Die Ästhetik der Stadt

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DIE ÄSTHETIK DER STADT



Alexis Joachimides

DIE ÄSTHETIK DER STADT STÄDTEBAU IN BORDEAUX UND EDINBURGH 1730 — 1830



I N H A LT S V E R Z E I C H N I S

6 VO RWO RT U N D DA N K 8 EINLEITUNG 16 K A P I T E L I :

105 Die Planung der Second New Town 109 Die Erweiterung von Edinburgh bis 1815 113 Zusammenfassung. 116 E X K U R S I I :

Kosmopolitismus als gemeinsames Leitbild

Die Vision einer neuen Stadt 1730–1770 16 19 21 24 26 31 36 41 46 49 53 57 62

Das Projekt eines umfassenden Embellissement von Bordeaux Wirtschaftliche und demographische Voraussetzungen

D i e Vo l l e n d u n g d e r N e u s t a d t 1 8 1 5 – 1 8 3 0

Die politischen Entscheidungsträger Auf dem Weg zu einer entfestigten Stadt Die Entstehung der Hafenfassade Die Planung des Boulevardrings Die zeitgenössische Wahrnehmung der Modernisierung Das Projekt einer Stadterweiterung in Edinburgh Politische und wirtschaftliche Voraussetzungen Die lange Planungsgeschichte der First New Town Das Ergebnis des Wettbewerbs von 1766 Turin und Berlin als Vorbilder Zusammenfassung

64 E X K U R S I :

Das neue Ideal der offenen Stadt 74 K A P I T E L I I :

Vo n d e r I d e a l s t a d t z u r M i e t s h a u s s t a d t 1770–1815 74 78 81 84 88 92 93 97 100 102

126 K A P I T E L I I I :

Die Erweiterung von Bordeaux seit 1770 Die Parzellierung der nördlichen Vorstädte

126 129 132 138 142 146 150 155 157 161 164 170 174

Der Stadtausbau von Bordeaux nach 1815 Planung wsgeschichte des Quartier des Quinconces Das lange Leben des Klassizismus im Wohnhausbau Die Modernisierung des Hafens Der zeitgenössische Blick auf den Hafen Die Stadterweiterung von Edinburgh nach 1815 Die Western New Town Das Picturesque und der Bruch mit der bisherigen Planungspraxis Das Calton Hill Estate Edinburghs Selbststilisierung als Modern Athens Öffentliche Bauten des Greek Revival Die neue Stadt in der zeitgenössischen Wahrnehmung Zusammenfassung

176 E X K U R S I I I :

Vo n d e r k o s m o p o l i t i s c h e n z u r identitätsbildenden Stadt 186 Z U S A M M E N FA S S U N G U N D A U S B L I C K

Die Entstehung des Etagenwohnhauses Die Folgen der Revolution für die Erweiterung der Stadt

194 A N M E R K U N G E N

Die Aufgabe der Festung Château Trompette

224 B I B L I O G R A P H I E

Die Wettbewerbe der Revolutionszeit Die Realisierung der First New Town in Edinburgh Eine Politik des Laisser-faire Auf der Suche nach einer Kontrolle der Fassaden Der Entwurf des Charlotte Square als Modell

241 B I L D Q U E L L E N N A C H W E I S 244 P E R S O N E N R E G I S T E R 248 I M P R E S S U M

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VO RWO RT U N D DA N K

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ie vorliegende städtebauliche Studie ist zum größten Teil in der Etagenwohnung eines Mietshauses im Berliner Wohnhausgürtel verfasst worden, wie er seit Beginn der Hochindustrialisierung und Massenurbanisierung auf Grundlage des sogenannten »Hobrecht-Plans« entstanden ist. Einen solchen akzidentiellen Umstand würde man in wissenschaftlichen Arbeiten üblicherweise wohl kaum erwähnen. Aber im vorliegenden Fall, bei einer Untersuchung zu den Ursprüngen und Entstehungsbedingungen der modernen Mietshausstadt, erscheint es keineswegs unerheblich, dass das in dieser städtebaulichen Form enthaltene Lebensmodell bis in die Gegenwart fortlebt und vom Verfasser selbst geteilt wird. Denn ohne diesen Erfahrungshintergrund wären die folgenden Überlegungen nicht entstanden oder hätten jedenfalls eine andere Perspektive gewonnen, wie etwa der Blick in die einschlägige angelsächsische Forschung zeigt, wo bereits der Begriff Tenement in Nachschlagewerken nur negativ konnotiert einen Platz findet, nämlich als Wohnform unterhalb des gesellschaftstypischen Lebensstandards. Der in dieser Engführung ablesbare Blick von suburbanen Eigenheimbewohnern wird dem Phänomen in keiner Weise gerecht. Die Unzufriedenheit mit den bisherigen Deutungsangeboten und das Interesse an der Herkunft der eigenen Erfahrungswelt waren daher sicher die maßgeblichen Motivationen des Verfassers. Dass diese Studie trotz der vielfältigen Verpflichtungen im universitären Betrieb abgeschlossen werden konnte, ermöglichten zwei in größerem Abstand voneinander genutzte Forschungssemester. Für die Befreiung von der Lehrverpflichtung während dieser

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Zeiträume ist der Verfasser der Universität Kassel und der in sie integrierten Kunsthochschule Kassel dankbar. Aber er möchte in seinen Dank auch die Studierenden im Studiengang Kunstwissenschaft einschließen, mit denen er seine Überlegungen in der dazwischen liegenden Zeit in Lehrveranstaltungen immer wieder erproben und kritisch diskutieren konnte. Der Verfasser verdankt manche Anregung dem Austausch mit seinen Mitarbeiterinnen und vielen Kolleginnen und Kollegen innerhalb wie außerhalb seiner Universität, die hier nicht alle namentlich aufgeführt werden können. Besonders herausgehoben werden müssen jedoch diejenigen, die sich bereitgefunden haben, den Text in einem fortgeschrittenen Stadium in ganzem Umfang zu lesen und mich auf Verbesserungsmöglichkeiten aufmerksam zu machen. Ich weiß die Mühe zu schätzen, der sich Sven Kuhrau, Wissenschaftlicher Referent im LVR-Amt für Denkmalpflege im Rheinland, und Christian Freigang, Professor am Institut für Kunstgeschichte der Freien Universität Berlin, dabei unterzogen haben. Besonderer Dank gebührt dem Förderungs- und Beihilfefonds Wissenschaft der Verwertungsgesellschaft Wort in München für die großzügige Förderung der Drucklegungskosten, ohne die das Manuskript nicht hätte publiziert werden können. Gerne erinnere ich mich an die Hilfsbereitschaft der Bibliothekare in den für die vorliegende Forschungsarbeit genutzten Bibliotheken. Besonders wichtig war ihre Unterstützung in der Bibliothèque Municipale in Bordeaux, in der National Library of Scotland in Edinburgh und in der Kartenabteilung der Staatsbibliothek zu Berlin (Stiftung

Preußischer Kulturbesitz), auf deren außergewöhnliche Sammlung historischer Stadtpläne bei dieser Gelegenheit hingewiesen sei. Den genannten Bibliotheken bin ich auch besonders dankbar, dass sie eine große Zahl von Abbildungen dieser Pläne in freundlicher Weise für die Publikation zur Verfügung stellten. Für ihre unermüdliche Hilfe nicht nur in diesem Zusammenhang möchte ich zudem die Mitarbeiterinnen der Universitäts- und Landesbibliothek in Kassel besonders hervorheben. Ich danke außerdem allen weiteren Bildrechteinhabern, deren Abbildungsvorlagen ich verwenden durfte. Auch die hilfreiche Beratung des Autors und die konstruktive Betreuung der Publikation durch den Deutschen Kunstverlag, namentlich durch Anja Weisenseel und David Fesser, sollen nicht unerwähnt bleiben. Wie schon so oft hat Eduard Wätjen als sorgfältiger Lektor für ein von allen Inkonsistenzen befreites Manuskript gesorgt. Schließlich gehört die große Geduld meiner Familie einmal mehr zu den Voraussetzungen für den Abschluss einer zeitaufwendigen Forschung und ihrer Publikation.

