NEUE NATIONALGALERIE
NEUE NATIONALGALERIE
Neue Nationalgalerie Das Museum von Mies van der Rohe
Ludwig Mies van der Rohe am Tag der Anhebung des Daches der Neuen Nationalgalerie, 5. April 1967
Neue Nationalgalerie Das Museum von Mies van der Rohe Für die Nationalgalerie, Staatliche Museen zu Berlin herausgegeben von Joachim Jäger und Constanze von Marlin Mit Fotografien von Simon Menges
Der Tempel 7
Vorworte
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Hermann Parzinger
Transparenz und Monumentalität Fritz Neumeyer
Michael Eissenhauer und Christina Haak 8
Grußwort Cedrik Neike
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Raum und Struktur Phyllis Lambert
Die Vorgeschichte 58
Dirk Lohan
Das Museum 80
Die Neue Nationalgalerie im Werk Mies van der Rohes Wolf Tegethoff
Die Transparenz 90
Exhibitionistische Architektur: Blick durch Mies Beatriz Colomina
Der Raum 102
Joachim Jäger
Der Sockel 137
Terrasse und Podium der Neuen Nationalgalerie Claire Zimmerman
Die Möbel 204
Der Garten 144
Barry Bergdoll
Die Schrift 212
Das Dach 154
Das Rastern des Himmels Manfredo di Robilant
Maß und Ordnung in der Architektur der Neuen Nationalgalerie Constanze von Marlin
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Martin Reichert
Wenn „Gott im Detail“ steckt David Chipperfield
Die Sammlung 228
Die Ausstattung 193
Mies van der Rohes Allzweck Alphabet Erik Spiekermann
Die Sanierung
Das Raster 162
Möbel im Raum – Möbel für Räume Christiane Lange
Kunst des 20. Jahrhunderts Maike Steinkamp, Dieter Scholz
Der Museumsbetrieb 234
Von Garderoben mit Hutablage zur Hochleistungsmaschine Joachim Jäger, Constanze von Marlin
265 268 270
Pläne Kurzviten Bildnachweis
Vorworte
Die zwischen 1963 und 1968 entstandene Neue National- „Galerie des 20. Jahrhunderts“ stand noch in den Plänen von galerie, von Ludwig Mies van der Rohe als letztes eigenständig Ludwig Mies van der Rohe, bevor das Gebäude kurz vor der durchgeführtes Projekt geplant, gilt als großes Vermächtnis Eröffnung seinen endgültigen Namen erhielt: „Neue Nationaldieses bedeutenden Architekten. Mit seiner transparenten galerie“. Bis heute ist das Gebäude der Kunst des 20. Jahrhunoberen Glashalle und den freien Wandstellungen im Samm- derts gewidmet. Die 1967 im damaligen Westberlin vereinigte lungsgeschoss darunter verkörpert der Bau die Idee der Sammlung des Landes Berlin und der Stiftung Preußischer offenen Raumanlage, die Mies van der Rohe seit den 1920er Kulturbesitz war damals weit gespannt, von der Kunst des Jahren verfolgt hat. So steht das Gebäude der Neuen Natio- frühen 19. Jahrhunderts bis in die damalige zeitgenössische nalgalerie am Ende einer langen Entwicklungslinie, die von Kunst. Mies van der Rohe hatte sich beim Entwurf für die Mies van der Rohes frühem Landhaus aus Backstein von 1924 Sammlungsräume auch von der Sammlung des Museum of über seinen legendären Deutsche Pavillon für die Weltaus- Modern Art in New York inspirieren lassen und besonders ausstellung 1929 in Barcelona bis in die großen Stahl- und Glas- gewogene Räume geschaffen, die mit vier Metern Deckenbauten seiner Chicagoer Zeit reicht. höhe für damalige Verhältnisse großzügig, aber eben nicht Für Berlin stellte der Bau zugleich eine Art Wiedergut- überdimensioniert angelegt waren. machung an den ehemaligen Direktor des Bauhauses dar, der Einzigartig an der Neuen Nationalgalerie ist nicht nur, wegen fehlender Freiheiten und Arbeitsmöglichkeiten nach wie elegant Mies van der Rohe die beiden Aufgaben für das