HANS SCHAROUN Architektur auf Papier
Visionen aus vier Jahrzehnten (1909—1945)
Eva-Maria BarkhofenHans scH aroun a rchitektur auf Papier
Hans scH aroun a rchitektur auf Papier
Visionen aus vier Jahrzehnten (1909—1945)
Herausgegeben von Eva-Maria Barkhofen im Auftrag der Akademie der Künste, Berlin
VorwortE 7
Hans sc H aroun als Zeic H ner – eine e infü H rung 9
sc H üler Z eic H nungen – vom Historismus Zur moderne 13 (1909–1912)
entdeckung des v isionären – s tudium und erster Weltkrieg 75 (1912–1918)
aufbruc H nac H dem ersten Weltkrieg – erste PH ase der a bstraktion 113 (1918–1920)
Wege Zum organisc H en bauen – v ersc H mel Zung von form und funktion 173 (1921–1932)
n ationalsoZ ialismus und Z Weiter Weltkrieg – fluc Ht in utoPisc H e m egastrukturen 229 (1933–1945)
sc H lussbemerkung – sc H arouns Z eic H nerisc H es fa Z it 315
literaturver Z eic H nis 318
„w ir müssen oft um Kleinigkeiten kämpfen und Großes gibt sich uns von selbst. Alles fängt im Menschen an. Alles liegt im Menschen.“ Dieser Satz, von Hans Scharoun zu Beginn des Jahres 1920 an seine Freunde der utopischen Briefge meinschaft „Gläserne Kette“ geschrieben, um fasst das thema dieser Publikation sehr gut in ihrer Gesamtheit.
Nun, 100 Jahre später, stehen wir an einer ähnlichen Stelle: Architektonische kreative Fan tasie wird heute eher als künstlerische Ausnah meleistung einzelner Entwerfer, denn als not wendige Reverenz an die innovative Kraft der Architektur gesehen. Die jeweiligen Leistungen der Fantasie haben immer unterschiedliche Hintergründe und so auch Bedeutungen. Die Spannweite ihres Aktionsraums reicht von un bewusstem Spieltrieb bis zu reformatorischen Bemühungen neue architektonische Funda mente zu schaffen. Auf dem Papier lebte Hans Scharoun alle Spielarten der zeichnerischen Darstellung und Grafik aus. Eine gezeichnete skulpturale Hülle wurde bei ihm zum vermeint lich erlebbaren raum. raumtiefen visualisierte er in scheinbar unendlichen Fernen, und die Faszination der Kraft des Lichtes führte den Zeichner scheinbar spielerisch zu einer Farben vielfalt, die in der Geschichte der Architektur zeichnung ihresgleichen sucht.
Hans Scharoun arbeitete Zeit seines lebens intuitiv und teilte Gründe und Hintergründe für sein freies, von Bauaufträgen unabhängiges zeichnerisches Werk, nur mit wenigen Weg gefährten. Er war kein wortgewandter Mensch und das Verfassen von texten lag ihm nicht. Er
schrieb schwer verständliche Abhandlungen über seine Entwurfsgedanken, vor allem über sein l ieblingsthema, die organische Architek tur. Sein Freund Hugo Häring soll einmal gesagt haben, er solle lieber bauen als schreiben. Da bei zeichnete er noch lieber, als dass er baute. Und dies tat er weitgehend im Privaten bzw. im Geheimen. Als Schüler verbot ihm sein strenger Vater das Zeichnen, weil er für ihn eine Juris tenkarriere vorgesehen hatte. Im Studium zog er sich häufig von den rückgewandten Lehren zurück. Erst nach dem Ersten weltkrieg fand er Gleichgesinnte im zeichnerischen Kosmos der welterneuerer und zugleich eine dankbare Zuhörerin in seiner geliebten Änne Hoffmeyer, der er seine gesamte künstlerische Bau- und Farbenlust in Briefen und Zeichnungen mitteilte.
In der letzten Phase des deutschen nationalso zialismus zog er sich vollkommen in einen Kokon zurück und produzierte monumentale Baukör per auf dem Papier, die ihresgleichen selten in Architekturutopien gefunden haben.
Vor nahezu 30 Jahren, anlässlich des 100. Geburtstags von Hans Scharoun, erschien in der Akademie der Künste, Berlin, von Achim wend schuh schon eine erste Publikation, die sich erst mals mit Hans Scharouns visionären Zeichnun gen befasste. Die Entwürfe blieben weitgehend unkommentiert und fast ausnahmslos begleitet von Scharouns eigenen texten. Erneut ist ein Jubiläum der Anlass für diese neue Publikation, der 50. Todestag Hans Scharouns.
Die von uns allen fachlich hochgeschätzte langjährige l eiterin des Baukunstarchivs, Eva-Maria Barkhofen, hatte das werk Scharouns
während ihres gesamten Wirkens für die Akade mie der Künste, Berlin, stets im Blick gehabt und schon in diversen Aufsätzen publiziert. Jedoch erst jetzt konnte sie neue Quellen erschließen
Fritz
und hat die notwendige Zeit und Muße gefunden, sich den zwischen 1909 und 1945 entstandenen faszinierenden utopisch-visionären Zeichnun gen Scharouns, in gebührender Tiefe zu widmen.
Frenkler, Direktor der Sektion Baukunst, Akademie der Künste, BerlinAus Hans Scharouns zeichnerischem werk sind vor allem seine expressionistischen Architek turfantasien bekannt, die nach dem Ersten weltkrieg in einer Stimmung von Aufbruch und Erneuerung entstanden. Die vom Programm der Architekten-Vereinigung „Gläserne Kette“ inspirierten Aquarelle und Zeichnungen zeigen visionäre Entwürfe von Großbauten – „Stadtkro nen“ und „Volksbauten“ – für eine neue, huma ne Gesellschaft. Zum teil mit poetischen t iteln, wie „Himmel, Welt, Schwingen“, „Geburt der Architektur“ oder „Das Haus nächtlicher Freu den“, versehen, beinhalten sie ein Spiel mit Ide en, Farben und Formen, ohne jedoch konkrete Bauvorhaben zu sein. Bis heute beeindrucken die Zeichnungen durch ihre visionären Gedan ken, die expressiven Formen und die intensive, leuchtende Farbigkeit. Ihre Ästhetik hat maß geblich dazu beigetragen, Scharouns ruf als ausdrucksstarker Zeichner zu begründen.