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EINLEITUNG

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ie Neustädte von Bordeaux und Edinburgh waren die beiden flächenmäßig größten Stadterweiterungen ihrer Entstehungszeit in Europa. Nach einer längeren Vorbereitungsphase beinahe gleichzeitig zwischen 1770 und 1830 als großstädtische Wohnquartiere entstanden, stehen sie am Übergang von der frühneuzeitlichen Stadtplanung zur modernen Urbanistik der bürgerlichen Gesellschaft. Sie können exemplarisch den Weg von der klassischen Idealstadtkonzeption zur Mietshausstadt des 19. Jahrhunderts repräsentieren, dem sie auf nationaler Ebene in seiner je spezifischen Ausprägung als innovatives Experimentierfeld dienten. Trotz dieser auffälligen Indikatoren für eine überregionale Relevanz haben die beiden angesprochenen Standorte im Diskurs über die historische Urbanistik bisher jedoch kaum ein Mindestmaß an Aufmerksamkeit erhalten. Ihre Entstehungsbedingungen wie ihre ästhetische Ausprägung zu beschreiben, ist das Reservat einer lokalhistorischen Forschung geblieben. Die hier vorgelegte Arbeit nimmt dieses Missverhältnis zwischen ihrem hohen Aussagepotential und dem geringen Forschungsinteresse zum Anlass, sich den beiden Stadterweiterungen in einer vergleichenden Perspektive zuzuwenden, um aus ihrer Gegenüberstellung allgemeine Schlussfolgerungen zur Geschichte der Stadtplanung abzuleiten. Der Vorteil einer transnationalen Komparatistik liegt in der Möglichkeit, nationale und lokale Spezifika von epochentypischen Strukturmerkmalen abgrenzen zu können. Dabei besteht kaum ein Zweifel, dass die Rahmenbedingungen an beiden Orten, von der politischen Ordnung über die wirtschaftliche Dynamik bis zur kulturellen Vorprägung, kaum unterschiedlicher sein konnten. Trotzdem bestätigt schon ein kursorischer Blick auf die beiden Neustädte eine angesichts dieser Kontingenzen erstaunliche Übereinstimmung. Denn tatsächlich besitzen beide Beispiele ein hohes Maß an Gemeinsamkeit auf struktureller wie gestalterischer Ebene, das in einer rein regionalen oder nationalen Betrachtungsweise nicht sichtbar werden konnte. Es 8

bleibt die Herausforderung für eine historische Erklärung, warum unter divergenten Voraussetzungen und ohne erkennbare direkte Bezugnahme aufeinander ein ästhetisch so verwandtes Resultat entstehen konnte. Die Antwort kann nur in einem grundsätzlich gleichartigen Prozess gesellschaftlicher Transformation gefunden werden, der alle westeuropäischen Länder im fraglichen Zeitraum, der »Sattelzeit« zwischen Früher Neuzeit und industrieller Moderne, erfasst hatte.1 Die Ablösung der Standesgesellschaft durch eine neue, auf Besitz statt Herkunft basierender Hierarchie, die Einebnung aller gruppenspezifischen Sonderrechte, Privilegien oder auch Einschränkungen verbindet die Stadtgesellschaften von Bordeaux und Edinburgh miteinander, ohne dass dies den Zeitgenossen vollständig bewusst gewesen sein wird. Dass diese auch andernorts eintretende Transformation sich gerade an diesen beiden Standorten in exemplarischer Weise in einer neuen Form von Urbanität konkretisierte, verdankte sich jedoch verschiedenen lokalen Besonderheiten. Unter ihnen fällt zuvörderst ein Merkmal auf, das beiden Städten gemeinsam war – ihre Rolle als Knotenpunkte von überregionaler Bedeutung in einem internationalen Netzwerk des zeitgenössischen intellektuellen Diskurses. Der Kosmopolitismus ihrer ›aufgeklärten‹ Eliten prägte die Ambitionen, die Verfahrensweisen und die formale Ausgestaltung der Neustädte in ihrer gleichartigen Ausrichtung. Insofern rückt der rationalistische Universalismus der Aufklärung auf neue Weise als Erklärungsfaktor wieder in den Blick, den die jüngere Forschung sowohl für Europa als ganzes wie für die beiden hier angesprochenen Stadtkulturen seit einiger Zeit relativiert.2 Betrachtet man sie unter einem transnationalen Blickwinkel, besteht zumindest die Aussicht, dass die Neustädte von Bordeaux und Edinburgh einen angemesseneren Platz in der Geschichte des europäischen Städtebaus erhalten, als es ihnen bisher vergönnt gewesen ist. Die Geschichte des Städtebaus ist in Deutschland bereits seit dem Abschluss der universitären EtablieEINLEITUNG


rung und methodischen Emanzipation des Faches um 1900 ein wichtiger Aufgabenbereich kunsthistorischer Forschung. Sie nahm ihren Ausgangspunkt in der Entdeckung des Raumes als einer eigenständigen Untersuchungs- und Bewertungskategorie. Am Beispiel der Architektur als exemplarischer ›Raumkunst‹ demonstrierten Autoren wie August Schmarsow oder Albert Erich Brinckmann die Abkehr von einer rein bildmäßigen Beurteilung von in die Fläche projizierten Wandaufrissen zugunsten der spezifischen Wirkung des durch sie geprägten Zwischenraums, die sich auch auf Ensembles von nebeneinander sichtbaren Gebäuden an einem Platz oder im Verlauf einer Straße anwenden ließ.3 In der Folge konnte die Gestalt einer ganzen historischen Stadtlandschaft als ästhetisch koordiniertes Meta-Kunstwerk interpretiert werden, auch wenn ihm als Resultat kollektiver und womöglich generationenübergreifender Zusammenarbeit kein zentraler, strategisch planender Urheber zugewiesen werden konnte.4 Im Unterschied zur anwendungsorientierten ›Urbanistik‹, deren Blick in die Vergangenheit auf die Suche nach möglichen Vorbildern und ihrem Erfahrungswert für eine zukünftige Stadtplanung beschränkt ist, bleibt das Ziel einer Erforschung dieser ›Stadtbaukunst‹ der historische Anspruch, die Bedingungen zu verstehen, unter denen Städte im Laufe der Geschichte ihre spezifische Form gewonnen haben. Zwar konzediert die Forschung im Prinzip ein komplexes Bedingungsgefüge für solche Vorgänge, sie hat sich allerdings bisher zumeist auf eine politische Deutung der urbanistischen Form konzentriert. Die geplante Stadt wird als Ausdruck einer dominanten Herrschaftsform oder, wenn in sich widersprüchliche Gestaltungsprinzipien erkennbar sind, als Ausdruck divergierender politischer Kräfte gelesen und lässt sich in eine entsprechende Typologie einordnen.5 Im Mittelpunkt der kunsthistorischen Auseinandersetzung mit der Stadt stehen deshalb solche Beispiele, die sich möglichst eindeutig einer bestimmten politischen Konzeption zuordnen lassen, wie die absolutistische Residenzstadt oder die handelsorientierte Stadtrepublik. Angesichts einer Vielzahl von Kontingenzen und Überschreibungen in der Realität der europäischen Stadtplanungsgeschichte erfüllen aber nur wenige Realisate diese Bedingung uneingeschränkt. An ihrer Stelle privilegiert die Forschung deshalb häufig Idealstadtentwürfe oder andere städtebauliche UtoEINLEITUNG

