er, »daß die Künstler sich mitten in der Katastrophe auf das besinnen, was das Nächste, das Gewisseste und Haltbarste ist: die Wahrheit und das Handwerk«. Hartlaub verstand die gegenständliche Kunst der Neuen Sachlichkeit als Produkt des Zeitgeschehens, das in der Tat dramatisch war: Novemberrevolution 1918, Weimarer Reichsverfassung 1919, Morde an populären Aktivistinnen und Politikern, Hyperinflation und Hitlerputsch 1923. Als die Ausstellung Neue Sachlichkeit 1925 eröffnete, lagen schwierige Jahre zurück. Um die künstlerische Weite der Neuen Sachlichkeit einzugrenzen, formulierte Hartlaub im Katalogvorwort zwei Pole: »Die eine – fast möchte man von einem ›linken Flügel‹ sprechen – das Gegenständliche aus der Welt aktueller Tatsachen reißend und das Erlebnis in seinem Tempo, seinem Hitzegrad herausschleudernd. Die andere mehr den zeitlos-gültigen Gegenstand suchend, um daran im Bereiche der Kunst ewige Daseinsgesetze zu verwirklichen. ›Veristen‹ hat man die einen genannt, Klassizisten könnte man fast die anderen nennen, aber beide Bezeichnungen sind nur halb richtig, decken den Bestand nur unscharf.« Obschon Hartlaub die beiden Gruppen im letzten Satz relativierte, waren sie ausgesprochen und fanden ihren Nachhall. Gerade Dix und Dietrich sind gute Beispiele für deren Anwendung: der veristische, radikale Menschendarsteller und der brave, Landschaften malende Autodidakt. Allerdings zeigte Hartlaub Dietrich 1925 anders als Dix nicht in seiner Ausstellung. Der Galerist Herbert Tannenbaum [1892–1958] aber, einst Arbeitskollege des Museumsdirektors, sah Potenzial und stellte den Schweizer im selben Jahr in einer erfolgreichen Überblicksschau aus. Die Rezension in der Zeitschrift Das Kunstblatt vom September 1925 erschien reich bebildert direkt vor dem Bericht über Die Neue Sachlichkeit in der Kunsthalle Mannheim.

Kunst für die Großstadt

Mit geschickter Hand fädelte Tannenbaum, Dietrichs Entdecker, sodann 1926 mit Karl Nierendorf einen Tausch seiner eigenen Ausstellung mit dessen großer Berliner Retrospektive von Otto Dix ein. Noch 1926 zeigte er Dix in Mannheim, während Nierendorf den Schweizer Künstler im April 1927 in Berlin präsentierte. Ablehnung und Begeisterung unter den Berliner Rezensenten hielten sich die Waage. Der Kunstkritiker Max Osborn [1870–1946] schrieb am 28. April 1927 in der Vossischen Zeitung, man müsse dankbar hervorheben, »mit welchem

Die beiden Galeristen Herbert Tannenbaum und Karl Nierendorf, dazwischen der expressionistische Künstler Otto Mueller (1874–1930).

Foto: Bruno Schuch (tätig um 1926–1959), 1929

Adolf Dietrich posiert mit seinem noch unvollendeten Gemälde Im Park beim Friedrichsplatz in Mannheim [→ S. 35]. Foto: unbekannt, 1925

Eifer die Kunsthandlung Nierendorf sich bemüht, in Deutschland nach neuen Männern, nach Jugend, nach Verkündern von Gedanken unserer Tage zu fahnden. […] So kam die Galerie auch auf den prächtigen Adolf Dietrich.« Ganz anders der Kunstkritiker Paul Westheim [1886–1963] , der in der Badischen Presse vom 7. Mai 1927 ätzte, man müsse »nur nicht meinen, daß mit solchem Dietrich sich die neue Kunstwelt erschlösse«. Aus der zeitgenössischen Kritik lässt sich erahnen, woran Dietrich gemessen wurde – an der Kunstszene der Großstädte.

