Kunst, Musik und Peter Brötzmann

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SARAH CZIRR, JÜRGEN WIENER (HRSG.)

K U N S T , M U S I K UND PETER BRÖTZMANN

Fr e e M u s ic A r t Pr o d u c t i o n


Einbandabbildung: Peter Brötzmann in der Ausstellung von Nam June Paik, Exposition of Music, Galerie Parnass, Wuppertal, 1963, Fotografie Manfred Montwé ©montweART Einbandgestaltung: Rüdiger Kern, Berlin Satz: Hannah Schiefer, Düsseldorf Druck und Bindung: Elbe Druckerei Wittenberg GmbH Verlag: Deutscher Kunstverlag Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2023 Deutscher Kunstverlag Ein Verlag der Walter de Gruyter GmbH Berlin Boston d|u|p düsseldorf university press Ein Imprint der Walter de Gruyter GmbH Berlin Boston www.deutscherkunstverlag.de www.degruyter.com dup.degruyter.com ISBN 978-3-422-99065-4 e-ISBN (PDF) 978-3-422-80049-6

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Inhalt „Grenzen zwischen bildender Kunst und Musik gab es damals nicht.“ Sarah Czirr und Jürgen Wiener

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Peter Brötzmann im Interview mit Sarah Czirr und Jürgen Wiener

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Improvisation, Ökologie und Kontingenz – Gedanken im Anschluss an das Werk von Peter Brötzmann Nicola L. Hein

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„UND SCHON GAR KEINE ÜBERBLEIBSEL...“ – Fluxus Timo Skrandies

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„If there can be abstract painting, why not abstract music?“ – Zur Verbindung von Kunst und Jazz. Mit einem Exkurs zur Rezeption moderner Kunst auf dem Plattencover vom Bebop zum Free Jazz Beat Wismer

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„we’ve always worked much more like painters“ – Free Jazz und Bildende Kunst. Ein Überblick mit Seitenblick auf Brötzmann Jürgen Wiener

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„Licht Terror Blitz Aktion Schall Stille“ – Das Tanzlokal Creamcheese im Kontext der Wuppertaler und Düsseldorfer (Jazz-)Kneipenkultur der 1950/60er-Jahre Tiziana Caianiello

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„Wir hatten den Willen, so weit wie möglich zu gehen.“ – Überlegungen zur Grenzüberschreitung bei Peter Brötzmann Harald Kisiedu

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„Long Story Short“ – Das künstlerische Werk von Peter Brötzmann Sarah Czirr

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Literaturverzeichnis

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Bildnachweis

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JW/SC: Es liegt in Deiner Art und Weise Kunst konsequent zu produzieren, dass dann die Schnittmenge in Deiner Person begründet ist. PB: Ja, ja …

so zurück auf die ganzen 60 Jahre Arbeit. Was ist es denn, dieses eine Leben, das man hat? Einfach eine lange Reise, um rauszufinden, wo man ist, was für eine Sprache man spricht und wo und wie man selbst mit sich irgendwie klarkommen kann – oder auch nicht, gibt es ja auch.