pien, die auf dem Papier geblieben sind, gegenüber der tatsächlich gebauten Stadt.6 Als Gedankenexperimente bringen sie den zugrunde liegenden konzeptuellen Gedanken viel klarer zum Ausdruck als jede Realisierung. Sie besitzen darüber hinaus einen bekannten oder bei ungünstiger Überlieferungslage zumindest einen postulierbaren Urheber, der die Funktion des ›Künstler-Architekten‹ übernehmen kann, wie man ihn traditionell auch für architektonische Einzelleistungen erwartet. Eine bis in die Gegenwart andauernde Prägung durch die Genie-Ästhetik des 19. Jahrhunderts sorgt dafür, dass auch für städtebaulich innovative oder ästhetisch konsistente Lösungen ein solches Künstlersubjekt identifiziert werden muss. Dagegen treten Städte umso mehr in den Hintergrund, je weiter sie sich bei ihrer Verwirklichung von einem Idealtypus entfernt haben. Die vielen Faktoren, die ihre Form aus dieser Sicht ›abgelenkt‹ haben, können nur negativ als Reibungsverluste verstanden werden, die eine als ursprünglich vorhanden postulierte Konzeption im schlimmsten Fall bis zur Unkenntlichkeit verunklärt haben. Diese methodische Engführung des Forschungsdiskurses zur ›Stadtbaukunst‹ erklärt, warum es weder die Neustadt von Bordeaux noch die von Edinburgh geschafft haben, sich in den Kanon der dort untersuchten Stadtplanungsvorhaben einzureihen. Sie erfüllen weder die Bedingung, dass sie sich auf einen ursprünglich formulierten ›Masterplan‹ zurückführen lassen, für den ein auktorialer Gestalter namhaft gemacht werden könnte, noch folgen sie einem der eindeutig identifizierbaren Stadttypen mit politischer Programmatik. Weder Stadtrepublik noch Residenzstadt oder moderne Großstadt und aus einer vorab kaum vorhersehbaren Kette von Improvisationen hervorgegangen, verweigern sie sich der in diesem Diskurs verfügbaren Einordnungsmöglichkeiten. Die methodische Ursache für diesen blinden Fleck wird noch deutlicher, wenn man den ganz anderen Umgang der positivistisch ausgerichteten Denkmalpflege mit beiden Standorten dagegenhält. In ihrem Kontext steht die Relevanz von so großen und in ihrer Originalsubstanz bis heute weitgehend erhaltenden historischen Stadtanlagen außer Frage. So sind auch die beiden angesprochenen Neustädte inzwischen Teil des UNESCO-Weltkulturerbes und ihre formgetreue Erhaltung wird durch umfassende Maßnahmenpakete 9


auf lokaler, nationaler und internationaler Ebene gewährleistet.7 Zwischen dem Diskurs über die historische ›Stadtbaukunst‹ und über den Denkmalwert von gewachsenen Stadtensembles gibt es jedoch keine Vermittlung, denn auch die denkmalpflegerische Wertschätzung der historischen Wohnbebauung, die sich auf die Konstatierung ihrer Existenz beschränkt, kann nicht begründen, welchen Ort ein solches Ensemble in einer übergeordneten Deutung zugewiesen bekommen könnte. Ein hermeneutisches Interesse für die tatsächlich gebaute Stadt – im Unterschied zur idealtypischen Stadtutopie – findet sich dagegen bisher vor allem in der angewandten Urbanistik auf der Suche nach erfolgversprechenden Einlösungen von Urbanität in der Zukunft. In diesem Diskurs bewähren sich historische Stadtkonfigurationen über längere Zeiträume durch ihre Anpassungsfähigkeit an die sich verändernden gesellschaftlichen Anforderungen, oder es gelingt ihnen nicht.8 Allerdings blendet diese zukunftsgerichtete Stadtplanungsforschung die Frage nach den Entstehungsbedingungen einer in dem genannten Sinne ›erfolgreichen‹ Planungskultur vollständig aus. Sie richtet ihren Blick retrospektiv auf das Ergebnis, indem sie dessen Merkmale für eine Nachahmung identifiziert, ohne auf die Ursachen für sein Zustandekommen in einer spezifischen historischen Situation einzugehen. Das Desiderat, die Realitätshaltigkeit der Stadtplanungsgeschichte zu steigern, kann durch eine Anleihe bei der angewandten Urbanistik aufgefangen werden, wenn man deren Offenheit für die multikausale Dimension städtebaulicher Entscheidungen mit der Perspektive einer historischen Herleitung verbindet. Die tatsächlich gebaute Stadt ist immer Ausdruck eines komplexen Interessengemenges, in dem ökonomische, fiskalische und rechtliche Rahmenbedingungen für das Ergebnis wichtiger gewesen sein können als ein ideologisches Programm der Herrschaftslegitimierung. Die Untersuchung von Bordeaux wie Edinburgh wird zeigen, dass etwa die Eigentumsverhältnisse vor Ort und ihre rechtskonforme Respektierung durch die politischen Entscheidungsträger das Erscheinungsbild der Neustädte maßgeblich determiniert hat, obwohl diese Dimension von der einschlägigen Forschung oft vollständig ignoriert worden ist. So wird sich herausstellen, dass die seit dem 17. Jahrhundert vom französischen Staat im Namen des Überseehandels geforderte Moder10

nisierung des Hafens von Bordeaux am kommunalen Besitz der Uferzone gescheitert ist und nicht, wie gemutmaßt, am Desinteresse der örtlichen Vertreter der Staatsmacht.9 Die von den lokalen Korporationen getragene Stadtverwaltung verfügte weder über die staatlichen Einnahmen aus dem Hafenzoll, noch hatte sie ein besonderes Interesse, den Bedürfnissen des Fernhandels entgegenzukommen. Das Ergebnis ist jener ebenso eindrückliche wie illusionsstiftende Kompromiss der neuen Hafenfassade, mit der die unreformierbare Altstadt entlang des Ufers ›verkleidet‹ worden ist. Bei der Lektüre der ästhetischen Gestalt der Stadt wird es also darum gehen, sie als Ausdruck gesellschaftlicher Aushandlungsprozesse zu verstehen, die immer wieder zu Kompromissen führen mussten. Diese Aussage ist nicht gleichbedeutend mit der Unterstellung gleicher Durchsetzungschancen für alle beteiligten Interessengruppen. Tatsächlich war und blieb die Machtverteilung innerhalb der beiden Stadtgesellschaften asymmetrisch, und die Aussichten der an diesem Aushandlungsprozess beteiligten Gruppen auf Erfolg waren ebenso ungleich verteilt wie ihr Zugriff auf die Ressourcen der Gesellschaft insgesamt. Trotzdem ermöglicht das Modell der Aushandlung zu verstehen, wie ein konkretes urbanistisches Ergebnis aus einem zunächst offenen Prozess der Abwägung divergierender Interessenlagen hervorgehen konnte. In diesem Sinne ist die hier vorgelegte Untersuchung auch ein Beitrag zur methodischen Weiterentwicklung der kunsthistorischen Stadtplanungsgeschichte. Überblickt man den Forschungsstand zu den beiden ausgewählten Standorten, so fällt zunächst die bereits angesprochene, bestenfalls kursorische Erwähnung und hochgradig selektive Wahrnehmung beider Städte in den allgemeinen Standardwerken zur Geschichte der Stadtplanung ins Auge.10 Auch Überblickswerke zur nationalen Architektur- und Stadtplanungsgeschichte in Frankreich oder Großbritannien berücksichtigen die Neustädte beider Orte jeweils bestenfalls am Rande, zumal sie von einem zentralistischen Blick geprägt sind, der aus der Provinz keine maßgeblichen Beiträge erwartet.11 Diesem Befund steht der langanhaltende und substantielle Beitrag von überwiegend lokalen Forschergemeinschaften gegenüber, die sich sowohl in Bordeaux wie in Edinburgh seit beinahe einem Jahrhundert mit der eigenen Stadtplanungsgeschichte EINLEITUNG