Otto Dix war Großstädter schlechthin. Mit seinen Werken war er in vielen Metropolen präsent. Durch seine aneckende und provokative Kunst bediente er eine großbürgerliche Klientel, die keine Berührungsängste mit radikal neuen Positionen hatte. Er erarbeitete sich dadurch Ansehen und Wohlstand. Seine Kunst war aber auch Analyse der Großstadt, ihrer polarisierten Gesellschaft zwischen Armut und Reichtum: »Die Gassen, die Cafés – da fand man alles, das ist mir alles nah. Das Triste, das Alltägliche hat mich gereizt«, sagte er. Demgegenüber stand Adolf Dietrich. Anders als Dix war er als reale Person kaum greifbar. So konstatierte Max Osborn 1927 in seiner Rezension: »Als Erscheinung können wir ihn für ein Erlebnis nehmen, das uns froh macht.« Dietrich war in den Köpfen der Leute aus der großstädtischen Kunstelite der Inbegriff eines einfachen Menschen. Im Mai 1925 verortete die Frankfurter Zeitung in ihrer Rezension über Tannenbaums Ausstellung deren überraschenden Erfolg als Produkt städtischer Begeisterung, als »Erscheinung auf dem Parkettboden des städtischen Salons«. Paul Ferdinand Schmidt [1878–1955] äußerte sich im Juli 1928 in Westermanns Monatshefte ähnlich: »Lange Jahre bekümmert sich niemand um seine Farbenvergeudung, und als er endlich ›entdeckt‹ wird und gutes Geld in Rentenmarkwährung für seine Papptäfelchen bekommt und diese in der Großstadt ausgestellt werden und Kritiker über ihn schreiben: da staunt er gewiß nicht weniger als seine Dorfgenossen.« Auch Paul Westheim verstand Dietrich ganz aus dem Blickwinkel des Großstädters, als malenden »Handwerksburschen« vom Land, aber nicht als Künstler. Am Beispiel einer Ansicht Berlingens versuchte er zu erklären, was ihn an dem Autodidakten interessierte: »Man kann in solchem Bild gemächlich spazieren gehen und es ist immer alles da, was man gerade angucken will. Und das scheint mir das Überraschende und auch das Fesselnde an diesen Bildern zu sein, daß sie gemalt sind aus der Perspektive des Kleinbürgers, der ja sonst in der Malerei nicht zu Wort zu kommen pflegt.« Gekauft haben die Großbürger trotz allem, die Mannheimer Industriellen etwa, oder der Berliner Bankier Eduard von der Heydt [1882–1964], der bei Nierendorf zwei Gemälde von Dietrich erwarb.

Naive Kunst – Altmeisterliche Kunst

In vielen Artikelüberschriften wurde Adolf Dietrich als Maler, Holzfäller, Landarbeiter und Tagelöhner bezeichnet. Es ging dabei nicht um die harte Realität des Alltags eines werktätigen Menschen, sondern um das Bild eines Mannes, der ungebildet und frei von Zwängen war. Der Berliner Kunstkritiker Max Osborn stellte fest: »Ein Mensch mit offenen und zugleich versonnenen Augen, der in die Gotteswelt blickt und den unzähmbaren Trieb verspürt, nachzuerzählen, was seine

Otto Dix im Berliner Atelier bei der Vorzeichnung einer später verworfenen Fassung des Großstadt-Triptychons. Foto: unbekannt, 1927
Adolf Dietrichs Tätigkeit als Holzfäller wird zum Merkmal seiner Wahrnehmung als ungebildeter und ungebundener Künstler. Foto: unbekannt, um 1925

Charakterköpfe Dix und Dietrich sehen sich selbst

Zeitlebens haben Otto Dix und Adolf Dietrich Selbstbildnisse gemalt. Ihre Herangehensweise war unterschiedlich. Dietrich stellte sich zurückhaltend dar, ein einfacher Mensch, leicht zur Seite gewendet, in Alltagshemd und Weste. Sein Blick scheint über den Spiegel, in dem er sich sah, nicht hinauszureichen und tritt mit den Betrachtenden in keinen Dialog.