Das Spektrum an diesen freien, nicht an be stimmte Bauprojekte gebundenen Skizzen und Zeichnungen in seinem Œuvre ist jedoch we sentlich größer und vielfältiger. Die erhaltenen „Architekturvisionen auf Papier“ stammen aus dem Zeitraum von 1909 bis 1945 und reichen von Schülerarbeiten am Gymnasium in Bremerhaven über werke aus der Studentenzeit und die Jahre als freier Architekt in Insterburg bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs. Nach eigenem Be kunden schuf Scharoun gerade in der Zeit des nationalsozialismus „tag für tag Zeichnungen, Aquarelle, Entwürfe. Sie entstanden aus Selbst erhaltungstrieb und auch aus dem Zwange, sich mit der Frage nach der kommenden Gestalt auseinanderzusetzen.“
Insgesamt umfasst das erhalten gebliebene zeichnerische Werk über 1.000 Blatt und be findet sich zum überwiegenden Teil in seinem nachlass in der Akademie der Künste in Berlin. 1967 wurden in einer umfassenden Werkschau von Hans Scharoun, der zugleich Gründungsprä sident der West-Berliner Akademie war, Teile im neuen Domizil der Künstlergemeinschaft im Ber liner Hanseatenweg gezeigt. Zum 100. Geburts tag im Jahre 1993 publizierte Achim Wendschuh, damaliger Sekretär der Abteilung Baukunst, die Zeichnungen von 1918 bis 1945 in der Schriften reihe der Akademie. Es ist der langjährigen leite rin des Baukunstarchivs Eva-Maria Barkhofen zu verdanken, dass sie nun die freien Zeichnungen erstmals einer Gesamtschau unterwirft und dafür auch die schriftliche Überlieferung im nachlass, vor allem die Briefe an seine spätere Ehefrau ausgewertet hat. Die vergleichende Betrachtung ermöglicht es, historische Vorbilder und Bezüge zu erkennen und aufzuzeigen, welche formalen Ideen für spätere Bauten sich darin abzeichnen. Vor allem wird deutlich, wie sich in der Suche nach der „kommenden Gestalt“ Scharouns Ver ständnis vom organischen Bauen entwickelt hat. Das Buch erscheint anlässlich des 50. Todes tages von Scharoun und fügt den Publikationen, mit denen die Akademie der Künste das werk dieses herausragenden Architekten des 20. Jahrhunderts gewürdigt hat, einen neuen, wich tigen Baustein hinzu. Mein Dank gilt der Autorin, ohne deren Idee und tatkraft das Buch nicht ent standen wäre, den privaten Sponsoren, die zum Druck beigetragen haben, und schließlich dem Deutschen Kunstverlag, der die Publikation be reitwillig in sein Programm aufgenommen hat.
Heegewaldt, Direktor des Archivs der Akademie der Künste„Intuition und Erkenntnis werden bewegt durch die k räfte der Phantasie des schöpferischen menschen“.1
Hans Scharoun gehört zu den bedeutendsten Architekten der nachkriegszeit in Deutschland, auch wenn er seine Ziele infolge der Auswirkun gen der beiden Weltkriege erst nach 1945 ver wirklichen konnte. Sein gebautes Werk wurde vielfach gewürdigt, dagegen hat die Forschung seine Aufsehen erregenden, expressiven Zeich nungen utopischen Inhalts nur kursorisch, und die für seine Raumfindungen wegweisenden Schüler- und Studentenzeichnungen bisher noch gar nicht in den Blick genommen. Diese Forschungslücke möchte die Publikation schlie ßen und die freien Zeichnungen in einer ersten Gesamtschau analysieren. Sie erscheint im 50. Todesjahr des Architekten und würdigt den mit phänomenalen Fähigkeiten ausgestatteten Zeichner, der stets dann in einem scheinbar zei tunabhängigen Universum lebte, wenn er seiner Fantasie als Raumerfinder auf dem Papier freien Lauf lassen konnte. Bislang nicht ausgewertete Quellen unterstützen die Einordnung seiner utopisch-visionären Zeichnungen aus fast vier Jahrzehnten. Das Baukunstarchiv der Akademie der Künste, Berlin, bewahrt das Konvolut von rund 1.100 nicht an Bauprojekte gebundene Zeichnungen, die zwischen 1909 – seiner Schul zeit – und dem Ende des Zweiten Weltkriegs entstanden sind. Hans Scharoun, erster nach kriegspräsident der west-Berliner Akademie der Künste, hatte sein werkarchiv, das mehr als
18.000 Pläne und Zeichnungen und rund 60 Me ter Archivalien umfasst, noch vor seinem tod am 25.11.1972 der Akademie vermacht. Dass sich na hezu alle erhalten haben, scheint auf einer seiner wesensarten zu beruhen: Er habe „die Stapelei von Papieren und Zeichnungen, das sich von nichts trennen können“ aber auch die Achtung vor den Dingen, von seiner Mutter geerbt. 2
Die Utopie in der Architektur als Visualisie rung einer gestalterischen Zukunftsvorstellung, deren Ziel eine verbesserte Gesellschafts ordnung ist, geht als Idee bis in die Antike zu rück. 3 Utopien können aus der reinen Fantasie erwachsen, lassen sich jedoch oft auf Unzu friedenheit mit bestehenden Zuständen und dem sich hinwegsetzen über Konventionen zurückführen. Die Begriffe Utopie und Vision unterscheiden sich insofern, als erstere eine nicht existentielle Vorstellung beschreibt und die andere eine übernatürliche Erscheinung. 4
In Hans Scharouns über vierzig Jahre hinweg zu Papier gebrachten schöpferischen Fantasien mischen sich die Bedeutungen in zeichneri schen Ideen, die als Ideale empfundene orte beschreiben. Sie entstanden stets in Zeiten, in denen sich sein leben in Umbrüchen befand und er auf der Suche nach der wahren architek tonischen Gestalt war. Hans Scharoun war be reits mit Schüler zeichnungen seiner Zeit voraus, und seine Entwürfe resultierten fortan aus einer
kritischen Auseinandersetzung mit den archi tektonischen Vorstellungen der Zeiten, in denen er wirkte. Dabei nahm er seine gebaute Umwelt zwar wahr, kam jedoch, -ohne Beachtung der architektonischen lehren-, immer zu eigenen, neuen Ergebnissen. Seine Versuche Bauformen und Bauaufgaben in idealer weise zusammen zubringen, fanden ihr Ziel in der organischen Architektur, einem thema, von dem er niemals abwich.