auseinandergesetzt haben. Ausgangspunkt für dieses Interesse war der Beginn einer denkmalpflegerischen Sorgfalt im Umgang mit dem jüngeren historischen Stadtbestand, der sich nach dem Ersten Weltkrieg erstmals abzeichnete. Bis dahin war die jeweilige Neustadt ein selbstverständlicher Bestandteil der lokalen Urbanität gewesen, dessen punktuelle Veränderung ohne Rücksicht auf die Originalsubstanz den Fortbestand dieses Kulturerbes insgesamt nicht ernsthaft in Frage zu stellen schien. Die generationenübergreifende Auseinandersetzung mit ihrer Entstehung, die im Anschluss an ihre ›Wiederentdeckung‹ als schutzbedürftiges Ensemble einsetzte, fand in den Lehrstühlen für Architekturgeschichte der örtlichen Universitäten eine institutionelle Basis. In Edinburgh profitierte sie auch von einer zivilgesellschaftlichen Initiative für den Denkmalschutz, die sich seit den 1920er Jahren um die Zeitschrift Book of the Old Edinburgh Club versammelte. In Bordeaux beginnt die denkmalpflegerische Aufmerksamkeit für die Neustadt mit der formellen Unterschutzstellung der ehemaligen Place Royale (jetzt Place de la Bourse*), bis heute das einzige überregional anerkannte städtebauliche Ensemble innerhalb der gesamten Stadterweiterung, die 1916 in die höchste verfügbare Kategorie eines Monument historique aufgenommen worden ist.12 Aus einer 1922 publizierten Studie zur Planungsgeschichte dieser Platzanlage entwickelte Paul Courteault bis 1932 die erste Monographie über den neuzeitlichen Ausbau von Bordeaux als Cité classique.13 Die in diesem grundlegenden Werk geprägte Perspektive, die das vorrevolutionäre Bordeaux als passiven Empfänger einer Art von kultureller ›Kolonisation‹ aus der französischen Regierungszentrale interpretierte, bestimmt den Blick der lokalen Forschung in gewissem Sinne bis heute, trotz aller zwischenzeitlichen Suche nach Anzeichen für lokale Autonomie. Es bleibt als sein Erbe aber vor allem eine stark auf die politischen Entscheidungsträger und die führenden Architektenpersönlichkeiten gerichtete Aufmerksamkeit, durch die einflussreiche Interessengruppen innerhalb

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Ursprüngliche aber nicht mehr gebräuchliche Platz- und Straßenbezeichnungen sind immer kursiv, aktuell verwendete Bezeichnungen (Stand 2018) dagegen recte gesetzt.

EINLEITUNG

der Stadt, wie die Trägergruppe des kolonialen Fernhandels, aus dem Blickfeld geraten und die ökonomischen Faktoren der Stadterneuerung in den Hintergrund getreten sind.14 Courteaults Monographie markiert den Beginn einer fleißigen Detailforschung, die in einer Vielzahl von Einzelstudien eine quellengestützte Faktenbasis geschaffen hat, auf der die jüngeren Gesamtdarstellungen aufbauen konnten. Eine Zusammenfassung dieser Forschungsleistung für die Zeit des Ancien Régime boten zunächst François-Georges Pariset in dem unter seiner Verantwortung erschienenen Teilband der Histoire de Bordeaux aus dem Jahre 1968 sowie Christian Taillards erstmals 1987 erschienener Überblick über das Bordeaux classique.15 Die anschließende Phase des Stadtausbaus ist erst im Umfeld des Revolutionsjubiläums 1989 intensiver in den Blick gekommen, das in Bordeaux mit der Ausstellung Le port des Lumières auch in urbanistischer Hinsicht gewürdigt wurde.16 Robert Coustet und Marc Saboya haben 1999 die Entwicklung während des 19. Jahrhunderts monographisch zusammengefasst.17 Inzwischen liegen zwei relativ aktuelle Gesamtdarstellungen vor, die über die Epochengrenze von 1789 hinweg die gesamte Stadtentwicklung umfassend nachzeichnen.18 In Hinblick auf die historisch ermittelbaren Umstände und Abläufe der Stadterweiterung lässt dieses Resultat wenig zu wünschen übrig, außer dass die durchschnittliche Wohnbebauung – etwa das für die Neustadt prägende Etagenwohnhaus – bis heute ein Stiefkind der französischen Architekturgeschichte bleibt, das weit weniger Interesse auf sich zieht als höherrangige Bauaufgaben. Gemeinsam ist dieser Forschung außerdem die Begrenzung auf den nationalstaatlichen Rahmen, in dem die Entscheidung für eine bestimmte städtebauliche Maßnahme in Bordeaux immer im Verhältnis zu Paris als dominantem Impulsgeber bewertet wird. Vor diesem Maßstab erscheint die Stadt in der Provinz innerhalb einer gesamtstaatlichen Kohärenz meist wenig eigenständig, während die binnengesteuerte Dynamik ihrer Entwicklung in den Hintergrund tritt. Auch die Erforschung der Neustadt von Edinburgh setzt mit der Sorge um ihren dauerhaften Erhalt ein, nachdem erhebliche Teile der ersten Stadterweiterung schon im späteren 19. Jahrhundert dem Druck einer City-Bildung weichen mussten. 1924 begann der originalgetreue Rückbau der Nordseite des von Robert Adam 11


entworfenen und inzwischen veränderten Charlotte Square, dem scheinbar einzigen auf nationalem Niveau konkurrenzfähigen Beitrag zu ihrem Stadtbild, als erster konservatorischer Eingriff außerhalb der Altstadt.19 In demselben Umfeld des Conservation Movement entstand auch die ab 1938 publizierte, grundlegende Studie von Frank C. Mears und John Russell über die Entstehung der First New Town.20 Ihre Quellenarbeit und viele weitere ähnliche Einzelbeiträge bildeten die Grundlage für die bislang einzige Gesamtdarstellung der Stadterweiterung, die Alexander John Youngson 1966 vorlegte.21 In dieser Monographie erschien die Neustadt von Edinburgh als Ausdruck einer von aufgeklärter Rationalität und politischer Liberalisierung gekennzeichneten Aufbruchphase, in die sich die Stadt durch ihre Integration in den gemeinsamen britischen Staat nach 1745 aufgemacht zu haben schien. Inzwischen ist sie durch die fortgesetzte kleinteilige Forschungsarbeit nicht nur in vielen Einzelheiten überholt, sondern auch als einseitige Parteinahme für einen gemeinsamen britischen Staat, gewissermaßen als eine Verlängerung der WhigIdeologie des 18. Jahrhunderts in die Gegenwart, kritisiert worden.22 Denn die jüngere Forschung zur Stadtentwicklung von Edinburgh durchzieht der aktuelle politische Konflikt zwischen einer schottischen und einer gesamtbritischen Identität, der die heutige Stadtgesellschaft in gegnerische Lager spaltet. Geprägt durch den Aufstieg eines schottischen Nationalismus im 20. Jahrhundert erscheinen dabei den Befürwortern einer größeren Eigenständigkeit gegenüber London die New Towns entweder als Ausdruck einer quasi-kolonialen Anglisierung der Stadt oder als Beleg für eine schottische Resistenz gegenüber der fremdbestimmten Modernisierung.23 Beide Interpretationen, die pro-britische wie die schottisch-nationale, führen unwillkürlich zu Verzerrungen in der Wahrnehmung der historischen Vorgänge. Sie sorgen zugleich dafür, dass die Diskussion der Stadtentwicklung von Edinburgh, wie im Falle von Bordeaux, im Rahmen eines nationalstaatlichen Paradigmas verharrt. Dieser politische Konflikt ist wohl auch für das Fehlen einer neueren Gesamtdarstellung nach dem heutigen Forschungsstand verantwortlich. Dafür ist in Edinburgh, im Unterschied zu Bordeaux, ein sehr viel breiteres, über den Rahmen einer traditionellen Architekturgeschichte hinausreichendes Spektrum an Merkmalen untersucht worden. So findet sich 12