Chicago emigriert war, nachdem die Nationalsozialisten 1933 Museum – nämlich einen großen Raum für Sonderausstellundas Bauhaus geschlossen hatten. Auf Einladung Berlins war gen und Räume für die Sammlung zu schaffen – löste, indem Mies van der Rohe Anfang der 1960er Jahre zurückgekehrt, er diese beiden Funktionen auf zwei Etagen aufteilte. Berühmt um die Planungen für die Neue Nationalgalerie aufzunehmen. ist die Neue Nationalgalerie vor allem für die Offenheit der Halle sowie die offenen Raumanlagen im Sammlungsgeschoss. Welch ein Glück für diese Stadt! Dieser von ihm konzipierte „Tempel der westlichen Moder- Galt die Glashalle manchen Kritikern zur Eröffnung 1968 noch ne“ gehört zu den schönsten und eindrücklichsten Museums- als unbespielbar, sind ihre Potenziale in fast fünfzig Jahren bauten des 20. Jahrhunderts. Nach fast 50-jähriger durchgän- Ausstellungsgeschichte voll zu Entfaltung gelangt. Eine ausgiger Nutzung war eine umfassende Sanierung des Gebäudes führliche Würdigung bietet der 2018 erschiene Band Die jedoch nicht mehr aufzuschieben. Mit David Chipperfield Ausstellungen. Neue Nationalgalerie 1968–2015. Architects fanden wir Architekten, die das Erbe von Mies in Mit der Wiedereröffnung der Neuen Nationalgalerie nach einzigartiger Weise wahrten und denen trotzdem eine Aktua- der umfassenden Sanierung beginnt nun eine neue Ära. Das lisierung des Baus für den modernen Museumsbetrieb gelang. vorliegende Buch ist als Festpublikation zur Wiedereröffnung Im Mittelpunkt der gesamten Sanierung stand dabei der angelegt und reichhaltig illustriert. Es widmet sich nicht nur unentwegte Interessensausgleich zwischen der Bewahrung allen Facetten der herausragenden Architektur, sondern des Vorhandenen und der Nutzung des Baus als modernes gerade auch Aspekten der Sammlung und den notwendigen Sammlungs- und Ausstellungshaus. Das Ergebnis spricht für Aktualisierungen für den modernen Museumsbetrieb. Zu sich. David Chipperfield Architects setzten – wie schon mit danken sind neben der Publikationsabteilung und den Mitdem Neuen Museum auf der Museumsinsel – erneut Maßstäbe arbeiter*innen der Neuen Nationalgalerie insbesondere Constanze von Marlin für die sorgfältige Betreuung der Publiim Umgang mit historischer Bausubstanz. Der vorliegende Band widmet sich allen Facetten des kation, Martin Reichert (David Chipperfield Architects) für die Gebäudes – vom Prozess seiner Entstehung und der für Berlin vielfältige Beratung sowie den Grafikern Heimann + Schwantes und Deutschland so wichtigen Phase der Eröffnung bis in die für die diesem Bau angemessene, gleichfalls elegante wie Gegenwart. Brillante Fotostrecken von Simon Menges doku- auch noble Gestaltung des Buches. mentieren die gegenüber Mies so respektvolle Sanierung und schaffen eine neue Sichtweise auf das ikonische Gebäude. Michael Eissenhauer und Christina Haak Prominente Autorinnen und Autoren umkreisen mit ihren Generaldirektor und stellvertretende Generaldirektorin der Staatlichen Museen zu Berlin vielschichtigen Beiträgen den Mythos dieses besonderen Baus, der nicht nur zu den Glanzstücken Berlins, sondern auch der Stiftung Preußischer Kulturbesitz zählt. Hermann Parzinger Präsident der Stiftung Preußischer Kulturbesitz
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Grußwort