Mit Zeichnungen zu fantastischen Architek turen aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts haben sich 1960 zum ersten Mal grundlegend die Autoren Ulrich conrads und Hans G. Sperlich beschäftigt. Sie rückten utopisch arbeitende Architekten in die nähe von weltverbesserern. 5 o b Hans Scharoun zu dieser Gruppe gezählt werden kann, wird zu betrachten sein.
Bislang haben sich nur drei wissenschaftli che Arbeiten ausschließlich mit den utopischen Zeichnungen Scharouns befasst. 6 leonie Becks bearbeitete 1990 die Zeit des Expressionismus nach dem Ersten weltkrieg, Christina threuter 1993 die Utopien der Zeit des Zweiten Welt kriegs und Achim wendschuh lieferte im selben Jahr einen mit Zitaten Scharouns versehenen Band der Zeichnungen von 1918 bis 1945. In allen Publikationen fehlen die Analysen der frühen raumarchitekturen, die Scharoun als Schüler und Student zwischen 1909 und 1914 auf dem Papier entwickelt hatte. Hinzu kommt, dass für die Interpretation der Zeichnungen Quellen herangezogen wurden, die zeitlich nach der Entstehung der Entwürfe liegen und die Argu mentationen damit der logik entbehren.7 Die Gründe für die spekulativen Ausführungen zu Scharouns utopisch-visionären Zeichnungen liegen auf der Hand. Seine Entwürfe lassen sich, -mit Ausnahme derer der expressionistischen Phase nach dem Ersten weltkrieg-, nicht in kunsthistorische Zusammenhänge einordnen. Auch äußerte sich Scharoun fast nie dazu. nur in wenigen Texten und Gesprächen, -teilweise aus Erzählungen von weggefährten-, hat er, stets rückblickend, Auskunft über seine freien Zeichnungen gegeben. Ebenso wie sich seine
texte nicht auf t heorien zurückführen lassen, gründen auch die gezeichneten Utopien weit gehend nicht auf Programmen. Seine utopi schen Baugestalten ebneten ihm wege zu einer Baukunst als Dienstleisterin an der lebensqua lität. Und es darf nicht vergessen werden, dass Zeichenlust und Freude am Raumbild in jedem Feder- und Pinselstrich zu atmen scheinen. Das Zeichnen muss ihm Ventil und Ablenkung gewe sen sein. So verwundert es nicht, dass die meist in bedrückenden Zeiten entstandenen Entwürfe nicht von wut oder trauer zeugen, noch sind sie düster oder Angst belastet. Im Gegenteil, die in lebendigkeit, leichtigkeit, Buntheit und meist in l icht badenden Baugestalten sprechen für die energiegeladenen und positiven Gedanken, die ihn beim Zeichnen begleitet haben müssen. Vielleicht gerade weil die Fingerübungen auf Papier meist in belastenden Zeiten entstanden sind, kommen sie oft nicht ernst, skurril, ver spielt und schlicht unbaubar daher. letzteres war für ihn nicht von Bedeutung, solange es ihm gedanklich gelang, seinen Geist über die Hand auf das Papier zu führen und für diesen Moment des Zeichnens aus der realen Welt zu entfliehen.
Jeder Versuch eine Vielheit, wie sie die freien Zeichnungen Scharouns darstellen, zu vermitteln, ist mit dem o rdnen des Materials verbunden und dies ist nur im Einklang mit dem Quellenstudium möglich. Durch die Erschlie ßung von Quellen, vor allem im Baukunstarchiv der Akademie der Künste, ist es möglich, ganz neue Erkenntnisse aus dem zeichnerischen Werk Scharouns zu gewinnen. Besonders aus Korrespondenzen in Archiven der Akademie der Künste lassen sich grundlegende Aussagen über seine gestalterische Denkweise ableiten. 8 Zusätzlich zu den Quellen konnte die Autorin in den vergangenen Jahrzehnten Erkenntnisse über seine Persönlichkeit aus Gesprächen mit ehemaligen Mitarbeitern Scharouns gewinnen.9 Vor allem Sergius Ruegenberg (1903–1996), der von Kriegsende an bis 1956 bei Scharoun tätig war, hatte mit ihm über das Zeichnen und die wege zur „organischen Architektur“ diskutiert und dies in lebendiger Erinnerung behalten.10
Die visionären Entwürfe Scharouns können in fünf Phasen eingeteilt werden: Die zwischen 1909 und 1912 entstandenen Schülerzeichnun gen entwickelten sich unter Einfluss von Fami lie und Schule, wobei er als leidenschaftlicher Stadtbeobachter auch die Bautätigkeiten seiner Heimatstadt Bremerhaven in sich aufsog. Die Schülerentwürfe legten bereits den Grundstein für das spätere Formverständnis, denn er setzte sich intensiv mit den unterschiedlichen Architek turströmungen der Moderne auseinander. Über die aus eigener Fantasie entwickelten Prinzipien kam er bereits zu Auflösungen von Raumformen, die noch kein Architekt der Zeit geschaffen hatte.
In den Zeichnungen der zweiten Phase, 1912 bis 1914, nahmen das von Scharoun wenig ge liebte, weil als rückwärtsgewandt empfundene Studium an der technischen Hochschule Char lottenburg und die Entdeckung der zeitgenös sischen Kunst in der Berliner Galerie „Der Sturm“ Einfluss auf sein Verständnis von den Grundsät zen des innovativen Entwurfs. Es flossen in seine Zeichnungen Elemente, zu denen sich abermals keine Vorbilder oder Parallelen in Entwürfen an derer Zeitgenossen finden.
Die dritte Phase umfasst die vom Expressionis mus beeinflussten Zeichnungen. Sie begann schon vor Ende des Ersten welt kriegs 1917 und stand unter dem Eindruck der Befreiungsbewegungen der Künstler auf der Suche nach der Architektur für eine neue sozia le Gemeinschaft. Großen Einfluss auf Scharouns werk übte in dieser Phase die liebesbeziehung zu Änne Hoffmeyer aus, der tochter des be nachbarten Bauunternehmers in Bremerhaven, die er seit der Kindheit kannte und im Mai 1920 heiratete. Fast 100 bisher unbekannte Briefe an seine Geliebte werfen ein neues Licht auf die emotionale Seite des Menschen und Entwerfer. tagebuchähnlich geben sie Auskunft über die auf dem Papier entwickelten Ideen für den Bau einer neuen kristallenen welt. Auch seine Versu che, diese Utopien in reale Bauwettbewerbe zu übertragen kommen zur Sprache.