in jüngerer Zeit eine Monographie, die den Realisierungsprozess der Wohnbebauung, seine Organisation als spekulative Operation durch Bauunternehmer und die Versuche ihrer Steuerung durch die Stadtverwaltung jedenfalls für die First New Town detailliert rekonstruiert hat.24 Auch eine der aufmerksamsten ästhetischen Analysen von Mietshausquartieren bezieht sich auf die konsekutiven Neustädte von Edinburgh.25 Zusammengenommen steht eine Nutzung dieser und der anderen jüngeren Forschungsbeiträge für eine Gesamtinterpretation jedoch noch aus. Trotz einer gewissen Unausgewogenheit erlaubt der beschriebene Forschungsstand inzwischen durchaus, eine komparative Untersuchung beider Städte aus einer transnationalen Perspektive vorzunehmen. Dort, wo die Diskussion der Typenbildung und Gestaltungsweise von Wohnbauten in Edinburgh bereits deutlich weiter vorangeschritten ist, wurde die entsprechende Untersuchungsperspektive für Bordeaux soweit als möglich nachgeholt, um ein hinreichendes Maß an Vergleichbarkeit herzustellen. Für Edinburgh ist die hier vorgelegte Zusammenfassung von verstreuten Einzelergebnissen der Ersatz für die noch ausstehende aktuelle Gesamtdarstellung, während die jüngeren Synthesen zur Stadterweiterung von Bordeaux, die diese Bündelung bereits geleistet haben, einer kritischen Relektüre unterzogen worden sind. Im Ergebnis ist hoffentlich ein auf dem aktuellen Forschungsstand beruhendes, konsolidiertes und gleichgewichtiges Bild beider Städte und ihrer Expansion entstanden. Der Aufbau des anschließenden Textes versucht, dem Verdopplungscharakter des Vergleichs und der zeitlichen Entwicklung an beiden Orten gleichermaßen gerecht zu werden. Zu diesem Zweck ist der Untersuchungszeitraum zwischen der Vorbereitung der Stadterweiterungen seit etwa 1730 und ihrem unfreiwilligen, aus wirtschaftlichen Gründen erfolgten ›Abschluss‹ um 1830 in drei größere Teilabschnitte unterteilt, in denen jeweils die Entwicklung in Bordeaux vorangestellt ist, um sie im direkten Anschluss der parallelen Entwicklung in Edinburgh gegenüberzustellen. Diese Systematik erlaubt es dem Leser aber im Prinzip auch, den Fortgang der Stadterweiterung über die Teilabschnitte hinweg nur an einem der beiden Standorte zu verfolgen. Das erste der drei Hauptkapitel ist der Vorbereitung der Stadterweiterungen gewidmet, ihrem PlanungsvorEINLEITUNG


lauf ebenso wie den Kontroversen über ihre Wünschbarkeit und Ausgestaltung. Die Vision einer neuen Stadt, die sich in diesem Prozess schließlich abzeichnete, hatte um 1770 ihre endgültige Form angenommen, als die Verwirklichung des Ausbaus der bestehenden Stadt tatsächlich in Angriff genommen wurde. Das zweite Hauptkapitel behandelt die Realisierung der Stadterweiterung in der Zeit von den Jahren vor der Französischen Revolution bis zum Ende der langen Kriegsphase im Jahre 1815. In diesem Zeitraum entstand nicht nur ein beträchtlicher Teil der Neustadt an beiden Orten, sondern sie nahm auch den Charakter einer Mietshausstadt an, der in den städtebaulichen Vorstellungen der Vorbereitungsphase noch nicht absehbar gewesen war. Eine neue Typologie des städtischen Wohnens konstituierte diese Abkehr von traditionellen Vorstellungen. Das letzte Hauptkapitel beschreibt die Konsolidierungsphase, in der die inzwischen gewonnene Erfahrung im Umgang mit den Planungsinstrumenten noch einmal eine beträchtliche Erweiterung beider Städte auf derselben Grundlage möglich werden ließ, bevor sie gegen 1830 zum Erliegen kam. Eine Fortsetzung der bisherigen Planungspraxis sollte sich danach nicht mehr als möglich erweisen. Begründet sich diese Periodisierung aus der Beobachtung des städtebaulichen Prozesses, so sind einige besonders wichtige, übergreifende Aspekte, die sich nicht umstandslos in die chronologische Darstellung einfügen ließen, als selbständige Exkurse eingestellt. Der erste dieser querschnittartigen Betrachtungen bezieht sich auf das neuartige Problem der Gestaltung der Peripherie der Stadt nach dem Beschluss, natürliche und fortifikatorische Begrenzungen des Stadtrands aufzuheben. Das neue Ideal der offenen Stadt führte zu einer anderen ästhetischen Bezugnahme zwischen der Stadtkante und ihrer unmittelbaren Umgebung. Der zweite Exkurs erläutert den Kosmopolitismus als gemeinsames Leitbild für die Gestaltung der Neustädte bis 1830. In ihrer Bezugnahme auf ein internationales Repertoire an Vorbildern für die städtebauliche Leitplanung wie für die Architektursprache der neuen Wohnhäuser bezog sich diese Planungskultur auf einen ›aufgeklärten‹ Konsens innerhalb der Eliten beider Stadtgesellschaften. Die Abkehr von diesem Konsens zugunsten einer identitätsbildenden Stadtplanung im Verlauf des weiteren 19. Jahrhunderts ist der Gegenstand des dritten und letzten ExkurEINLEITUNG

ses. Hier wird die wachsende Divergenz der Gestaltung von Urbanität sichtbar, die beide Standorte umso deutlicher voneinander unterscheiden sollte, je stärker das Paradigma nationaler Identität an die Stelle des aufgeklärten Universalismus getreten ist. Insgesamt soll sich auf diese Weise ein Gesamtbild abzeichnen, dass die Epoche zwischen 1730 und 1830 als in sich kohärente und von früheren wie späteren Epochen klar abgrenzbare Phase der Stadtplanungsgeschichte erkennbar werden lässt. In diesem Zeitraum entstanden die Grundzüge der modernen Stadt, wie sie die Urbanistik des bürgerlichen Zeitalters bis ins frühe 20. Jahrhundert prägen sollten. Sowohl die Trennung von Wohnen und Arbeiten wie die daraus folgende Typologie des Etagenwohnhauses oder die spezifische Form des Zusammenwirkens von städtischen Aufsichtsbehörden und privater Bodenspekulation bei ihrer Realisierungen haben ihre experimentellen Wurzeln in dieser Epoche urbanistischer Innovation.