Transparenz, Offenheit und Modernität – diese Begriffe kommen mir in den Sinn, wenn ich an die Neue Nationalgalerie in meiner Heimatstadt Berlin denke. Viele Jahre war diese schlichte Schönheit aus Stahl, Glas und Granit durch Bauzäune von uns Berliner*innen abgetrennt. Nun freut es mich sehr, dass wir die Neue Nationalgalerie wieder besuchen können. Diese Freude teile ich mit vielen meiner Kolleg*innen bei Siemens, die in der Gründungsstadt unseres Unternehmens dieses wichtige Symbol für Weltläufigkeit und Innovation vermisst haben. Wir alle können es kaum erwarten, dieses wunderbare Museum wieder zu betreten. Ein Ort, der nach der Zeit des Wartens nun wieder Menschen aus der ganzen Welt zusammenbringen und die bedeutendsten Werke ausstellen wird. Ich persönlich erinnere mich zurück an die Ausstellung Panorama von Gerhard Richter vor knapp zehn Jahren. Sein Werk 4900 Farben hat mich damals besonders beindruckt. Die Arbeit, bestehend aus 196 quadratischen Farbtafeln, hat mir gezeigt, wie vielfältig die Zusammensetzung unterschiedlicher Farben sein kann. Solche Nuancen sind nur in einer Architektur erfahrbar, die die Kunst nicht erdrückt, sondern sie in ihrem Wesen belässt. Diese Interaktion hat Ludwig Mies van der Rohe in Form von bedeutender Architektur realisiert. Entstanden ist ein großes Geschenk für Berlin, Deutschland und die Welt. Die Neue Nationalgalerie setzt nachhaltige Impulse für die Zukunft. Die Kraft, die von diesem Ort ausgeht, strahlt weit und erhellt nahezu alle Lebensbereiche. Inspiriert vom Bauhaus, bringt sie Kunst, Wissenschaft und Wirtschaft zusammen und erreicht somit auch unseren neuen Zukunftsort Siemensstadt². Auch hier wird mit Leidenschaft geplant und gebaut – für einen Stadtteil, der Anwohner*innen, Unternehmen und Forschung ein Miteinander ohne Barrieren ermöglicht. Mies van der Rohe hat uns verdeutlicht, wie sehr wir diese Form der Offenheit brauchen. Architektur, die sich den Menschen öffnet, bei der das Drinnen und das Draußen ineinander übergehen. Sie ermöglicht neue Ideen und Erfindungen, die die Menschen in die Welt hinauslassen. Von Berlin in die Welt. Cedrik Neike Mitglied des Vorstands der Siemens AG
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Raum und Struktur Von innen betrachtet rahmt die Glashalle der Neuen Nationalgalerie gewissermaßen das Wandgemälde der neu erstandenen Stadt, die rund um sie herum gewachsen ist. Von außen spiegeln die Reflexionen in der Glashülle diese eingerahmten Ausblicke. Diese sich verschiebende und überlagerte Reflexivität, die zu einem Element geworden ist, das Kritiker*innen und Fotograf*innen gleichermaßen preisen,1 fängt das gewaltige Erlebnis der Glashalle ein. Fußgänger*innen, die über die Terrasse gehen, werden mit der gläsernen Wand konfrontiert, die sich zurückgesetzt unter dem massiven Dach erhebt. Jegliche gespannte Erwartung, ein geschlossenes inneres Heiligtum zu betreten, weicht, sobald man in die schützende Struktur gezogen wird, die sich über der Stadt erhebt und doch gleichzeitig von dieser abhebt. Sie ist auf einem Hügel gelegen, was an Mies van der Rohes Beschreibung des Projekts Museum for a Small City denken lässt, wo die „Schranke zwischen Kunstwerk und Lebensumwelt aufgehoben ist“ und das Kunstwerk „raumbildendes Element [wird], das sich vor einem wechselnden Hintergrund abzeichnet“.2 Ab dem Ende der 1920er Jahre hatte Mies van der Rohe mit den künstlerischen und tektonischen Möglichkeiten von Glas und Stahlskelettstruktur für den freien Ausdruck von Raum gearbeitet, indem dieser geöffnet und mit der Landschaft verbunden wird, um die Bedürfnisse der Menschheit zu erfüllen.3 Struktur und Raum, Inneres und Äußeres, waren für ihn untrennbar miteinander verbunden: „Es ist weder Kern noch Hülle, es ist alles auf einmal. Das Äußere und das Innere meiner Gebäude ist eins. Sie lassen sich nicht voneinander trennen. Das Äußere sorgt für das Innere.