Ganz anders Dix: Seine Selbstporträts zeigen Künstlertypen, beobachtende, fragende, kritische, sehende. Dix malte über dreißig Selbstporträts, gezeichnet hat er sich rund fünfhundert Mal. Oft spielte er mit der Motivtradition der Frührenaissance. Ein wichtiges Merkmal der Alten Meister war die Darstellung der schöpferischen Hand. Schon als junger Mann von 21 Jahren stellte Dix mit seinem Selbstbild mit Nelke [→ S. 18] diesen historischen Bezug her. Unmittelbares Vorbild scheint der Nürnberger Meister Albrecht Dürer gewesen zu sein. Dietrich seinerseits schuf deutlich weniger Selbstporträts, fünf Gemälde sowie sechs Skizzen und Zeichnungen sind bekannt. Doch auch er geht auf die Tradition ein. In den beiden Porträts von 1918 und 1949 stellte er die schaffenden Hände in den Vordergrund [→ S. 19, 25]. Dietrich interessierte sich für Kunstgeschichte und besaß auch ein Buch über Dürer. 1929 besuchte er die Münchner Alte Pinakothek, wo er sich von den Werken der Alten Meister beeindruckt zeigte. Dort musste er auch Dürers berühmtes Selbstbildnis im Pelzrock aus dem Jahr 1500 gesehen haben, auf dem die rechte Malerhand zu sehen ist. Der Schweizer aber präsentiert nicht feingliedrige Künstlerhände, sondern große, kräftige Hände – Dietrich, der Bauer und Handwerker, der Kunst erschafft. Auch bei Dix sind große Hände immer wieder in den Mittelpunkt gerückt. Er verstand sich als Proletarier und war stolz, Sohn eines Arbeiters zu sein. Die den Pinsel haltende Hand des Selbstbildnisses von 1931 ist daher eine werktätige Hand [→ S. 23]. Obschon Dietrich sich sorgfältig abbildete und wenig Interpretationsspielraum zulässt, erscheinen seine Selbstbildnisse nicht als stereotype Darstellungen eines Malers. Er wirkt nicht abgehoben in seinen Kunstwelten schwebend, vielmehr zeigt er sich als ein gewöhnliches Mitglied einer ländlichen Gesellschaft, was er auch ist. Dix dagegen charakterisiert sich variationsreich, vermittelt seinen Betrachtenden ein Gefühl, dass sie zu wissen glauben, wer er ist – dies in allen Schaffensphasen, in allen stilistischen Veränderungen. Durchgehendes Motiv bleibt der scharfe, durchdringende Blick. Dix ist ein »Augenmensch«, wie er sich selbst bezeichnete.

Otto Dix Selbstbildnis mit Nelke, 1912
Adolf Dietrich Selbstbildnis, 1918

Nachbarn am Bodensee Städter und Landmensch in der gleichen Landschaft

Im Jahr 1933 entließen die Nationalsozialisten Otto Dix von seinem Lehrstuhl als Professor der Dresdener Kunstakademie. Noch im selben Jahr zog er sich nach Randegg nahe der Schweizer Grenze zurück, wo Hans Koch [→ S. 63], Martha Dix’ Mann aus erster Ehe und Sammler seines Werks, das Schloss gekauft hatte. Drei Jahre später baute das Ehepaar in Hemmenhofen am Untersee ein stattliches Haus.

Mit der Ankunft im Süden Deutschlands wandte sich Dix, der bis dahin seine Motive weitgehend in den sozialen Milieus der Großstädte gefunden hatte, nahezu vollständig der Landschaftsmalerei zu. Im Rückblick auf dieses Umschwenken meinte er 1957: »Die Landschaftsmalerei war damals eine Art Emigration. Ich hatte keine Gelegenheit zu Deutungen von Menschen.«

In Berlingen am gegenüberliegenden Schweizer Seeufer, nur dreieinhalb Kilometer Luftlinie entfernt, lebte Adolf Dietrich. Die Landschaften, die ihn umgaben, boten ihm zeitlebens Motive. Sie machen den größten Teil seines über tausend Werke umfassenden Œuvres aus. Seine Landschaften trugen erheblich dazu bei, dass er in den 1920er Jahren bekannt und beliebt wurde.