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Abb. 1 Jean Lattré, Plan géométral de la ville de Bordeaux (…) levé par les ordres de M. de Tourny, Intendant de la Généralité (…) , Kupferstich, dat. 1755


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K A P I T E L I : D I E V I S I O N E I N E R N E U E N S TA D T 1 7 3 0 – 1 7 7 0

DAS PROJEKT EINES UMFASSENDEN EMBELLISSEMENT VON BORDEAUX

Im Unterschied zu Paris und den anderen französischen Provinzstädten, in denen sich die in der zeitgenössischen Terminologie als Embellissement bezeichnete Neuordnung des urbanen Raumes meist auf die Anlage einzelner Schmuckplätze oder Straßenzüge innerhalb des sonst unangetasteten Stadtgefüges beschränkte, stellt die Umgestaltung von Bordeaux im 18. und frühen 19. Jahrhundert die wohl umfangreichste und anspruchsvollste Modernisierung einer Stadt während dieser Epoche innerhalb der Grenzen Frankreichs dar (Abb. 1). Als der am stärksten wachsende und schließlich größte französische Überseehafen des Ancien Régime, als Anziehungspunkt einer unvergleichlichen Zuwanderung von Arbeitskräften aus dem agrarischen Hinterland und mit seiner enormen Kapitalkonzentration in den Händen der örtlichen Kaufmannselite verfügte die Stadt über dafür besonders geeignete Voraussetzungen. So verwandelte sich ein Programm zur Stadtverschönerung, das die bisher noch mittelalterlich geprägte, von einer Mauer umgebene Kernstadt öffnen und mit den wirtschaftlich aktiven Vororten verbinden sollte, unter der Hand in eine sukzessive, immer weiter fortgeführte Stadterweiterung, welche die Fläche des kompakt bebauten urbanen Raumes innerhalb von einem Jahrhundert – zwischen 1730 und 1830 – in etwa verdreifachte. Diese Neustadt war nicht das Ergebnis eines Masterplans, der von Beginn an festgestanden hätte, sondern sie entstand etappenweise durch das Zusammenwirken staatlicher Initiativen, privater Bodenspekulation und städtischer Kontrollbemühungen, die zudem, im Zuge der politischen Umwälzungen, die Bordeaux wie ganz Frankreich in der Epoche um 1789 erlebte, ihre Art der Kooperation immer wieder neu aushandeln mussten. Trotz dieser Diskontinuität im Planungsprozess und hinsichtlich der institutionellen 16

Akteure ist jedoch ein Stadtbild von bemerkenswerter Geschlossenheit und Einheitlichkeit entstanden, da konsekutive Generationen von Planern immer wieder auf eine lokale Tradition zurückgriffen, in der jedes neue Vorhaben mit dem Vorangegangenen formal wie funktional verkettet worden ist. In Bezug auf die Resistenz der örtlichen Architektur gegenüber dem historischen Eklektizismus während des 19. Jahrhunderts, als Bordeaux bis zum Zweiten Kaiserreich dem Klassizismus seiner zweiten Ausbauphase um 1780 treu geblieben ist, ist dieses Phänomen bereits als der ›Fall Bordeaux‹ in die Fachliteratur eingegangen.26 Aber es lässt sich auch auf die städtebauliche Planungspraxis und auf die soziale Topographie der Stadt ausdehnen, die ebenfalls von Prinzipien geprägt blieben, die sich im späteren 18. Jahrhundert verfestigt hatten. Insofern stellt die Stadterweiterung von Bordeaux einen Modellfall für die Möglichkeiten und Grenzen des französischen Städtebaus dieser Epoche vor Augen, dessen Ergebnis, durch spätere Veränderungen nur relativ wenig beeinträchtigt, sich noch heute gut ablesen lässt.27 In der anschließenden Darstellung geht es zunächst darum, den Beginn des Prozesses, in dem diese Stadterweiterung entstanden ist, nachzuvollziehen. Dabei rücken als erstes die politischen und gesellschaftlichen Voraussetzungen in den Blick und mit ihnen die lokalen Akteure, die das Embellissement von Bordeaux in die Wege geleitet haben. Die am Anfang des 18. Jahrhunderts rückständige und teilweise dysfunktionale Hafenstadt im Südwesten des Landes zu einem Vorzeigeprojekt aktueller Urbanistik zu entwickeln, wird traditionell dem seit 1743 als Intendant du Roi amtierenden Marquis de Tourny zugeschrieben.28 Anknüpfend an die noch nicht abgeschlossene Realisierung einer Place Royale, die sein Vorgänger Claude Boucher angestoßen hatte, entwarf der neue Intendant ein Programm der umfassenden Umgestaltung der Stadt, das entlang ihrer mittelalterlichen Stadtmauer ringförmig eine Folge von regulariK A P I T E L I : D I E V I S I O N E I N E R N E U E N S TA D T 1 7 3 0 – 1 7 7 0


sierten Straßen und Plätzen vorsah. Spätestens 1746 wurde dieses Vorhaben von ihm in einer recht vollmundigen Ankündigung gegenüber dem Finanzminister in Versailles explizit zum Ausdruck gebracht: »Ich kann Ihnen antworten, dass ich aus ihr in weniger als vier oder fünf Jahren die schönste Stadt des Königreichs gemacht haben werde.«29 Allerdings unterschätzte der Intendant sowohl den lokalen Widerstand gegen sein Projekt wie die finanziellen und organisatorischen Schwierigkeiten, die seine Verwirklichung weit über den erwarteten Zeithorizont hinaus verzögert haben. Trotzdem ist diese häufig zitierte Ankündigung in der Forschung gewissermaßen zur ›Geburtsurkunde‹ des neuzeitlichen Stadtumbaus von Bordeaux kanonisiert und in einer verkürzten Form sogar als Antizipation der gesamten Stadterweiterung bis ins 19. Jahrhundert hinein präsentiert worden.30 Tatsächlich wird sich im Anschluss nicht nur zeigen, dass der Intendant die Entwicklung der Stadt in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts kaum hätte vorhersehen können, sondern dass er mit seinem Projekt sogar in eklatanter Weise gescheitert ist. Erst der weitgehende Rückzug des Staates aus der Stadtplanung eröffnete im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts den Handlungsspielraum für jene Dynamik, die das heutige Bordeaux geschaffen hat.31 Aber die Initiativen der königlichen Beamten Boucher und Tourny waren Stimuli, den bisher kaum veränderten mittelalterlichen Stadtgrundriss in Frage zu stellen und auf diese Weise Visionen einer grundlegend veränderten Stadt vorstellbar werden zu lassen. Schon in diesem Widerspruch zwischen zentralstaatlicher Aktivität auf der einen und ihrem begrenzten Wirkungskreis auf der anderen Seite deutet sich das komplexe Beziehungsgeflecht unterschiedlicher Institutionen und Interessenlagen an, aus dem die neue Stadt hervorgegangen ist. Die städtebauliche Ausgangssituation, auf die das Projekt des Marquis de Tourny Bezug nahm, entsprach den meisten französischen Provinzstädten des früheren 18. Jahrhunderts.32 Die Stadt war durch ihre zuletzt im Spätmittelalter ausgebaute Stadtmauer, zu der ein System aus Wassergräben und jüngeren Vorwerken gehörte, scharf von der unmittelbaren Umgebung abgegrenzt.33 Diese befestigte Kernstadt bildete in etwa ein unregelmäßiges Dreieck mit der längsten Seite an einem leicht gekrümmten Abschnitt des linken Garonne-Ufers, dessen flach ansteigende Böschung als