JW/SC: Wir haben uns auch gefragt: Hast Du beispielsweise mit Benjamin Patterson JW/SC: Zu wissen, was man will oder vielleicht auch zu wissen, was man nicht will, ist musiziert, wäre das denkbar gewesen? vielleicht genauso wichtig… PB: Ich habe ihn ein-/zweimal getroffen und ihn als äußerst angenehmen Menschen ken- PB: Es ist eher das. nengelernt. Mit dem Musizieren… nee, einfach mal so. Die sind ja auch immer alle er- JW/SC: In diesem Zusammenhang fällt auf, schrocken, wenn ich irgendwo auftauchte und dass Du – anders als andere Leute Deiner Gespielte – selbst die fortschrittlichsten Her- neration und Musik – beim Spielen auf der ren. Ich habe noch ein paar Briefe von Beuys. Bühne nicht unbedingt ein Freund eines Sehr positive, sehr unterstützende auch. Und Crossover von performativer und bildender Paik kam dann hier nach Wuppertal, wäh- Kunst bist. Wenn Du Musik machst, so nehrend dieser ganz frühen Jahre gab es ja hier so men wir es zumindest wahr, steht für Dich einen Club, wo wir regelmäßig waren. Und dabei die musikalische Aussage im Zentrum? Paik tauchte da in den Tagen auch auf. Er hat immer gesagt, weil er auch merkte, dass ich PB: Ja. nicht überall wohl gelitten war: „Naja, vielleicht macht’s ihm ja was aus“. Und er sagte JW/SC: Multi/Mixed-media-Auftritte – etwa einfach immer nur: „Brötzmann, mach dei- mit Ausdruckstanz, Pina Bausch hier in Wupnen Kram.“ Ich hatte zwar ganz früh die ers- pertal, Live–Paintings, komplexe digitale Proten Ausstellungen und es gab immer „Ja“ oder jektion in „Echt-Zeit“ gerade in jüngster Zeit komplettes „Nein“. Was mit der Musik ge- – auf dieses Feld begibst Du Dich normalerweise nicht. Womöglich auch, weil das munauso ging. sikalische Ereignis nicht unbedingt gesteigert wird, wenn andere Dinge dazukommen? JW/SC: Und geblieben ist … Oder sogar gemindert wird? In solchen gatPB: Ja, immer noch, Missverständnisse ohne tungsgemischten Performances reagieren die Ende, aber darum geht es ja auch. Ich will ja Bilder eher auf die Musik und weniger die nicht Liebkind für alle sein. Das hat ja kei- Musik auf die Bilder – das gibt es auch, dazu nen Sinn. Ich hatte gerade noch eine junge kommen wir gleich noch. Kannst Du Deine Dame aus Amerika zu Besuch, die auch Saxo- Haltung zu diesem Phänomen, zu dieser Erfon spielt und im Augenblick für ihr junges weiterung dieses musikalischen Felds durch Alter relativ hoch gehandelt wird, die aber viel andere Künste ein bisschen skizzieren? zu jung ist, um zu wissen, was mit ihr da im Augenblick passiert. Denk an dich, mach dei- PB: Ich war, wie Du richtig bemerkt hast, nie nen Scheiß und das ist das Einzige, was zählt. ein Freund davon. Ich finde Ich guck natürlich auch, im nächsten Monat auch, auf der Bühne zu sein bin ich 82, dann guck ich natürlich notge- und Musik zu spielen, reicht drungen, weil auch Leute viel wissen wollen, schon an Schwierigkeitsgrad.

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Wenn du da wirklich irgendwo hinwillst und ein bisschen versuchst, die Wahrheit zu eruieren, das reicht. Und gerade in meinen Anfangsjahren kam es zu Free Jazz und Dichtung – das war schon der erste große Fehler. Dann kam die simultane Malerei auf der Bühne mit Musik. Es kam der Tanz dazu, und gerade hier in der Stadt gab es ja viele Beispiele dazu. Ich habe ja Pina ein bisschen gekannt, und sie hatte anfangs auch mal angefragt und ich habe immer „Nee“ gesagt, weil das … das ist einfach Unsinn.

Skulpturen musizieren respektive improvisieren – womit Begriffe wie Partitur oder Notation an Schärfe einbüßen, vielleicht sogar verfehlt sind. Du hast Spielanweisungen grafischer Art entwickelt, die doch näher an Partituren stehen, aber doch eher grafischer Art sind. Das Cover von Alarm dokumentiert dies sogar.

PB: Ja, und wir haben uns auch immer gestritten deswegen. Oder ich war immer der Spielverderber bei der Geschichte. Musik ist so eine schwierige Angelegenheit, da brauch ich kein Theater drumherum. Gott sei Dank macht es Spaß, macht der Prozess Spaß. Das aufzuweichen mit anderen Künsten an der Seite – nee! Oder ich weiß noch, [A.R.] Penck hat mich immer in den frühen Jahren gefragt: „Können wir nicht mal?“ Wir haben viele Weißweinflaschen ausgetrunken zusammen, aber auf der Bühne waren wir nie zusammen. Mich hat später dann auch keiner mehr gefragt, und es hat sich dann rumgesprochen [lacht]. Nee! Dann fingen die Leute an, zu faseln von Gesamtkunstwerken und sowas. Was ein Bullshit, nicht? Das ist ja alles Quatsch! Und heute ist da natürlich die ganze Technik, die man zur Verfügung hat. Ich tu’ auch sicherlich manchen Leuten oft genug Unrecht, aber ich kann es einfach nur von meiner Perspektive sagen, es reicht mir nicht. Es ist einfach auch nicht meine Welt, und das mag einseitig klingen, und das ist es dann auch.