Eine deutliche wende in Scharouns freier, zeichnerischer Tätigkeit zeigte sich Anfang 1921. Die Entwürfe der vierten Phase lassen die Ab kehr von gebrochenen Strukturen zugunsten dynamisch, geschwungener Architekturgestal ten erkennen. Er suchte wege zur organisch durchgebildeten Architektur über eine reihe von Zeichnungen, die in der darstellerischen o pulenz zum Teil animalische Züge entwickel ten. Hier wird die Nähe zu Erich Mendelsohns Skizzen deutlicher als bisher bekannt, denn die Architekten führten im Sommer 1922 mehrere Grundsatzgespräche über die Zukunft der Ar chitektur. Allerdings geriet Scharoun über die gegensätzlichen Auffassungen vom Begriff der organischen Architektur in einen Disput mit dem Kritiker Adolf Behne, der so nachhaltig wirkte, dass er für Scharoun im Jahr 1924 zum vorläufi gen Ende der freien Zeichnungen geführt hatte. nach der Schließung der Kunstakademie in Breslau 1932, an der er seit 1925 eine Professur innehatte, verließ Scharoun den osten, zog nach Berlin und versuchte seine Vorstellungen von moderner Architektur zu realisieren. Doch konn te er ab 1933 wegen seiner Weigerung, sich den baugesetzlichen Einschränkungen der national sozialisten ganz zu beugen, nur kleinere Bauauf träge nach eigenen Vorstellungen ausführen. Er zog sich in die innere Emigration zurück und lebte, abseits vom politisch geprägten Alltag, in der fünften und letzten zeichnerischen Phase bis 1945 abermals seine Fantasie in utopisch-visionä ren Architekturentwürfen aus. Neben wenigen theoretischen Abhandlungen brachte er monu mentale Visionen zu Papier, in denen er wege zu einer neuen, von der Ingenieurbaukunst träumenden Architektur suchte. Diese weit in eine bauliche Zukunft vorgreifenden raumge bilde, lassen die Sehnsüchte sich als Architekt zu verwirklichen eindrucksvoll nachvollziehen. Die Bauten eint allesamt die integrative nutzung durch den Menschen. Denn anders als in allen früheren Entwürfen, ließ er nun die Menschen die Baugebilde begehen und in ihnen wandeln, um sie in der gestalterischen organisation zu überprüfen.
Hätte ich nicht die Möglichkeit gehabt über fast dreizehn Jahre hinweg das zeichnerische werk Scharouns als leiterin des Baukunstarchivs der Akademie der Künste bearbeiten zu können, und hätte mir die Akademie die nutzung sei nes Archivs nicht auch danach noch ermöglicht, wäre diese Publikation, die zugleich eine sehr persönliche Begegnung mit Hans Scharouns zu Papier gebrachten Fantasien geworden ist, nicht zu realisieren gewesen. So gilt mein Dank dem ehemaligen Direktor des Archivs der Akademie der Künste, Wolfgang Trautwein und dem jetzi gen Direktor Werner Heegewaldt. Dank gilt auch der jetzigen leiterin des Baukunstarchivs, Sibylle Hoiman, und den Mitarbeiterinnen tanja Mor genstern und Juliane Kreißl, die auch in schwie rigen Zeiten die Erschließung der Archivalien möglich gemacht haben. Großer Dank gilt dem Architekten Michael Koch, der bei Scharouns Mit arbeiter Chen Kuen lee lernte und sich dem the ma der organischen Architektur verschrieben hat. Seine kritische Begleitung des Manuskripts
und die über Jahre hinweg geführten Gesprä che zur natur des menschengerechten Bauens, haben dazu beigetragen, dass die Erkenntnisse aus Scharouns utopische Zeichnungen greifba rer geworden sind. Dank gilt allen Unterstützern, denen die Erscheinung dieses Buchs am Her zen liegt. nicht zuletzt danke ich meinem Mann, Klaus Dittrich, er hat den werdegang des Buchs mit unendlicher Geduld begleitet.
würden die fantastischen, auf dem Papier gebliebenen Architekturen Hans Scharouns unkommentiert bleiben, blieben sie zwar auch weiterhin kunstvolle Zeichnungen. Auch wenn manche Kritiker in seinen utopischen Entwür fen lediglich Skizzen ohne Ausführungskraft sehen möchten, Scharouns gebautes werk be legt das Gegenteil. wenn es gelingt, die neuen Erkenntnisse um Herkunft und w ille Scharouns Papierarchitekturen in ein neues licht setzen zu können und Wege in die Gedankenwelt dieses stets in seinem eigenen Universum arbeitenden Architekten aufzeigen, ist viel erreicht.
1 Hans Scharoun, „Bauen (Schöpfung und Betrachtung)“, Manuskript, Ende 1928, Scharoun 4339. Im Folgenden werden Dokumente und Zeichnungen aus dem Scharoun-Archiv und aus anderen Archi ven der Akademie der Künste, Berlin, mit: name des Archivs und laufender Signatur zitiert. Beispiel: Scharoun 4339. Ebenso wird mit den Abbildungen verfahren, die mit der jeweiligen Scharoun-Signa tur in der Bildunterschrift, in Klammern gesetzt, und im text gekennzeichnet ist.
2 Brief von Änne Scharoun an Heinrich l au terbach, 29.11.1966, Scharoun 4312, Bl. 4–5.
3 So etwa in Herodots Historien (um 450 v. c hr.), darin die Beschreibung der medi schen Hauptstadt Ekbatana, Iran; Bollerey 1991. Zum neueren Begriff der Utopie: Gustafsson 1970, S. 86.
4 Begriff im 1516 erschienenen Werk von t homas Morus, Vom besten Zustand des
Staates oder von der neuen Insel Utopia. Zum Utopie-Begriff im 20. Jh., Saage 2004.
5 c onrads/Sperlich 1960, S. 19.