Hafen diente, und zwei kürzeren, untereinander aber etwa gleich langen Abschnitten auf der flussabgewandten Seite, die sich gegenüber der Mitte des Uferabschnitts trafen. Stadtpläne des 17. und 18. Jahrhunderts, die noch nicht standardmäßig genordet waren, betonen diese geometrische Grundform, indem sie das Flussufer als Grundlinie verwenden (Abb. 2).34 An den drei genannten Eckpunkten der Stadtmauern waren bereits im Mittelalter kleinere Festungsanlagen entstanden, von denen die beiden am südlichen und nördlichen Ende der Hafenstrecke, Fort Louis und Château Trompette, noch im Laufe des 17. Jahrhunderts beträchtlich modernisiert und ausgebaut worden sind. Die außerhalb dieser Umwallung liegenden Vororte waren meist nur entlang der Ausfallstraßen oder in der Nähe vorstädtischer Kirchen in geringer Dichte bebaut. Einzig am Flussufer nördlich der ummauerten Kernstadt, an dem sich die wachsende kommerzielle Aktivität des Hafens im 17. Jahrhundert ausgedehnt hatte, war ein intensiver entwickelter Vorort entstanden.35 Dieser Faubourg des Chartrons war jedoch durch die zwischen ihm und der Kernstadt liegende nördliche Festung Château Trompette, ihre Vorwerke und ihr breites Glacis weitgehend vom Rest der Stadt abgeschnürt.36 Allein auf der Flussseite erstreckte sich der militärische Bereich über eine Länge von rund 800 Metern und teilte den Hafen in zwei ungleich lange Uferabschnitte. Auch auf der flussabgewandten Seite zwang er die nach Norden führende Landstraße dazu, einen großen Abstand zum Fluss zu halten, so dass sich die Verkehrsverbindung zwischen dem Hafen der nördlichen Vorstadt Chartrons und der eigentlichen Stadt besonders ungünstig darstellte. Trotzdem zeichnet sich die für die spätere Entwicklung von Bordeaux charakteristische soziale Topographie bereits am Beginn des 18. Jahrhunderts ab. Der Faubourg des Chartrons, an dem sich Häuser mit großen Lagern für den Warenumschlag aneinanderdrängten, sollte zum bevorzugten Wohnsitz der Fernhandelskaufleute werden, während die südlichen Vorstädte Saint Julien, Sainte Croix und Paludate eine einfache, bestenfalls kleinbürgerliche Bevölkerung anzogen. Nicht umsonst war das Arbeitshaus der Stadt, das Hôpital de la Manufacture, im 17. Jahrhundert unmittelbar vor dem landeinwärtigen Rücklauf der Stadtmauer am südlichen Ende des Hafens angesiedelt worden.37 Der

DAS PROJEKT EINES UMFASSENDEN EMBELLISSEMENT VON BORDEAUX

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Abb. 2 Nicolas de Fer, Bourdeaux , Kupferstich, in ders.: Les forces de l’Europe ou description des principales villes avec leurs fortifications (…) , Paris 1693–97, Teil 7 (1696)

geplante Ausbau der Stadt im Laufe des 18. und frühen 19. Jahrhunderts konzentrierte sich beinahe ausschließlich auf das Gebiet nördlich der Kernstadt, die verkehrstechnische und städtebauliche Anbindung des Faubourg des Chartrons und das Potential des westlich angrenzenden Geländes. Dieses bestand zum Teil aus Sümpfen, die zunächst trockengelegt werden mussten, zum Teil aus lockerer vorstädtischer Bebauung, die Verdichtungsmöglichkeiten um die Kirche Saint Seurin und entlang der nördlichen Ausfallstraßen aufwies. In diesem nordwestlichen Randbereich der Kernstadt, der bis 1790 zu einem kompakten urbanen Gefüge hoher Verdichtung zusammengewachsen war, entstand das neue Bordeaux durch die Schaffung von Wohnraum für 18

den gehobenen Anspruch eines zumindest auskömmlich verdienenden, wenn nicht sogar ausgesprochen wohlhabenden Klientels. Auch in den südlichen Vorstädten hatte sich die Bebauung bis 1790 auf einem breiten Streifen außen vor der Stadtmauer zusammengeschlossen. Allerdings blieb die Dichte der Bebauung hier typischerweise sehr viel geringer. Noch im späteren 19. Jahrhundert, für das entsprechende Unterlagen verfügbar sind, seitdem die Verwaltung ein Kataster eingeführt hatte, waren die meisten Häuser in den südwestlichen Vorstadt-Nebenstraßen freistehende einstöckige Katen, während die Bebauung der nördlichen Quartiere seit 1770 auch in den Seitenstraßen in der Regel aus drei- bis vierstöckigen Mietshäusern beK A P I T E L I : D I E V I S I O N E I N E R N E U E N S TA D T 1 7 3 0 – 1 7 7 0


stand.38 Das rechte Flussufer dagegen stand solange für eine Ausdehnung der Stadt nicht zur Verfügung, bis der Hafenbetrieb sich stadtauswärts nach Norden verlagert hatte, der zuvor durch eine Brücke über die Garonne behindert worden wäre. Der Pont de Pierre konnte deshalb erst 1822 realisiert werden und verwandelte das gegenüber der Kernstadt gelegene Dorf La Bastide in eine industriell geprägte Vorstadt.39

WIRTSCHAFTLICHE UND DEMOGRAPHISCHE VORAUSSETZUNGEN

Das Projekt des Intendanten Marquis de Tourny ist offenkundig als Antwort auf die aus der geschilderten Situation resultierenden Probleme zu verstehen, aber es wäre in seiner Ambition wohl kaum vorstellbar gewesen ohne die enorme Dynamik der Stadt als einem der wichtigsten Warenumschlagplätze des Landes. Denn Bordeaux war die bei weitem erfolgreichste, am schnellsten wachsende Hafenstadt Frankreichs während des 18. Jahrhunderts.40 Das reiche Material der Steuererfassung ermöglicht es, eine relativ genaue Vorstellung von der Entwicklung des Umsatzes an den Anlegestellen der Garonne zu gewinnen, wo im Laufe des Jahrhunderts immer größere Handelsschiffe be- und entladen worden sind. Zwar steigert sich die Zahl der registrierten Schiffsbewegungen im Zeitraum zwischen 1720 und 1789, für den Statistiken vorliegen, kaum, aber die von ihnen transportierte Tonnage verdoppelte sich in diesem Zeitraum von 141.000 auf 282.500 Tonnen. Im Rekordjahr 1786 erreichte sie sogar 303.000 Tonnen.41 Noch dramatischer erscheint die Wertsteigerung, die diese Transportgüter repräsentierten. Wenn man die Inflationsrate der französischen Währung zwischen 1717 und 1789 berücksichtigt, die bei etwa 25 % lag, ergibt sich eine durchschnittliche jährliche Wertsteigerung von 4 % bei einem Handelswert, der sich im genannten Zeitraum insgesamt verzwanzigfacht hatte.42 Diese Wachstumsrate liegt deutlich über dem Zuwachs des französischen Gesamthandels oder der Wertsteigerung in den anderen großen Hafenstädten des Landes und ähnelt eher der Dynamik moderner Industriegesellschaften als den sehr viel langsameren Zyklen vor-