“4 Dies ist impliziert beim Seagram Building – wo der Raum über die landschaftlich gestaltete Plaza vor- und zurückspringt, von McKim, Mead & White[s Racquet & Tennis Club an der auf der Park Avenue gegenüber liegenden Seite] zu Picassos Bühnenvorhang[, der sich bis 2015 im Restaurant des Seagram Building befunden hat] – ebenso wie in der Glasbox des Farnsworth House mit ihrer Einbindung der Natur, im Inneren der Crown Hall des IIT, die sich zu gerahmten Ausblicken auf Baumkronen öffnet, sowie – in geradezu überwältigender Weise – unter dem schweren schwarzen Dach der Neuen Nationalgalerie. Wie eine Lichtung im Wald, wo die umgebenden Bäume einen Hohlraum bilden, beschwört auch Mies van der Rohes Glashalle Freiheit respektive Bewegungsfreiheit innerhalb eines Raumes, der nichts diktiert. Die wechselnden Lichtqualitäten, die den verglasten Raum durchdringen, strahlen gleichermaßen Geheimnis und Ruhe aus: der ultimative Ausdruck von „beinahe Nichts“. Phyllis Lambert
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Siehe u. a. Colin Rowe (mit Robert Slutsky), „Transparency. Literal and Phenomenal“, in: Colin Rowe, The Mathematics of the Ideal Villa and Other Essays, Cambridge (MA) 1976, S. 159–183; Robin Evans, „Mies van der Rohe’s Paradoxical Symmetries“, in: Translations from Drawings to Buildings and Other Essays, Cambridge (MA); Stan Allen, „Mies’s Theatre of Effects, the New National Gallery, Berlin“, in: Practice. Architecture, Technique, and Representation, Essays: Stan Allen; Kommentar: Diana Agrest, Amsterdam 2000, S. 71–85; Mies in Berlin, Terence Riley und Barry Bergdoll (Hg.), Ausst.-Kat. Altes Museum der Staatlichen Museen zu Berlin, Berlin, u. a., München u. a. 2001.
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Ludwig Mies van der Rohe, „Museum for a small city“, in: Fritz Neumeyer, Mies van der Rohe. Das kunstlose Wort. Gedanken zur Baukunst, 2. Aufl., Berlin 2016, S. 386f., hier S. 386. Ludwig Mies van der Rohe, „Was wäre Beton, was Stahl ohne Spiegelglas?“, in: Neumeyer 2016 (wie Anm. 2), S. 380. Ludwig Mies van der Rohe, zit. in: Katherine Kuh, „Mies van der Rohe. Modern Classicist“, in: Saturday Review, 48, Nr. 4, 23.1.1965, S. 22f., hier S. 22. Der vorliegende Beitrag ist ein Auszug aus meiner Publikation: Phyllis Lambert, Mies in America, New York 2001, hier S. 499.
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Für die Nationalgalerie, Staatliche Museen zu Berlin herausgegeben von Joachim Jäger und Constanze von Marlin Konzept: Joachim Jäger, Constanze von Marlin, Martin Reichert Publikationsmanagement: Sigrid Wollmeiner Redaktion: Constanze von Marlin, schmedding.vonmarlin. Lektorat: Ilka Backmeister-Collacott Übersetzung: Alexandra Titze-Grabec Gestaltung: Heimann + Schwantes, Berlin Druck und Bindung: Eberl & Kœsel GmbH & Co. KG, Altusried-Krugzell Verlag: Deutscher Kunstverlag GmbH Berlin München Lützowstraße 33, 10785 Berlin www.deutscherkunstverlag.de Ein Unternehmen der Walter de Gruyter GmbH Berlin Boston www.degruyter.com Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2021 Staatliche Museen zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz und Deutscher Kunstverlag GmbH Berlin München www.smb.museum ISBN 978-3-422-98651-0
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