6 Becks 1990; Wendschuh 1993; Threuter 1993; Barkhofen, 2013 (1, 2), 2016 (1), 2018 (1, 2).
7 Blundell Jones 1980; Janofkse 1984; Bürkle 1986; Becks 1990; Hoh-Slodczyk u. a. 1992; Kirschenmann/Syring 1993; Threuter 1990; Tönnesmann 1993, Wendschuh 1993; Geist/Kürvers/Rausch 1993; Pfankuch 1993; Syring/Kirschenmann 2004.
8 Akademie der Künste, Berlin: Hans-Scha roun-Archiv, Archiv Gläserne Kette, ChenKuen- l ee-Archiv, Hugo-Haring-Archiv, Peter-Pfankuch-Archiv, Peter-Fritz-Hoff meyer-Zlotnik-Archiv, Adolf-Behne-Archiv, Adolf- r ading-Archiv, Heinrich- l auter bach-Archiv, Bruno-taut-Archiv, Archiv Arbeitsrat für Kunst, l uckhardt-undAnker-Archiv, Karl-Böttcher-Archiv, wolf
gang-Freitag-Archiv, Lubomir- SlapetaSammlung. weitere, benutzte Archive: Kunstbibliothek, Berlin: Erich-Mendel sohn-Archiv; Archiv des Deutschen Ar chitekturmuseums Frankfurt/Main; Archiv des Architekturmuseums, technische Uni versität, Berlin; Stadtarchiv Bremerhaven; l andesarchiv Berlin; Archiv des Museums der Dinge, werkbundarchiv, Berlin; Bau haus-Archiv, Museum für Gestaltung, Ber lin; Bundesarchiv, Berlin.
9 Darunter waren Wolfgang Freitag (*1930), Klaus-Jakob Thiele (1925–2010), Stefan Heise (1928–2017), Edgar Wisniewski (1930–2007), Hilde Weström (1912–2013), Heinz Schudnagies (1925–1997), Günther Kühne (1917–2008), Klaus Müller-Rehm (1907–1999).
10 Siehe dazu: Amberger (=Barkhofen) 2000.
„ ein selbstständiger a rchitekt soll sich nicht von sensationen, sondern von reflexionen leiten lassen.“1
Bernhard Hans Henry Scharoun wurde am 20. September 1893 als zweiter Sohn des Kauf manns Bernhard Emil Scharoun (1861–1911) und dessen Frau Friederike, geborene Sevecke (1867–1943), in Bremen geboren. Beide Brüder (c arl, geboren 1890 und christian, geboren 1899) verloren ihre Leben im Ersten Weltkrieg. Seit dem 9. September 1894 lebte die Familie in Bremerhaven. Bernhard Scharoun hatte den Posten des Kaufmännischen Direktors der 1892 gegründeten Karlsburg-Brauerei angetreten. Friederike Scharoun stammte aus einer einflus sreichen Familie Lüneburgs, ihr Vater führte die Portland-Cementfabrik Gebrüder Heyn. 2
Nachdem die Familie zunächst in einer Miet wohnung in der Bürgermeister-Smidt-Straße wohnte, zog sie 1897 in die Direktorenwohnung der Karlsburg-Brauerei, Scharoun 3893. Das vom Bremer Architekten Heinrich Müller (1819–1890) in den Jahren 1849–1850 im Neo-Renaissan ce-Stil errichtete Gebäude war auf den Grund mauern der im 17. Jahrhundert errichteten c arls burg als Auswandererhaus errichtet und vor der Übernahme durch die Brauerei als Kaserne genutzt worden. In diesem düsteren Gebäude verlebte Hans Scharoun 13 Jahre seiner Kindheit. Er soll dort als Schuljunge erste Häuser aus Bier fässern gebaut haben. 3 Schon vor dem frühen Tod des Vaters am 18. April 1911, zog die Familie
in ein Mietshaus in der Uferstraße 1, direkt ge genüber der tecklenburg-werft. Die familiäre Situation in Bremerhaven war für Scharoun kei ne einfache. „Seine Brüder unterschieden sich altersmäßig und in ihrer wesensart derart von Hans, dass sie keine Spielgefährten von ihm sein konnten. Die fand er im nahegelegenen Haus des Bauunternehmers und Architekten Georg Hoffmeyer. Dessen Söhne, Hans Helmut und Jürgen paßten zu Hans Scharoun. Besonders mit Jürgen verband diesen eine innige Freund schaft.“4 Weitere Kinder der Hoffmeyers waren die Töchter Anna-Marie (Änne) und Käthe. In der Familie der Nachbarn konnte Hans so sein, wie er es unter dem Regime des Vaters zuhause nicht durfte. Die Kinder konnten frei auf dem Hof mit Baugerät und Baustoffen herumtollen. Änne Hoffmeyer (1890–1967), die spätere Ehefrau Scharouns, berichtete: „Hans kam dann mehr mals in der woche zu Vater. […] Die träume in seinen Zeichnungen sah wohl meine Mutter. […] Als aber seine Begabung schon früh sich zeigte und er auch auf Schulbuchrändern und Zetteln erste Entwürfe zeichnete, schüttelte mein Vater den Kopf: Der Phantast! Soll mal erst Statik ler nen!“ 5 In der Familie Hoffmeyer soll Hans be reits den Spitznamen „Kurven-Hans“ getragen haben, der auf seine Architekturentwürfe Bezug nahm. 6
Scharoun selbst erinnerte Folgendes aus seiner Kindheit: „Ich wurde Zeuge der letz ten Jahre einer stürmischen wirtschaftlichen Entwicklung. […] So war die ständig erlebte Relation zwischen Hafen und Stadt – also zwi schen Wirtschaftsbau und Lebensbau – welche Bremerhaven ausmachte, von großer und nach haltiger w irkung auf den Knaben, der schon auf der Schulbank seine ersten Bauentwürfe herstellte.“7 Früheste Zeichnungen zeigen Schiffe, die er abzeichnete und technisch weiterentwickelte, Scharoun 1796 (Abb. S. 27).