industrieller Wirtschaftskreisläufe. Die beträchtliche Steigerung des Handelsumsatzes erklärt, dass Bordeaux im Laufe des 18. Jahrhunderts seine französischen Konkurrenten wie Marseille, Nantes oder Le Havre auf die Plätze verwies und der größte Umschlagplatz des Königreichs werden konnte. Zu Jahrhundertbeginn stand der Hafen der Stadt noch weit hinter diesen Standorten zurück und realisierte 1717 nur etwa 11 % aller französischen Handelsbewegungen, während er zum Zeitpunkt der Revolution fast 25 % des nationalen Handelsvolumens auf sich konzentriert hatte, ganz abgesehen von Ausnahmejahren wie 1771 mit beinahe 40 %.43 Als letzten Konkurrenten überholte Bordeaux am Ende des amerikanischen Unabhängigkeitskriegs Marseille und blieb bis zum Anbruch der Revolutionszeit an der Spitze. Die Grundlage dieses Wirtschaftsaufschwungs bildete vor allem der Kolonialhandel. War der durchaus nicht unbeträchtliche Warenumschlag in Bordeaux im 17. Jahrhundert von der Küstenschiffahrt und dem traditionellen Weinhandel mit europäischen Nachbarstaaten geprägt, so verschob er sich im 18. Jahrhundert auf den transatlantischen Überseeraum und den Austausch mit den französischen Kolonialgebieten in der Karibik. Guadeloupe, Martinique und vor allem SaintDomingue, die heute als Haiti bekannte Westhälfte der Insel Hispaniola, entwickelten sich zu reinen Monokulturen des Zucker- und Kaffeeanbaus für den europäischen Markt, der in großen Plantagen durch Sklavenarbeit erzeugt wurde.44 Nordfranzösische Häfen wie Nantes, Le Havre oder Rouen, die über ein manufakturell geprägtes Hinterland verfügten, dominierten den berüchtigten ›Dreieckshandel‹, bei dem Fertigprodukte oder ihr Ausschuss an der westafrikanischen Küste in Arbeitssklaven umgesetzt wurde, die in den Kolonien gegen Rohstoffe für den Import ins Mutterland getauscht wurden. Bordeaux dagegen mit seinem großen agrarischen Hinterland, das einen beträchtlichen landwirtschaftlichen Überschuss erwirtschaftete, aber kaum Manufakturen aufwies, spezialisierte sich auf den direkten Tauschverkehr mit den Antillen, indem es deren Versorgung mit Nahrungsmitteln sicherstellte, die wegen der höheren Erträge der exportorientierten Monokulturen dort nicht mehr angebaut wurden. Im Gegenzug übernahmen die Kaufleute von Bordeaux den Löwenanteil des Imports der Kolonialwaren Zu-

WIRTSCHAFTLICHE UND DEMOGRAPHISCHE VORAUSSETZUNGEN

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cker und Kaffee sowohl für den Verbrauch in Frankreich wie für den Reexport in das europäische Ausland.45 Traditionelle Handelskontakte zu den niederländischen und deutschen Häfen an Nord- und Ostsee, wie Amsterdam, Hamburg oder Lübeck, sicherten Bordeaux hier einen Vorteil gegenüber anderen französischen Kolonialhäfen. Der größte Teil des Bordelaiser Reexports von Kolonialwaren ging in diesen Bereich.46 So stammte ein beträchtlicher Teil des während des 18. Jahrhunderts konsumierten Kaffees in Preußen, der über Stettin oder Hamburg eingeführt wurde, aus den Warenlagern am Quai des Chartrons in Bordeaux.47 Der Anteil der Stadt am Sklavenhandel blieb dagegen relativ gering und konnte die Dimensionen, die er in Nantes besaß, nicht erreichen.48 Hier wirkte sich der Mangel an Manufakturbetrieben in der Stadt und in ihrem Hinterland aus. Jedoch wurden zwischen 1672 und 1793 insgesamt bis zu 150.000 Arbeitssklaven, ohne die der lukrative Kolonialhandel nicht hätte betrieben werden können, von Bordelaiser Handelsschiffen in die Antillen verbracht.49 Der Anteil des Kolonialhandels innerhalb der Wertschöpfungskette des Hafens von Bordeaux stieg im 18. Jahrhundert kontinuierlich an, und die hohen Gewinnmargen, die dieser Austausch ermöglichte, waren maßgeblich für die Wertsteigerung des Handelsumsatzes, da die traditionellen Handelsgüter, etwa der Wein, keine vergleichbare Dynamik erkennen lassen. Der koloniale Import und Reexport sorgte zudem für eine Kapitalhäufung in den Händen einer sehr kleinen Elite von Fernhandelskaufleuten, die diesen Überseehandel kontrollierten. Sie bestand zu einem erheblichen Teil aus zugewanderten Ausländern, vornehmlich Protestanten aus Nordeuropa und Juden aus Portugal. Der Erfolg dieser Négociants, der Eigentümer großer Handelsunternehmen im Unterschied zum lokalen Kleinhandel, beruhte auf dem traditionellen Verlagssystem, innerhalb dessen eine Kolonie von ausländischen Handelsvertretern von alters her den Weinexport nach Nordeuropa organisiert hatte. Das Verlagssystem ließ sich im 18. Jahrhundert ohne große Probleme auf den Reexport der Kolonialwaren ausdehnen. Hinzu kamen die Kontakte, die nach der Revokation des Ediktes von Nantes 1685 aus Bordeaux und dem südwestlichen Frankreich ausgewanderte Protestanten in den Zielhäfen des protestantischen Nordens mit ihrer Herkunfts20

region hielten. Der Kolonialhandel war ausgesprochen riskant und krisenanfällig, vor allem in Phasen militärischer Auseinandersetzung, so dass die dort erwirtschafteten Gewinne durch lokale Investitionen abgesichert werden mussten.50 Auf diese Weise erzeugte die Kapitalhäufung der Bordelaiser Négociants unter anderem auch Druck auf den lokalen Immobilienmarkt und beförderte jene anhaltende Baukonjunktur, welche die Stadt während des 18. Jahrhunderts zu einer Dauerbaustelle werden ließ. Als ihre wichtigste Ursache gilt jedoch gemeinhin das starke Bevölkerungswachstum, das der kommerzielle Erfolg des Hafens nach sich zog. Obwohl es nur wenige verlässliche Zahlen aus zeitgenössischen Erfassungsversuchen gibt, ist auch hier die Dynamik, die Bordeaux gegen Ende des 18. Jahrhunderts nach Paris und Lyon zur drittgrößten Stadt des Landes werden ließ, an sich unzweifelhaft. Bordeaux hatte nach einem Census, den der Marquis de Tourny 1747 in Auftrag gab, 66.554 Einwohner. Eine erneute Zählung im Jahre 1790, also 43 Jahre später, ergab 109.499 Einwohner.51 Ausgehend von einer langsameren Steigerungsrate im frühen 18. Jahrhundert, kann man abschätzen, dass sich die Zahl der Bewohner in der Zeit zwischen 1715 und 1790 mindestens einmal verdoppelt haben muss.52 Diese Zunahme resultiert überwiegend aus der Landflucht aus den umliegenden Gebieten. Die wirtschaftliche Prosperität der Stadt zog Tagelöhner, Landarbeiter und verarmte Kleinbauern aus dem gesamten südwestlichen Frankreich an, die hier ihre Lebensverhältnisse verbessern wollten.53 Angesichts der überdurchschnittlich hohen Löhne, die in Bordeaux auch für einfachere Arbeiten bezahlt wurden, konnten diese Zuwanderer damit rechnen, in absehbarer Zeit zumindest ein einfaches Auskommen zu finden, wenn nicht sogar zu ein wenig Wohlstand zu gelangen.54 Für die Baukonjunktur war also weniger die große Zahl der zunächst oft mittellosen Neubürger maßgeblich, als die relativ guten Einkommensmöglichkeiten, die ein wachsendes mittleres Segment der städtischen Gesellschaft entstehen ließen, dessen Ansprüche an den Wohnkomfort zunahmen. Die armen Zuwanderer kamen bei ihrer Ankunft zunächst als Schlafburschen oder Untermieter kleinbürgerlicher Haushalte in der Altstadt unter, wenn sie sich nicht als Hauspersonal verdingten, das ohnehin in den Anwesen seiner Herrschaft wohnte. Mit regelmäßigem K A P I T E L I : D I E V I S I O N E I N E R N E U E N S TA D T 1 7 3 0 – 1 7 7 0


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