Sowohl Dix als auch Dietrich gingen in ihren Landschaftsdarstellungen von den Begebenheiten aus, die sie vorfanden. Mit Skizzen dokumentierten sie das Gesehene. Ab ungefähr 1930 arbeitete Dietrich hierfür vorwiegend mit der Fotografie. Seine Aufnahmen dienten ihm oft als Vorlagen für die Gemälde, in die er alles detailgenau übertrug. Dabei ist zu beobachten, dass bereits das Foto in seiner Komposition sorgfältig austariert war, so zum Beispiel bei Winterlandschaft am Untersee von 1933 [→ S. 139].

Dix’ Vorgehen stand dem diametral entgegen. So schrieb er im Sommer 1939 an den Dresdner Künstler Ernst Bursche: »Ich mache meistens Landschaften, viel Baum- und Häuserstudien, um vom ›Motiv‹ unabhängig zu werden und die Landschaften frei zu erfinden. Denn es ist selten, daß man ein Motiv so vorfindet, wie man’s beim Malen brauchen kann. Es ist ja notwendig, daß man viel Überschneidungen und Gegensätze schafft, die das Bild erst lebendig machen. Ich scheue mich heute nicht, die Ufer des Bodensees mit Felsen und Gebirgen zu versehen, die es hier gar nicht geben kann.«

Tatsächlich gibt es bei Dix diese komplett frei zusammengesetzten Landschaften. Dennoch ist der Künstlerstandort oft exakt lokalisierbar, auch wenn er im ausgeführten Gemälde Hügel und Berge überhöhte, verzerrte Perspektiven schuf und die topografischen Begebenheiten veränderte. Dietrich dagegen blieb beim Abbild des Gesehenen.

Adolf Dietrich Blick auf Berlingen und Reichenau, 1932
Adolf Dietrich Blick vom weißen Felsen auf den Untersee, 1930

Im Herbst 1933 zog Otto Dix mit seiner Familie nach Randegg. Der folgende Winter war entbehrungsreich, kaum heizbar die Räume des Schlosses. Wintertag in Randegg von 1933 ist vermutlich das zweite hier entstandene Gemälde. 1934 erwarb es die Frauenrechtlerin Frida Amsler [1864–1946] nach Dix’ Ausstellung im Kunstverein Schaffhausen. Es war sein erster Verkauf seit seiner Ankunft im Süden.

Die Winterlandschaft zeigt den Blick auf Randegg, der sich Dix vom Schloss aus bot. Das Dorf ist menschenleer, kein Kamin raucht. Der Großstädter schien seine Heimat noch nicht gefunden zu haben, fremd mutet die neue Welt an. Diese Desillusionierung mag sich auch bei Randegg im Schnee mit Raben [→ S. 116] von 1935 zeigen, umso mehr, als Raben schon seit jeher als Unheilverkünder galten.

Für Dietrich war sein Dorf Berlingen Heimat, die er nur selten für kurze Reisen verließ. Er erschloss es sich in über siebzig Gemälden, von allen Seiten, vom See und den darüberliegenden Hügeln aus und zu allen Jahreszeiten [→ S. 112]. Der panoramatische Blick von fern erscheint wie eine Vergewisserung des trauten Ortes, in den man jederzeit zurückkehrt.

Otto Dix Randegg im Schnee mit Raben, 1935
Otto Dix Landschaft mit Falken, 1940

Nun ist auch er gefunden, und die Fruchtbarkeit des Mittagsees hat uns, unerwartet, mit einer der wunderlichsten und schönsten Erscheinungen beschenkt, deren Urwüchsigkeit wir unsrer allzu gedankenbeschwerten Epoche kaum noch zugetraut hätten.

Adolf

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