Die erste archivarische Überlieferung von Scharouns Interesse am Bauen lässt sich in das Jahr 1907 datieren. Der 14-Jährige schrieb am 30. März aus den osterferien, die er bei den Groß eltern in lüneburg verbrachte, an seine Eltern: „Hier in Lüneburg wird außerdem ein neuer, gro ßer und sehr hoher wasserturm gebaut. […] Hier wird auch ein großer Kurgarten, mit Kurhäusern und Badehäusern gebaut. […] Das restaurant ‚Zum Stadtpark‘ ist jetzt auch im Bau.“8 Zeichnungen aus der Zeit vor 1909 sind aller dings von ihm nicht bekannt.9 Ab diesem Jahr vertiefte er sich intensiv in baubezogene Übun gen. Der Vater soll versucht haben, ihm das Zeichnen zu verbieten, da er für ihn die l aufbahn
eines Juristen vorsah. Seinen wunsch, das Gym nasium zwei Jahre vor dem Abitur zu verlassen und dem Freund Jürgen Hoffmeyer auf die Bau gewerkschule zu folgen, erfüllte sein Vater nicht. „Er […] hat auch seinem Vater bei einer Ausei nandersetzung gesagt, hier habe ich keinen Vater, mein Vater wohnt in der Fährstraße.“10 Es ist davon auszugehen, dass das humanistische Gymnasium dem jungen Scharoun kaum bieten konnte, was er an Inspiration suchte.
Insgesamt haben sich aus den Jahren zwi schen 1909 und 1912, dem Abiturjahr, 496 Schü lerzeichnungen erhalten.11 Darunter sind 87 mit Baunummern beschriftete Entwürfe überliefert.
Die Nummer eins zeigt den Entwurf für ein Schifffahrtshaus, Scharoun 1661 (Abb. S. 28). Die grafisch angelegte Zeichnung ist recht linkisch zu Papier gebracht und zeigt die Fassade eines eklektizistisch konstruierten Bauwerks; sie ent stand 1909 in der Untersekunda. Die Nähe zum gotischen rathaus in Bremen, für dessen n eu bau 1907 ein Wettbewerb ausgeschrieben wor den war, ist erkennbar. Die letzte, von Scharoun mit einer Baunummer versehene Zeichnung ist die Nr. 87, Scharoun 1758 (Abb. S. 29) „Das Schloss”, sie entstand zu Beginn des Jahres 1910.12
Der Schüler hat die meisten der Blätter sig niert, mit t iteln versehen und die Jahreszahl sowie die jeweilige gymnasiale Jahrgangsstufe hinzugesetzt. Innerhalb von nur gut einem Jahr zwischen der ersten und der letzten numme rierten Zeichnung lässt sich eine zeichnerische Entwicklung erkennen. So zeigt die erwähnte letzte n ummer, entstanden ebenfalls in der Untersekunda, ein Schloss am wasser in deut lich verbesserter Qualität. In den zerfließenden Konturen ist bereits der Beginn einer äußerlich organisch geprägten Architektur zu erkennen. Da das Blatt mehr als ein Jahr vor dem Amtsan tritt seines neuen Zeichenlehrers Fritz Hartmann (1869–1948) datiert wurde, kann dieser keinen Einfluss auf die 1909–1910 entstandenen Zeich nungen Scharouns gehabt haben.13 Hartmann war Maler, Bildhauer und Kunstgewerbler und leistete in den letzten Schuljahren Scharouns einen besonderen Beitrag zu dessen zeichneri scher Ausbildung. Ein Mitschüler, o tto Stahmer, beschrieb den lehrer: „Er ließ uns freie Hand, was wir zeichnen wollten. Natürlich kamen da mitunter skurrile Sachen zutage, so daß es viel zu lachen gab.“14
wenngleich der Unterricht in den klassi schen Unterrichtsfächern traditionsverhaftet blieb, legte man viel wert auf die Persönlich keitsentwicklung der Kinder im Kunstunterricht. „Das gestaltende Zeichnen bringt nämlich Kräfte zur Entfaltung. […] Der erzieherische wert des Gestaltens liegt also vor allem in der Bildung der Persönlichkeit […] und bewahrt vor Nachah mung unwahrer Vorbilder“.15
Hartmann scheint Scharoun zu mehr Präzi sion angeleitet und seinen Fokus auf Wesentli ches im Entwurf, darunter auch auf die Ausar beitung perspektivischer Darstellungen gelenkt zu haben. Hans verbesserte seinen Zeichenstil deutlich. Auffällig viele Zeichnungen aus dem letzten Schuljahr tragen den Stempel des Gym nasiums und die Beschriftung „Eigenhändiger Entwurf des o berprimaners Hans Scharoun“. n ur auf der r ückseite einer Zeichnung Scharouns von 1911 ist eine ausführliche Kom mentierung Hartmanns überliefert, Scharoun
Bremen, Rathaus, Kupferstich von c . J. Billmark, 1850 (F: Wikimedia c ommons)
1991 (Vorder- und Rückseite, Abb. S. 30, 16): „Hartmann, Zeichenlehrer. Die Entwürfe enthal ten neben vielem Guten recht viel, das ernste Einwände erfordert. Bei der geringen Größe der Skizzen ist dem Entwerfenden manches ent gangen; aber über den außerordentlichen Fleiß und die hervorragende Begabung Scharouns ist kein wort zu verlieren“.16
Der Schüler zeichnete in allen techniken. Er nutzte Feder und Tusche, Bleistift, Buntstift und versuchte sich in der Aquarelltechnik. Als Zeichenunterlagen nahm er offenbar alles, was er bekommen konnte, nutzte jedoch selten ein größeres Format als DIN A4. Die frühen Tusche zeichnungen erscheinen meist sehr viel präzi ser als die mit Farbstift ausgeführten Skizzen.
Fritz Hartmann (Scharoun 1991, verso)
Am schlechtesten war der Schüler zunächst im Aquarellieren, eine technik, die er Jahre später brillant beherrschte.