PB: Also die Alarm-Partitur, die kam ja von dieser technischen Zeichnung des bundesdeutschen Alarmsirenensystems. Und das war dann ein bisschen weiter… Da gibt es eine Partitur, ich glaube die hat Jost Gebers in seinem Archiv irgendwo. Und es gibt irgendwo in meinen großen Kisten noch Reste von solchen Versuchen, ja.

PB: Ja.

JW/SC: Hast Du solche grafischen Spielvorgaben oder -vorschläge öfter gemacht und JW/SC: Peter Kowald und Günter Christ- wenn ja, hast Du sie aufgehoben? Existieren die noch irgendwo? mann haben es getan …

JW/SC: Mit denen Du aber nicht insgesamt glücklich warst oder …? PB: Nee! Kennt Ihr die beiden Boxen Signs und Images, die ich mal gemacht habe? Es war eine Art Kartenspiel, das beliebige Zeichen beinhaltet (Abb. 1). Es resultiert eigentlich auch aus meiner Fluxus-Vergangenheit. Ich habe so ein Kartenspiel drucken lassen mit zum Teil bildhaften Dingen drauf. Die hatten auch so einen richtigen Kartenspielbackground. Die hat hier unser Drucker Nacke schön gedruckt.

JW/SC: Ist das so eine Art Tarot – ein gesteuerter Zufall der Werkstruktur wie bei Italo Calvinos Das Schloss, darin sich Schicksale JW/SC: Wirklich überzeugende Ergebnis- kreuzen? se sind da selten zu sehen. Wir haben vorhin schon die Gegenrichtung angedeutet: Musi- PB: Ja und die konnte man ker und Musikerinnen des Free Jazz, die nach dann – das war je Box mit Bildern, Fotografien, Grafiken, sogar nach so, glaub ich, 20 Karten – für

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Timo Skrandies

„UND SCHON GAR KEINE ÜBERBLEIBSEL...“ Fluxus

Es gibt vergleichsweise wenige dokumentarische Spuren, die Peter Brötzmann mit der sogenannten Fluxus-Bewegung in Verbindung bringen. Als solch eine Spur mag Brötzmanns Besuch und Gespräch bei Thomas Schmits Aktion ohne Publikum (1965) gelten können – allerdings ist es ja selbst bei Schmit nicht zwingend, ihn im engeren Fluxus-Kreis zu verorten; sein Text über f. von 1982 zeigt das (retrospektiv) deutlich.1 Es mag die frühe Zusammenarbeit mit Nam Jun Paik sein, doch auch hier – wie bei Schmit – geht die Zuordnung zu Fluxus nicht bruchlos auf: Paik ist eher als Medienkünstler von kunsthistorischer Bekanntheit und Bedeutung, denn als Fluxist. Es mag sein, dass man den Namen „Peter Brötzmann“ auf dem ein oder anderen Plakat findet, auf denen Fluxus-Aktionen bzw. -Festivals angekündigt wurden. So etwa für die Festivals 1963, die am 23. Juni in Amsterdam und am 28. Juni in Den Haag stattfanden und die namhaften Fluxisten und einiger ihnen verbundener Künstler:innen versammelten.2 Ähnliches ließe sich aus der Fluxus-Stadt Aachen berichten – auch hier hat Brötzmann am 4. und 6. Juli 1966 gespielt: Mit seinem Trio (Brötzmann, Kowald,

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Neumeier), wobei das zweite Konzert wegen eines kunsthistorischen Vortrags von Lorenz Dittmann zum – Ironie der Geschichte – Problem der Modernen Kunst zunächst auf 22 Uhr verschoben werden musste und dann aufgrund von Beschwerden der Anwohner:innen, wie es später in der Presse hieß, „wegen Lärmbelästigung“ abgebrochen wurde.3 Nun gut: Indizien mithin, Spuren vielleicht, die zwischen Brötzmann und Fluxus hin und her führen4 – aber: Wen kümmerte es, wenn es dabei bliebe und weitere Verbindungen, vermeintliche oder anerkannte Zugehörigkeiten und Bekenntnisse oder gar Manifeste weder zu finden noch von Belang wären!? „Fluxus“ ist ja auch selbst nie die konturierte Formierung einer (Künstler-)Gruppe gewesen, sondern kann eher als lose Kopplung verstanden werden.5 Insbesondere aber würde es der jahrzehntelangen Kunst der Grenzüberschreitungen, Experimente und Intensitäten Peter Brötzmanns nicht gerecht, sie in einen Zusammenhang mit Fluxus festzurren zu wollen.

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