Scharoun wuchs in einer Zeit auf, in der die Architektur sich in einer grundlegenden Fin dungsphase und in Abkehr vom Historismus be fand. Vielen Architekten war bewusst, dass sie sich in einem rasanten Modernisierungsprozess von technik, wirtschaft und Gesellschaft befan den, in dem sich die Sprache der Architektur noch nicht angepasst artikulieren konnte.17 So empfand etwa Hermann Muthesius (1861–1927) eine enorme Abneigung gegen die Verlogen heit des eklektizistischen Stils und schrieb be reits 1901, dass die Baukunst meilenweit hinter die technischen Errungenschaften zurückge fallen sei.18 Und Peter Behrens (1868–1940) erkannte, dass die zunehmende Geschwin digkeit der technik das l ebensgefühl mas siv beeinflusste. Dem konnten nur ruhige, in
sich geschlossene Flächen der Architektur entgegenwirken.19
In Scharouns Jugendzeit existierte noch kei ne eindeutige Form der frühen Architekturmo derne. Bereits die Terminologie war uneindeu tig: Von „Späthistorismus“ und „ neoklassizismus“ über „Jugendstil“ bis zu „Reformstil“ war die rede. Die kulturhistorischen Voraussetzungen für die Reformbewegung waren gekennzeich net durch die rückbesinnung auf den traditio nalismus. So gründete sich 1904 in Dresden der „Deutsche Bund Heimatschutz“. Davon wiederum unterschied sich die vom „Deutschen werkbund“ propagierte richtung des „ neuen Bauens“, die sachliche, ornamentlose Formen propagierte und das industrielle Bauwesen entwickelte. 20
Die Suche nach einer kulturellen Identität ging einher mit der rückkehr zum sogenannten einfachen und ehrlichen Baustil der Zeit. In die architektonischen Experimente der frühen Mo
derne gehörten bis 1907 Einflüsse des Wiener Jugendstils, der in Deutschland vor allem durch das Wirken Josef Maria olbrichs (1867–1908) in Darmstadt bekannt wurde. In der baubezoge nen l iteratur setzten sich zahlreiche Autoren mit der Moderne auseinander und richteten mahnende worte an diejenigen, die sich noch aus dem Formenrepertoire der Baugeschichte bedienten. „Der Architekt ist aus einem ganzen Künstler ein halber Gelehrter geworden.“21 Der Kunsthistoriker Karl Widmer (1868–1931) bezog sich mit dieser Aussage auf die überholte Aus bildung an den Hochschulen und den negativen Einfluss des Geschmacks, sprich, die Beliebig keit der Form, die in der Architektur herrschte. Es gab die Freiheit des Formenspiels im Jugend stil, das strenge und doch voluminöse Art déco und die steinsichtige Monumentalarchitektur. In zahlreichen Bildbänden standen l andhäuser und Villen in einer eigenartigen, heterogenen Formengebung als vorbildliche Architektur in Kopie zur nachahmung bereit. 22
Es ist anzunehmen, dass in der Biblio thek des Bauunternehmers Hoffmeyer, aus der Scharoun w issen schöpfte, auch werke vertreten waren, die die moderne Architektur zum t hema hatten. 23 Der Schüler muss auch Publikationen von Bruno Möhring gekannt ha ben, der 1900 bis 1902 das dreibändige Werk Architektonische Charakterbilder herausgege ben hatte. Diese Vielfalt an Vorbildern führte zu stilistischen Mischwesen, mit denen sich auch
Scharoun in Zeichnungen auseinandersetzte. So mischte er etwa in dem Blatt „Parktor“, Scharoun 1669 (Abb. S. 31) geradezu mutwillig alles zusam men, was die Palette an Dekorationen hergab. Zweifellos haben diese zeichnerischen übungen des Schülers die Grundlage für seine spätere Herangehensweise an Entwurfsaufgaben ge legt. Bereits in den frühen Zeichnungen sieht man das Vorgehen des jungen Entwerfers, sich jeder Bauaufgabe individuell neu zu nähern.
von Jugendstil und a rt déco beeinflusste entwürfe
Worauf die Scharoun-Forschung noch nicht ein gegangen ist, ist der Einfluss des Jugendstils, dem sich der junge Scharoun nicht entziehen konnte. Die ab 1900 in Darmstadt auf der Mathil denhöhe unter Federführung des Wiener Archi tekten Josef Maria olbrich errichtete Siedlung, die in allen zeitgenössischen Bauzeitschriften besprochen wurde, wird ihm bekannt gewesen sein. 24 Bereits die ersten, mit Baunummern ver sehenen Zeichnungen lassen seine individuelle
Auffassung vom Jugendstil erkennen. In der Fassade für das neue Stadttheater in Bremerha ven, Scharoun 1668 (Abb. S. 32), kommen seine architektonischen Erkenntnisse zum Ausdruck, denn er hatte sich zuvor intensiv mit dem 1909 für den n eubau des t heaters ausgeschrie benen Wettbewerb auseinandergesetzt. Die Fassade zeigt zudem eine Ähnlichkeit mit der jenigen des Central-theater in Dresden, erbaut 1897–1898. 25
Auch die Zeichnung einer weiteren Fas sade für eine Villa, Scharoun 1670 (Abb. S. 33), greift Formen des Jugendstil und des Art déco auf, wie sie bei olbrich im Predigerhaus in Darmstadt erkennbar sind. Allerdings bleibt die Zeichnung in ihrer flächig angelegten, gra fischen Struktur ohne Tiefe. Einen von innen nach außen gearbeiteten Entwurf schuf der 16-Jährige mit dem Herrenhaus auf dem Land, „Mein Paradies“, Scharoun 1679 und 1680 (Abb. S. 34, 35). Perspektivisch noch wenig ausge reift, stellt diese Zeichnung die Frontseite und den Grundriss einer Villa dar, an der kaum ein gerades Wandstück zu finden ist. Gleich einem hochbarocken Entwurf wurde die Bildung der Bauform von innen nach außen aus dem Grund riss heraus entwickelt.
Dass sich der Schüler durchaus auch an Bauentwürfen orientierte, die der englischen Arts-and- crafts-Bewegung nahestehen, zeigen mehrere Entwürfe von 1910, zum Beispiel für Kaufhäuser. Einige erinnern in ihrer Klarheit und Kantigkeit an werke des Architekten und Desig
ners charles Rennie Mackintosh (1868–1928) wie etwa die Zeichnung, Scharoun 1848 (Abb. S. 36). Besonders auffällig ist die Ähnlichkeit einer Kaufhaus- Fassade, Scharoun 1820 (Abb. S. 37), mit dem gerade fertiggestellten Vereinshaus des Berliner lehrervereins der Architekten Hans Toebelmann (1868–1928) und Henry Gross, das 1910 ausführlich in der Zeitschrift Berliner Archi tekturwelt besprochen wurde.
Scharouns zweiter Entwurf für das neue Thea ter in Bremerhaven von 1912, Scharoun 2199 und 2200 (Abb. S. 38, 39), orientierte sich deutlich an dem 1909–1911 ausgeführten The aterbau von o skar Kaufmann (1873–1956). Der Schüler verzichtete in diesem Entwurf weit gehend auf dekorativen Fassadenschmuck und setzte überdimensionierte Strebepfeiler vor die Fassade. Mit überzogenen Proportio nen befasste sich der Schüler ausführlich, da er offenbar Werke deutscher Architekten wie Heinrich Metzendorf (1866–1923), Martin Dülfer (1859–1942), Hans Erlwein (1872–1914), Hermann Billing (1867–1946) oder des finnischen Architek
ten Eliel Saarinen (1873–1950) kannte. Auch Emil Högg (1867–1954), seit 1904 Direktor des neu ge schaffenen Gewerbemuseums in Bremen, schuf Architekturen, die diese seltsam verschobenen Proportionen aufweisen. 26 Im Entwurf für eine Synagoge, Scharoun 1890 und 1952 (Abb. S. 40, 41), entwickelte er neben einer monumentalen Blockstruktur eine Kuppel, die man in einem Wettbewerbsentwurf von Ludwig Schmieder (1884–1939) für ein Krematorium in Freiburg von 1909 wiedererkennt. Scharouns voluminöses Krematorium, Scharoun 1955 (Abb. S. 42), gehört zu jener Art von Entwürfen, die an Hans Poelzigs (1869–1936) Bismarck-Denkmal für Bingerbrück von 1909–1911 erinnern. In anderen Zeichnun gen aus dem Jahr 1912, etwa der Musikhalle, Scharoun 2103 (Abb. S. 43), werden übergroße, geschwungene Eingangsportale zur zweiten Fassade. Alle Entwürfe sind mit sicherer Hand zu Papier gebracht und lassen den zeichnerischen Fortschritt erkennen.
entwürfe für bauten mit verschliffenen außenformen
Scharoun hat 1909 und 1910 sechs „Kirchen bau-Modernisierungen“ entwickelt, die nicht nur für sein Frühwerk von besonderer Bedeu tung sind, sondern seine gesamte spätere l auf bahn beeinflusst habe, Scharoun 1698, 1699 (Abb. S. 50, 51). 27 Interessanterweise hat sich die Forschung noch nicht damit beschäftigt. Der Architekt selbst sagte 1964 über seine Entwurfs methodik: „Das Suchen nach dem Bauwerk, das nie Gewalt wird, das dienend bleibt, hat mich mein ganzes leben hindurch beschäftigt. Ich habe mit sechzehn Jahren einen Kirchenent wurf gemacht, ‚Kirche als Fels‘; schon damals ging es mir um die gleichen Dinge“. 28 Übersetzt mag das heißen, die Entwurfsform wird von der technischen Machbarkeit getragen, der Ent wurfsgedanke bleibt so frei wie möglich. Eine Begründung für die Beschäftigung mit dem für einen Schüler seltsam anmutenden thema des Kirchenbaus, notiert der Junge auf der ersten Entwurfszeichnung dieser Serie, Scharoun 1749, 1750 (Abb. S. 44, 45): „Einführung: Diese Reihe Entwürfe fühlte ich mich aus folgender Erkennt nis veranlasst auszuführen. Bei der immer mehr um sich greifenden Atheisten- lehre muss sich die Christenheit immer mehr geradezu zu ei nem gewaltigen Felsen zusammenschliessen. Diesen Fels nun soll uns ein jedes Gotteshaus verkörpern.“29 Dieser bislang nicht nachvollzieh bare Gedanke lässt sich entschlüsseln: Scharoun scheint auf den „Bremer Schulstreit“ Bezug zu nehmen, der sich von 1905 bis 1907 vollzog. Leh rer hatten gegen den staatlichen religionsunter richt protestiert 30 und setzten sich – vergeblich –für seine Abschaffung ein. Die ersten Schulen, die im Zusammenhang mit dem Streit einen neuen Gesamtlehrplan erarbeiteten, waren 1911 die in Bremerhaven ansässigen.
Fest steht, die sechs Entwürfe für „Kirchen bau-Modernisierungen“ haben nachhaltige Aus wirkungen auf Scharouns spätere Entwurfspra xis ausgeübt. Die Verschleifung der äußeren Formen, die Durchdringung, ja Verschmelzung zu einem als Einheit gedachten organischen
Baukörper, für die hier die Grundlagen gelegt worden sind, lässt sich bei vielen seiner späte ren Entwürfe, bis hin zur Berliner Philharmonie, verfolgen. Bereits in der zweiten Zeichnung die ser Reihe zeigt sich, dass es dem jungen Entwer fer nicht nur um religiöse Fragen ging, sondern auch um die „Moderne Architektur“. Er betitelte einen Entwurf, Scharoun 1694, 1695 (Abb. S. 46, 47), mit einem Motto, das seinen Erneuerungs willen zum Ausdruck bringt: „Die Moderne ge hört nicht denen, die sich ihr anpassen müssen, sondern denen, denen sie [die Moderne] sich anpassen muss; jene sind die alten, dies die jungen“.
Auf dem dritten Entwurf, Scharoun 1696 (Abb. S. 48), notierte er: „Der wahre Wert der Braut liegt in der liebe. Dies lieb ich, drum sei’s meine Braut“. Und das Motto des vierten Ent wurfs strotzt von jugendlichem Selbstbewusst sein: „Ein selbstständiger Architekt soll sich nicht von Sensationen, sondern von Reflexionen leiten lassen.“
Betrachtet man die sechs Entwürfe, so fällt auf, dass Scharoun sich im Bereich des Eklekti zismus befand, denn die Fassaden sind eindeu tig von einem Stilgemisch geprägt und nehmen vor allem im dritten Entwurf fast skurrile Züge an. Auf dem sechsten Blatt scheinen sich unter schiedliche Stilepochen zusammengefunden zu haben. Bei Entwurf eins und drei fallen zwie bel- oder pilzähnliche turmhauben auf. Und den Skizzen zwei, vier und fünf ist eines gemeinsam: Ein Konglomerat von ineinander geschachtel ten Baukörpern wird jeweils von zeltartig ab geschleppten Dachflächen geradezu umhüllt. Dies ist bei den Zeichnungen Scharoun 1701, 1703, 1704 (Abb. S. 49, 52, 53), der Fall. Die Fas saden, wände und Dacheindeckungen lassen den Baukörper zu einer Gesamtkomposition zusammenschmelzen. Schaut man die dazu ge hörenden Grundrisse an, so fällt es schwer, sie im Zusammenhang mit den Ansichten zu be greifen. Diejenigen der Entwürfe eins bis drei wirken durchdacht: Sie zeigen Stützen, Gewölbe